Christoph Jürgensen
Der Kälte- und der
Wärmetechniker
Zum Verhältnis von Welt und Werk bei Harald
Schmidt und Benjamin von Stuckrad-Barre
1
Beziehungssinn
Es muss rückblickend unvermeidlich erscheinen, dass Harald Schmidt und
Benjamin von Stuckrad-Barre einander begegnet sind, genauer: dass ihr jeweiliger ›Beziehungssinn‹ sie zueinander und zu gemeinsamen öffentlichen Aktionen geführt hat. Denn die Werkbiographien beider Künstler lassen sich nicht
verstehen oder erzählen ohne den durchlaufenden Hinweis auf ihre Bündnisund Anspielpartner: Bei der Durchsicht von Schmidts Werkstationen ist etwa
eine Auseinandersetzung mit dem nur vordergründig in doppeltem Sinne
kleinen Herbert Feuerstein unvermeidlich, dem ›Dirty Harry‹ immerhin nekrologisch nachgerufen hat, dass er ihm seine Karriere verdanke.1 Ebenso zu
würdigen wäre die inszenierte Erdung von bzw. durch Manuel Andrack, die
Schmidts intellektueller Persona und damit der Show im Ganzen erst ihre Ambivalenz ermöglichte. Und mindestens ein Seitenkapitel müsste in dieser Geschichte kunstpolitischer Kooperationen Oliver Pocher gewidmet sein, auch
wenn sich der Begriff ›Kunst‹ mit seinem Namen nicht zusammensperren las-
https://www.stern.de/kultur/tv/herbert-feuerstein-ist-tot--harald-schmidt-wuerdigtseinen-partner-aus--schmidteinander--9443960.html.
1
CHRISTOPH JüRGENSEN
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sen will und in diesem Fall die Ungleichheit einmal resonanztaktisch falsch
kalkuliert war.2
Der Weg von Stuckrad-Barre wiederum in bzw. durch das Feld der Popund Populärkultur steht ebenfalls im Zeichen von Bündnissen.3 Kaum ist
sein Debütroman Soloalbum erschienen, reiht er sich schon in das legendäre
popkulturelle Quintett ein, das im Jahr 1999 im noblen Berliner Adlon Hotel ein »Sittenbild seiner ›Generation‹ modellier[en]«4 will und sich auf dem
Umschlag des naturgemäß folgenden Buches als Gruppe von Dandys in Szene setzt;5 werkpolitisch blieben die fünf versierten Öffentlichkeitsarbeiter danach übrigens keine Band, mindestens Christian Kracht ist Stuckrad-Barre
aber weiter verbunden geblieben6, sichtbar etwa in den sozialen Medien wie
Instagram – kein Post von Kracht, den er nicht sofort liked, und vice versa.
Generationell und literaturpolitisch anders gelagert ist die Zusammenarbeit
mit Walter Kempowski, den Stuckrad-Barre beispielsweise am Bloomsday 97
per Telefon interviewt hat, während beide fernsahen – hier soll offenkundig
eine andere Währung der Kapitalsorte Aufmerksamkeit kassiert werden, als
sie sich im Bündnis mit Kracht bekommen lässt.7 Eine schwer überbietbare
2
Besonders drastisch fällt der ›kulturelle‹ Unterschied in der Sendung vom 24. April 2008 auf, als Harald Schmidt seinen Partner auf offener Bühne und ohne jede Ironie
abkanzelt, als Pocher an die Sängern Mena ein Sekret weiterreicht, das ihm zuvor Lady
Bitch Ray mitgebracht hatte: »So ne kleine, miese Type, die, wenn sie ein Fotzensekret
überreicht kriegt, so klein ist mit Hut und es dann einem ausländischen Gast so reinsemmelt, der kein Deutsch versteht. Uncool. Oliver Pocher, nächstes Mal hat er es begriffen.«
(https://www.youtube.com/watch?v=qfxWuBinR74.)
3
Siehe hierzu grundsätzlich Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: »White Album/
Blackbox. Popkulturelle Inszenierungsstrategien bei den Beatles und Stuckrad-Barre.« In:
Literatur im Unterricht 1 (2011), S. 17–38.
4
Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht,
Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin: List,
1999, S. 11.
5
Siehe hierzu umfassend Jörg Döring: »Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett
mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und
Benjamin von Stuckrad-Barre (1999)«. In: Moritz Baßler u. Eckhard Schumacher (Hg.):
Handbuch Literatur & Pop. Berlin u. Boston: de Gruyter, 2019, S. 552–567.
6
Und Kracht wiederum gab über Jahre hinweg mit Nickel die Zeitschrift Der Freund
heraus. Siehe hierzu Moritz Baßler: »‚Der Freund‘. Zur Poetik und Semiotik des Dandysmus
am Beginn des 21. Jahrhunderts.« In: Alexandra Tacke und Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln / Weimar / Wien: Böhlau,
2009, S. 199–217.
7
Benjamin von Stuckrad-Barre: Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2. Köln:
KiWi, 2004, S. 41–147; siehe hierzu Martin Rehfeldt: »Archiv und Inszenierung. Zur Be-
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
Rolle wird später bekanntlich Udo Lindenberg zugewiesen, als Heilsgestalt,
an der sich das eigene Leben aus- und aufrichtet, die autofiktionale Beichte
Panikherz ist schließlich auch eine über die Bande gespielte Lindenberg-Biographie.8 Auch in diesen Zusammenhang gehört neuerdings das Gesprächsbuch Alle sind so ernst geworden mit Martin Suter,9 formal wiederum dialogisch
strukturiert wie einst Tristesse Royale, aber nicht mehr auf Gleichrangigkeit
der Dialogpartner hin orientiert, sondern poetologisch näher an der Fanhaltung von Panikherz angesiedelt.
