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Leben im Fragment

2024, Predigt zu Mariä Himmelfahrt

Wider den Perfektionswahn

Leben im Fragment Predigt zum Fest Maria Himmelfahrt 2024 In einem seiner Gedichte schreibt Rainer Maria Rilke: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen. Aber versuchen werde ich ihn. Vielleicht, ja ziemlich sicher, würde ich hinzufügen, werden wir unser Leben nie so beenden können, wie wir es uns vorstellen. Mit allem, was wir tun wollten, was wir verwirklichen und fertigbringen wollten, wovon wir geträumt haben, mit uns selbst ganz und gar im Einklang sein, das wird uns in diesem Leben wohl nie vollständig gelingen. Und da sind wir nicht allein: Auch große Künstler haben das erfahren: Ein Wolfgang Amadeus Mozart musste sein Requiem unvollendet aus den Händen legen. Und bis heute heischt Franz Schuberts „Unvollendete“ h-Moll-Symphonie Respekt ein. Natürlich, das Ideal der Vollkommenheit fasziniert uns. Und obwohl wir – wenn wir ehrlich sind – immer wieder daran scheitern, lassen wir ungern von diesem Ideal – und vergessen: Unser Leben bleibt immer ein Fragment. Es kommt nur darauf an, wie wir damit umgehen. Weihbischof Grothe aus Limburg meinte in einer Osterpredigt: Die einen jagen ewig dem Unerreichbaren hinterher, gehetzt, getrieben, nie am Ziel, weil das Ziel unerreichbar ist. Und dann gibt es die "Eigentlich-Menschen", Menschen, die immer wieder sagen: "eigentlich sollte, müsste, könnte ich ..." – und dann über sich enttäuscht sind, weil es doch nie anpacken. Wieder andere reden ihre Schwäche und Begrenztheit einfach weg, indem sie von ihren angeblichen Heldentaten erzählen – und sich selbst täuschen. Alle drei Tpyen werden nicht richtig glücklich, denn unser Menschenleben ist und bleibt fragmentarisch, ist und bleibt Stückwerk. Liebe Zuhörer, die Herausforderung, meine ich, liegt darin, das eigene Leben trotz aller Brüche, trotz allem Scheitern, trotz allem Fragwürdigen, trotz allen unerfüllten Hoffnungen stehen lassen zu können – und zu würdigen, als das, was es ist: mein unverwechselbares, einmaliges Leben, Das Fest Mariä Himmelfahrt, das wir heute feiern, möchte uns im Bild sagen: Du kannst und brauchst dein Leben nicht selbst vollenden, rund und ganz machen. Du darfst es ruhig unvollendet in die Hände dessen legen, der dir dein Leben geschenkt hat – und es (in seinen Augen) rund machen wird. Einleitung „Nobody is perfect“ unter diesem Namen gibt es eine eigene Möbelbranche, die hochwertige Stücke mit einer kleinen Macke günstig verkauft. Dieser Slogan steuert einer Richtung in unserer Gesellschaft entgegen, die auf Perfektion gedrillt ist. Man meint fast, die Werbetexter von „Nobody is perfect“ hätten den Sinn des heutigen Festes Mariä Himmelfahrt in moderne Sprache übersetzt. Fürbitten Herr uns Gott, wir feiern heute an Mariä Himmelfahrt, dass unser Leben nicht im Nichts verrinnt, sondern bei dir seine Vollendung findet. Wir bitten dich: Für unsere Kirche, die sich ihrer menschlichen Schwächen bewusst ist und trotzdem dich und deinen Namen groß sein lässt. Für alle Menschen, deren Leben eine ständige Baustelle ist und die dauernd mit Problemen zu kämpfen haben … Für ein Miteinander, in dem spürbar wird, dass jeder wertvoll und ein von dir geliebtes Geschöpf ist. Für uns selbst: Lass auch uns auf einen guten Ausgang in unserem Leben hoffen. Für unsere Verstorbenen, die fest daran geglaubt haben, dass sie die Vollendung ihres Lebens bei dir erfahren … Gebetselemente Gott, wir danken dir, dass du die abgebrochene Karriere Jesu von Nazaret bei dir vollendet hast und sie bis heute weiterführst – unter all denen, die versuchen, in seinem Sinn ihr Leben zu gestalten. Wir beten für alle Kirchen, die sich auf Jesus von Nazaret berufen. Für alle Frauen und Männer, die Tag für Tag als Christen zu leben versuchen. Und wir beten besonders für die Verantwortlichen der Kirchen dass sie es zulassen, die Botschaft Jesu in der Sprache unserer Zeit zu verkünden und in den Formen unserer Zeit zu leben. Wir beten für uns selbst, dass wir nicht müde werden und gelassen bleiben bei den Versuchen, unser Leben rund zu machen. Dass wir als Geschenk annehmen, was uns gelingt, und in deine Hände, Gott, legen, was wir nicht zu Ende bringen können. 2