Sicher spielt das Verhältnis von Schmidt und Stuckrad-Barre in diesen
Geschichten vom werkstrategischen Beziehungssinn auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick keine prominente Rolle. Aber es scheint mir
doch aufschlussreich, um im Zusammen- und Widerspiel der Positionen und
Rollen Auskunft zu erhalten über das Weltverhältnis ihrer jeweiligen Kunstkonzepte, genauer: über die Stellung des jeweiligen ›Ich‹ zur Welt in diesen
Konzepten. Denn beide, wie im Vorgriff auf die weitere Argumentation pointiert sei, interessiert poetologisch alles, was der Fall ist, die ganze (vor allem:
mediale) Welt ist insofern Material für ihre Kunstäußerungen. Mehr noch,
beiden Haltungen zur wirklich wahren Wirklichkeit ist dabei gemeinsam, dass
die zentrale Spielregel ›Authentizität‹ lautet, keine Rollenprosa, das Publikum
soll alle Äußerungen und Aktionen zurückbinden an die Persönlichkeit des
Sprechers. Sie unterscheiden sich allerdings im Grad der eigenen Involviertheit in die dergestalt medial aufbereitete Welt. In Anlehnung an den russischen Formalisten Boris Tomaševskij könnte man bei Stuckrad-Barre von heißer und bei Schmidt von kalter Autorschaft sprechen:10 Der eine inszeniert
sein Leben kunstförmig, wie einen Roman, der andere lässt sein Leben draußen aus dem Kunstprojekt, als das sich seine gesamte Karriere verstehen lässt.
Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass sich Techniken und Aktivitäten der distinktiven öffentlichen Selbstdarstellung in Kontroversen, Bünd-
deutung der Autorinszenierung für Walter Kempowskis Echolot und Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum«. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin u. New York: de Gruyter, 2010,
S. 369–390.
8
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Köln KiWi, 2016.
9
Ders. u. Martin Suter: Alle sind so ernst geworden. Zürich: Diogenes, 2020.
10
Boris Tomajevskij: »Literatur und Biographie.« In: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte
zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 46-61.
221
CHRISTOPH JüRGENSEN
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nissen und Imitationen äußern.11 Daher, so meine These, führt dieses intrikate
Zugleich von referenziellen und handwerklichen Ähnlichkeiten und Differenzen in der Frage der ›Selbsthaftung‹ dazu, dass die Beziehungsgeschichte zwischen dem distanzierten »Kältetechniker«12 der deutschen Medienlandschaft
und ihrem selbstausbeuterischen Wärmetechniker als Ineinander aller drei
Grundmuster in wechselnden Aggregatzuständen lesbar ist. Im Folgenden
sollen, um im Bild zu bleiben, die dabei entstehenden Temperaturschwankungen nachgezeichnet werden.
2
Bündnisfall I: Stimmenimitatoren
Der generationelle Abstand zwischen Schmidt und Stuckrad-Barre ist dafür
verantwortlich, dass die erste Begegnung nicht auf Augenhöhe stattfinden
konnte. Schmidt hatte ja längst eine gut identifizierbare, konturscharfe Position im Feld der Medien besetzt, als Stuckrad-Barre dieses Feld betrat. Entsprechend fungierte der etablierte Schmidt in diesem Verhältnis zunächst als
Kapitän und der Schiffsjunge Stuckrad-Barre im Maschinenraum, weniger metaphorisch gesagt: Stuckrad-Barre ›diente‹ von 1998 bis 1999 als ›Gagschreiber‹
für die Schmidt Show, wie der Lebenslauf auf seiner Homepage nüchtern vermerkt,13 und kaum ein Porträt verzichtet seither auf die Nennung dieser Station – so wie Stuckrad-Barre selbst wiederholt darauf hingewiesen hat, dass
er bei Schmidt gelernt habe (er wird aber auch in nahezu jedem Interview danach gefragt). Beispielsweise erinnert er sich in seiner autofiktionalen Konfession Panikherz an das Einstellungsprocedere, das bezeichnender Weise auf
die Bewerbung mit einem Buch-Manuskript folgt:
Schmidt SELBST war auch anwesend, war irre schnell, zugleich fast schon
hysterisch lustig und dabei doch ganz unaufgeregt, Laser-Präzisionspointen, der Baucontainer eine Schmidt-Show. Er erzählte von einem Supermarktbesuch, führte die aggressive Freundlichkeit auf, mit der einem
Siehe zu diesen Strukturformen grundsätzlich Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Genese«. In: Dies. (Hg.):
Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg: Winter
2011, S. 9–30.
12
Stuckrad-Barre: Panikherz S. 386.
13
https://www.stuckradbarre.de/biografie/.
11
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
winkende Menschen auf dem Supermarktparkplatz im Tausch gegen eine
Münze das Einkaufswagenentsichern aus der Kette ersparen wollen. Die
Formalitäten hatten eine halbe Minute gedauert: habe ihm gut gefallen,
mein Manuskript, ich könne bei ihm anfangen.14
Für die selbstinszenatorische Legendenbildung ist diese Phase offenkundig
von eminenter Bedeutung, weniger für Schmidt, mehr für Stuckrad-Barre und
die Ausbildung seines Kunstsinns bzw. seiner Welthaltung. Denn Schmidt
war ja schon ›fertig‹, war, wenn wir Stuckrad-Barre folgen wollen, ja eh immer
schon ›Harald Schmidt‹, »alles immer erster Akt«.15 Der Neuling im Feld entwickelt seine Haltung allerdings erst, und zunächst vollzieht sich dies im Zeichen der Imitation, wie wir wiederum Panikherz entnehmen können.
Es war vielleicht die einzige Firma Deutschlands, in der hinter dessen
Rücken nicht in herabsetzender, sondern in sich selbst erhöhender Absicht die Sprechweise des Chefs nachgeahmt wurde. Einfach weil wir so
begeistert von ihm waren und natürlich auch, weil wir ja so nah wie möglich an seinen Humor, seine Logik, seine Sprache heranreichen mussten mit unseren Gaglieferungen. Spaß und Herausforderung lagen darin,
die Gags so zu formulieren, dass er sie möglichst wortgleich übernahm.
So verinnerlicht hatten wir seinen Duktus, dass wir in der Kaffeeküche oder am Süßigkeitenautomaten alle wie kleine Schmidts sprachen.
Aaaaaaaabsolut, sagten wir dauernd, wie er. Phaaaaantastisch. Oder ein
hingehuschtes, immer das Gegenteil meinendes: großartig, natürlich,
selbstverständlich.16
Der erste medienpolitische Bündnisfall wurde dann durch die tatsächliche Veröffentlichung von Stuckrad-Barres Debütroman Soloalbum im Jahr 1998 ausgelöst, den er zuvor als ›Empfehlungsschreiben‹ funktionalisiert hatte, und
zwar ein Bündnisfall im doppelten Sinne. Zunächst vollzog sich der kunsttaktische Schulterschluss auf paratextueller Ebene, genauer: auf der hinteren
Umschlagseite des Romans. Dort hebt Schmidt zu folgender Würdigung an:
Benjamin v. Stuckrad-Barre hat in seiner Jugend Maienblüte einfach so
das Buch hingelegt, das ich selber gerne geschrieben hätte. Grummel.
Die süchtige Leserschaft verdankt Herrn v. Stuckrad-Barre eine außerge-
14
15
16
Stuckrad-Barre: Panikherz, S. 186.
Ebd., S. 502.
Ebd., S. 191.
223
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wöhnlich witzige, böse und stellenweise brillante Liebesgeschichte. Jugend der Welt – kauf dieses Buch und lies es!
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In Panikherz erinnert sich Stuckrad-Barre, wie er dieses symbolische Kapital eingeworben hat: »Ich bat Schmidt, sein Angetansein für die Rückseite
des Buches verwenden zu dürfen, er war einverstanden und formulierte ein
Buchumschlagslob.«17 Das klingt etwas gönnerhaft, nicht nach Ebenbürtigkeit zwischen Junior- und Seniorpartner. Aber unterschätzen sollte man den
Werbetext nicht, dafür ist er zu charakteristisch geraten. Ton bzw. Satzmelodie des Auftakts erinnern in ihrer ironischen Gespreiztheit kaum zufällig an
Schmidts notorischen Stand-up-Opener »Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich
von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe«, den Rainald
Goetz als Titel einer gesamten Werkgruppe verwendet hat. Das Zitat auf der
›U4‹ von Soloalbum hält die Balance aus dieser Ironie und einer interpretativen Ernsthaftigkeit, die mit Blick auf den ›Kapitalgeber‹ Schmidt auf die genau richtige Weise ›authentisch‹ wirken muss – ungebrochenes Pathos wäre ja
unglaubhaft gewesen, dieser Form des Lobs hingegen ist gleichsam das Label
›Harald Schmidt‹ aufgeprägt. Vergleichbar stimmig in Sicht auf das Autorenlabel ist übrigens die flankierende Empfehlung des Buches durch Harry Rowohlt gelungen: »Normalerweise lasse ich mich nicht von Jungspunden als
Jeansjackenträger beschimpfen. Bei Benjamin v. Stuckrad-Barre mache ich
ausdrücklich eine Ausnahme. Weil er Soloalbum geschrieben hat, darf er das.
Aber nur ein paarmal.« Spätere Auflagen können sich dann auf den bündigen
Schlussaufruf von Schmidt beschränken, zudem ist dort Rowohlt durch Zitate aus Stern und Spiegel ersetzt. Pragmatisch gesprochen: Während der Debütant für die erste Auflage um ein vorauseilendes Lob bitten musste, konnten spätere Auflagen eine Presseschau vornehmen. Oder resonanzstrategisch
gewendet: Mit dem Erfolg des Romans ändern sich Informationslage wie Zielgruppe, Schmidt muss nun keine Kurzinterpretation liefern, sondern reicht
als Label, Rowohlt wiederum weicht Stimmen, die einen deutlich größeren Resonanzgrad anzeigen – um die happy few war es Stuckrad-Barre ja nie zu tun.
Stärker werkwärts als diese semantisch intrikate, ansonsten aber vergleichsweise gattungstypische Klappentextlobhudelei bewegt sich eine Form
der leibseelischen Koproduktion, nüchtern gesagt: gemeinsame Auftritte.
Während Stuckrad-Barre die erste Lese-Reise noch als Solo-Tournee unter-
17
Ebd., S. 189.
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
nahm, mit Ausnahme eines gemeinsamen Auftritts mit Christian Kracht, erlaubte das schnell anwachsende symbolische Kapital, die Fortführung der
Tour mit einigen Gastauftritten aufzuwerten.18 Notorisch dabei ist natürlich
Christian Kracht, dazu Christian Ulmen – und eben auch Harald Schmidt.
Dazu heißt es in Panikherz:
Er hatte sich sogar leichtfertig bereit erklärt, »falls du mal ‘ne Lesung
machst in Köln, bin ich gern dabei«, woraufhin ich natürlich sofort eine
Lesung ANBERAUMEN ließ. Schmidt stand mit auf dem Plakat, demzufolge war die Lesung sofort ausverkauft, wir lasen vor 500 Leuten aus
meinem Buch, Schmidt sang sogar ein Lied, das im Buch vorkommt: »Paradise City«.19
Auf der Lesungs-CD Liverecordings ebnet Stuckrad-Barre die Hierarchie dann
vollends ein, dadurch, dass der Auftritt Schmidts erst zerschnitten und dann
an verschiedenen Stellen wie organisch in den Ablauf eingefügt wird, im Bemühen, die Schnipsel von verschiedenen Shows wie einen Auftritt wirken zu
lassen.20
3
Bündnisfäll II: Theater des Lebens
Als gemeinsames Werk lassen sich aber vor allem zwei Auftritte von Stuckrad-Barre in der Schmidt Show interpretieren. Sicher, die beiden »Vertreter
der Unterhaltungsindustrie«21 haben keine betriebskritischen Xenien redivivus verfasst, ja haben überhaupt gemeinsam nichts vorgelegt, was buchförmig wäre. Aber in einem weiten Sinne können (oder sollten) TV-Inszenierungen durchaus mit dem Werkbegriff belegt werden, wenn sie Ausdruck
einer künstlerisch gesteuerten und motivierten Perspektive auf die Welt sind.
Wie sehr die Präsentation von symbolischem wie sozialem Kapital zur Selbstinszenierung Stuckrad-Barres gehört, zeigt sich später besonders ausgenfällig in den Buchtrailern zu Ich glaub, mir geht‹s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen. Remix 3. Siehe
hierzu Christoph Jürgensen: »Kino für Leser. Zur Inszenierung von Autorschaft in Buchtrailern«. In: Steffen Martus u. Carlos Spoerhase (Hg.): Gelesene Literatur. Populäre Lektüre
im Zeichen des Medienwandels. München: Text + Kritik (Sonderband) 2018, S. 181–192.
19
Ders.: Panikherz, S. 192.
20
Ders.: Liverecordings. München: Der HÖR Verlag, 1999.
21
Ders.: Livealbum. Köln: KiWi, 1999, S. 67 u.ö.
18
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Konkret: Erstmals nicht hinter, sondern auf der Bühne der Show ist Stuckrad-Barre am 23. Juni 2001. Naturgemäß vollzieht sich dieser Rollenwechsel
nicht plötzlich, sondern ist vielmehr anlassbezogen, und er hat einen so langen wie kulturpoetisch komplexen Vorlauf22, der verschiedene Akteure, Texte und Medien zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügt. Ausgangpunkt
der Kunstaktion, deren Schauplatz die Schmidt-Show wird, ist in diesem Fall
nicht Schmidt, sondern Stuckrad-Barre: Am 17. März 2001 erscheint auf den
Berliner Seiten der FAZ unter dem Titel Claus Peymann kauft sich keine Hose,
geht aber mit essen ein gleichermaßen ironisches wie huldigendes Dramolett
von Stuckrad-Barre. Es ist montiert aus einerseits Gesprächsstücken zwischen
dem Autor und Peymann, während sie auf dem Berliner Kurfürstendamm in
einem Bekleidungsgeschäft sind, sowie aus andererseits intertextuellen Verweisen auf Thomas Bernhards längst legendären Einakter Claus Peymann kauft
sich eine Hose und geht mit mir essen aus dem Jahr 1986.23 Schmidt wiederum,
der bekennender Bernhard-Verehrer ist,24 will (wie er in der Show ausdrücklich thematisiert) den Text Stuckrad-Barres auf der Homepage seiner Show
einstellen, damit könnte die bündnispolitische Aktion schon wieder ein erledigter Fall sein – aber die FAZ verweigert die Rechte und provoziert damit
die weiteren Aktionen. Spätestens ab der Show vom 21. März haben wir es
mit der Chronik einer angekündigten Aufführung zu tun, dort entspinnt sich
folgender Wortwechsel: »Es ist ein fantastischer Text, ein großartiger Text«,
wendet sich Schmidt zu Andrack, »er müsste aufgeführt werden. [...] Vielleicht lerne ich diesen Text auswendig und spiele ihn hier. Da kann die FAZ
sich nicht wehren«, ein Vorschlag, der von Andrack unmittelbar aufgenommen bzw. ernstgenommen wird: »Das ist gar nicht schlecht. Wir laden Benjamin ein und ihr spielt den Text.«25
Ich kann mich hier kurzfassen, weil die intertextuelle Faktur dieses Gesamtkunstwerks ausführlich rekonstruiert ist bei Christoph H. Winter: »›[...] der bessere Claus Peymann. Benjamin von Stuckrad-Barre und Harald Schmidt kaufen keine Hose, gehen aber
mit essen«, in diesem Band.
23
Benjamin Stuckrad-Barre: »Claus Peymann kauft keine Hose, geht aber mit essen«.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.03.2001 [erneut in: Ders.: Deutsches Theater. Köln:
KiWi, 2001, S. 11–21].
24
Beispielhaft sei auf die Sendung vom 9.2.2001 verwiesen, in der Karl Ignaz Hennet
zu Gast in der Show ist, um sein Buch Ein Jahr mit Thomas Bernhard vorzustellen. https://
archive.org/details/82762114/Die+Harald+Schmidt+Show+-+0878+-+2001-02-09+-+Karl+Ignaz+Hennetmair%2C+Kim+Schmitz%2C+Siebzehnundvier.avi.
25
https://www.youtube.com/watch?v=RgjZfDH6DXE.
22
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
Idealtypisch für die Show ist die Umsetzung dieser Idee, die in anderen
Zusammenhängen wohl als ›Schnapsidee‹ firmieren und abgelegt würde – in
der Schmidt Show aber tatsächlich umgesetzt wird. So begrüßt Schmidt am
23. Juni im Stand up-Teil: »Heute Abend haben wir einen großartigen Gast.
Er hat nämlich in gewisser Weise das Stück geschrieben, das wir heute Abend
uraufführen. Er ist Autor, er ist Journalist und er wird nachher in unserer Uraufführung mitspielen. Heute Abend bei uns, unser Freund: Benjamin von
Stuckrad-Barre.«26 Der Ankündigung entsprechend wird dann die Showbühne zum Theaterraum umgestaltet, und das Stück als Höhepunkt der Ausgabe aufgeführt. Schmidt figuriert als Banalitäten vor sich hin monologisierender Peymann und Stuckrad-Barre als er selbst, strukturgemäß dabei vorrangig
Stichwortgeber, ebenso wie Andrack als Verkäufer des Bekleidungsgeschäfts.
Diese Anordnung wird für gut zwanzig Minuten ohne Brüche durchgehalten,
für eine Late Night Show eine veritable Ewigkeit. Sichtbar wird hier erstens,
dass Schmidt wie Stuckrad-Barre das Gerede der Welt aufnehmen und wiedergeben, deren Floskeln und habituelle Auffälligkeiten, dass es ihnen also programmatisch darum zu tun ist, die Protagonisten der medialen Welt auf der
Bühne des Alltags zu beobachten. Und ebenfalls augenscheinlich wird hier,
dass sie gemeinsame Genealogien verbinden, weil sowohl Bernhard als auch
Peymann keinesfalls ridikülisiert, sondern bei allen durchaus intendierten Lachern in der Parodie nobilitiert werden – die Parodie ist ohnehin die höchste
Form der intertextuellen Anerkennung.
Damit nicht genug, hat die bühnenwirksame Kooperation noch einen doppelten Nachlauf, der zum einen ihre Bedeutung in der Werkbiographie vor
allem von Schmidt artikuliert und zum anderen die ›Theaterhaftigkeit‹ der
Aufführung betont, d.h. ihre ästhetische Gültigkeit im Rahmen der Theatergeschichte: Sie überschreitet nämlich die generischen Grenzen der Show und
wird (ein schwer überbietbarer Weiheakt) von Peymann mit Schmidt und
Stuckrad-Barre in ›ihren‹ Rollen am 25. November im Berliner Ensemble als
›Anhang‹ zum Ausgangsstück inszeniert.
In einem ›Nachruf‹ auf die gerade eingestellten Berliner Seiten schließlich
blickt Schmidt auf die Ereignisfolge zurück:
Ich darf es sagen: Ich habe die Berliner Seiten auswendig gelernt! Damals,
als Claus Peymann mit Benjamin von Stuckrad-Barre essen ging, ohne
sich vorher eine Hose zu kaufen. Diesen Text fand ich so großartig, daß
26
Ebd.
227
CHRISTOPH JüRGENSEN
ich ihn auf der Homepage meiner Show der Weltbevölkerung zugänglich
machen wollte. Um jeden Preis! Die F.A.Z. hat es nicht erlaubt, was mir
wiederum imponiert hat, weil elitär halt elitär bleibt, und da spielt Geld
keine Rolle. [...] Also habe ich den Text auswendig gelernt, als Rache, und
dann haben wir damit sogar beim Berliner Ensemble gastiert, und ich habe
Claus Peymann in die Hand versprochen, mehrmals zu gastieren, worauf Claus Peymann ein Foto von mir ins Werbeheft des BE gesetzt hat,
als Ensemblemitglied, was mir wahnsinnig geschmeichelt hat, wie es befreundete Intendanten geärgert hat. Später habe ich dann mit ziemlich
schlechtem Gewissen an Weiberfastnacht von Sylt aus Claus Peymann
angerufen und ihm mitgeteilt, daß ich leider nicht mehr gastieren könne, weil ich das Stück so selten spiele und der viele Text mir zuviel Arbeit
macht beim immer wieder Auffrischen. Nie habe ich am anderen Ende der
Telefonleitung eine ersterbendere Stimme gehört. Nie wurde ein Mensch
tiefer enttäuscht, nie wurde der Glaube an das Gute, Wahre und Schöne
schändlicher aus einer Welttheaterhammerseele gerissen. Keine Dene,
kein Schwab, kein Voss können den Satz ›Sie haben Ihr Wort gebrochen‹
so abgrundtief zerstört hauchen, wispern.27
228
4
Bündnisfall III: Deutsches Theater
Am 17. Januar 2002 ist Stuckrad-Barre dann erneut als Gast in der SchmidtShow, diesmal um sein neues Buch Deutsches Theater zu bewerben. Das ist
vordergründig ein vergleichsweise typischer move, von beiden Seiten: Der
Künstler produziert, veröffentlicht und stellt vor, die Instanzen der kulturellen Öffentlichkeit geben die Gelegenheit zur öffentlichkeitswirksamen Selbst–
und Werkvorstellung – so weit, so konventionell. Und gerade für die Schmidt
Show war ja typisch, dass dort überhaupt Schriftsteller auftreten, die wechselseitige Nobilitierung von den Objekten des Feuilletons auf der einen Seite und
dem Show gewordenen bzw. verkörperten Feuilleton auf der anderen Seite ist
ja längst eingespielt.28 Bekannt ist zudem Schmidts Methode, die Gäste reden
Harald Schmidt: »Ich kann sie auswendig«. In: F.A.Z. v. 22.06.2002.
Zu Formen und Funktionen von Autorinszenierungen in Talkshows generell siehe
Ella M. Karnatz: »›Ich kann ja gar kein Buch schreiben‹. Schriftstellerische Inszenierungen in deutschen Late-Night- Shows«. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform ›Autor‹? Inszenierungen von Autorinnen und Autoren als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript, 2014, S. 267–280.
27
28
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und sich dabei selbst entlarven zu lassen. In diesem Sinne ist eine Diskussion
unter dem Ausschnitt aus der Show bei YouTube zu verstehen, die 2018 hochgeladen und seither über 200.000 mal angeklickt wurde. So liest ›Phony3000‹
den Dialog als ›battle‹: »Wie er mit jedem Satz Harald Schmidt den Wind aus
den Segeln nimmt. Schon blöd, wenn der eigene Gagschreiber einen die ganze Show vermasselt, weil er hoch ›motiviert‹ ist.« ›blabla1‹ hingegen kennt das
Strukturprinzip der Show und weist den Kommentator zurecht: »Da hast du
ja einen merkwürdigen Eindruck von der Show. Schmidt lässt seinen Gast einfach mal erzählen, weil er auch von allein ganz gut das Publikum unterhält.«
Der User ›Chandler M. Bing‹ schließlich sieht noch mehr, die generelle Struktur wie ihre spezifische Aktualisierung: »Glaube du missverstehst, dass die
beiden keinen VS Kampf i Comedy/Humor austragen. Man könnte das evtl
so sagen, wenn es wirkt, als wär da keinerlei Smypathie zwischen den beiden
Hab das Gefühl, Harald lässt ihn ausführlich reden bzw stattfinden und mag
Benjamin tatsächlich bzw findet ihn lustig.«29
Bereits die Anmoderation legt nahe, dass wir Chandler M. Bing zustimmen sollten und der move folglich vom gängigen Betriebsspiel abweicht, so typisch wie der erste Augenschein nahelegt ist diese Passage der Show keineswegs. Nehmen wir ein close watching vor: Begrüßt wird erneut »unser Freund
Benjamin von Stuckrad-Barre«30, wobei für meine Argumentation wichtiger
noch als die verbale Umschließungsgeste ›Freund‹ das beigefügte Personalpronomen erscheint. Denn Schmidt empfängt ja nicht ›seinen‹ Freund (von
denen er konzeptgemäß ausdrücklich im Betrieb keinen kennt oder nennt),
sondern ›unseren‹, mithin einen kunstpolitischen Bündnispartner der Show.
Wie ernsthaft sich Schmidt auf diesen ›Gast‹ (wie wir also in Anführungsstrichen sagen können) vorbereitet hat, markieren die zahlreichen Post-its in
seiner Ausgabe von Deutsches Theater, eine deutlich sichtbare Form der Anerkennung. Entsprechend stößt der Youtube-User ›BladeRunner64‹ den sentimentalen Stoßseufzer aus: »85.000 Post-its in seinem Buch sprechen eine
deutliche Sprache... schniiiief« [fett im Original].« So beginnt das Gespräch
zwar mit den topischen (zugleich ironisch intonierten und strategisch ernsten) Hinweisen auf die ›Käuflichkeit‹ des Buches, entwickelt sich aber von hier
aus schnell zu einer Art Werkstattgespräch und einer Reflexion der Metho-
Alle Zitate (in genau dieser ›Rechtschreibung‹) zu finden unter: https://www.
youtube.com/watch?v=StFHg9rGwpA.
30
Die gesamte Sendung findet sich unter: https://www.youtube.com/
watch?v=K-Kcbk-cX1I.
29
229
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230
de, die Stuckrad-Barre geleitet hat – die große Ähnlichkeit mit Schmidts Variante der Wirklichkeitsselbstentblößung aufweist. Beispielsweise schildert
Stuckrad-Barre, wie er Franz Beckenbauer in Budapest »besichtigen durfte«:
Der wusste auch gerade gar nicht, ist da jetzt gerade Budapest oder ist
Weihnachtsfeier oder ist er beim Handydreh oder so. Der redete auf einen Mann ein vom Budapester Radio, der ihn auch überhaupt nicht verstand und die beiden haben prächtig miteinander geredet eine halbe Stunde ohne wirklich dieselbe Sprache zu sprechen und Franz textet einfach
durch, das war ihm egal. Ich bin durchs Bild gegangen, habe fotografiert
und der Franz ›ja machs halt schnell‹, da hab‘ ichs halt schnell gemacht.
Dieses Szenario bietet ihm Anlass, seine Poetologie auf eine Formel zu bringen: Figuren wie Beckenbauer würden gar nicht mehr ›richtig‹ bemerken,
wenn sie fotografiert/gefilmt werden, weil sie »eh den ganzen Tag auf Sendung sind. Und das ist ja auch die These des Buches, also alles ist Theater, alles Bühne und alle spielen ihre Rolle.« Offenkundig spiegelt sich hier Schmidts
Verfahren, seine Gesprächspartner reden zu lassen, während die Interpretation der Selbstdarstellungen gleichsam ungesagt mitläuft, weil Schmidts wie
Stuckrad-Barres Haltungen vorausgesetzt werden können und von ihrem Publikum auch verstanden werden – die Lacher an den richtigen Stellen markieren dies deutlich.
Wiederum außersprachlich, aber ebenfalls bedeutungsvoll ist zudem die
körpersprachliche Interaktion, Schmidt und Stuckrad-Barre sind einander
buchstäblich nah, etwa während sie Bilder aus dem Buch in die Kamera halten.
Ein Spiel im Spiel für Eingeweihte bietet dann die abschließende, ausführliche
Erzählung Stuckrad-Barres, wie er als neuer Wallraff bei Fisch Gosch auf Sylt gearbeitet hat, um das Innenleben des Betriebes kennenzulernen. »Gosch, also
ein mega-in-Lokal auf Sylt, ja«, fragt Schmidt erklärend, worauf Stuckrad-Barre ergänzt bzw. präzisiert: »Eigentlich nicht, nur viel zu teurer Fisch, der also
da gern gegessen wird von Sabine Christiansen und so Leuten die da hinkommen und ist da eigentlich auch viel zu kalt, aber muss man halt hinfahren.« So
geht die Schilderung noch weiter, aber redet Stuckrad-Barre überhaupt von
Fisch Gosch, oder unterhalten sich die beiden Entertainer gewissermaßen in
einer literaturhistorischen Insidersprache? Denn mindestens implizit läuft ja
ein Wissen mit, das Schmidt und Stuckrad-Barre sicher teilen und das damals
wohl auch bei großen Teilen des Publikums noch präsent war: nämlich dass
die Fischbude auf Sylt literaturgeschichtlich keineswegs unschuldig ist, sondern vielmehr Ausgangspunkt der Handlung von Krachts Roman Faserland.
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
Noch deutlicher wird der poetologische Charakter des Gesprächs daher
durch einen Seitenblick auf den legendären ersten Auftritt von Christian
Kracht bei Harald Schmidt am 12. Oktober 2001, deshalb, weil Stuckrad-Barre und Kracht ja enge literaturpolitische Verbündete sind und schon vor der
Inszenierung von Tristesse Royale beispielsweise auf Doppellesungen aufgetreten sind; wie kongenial diese Auftritte geraten können, erzählt die oben
schon erwähnte Episode in Livealbum.31 Aber weil Krachts Poetologie trotz
dieser Verbundenheit fast schon gegenläufig ausbalanciert ist, namentlich
in Sicht auf das Verhältnis von Autor und Text, trägt das Gespräch zwischen
ihm und Schmidt eine ganz andere Signatur. Dass Kracht nur qua Namen,
nicht als ›Freund‹ angekündigt wird, und sich die beiden Dialogpartner siezen (derweilen sich Schmidt und Stuckrad-Barre duzen), muss wohl nicht zu
stark interpretiert werden, sie sind sich zuvor im ›Betrieb‹ schlicht nicht begegnet, wie Schmidts Begrüßung verrät: »Ich freue mich sehr, dass wir uns
mal persönlich kennenlernen.«32 Wesentlicher im hier verfolgten Zusammenhang ist, dass sich gegenüber dem Auftritt von Stuckrad-Barre eine Art Umkehrung des kommunikativen Modells findet. Etwas zugespitzt: Kracht lässt
Schmidt reden, nicht andersherum. Er schweigt zwar nicht, unterläuft aber
die kommunikativen Spielregeln von Interview-Situationen konsequent. Wo
Stuckrad-Barre erläutert, lächelt Kracht durchgängig ironisch-distanziert, ja
sphinxhaft, widerspricht und korrigiert sich wiederholt, gibt Schmidt in allem Recht, spricht leise und fast modulationsfrei, und auf Fragen des Moderators, die als Einladung zur Erzählung verstanden werden sollen, reagiert er
immer wieder mit einem als Anschluss zwar möglichen, aber eben nicht intendierten: »Ja.« Diese »protektive Grundtaktik«33 mittels Ausweichen, Verweigerung, Affirmation und Ambivalenz zeichnet Krachts öffentliche Selbstinszenierung grundsätzlich aus, hier ist sie in a nutshell zu beobachten. Ein
Einverständnis mit dem Publikum kann sich dergestalt freilich auch nicht herstellen, gut erkennbar etwa, als Schmidt sein Gegenüber fragt: »Haben sie mit
Drogen Erfahrungen«, und Kracht sanft erwidert: »Nein, keine«, was vereinzelte, eher unsichere Lacher im Publikum provoziert. Dem Hochwertphänomen ›Authentizität‹ wird hier in jedem Fall eine Absage erteilt, Kracht will ei-
Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 117ff.
https://www.youtube.com/watch?v=mpBpC8SAmCk.
33
Nils Lehnert: »Refus aus Kalkül?! Zu Christian Krachts Fernsehauftritten.« In: Stefan Greif, Nils Lehnert u. Anna-Carina Meywirth (Hg.): Popkultur und Fernsehen. Historische und ästhetische Berührungspunkte. Bielefeld: transcript, 2015, S. 133–166, hier S. 146.
31
32
231
CHRISTOPH JüRGENSEN
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genen Drogenkonsum nicht thematisieren oder literarisieren – während die
Schilderung der Doppellesung in Livealbum ausführlich nachzeichnet, was alles eingeworfen wurde (»Dann holte ich die Pillen raus, und es mußte nicht
mehr überlegt werden, nur noch geschluckt, unsere Drüsen spielten schon
verrückt, merkten wir, als die Pillen sich bereits in unseren Händen aufzulösen begannen, runter damit, und wieder rauf – auf die Bühne«)34. Auf das
Gespräch zwischen Schmidt und Kracht gewendet: Kein Bündnis, nirgends.
Aber zurück zu unseren beiden Protagonisten. Die Bündniszeit war mit
den skizzierten Aufritten schon wieder vorbei, allenfalls mag sich ihre Zusammenarbeit ein Jahrzehnt später anlässlich des Films Zettl in diesen Kontext
einordnen lassen, obwohl Schmidt und Stuckrad-Barre in diesem Fall auch
nur recht vermittelt zusammentrafen. Stuckrad-Barre verfasste zusammen
mit Regisseur Helmut Dietl das Drehbuch für den Film, und wenn man so
will, variierte er in Sicht auf Harald Schmidt seine Rolle als Gagschreiber. Auch
in diesem Fall ging es ja darum, Text zu liefern bzw. ein Bild von Schmidt zu
zeichnen, dass zu seiner Künstler-Persona passte, das Fremd- und Selbstinszenierung stimmig zusammenbrachte. In diesem Sinne schildert Panikherz:
Als ich mit Helmut Dietl am »Zettl«-Drehbuch arbeitete, legte er mir eines Morgens, im Tausch gegen die von mir täglich mitzubringende Trias
aus SZ, Mohnbrötchen und Laugenbrezel, triumphal das Titelblatt der
Zeit hin, darauf Harald Schmidt, an der Orgel des Kölner Doms sitzend.
Im Blatt selbst über dem dazugehörigen Interview ein Schmidt-Zitat:
»Gefühl ekelt mich.«
Schau, der Harald, jetzt schaust, gell? Find des wahnsinnig komisch, frohlockte Dietl, der Harald muss im Film unbedingt Orgel spielen, wunderbar wird des, so ganz sakral muss er da neigreifen in die Tasten, verstehst?
Des wird sehr komisch aussehen. Prima is des. Los, des mach‹ ma jetzt!
Also schrieben wir etwa zweihundert Orgelszenen für Schmidt, von denen es eine ganz kurze sogar in den Film schaffte, aber da war es dann
nicht die Kölner Domorgel, sondern eine HEIMORGEL. Immerhin.35
34
35
Stuckrad-Barre: Livealbum, S. 125.
Ders.: Panikherz, S. 503.
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
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›Harald Schmidt‹ und Stuckrad-Barre
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Dass die Kooperation von Schmidt und Stuckrad-Barre nur eine kurze Zeitspanne in beiden Werkzusammenhängen einnimmt und sie allenfalls Dioskuren für einen glücklichen ästhetischen Moment sind, lässt sich mit dem
eingangs angedeuteten Verhältnis von (authentischem) Ich und (Kunst)Welt
erklären. Genauer gesagt: Während Harald Schmidt weiter bruchlos ›Harald
Schmidt‹ blieb, entwickelte sich Stuckrad-Barre erst zu sich selbst ohne Anführungszeichen. Seine Abstürze wurden daher nicht verheimlicht, sondern
konsequent öffentlich gemacht. Besonders hervorzuheben ist hier ein Dokumentarfilm von Herlinde Koelbl aus dem Jahr 2004 in der WDR-Reihe Menschen hautnah, der Stuckrad-Barre während seiner Kokain-Phase abfilmt, in
Abhängigkeit und Entzug, kein Glanz, kein Glamour, nur Elend – auf ausdrückliche Einladung des Popliteraten. Das Elend der Bilder ließ StuckradBarre dann allerdings nicht für sich sprechen, sondern lieferte zeitgleich eine
›Selbsterklärung‹ im Rolling Stone, gab dem Spiegel ein Interview und trat bei
Beckmann auf, augenscheinlich eine Inszenierung von ›heißer‹ und ›kalter‹ Autorschaft zugleich.
Programmatisch musste Schmidt auf diese Selbstzurschaustellung mit öffentlichem Spott reagieren, der einstige Bündnispartner hatte ja gleichsam die
Seite gewechselt, hatte sich vom Subjekt der Weltschau zu ihrem Objekt gemacht (das bei Stuckrad-Barre in der künstlerischen Nachbetrachtung dann
wieder Subjekt wird, aber das liegt später und muss Schmidt nicht interessieren). In Panikherz sieht das ›Opfer‹ also seiner ›Hinrichtung‹ zu:
Harald Schmidt ging wieder auf Sendung, jetzt in der ARD, ich ahnte, ja
wusste, was er von mir als öffentlicher Figur in jüngster Zeit hielt, gar
nichts natürlich. Und deshalb hoffte ich, dass seine Show schlecht sei,
dann könnte ich ihn auch blöd finden. Mich und mein öffentliches Auftreten zuletzt, die DROGENBEICHTE und so dies und das an publik gewordenem und von mir gemachtem Privatzeugs, all das mit Schmidts Sezier-Augen zu sehen, was ich ja konnte, hatte es schließlich ein Jahr lang
beruflich gemacht, war unerträglich. […] Leider war Schmidt großartig,
wie immer, in jedem Stadium, […]. Und dann kündigte er den Gast Adam
Green an […] Ich saß, nein lag vollkommen abgedichtet vorm Fernseher
und hörte Schmidt zu Andrack sagen, dem Indie-Andrack, der bestimmt
großer Fan von Adam Green war, Nick-Hornby-Parodie, die er immer war;
wie also Schmidt jetzt wirklich sagte, oder war das Kokainparanoia?, dass
CHRISTOPH JüRGENSEN
er erst gedacht habe, als er Fotos von Adam Green sah, es handele sich um
»Stuckrad-Barre, der sich als Herlinde Koelbl verkleidet hat«.
Alles klar.
Da waren wir also.
Ich war ein Verstoßener.
Schmidt hatte recht, mich zu verachten.36
234
Für Schmidt war die Angelegenheit damit ein erledigter Fall, nur noch gelegentlich und auf Nachfrage von Interviewern kommt er auf Stuckrad-Barre
zu sprechen (das Werkstattgespräch in diesem Band ist in dieser Hinsicht typisch). Sein vormaliger Partner in Aestheticis hingegen bleibt, wenngleich Lindenberg nun als zentraler Godfather fungiert, aufgrund seines Weltverhältnisses und seiner Werkstruktur auf Schmidt bezogen – auch deshalb, weil er
bei und für Schmidt das Modell der unendlichen Reflexion eingeübt hat, dem
sich nicht entkommen lässt. Schon die Rekonstruktion ihrer Entfremdung
oder Kontroverse in Panikherz verharrt daher bezeichnender Weise nicht bei
sich, sprich bei der Innenschau während der öffentlichen Aburteilung durch
Dirty Harry, die man in diesem Fall tatsächlich schmutzig nennen mag. Vielmehr wird sie sofort überführt in eine quasi eigenständige Binnenerzählung
mit dem Titel WENN DER EIGENE HELD SICH GEGEN EINEN WENDET37
und zudem gespiegelt in einer Geschichte, die Bret Easton Ellis mit Elvis Costello erlebt hat und die er Stuckrad-Barre zehn Jahre später erzählt – derjenige Ellis also, der in »der Polytheismus-Rangordnung meiner persönlichen
Götter eine mindestens so wichtige Position wie Schmidt«38 einnimmt. Reflektiert wird folglich gemeinsam mit einem Helden über ihre jeweiligen Helden, beide Erinnerungen dabei aus ferner Distanz berichtet und in Panikherz in die Kunstform ›autofiktionaler Text‹ eingeordnet – was sich einfach
liest, ist offenkundig vielschichtig gebaut. Und gemeinsam kommen Ellis und
Stuckrad-Barre dabei zu einer versöhnlichen Haltung, Stuckrad-Barre findet
es gut, ja reif irgendwie von mir selbst […], dass ich anschließend, nach
einer kurzen Wutphase, doch wieder in der Lage war, Harald Schmidt
weiterhin zu verehren. Ich hoffe also, sage ich zu Ellis, du liebst Costellos
Platten immer noch, trotz dieses Erlebnisses, ja? Aber sicher, sagt Ellis.
Also, wann, wenn nicht jetzt, ich fummele endlich das Costello-Bild aus
36
37
38
Stuckrad-Barre: Panikherz, S. 384.
Ebd., S. 385 [fett im Original].
Ebd.
DER KÄLTE- uND DER WÄRMETECHNIKER
der Pappe, und der Titel der darauf beworbenen Platte könnte ja passender zu unserem Gesprächsthema gar nicht sein: »This Year‘s Model.«39
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Aber auch damit war das letzte Wort noch nicht geschrieben. Im 2018 erschienenen Kolumnenband Ich glaub, mir geht‹s nicht so gut, ich muss mich mal
irgendwo hinlegen. Remix 3 findet sich ein vierzigseitiger Text, in dem Stuckrad-Barre den Stimmenimitator gibt: 2013 – Ein Jahresrückblick mit Harald
Schmidt. Stuckrad-Barre spricht für diesen Rückblick also nicht mit, sondern
als Schmidt, kopiert seine ›Stimme‹ und adaptiert seine Weltsicht. Um nur ein
Beispiel für diese ästhetische Anpassung anzuführen: »Sehr gut gefallen hat
mir dann noch Katja Riemann, wie sie diesen verblödeten NDR-Moderator
auf dem roten Sofa hat auflaufen lassen. Sowas müsste viel öfter passieren.
Riemann ist eine der wenigen wirklich guten deutschen Schauspielerinnen,
der Auftritt war großartig, sie hatte ja mit allem recht. Ich fand erstaunlich,
dass man diesen Moderator nicht sofort gefeuert hat. Andererseits, von der
ARD rausgeworfen zu werden, das schaffen eh nur die Besten. Zum Beispiel
ich.«40 So ist der Bogen von den imitatorischen Anfängen zum (bisherigen)
Ende der Werkbiographie geschlagen. Oder ein letztes Mal mit Panikherz auf
den Punkt bzw. eine (Selbst)Erzählung gebracht, die Stuckrad-Barre am Ende
des ›Romans‹ bringt, nachdem er auf Anregung der Schmidt Show endlich
Psycho gesehen hat:
Als alter, ja ewiger Harald-Schmidt-Gagschreiber fällt mir auf dem Fahrrad ein »Psycho«-Witz ein, ich halte an, setze mich auf einen Stromkasten,
um in Ruhe diesen Witz zu tippen und ihn an den Freund zu schicken,
mit dem ich bei Schmidt damals ein Büro teilte. Wir schicken uns noch
heute ab und zu Witze, zwar gibt es die Schmidt-Show nicht mehr, aber
man hört ja nie auf, so zu denken. Und so geht für uns diese SchmidtShow immer weiter; es ist eine Art, auf die Welt zu gucken, sie besser zu
ertragen. Und sie sich, auch das, vom Leib zu halten.41
Ebd., S. 386.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Ich glaub, mir geht‹s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen. Remix 3. Köln: KiWi, 2018, S. 243.
41
Ders.: Panikherz, S. 549f.
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