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Grace and Gravity, Atom Time and the Natural Sublime

2024, Architecture Theory: By Way of Scale –Architecture and the Abduction of Space (11)

In these unpublished series of Readers I provide transcripts / lecture notes to my Bachelor course 2 at TU Vienna in Architecture Theory: By Way of Scale –Architecture and the Abduction of Space. In the episodes of this lecture course, contemporary architecture theory stances are presented and discussed before the motivic question in the courses title (foregrounding the relation between "space" and "scale"). Here are is the YouTube Playlist of the reference Lectures that provide the motivic ground for these edited lecture notes: https://youtube.com/playlist?list=PLWfc_2VBcW9QeluXQDQ_XTxpBn9Smfd9S&si=jO7Ehbg1SkbY9G1W

VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – By Way of Scale – Architecture and the Abduction of Space. Grace and Gravity, Atom Time and the Natural Sublime Wien S2024 Vera Bühlmann attp.tuwien.ac.at LARS SPUYBROEK –1– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT –2– – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – TU WIEN BACHELOR VORLESUNG ARCHITEKTURTHEORIE 2 GRACE AND GRAVITY, ATOM TIME AND THE NATURAL SUBLIME (LARS SPUYBROEK) DIESER TEXT IST EIN LEICHT REDIGIERTES TRANSKRIPT DER AUFGEZEICHNETEN VORLESUNGEN (ATTP YOUTUBE: HTTPS:// YOUTU.BE/7PWNAHDASGI?SI=XSUKSBVK6EIEUDIM), VON VERA BÜHLMANN, MITARBEIT IRINEL PINTILIE, OLIVER SCHÜRER, OPEN AI (MÄRZ 2024) LARS SPUYBROEK –3– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT –4– – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Grace and Gravity, Atom Time and the Natural Sublime Willkommen zur Vorlesung Nummer elf in diesem Semester Architekturtheorie 2 zum Motto By Way of Scale: Architecture and the Abduction of Space. Heute geht es spezifischer um Architektur in der Atomzeit und es geht um Vorstellungen von so etwas wie einer atomischen Zeit gegenüber von Atomzeit. Wir werden gleich ausführlicher darauf eingehen. Es geht im Kern um ein Buch von Lars Spuybroek mit dem Titel Grace and Gravity, Architectures of the Figure (2020). Bloomsbury (2020) Book Cover Text: How do we live well? The first sentence of Grace and Gravity raises the fundamental question that constantly occupies our mindsand of all those who lived before us. Paradoxically, the impossibility of answering this question opens up the very room needed to find ways of living well. It is the gap where all disciplines fall short, where architecture does not fit its inhabitants, where economy is not based on shortage, where religion cannot be explained by its followers, and where technology works far beyond its own principles. LARS SPUYBROEK –5– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Metaphysische Gesten und die standardisierte Messungsphysik der Welt weiten Zeit Ich möchte zunächst mit einem Rückblick beginnen, um zu erläutern, was das Interesse an diesem Thema einer sogenannten “Atomzeit” in unserer Vorlesung ist. Es geht nämlich nicht etwa um die eine oder andere Form von Aktionismus für oder gegen Atomstrom zum Beispiel. Vielmehr steht das, was hier mit “Atomzeit” gemeint ist im Zusammenhang mit der Art und Weise, wie wir heutzutage Zeit messen. Zeitmessung basiert auf der Lichtgeschwindigkeit als einer Naturkonstanten, die es ermöglicht, eine absolute Zeitmaßeinheit basierend auf dem Atomgewicht zu verwenden. Diese “absolute” Zeit kann weltweit gleichförmig gemessen und getaktet werden. Das Atomgewicht spielt dabei eine wesentliche Rolle, insbesondere dasjenige der sogenannt schweren Atome, das heisst jener Teilchen deren Entstehung nahe dem Urknall situiert wird. Ich möchte diese Erklärung stark vereinfachen. Mein Ziel ist nicht, den Eindruck zu erwecken, dass ich über eine spezifische Expertise diesbezüglich verfüge. Im Gegenteil, es geht eher um die allgemeine Weise, wie heutigen wissenschaftlichen Technik, die wir alle nutzen, ohne sie vollständig zu verstehen, Verwendung in unserem Alltag findet. Das Konzept der Atomzeit ist von Bedeutung, da sie die Grundlage für das LARS SPUYBROEK –6– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Konzept der Realzeit bildet, also für eine scheinbar faktische “Gleichzeitigkeit” der Ereignisse. Diese unsere reale Zeit oder diese Gleichzeitigkeit, verbinden wir am deutlichste mit der Logistik von Information, Gütern, Dingen, Menschen, orchestriert durch das Internet: die Globalisierung hat alle möglichen Prozesse enorm beschleunigt, und erlaubt eine nahezu Synchronizität des Austauschs. In der zeitgenössischen Theorie – Architekturtheorie, aber auch Medien- und Kulturtheorie etwa –sind verschiedene Diskurse eröffnet worden, deren Grundmotiv man am besten vor diesem Hintergrund erfassen kann: Etwa der sogenannte Akzelerationismus, die diversen Ansätze eines Posthumanismus oder besonders, der Transhumanismus, auch der Spekulative Realismus und die Objekt-orientierte Ontologie, oder in zahlreichen Variationen die Ideen heutiger “Apokalyptiker” – denn Apokalypse meint, i m Ke r n , e i n E n d e d e r Geschichte. Vor diesem Hintergrund der Atomzeit lässt sich ihre jeweils spezifische Architektonik (die Architektonik dieser Diskurse) untersuchen, denn Sie sind alle eng mit der technischen LARS SPUYBROEK –7– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Möglichkeit verbunden, Zeit auf eine absolute Weise zu messen, ohne sie durch übergeordnete Referenz-Formate, wie etwa Kalenderordnungen oder auch Sternbilder in einer “Ordnung” zu “halten”. Die Kulturformen die solche Ordnungen indexieren sind vielfältiger den je: Festivals, Festtage im Allgemeinen. Aber was für Referenz-Ordnungen werden dabei als Unterbrechen des täglichen Laufs der Dinge verankert? Welche Art von gemeinsamer Wertschätzung wird damit etabliert? Wir wollen nicht kartieren, wie sich solche Festtage heute in der einen oder anderen Gegend darstellen, sondern wir wollen architektonisch Fragen, um Verbindendes zu finden: Damit steht das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten im Vordergrund, das “Ordnen” und das “Messen” von Zeit. Es ist von Interesse, welche Rolle der Computer in diesem Zusammenhang spielt und spielen kann, und wie über diese Rolle reflektiert werden kann. Zone Books, 2000 Book Cover Text: A Thousand Years of Nonlinear History sketches the outlines of a renewed materialist philosophy of history in the tradition of Fernand Braudel, Gilles Deleuze, and Félix Guattari, while engaging — in an entirely unprecedented manner — the critical new understanding of material processes derived from the sciences of dynamics. Working against prevailing attitudes that see history merely as the arena of texts, discourses, ideolo- LARS SPUYBROEK –8– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – gies, and metaphors, De Landa traces the concrete movements and interplays of matter and energy through human populations in the last millennium. The result is an entirely novel approach to the study of human societies and their always mobile, semi-stable forms, cities, economies, technologies, and languages. De Landa attacks three domains that have given shape to human societies: economics, biology, and linguistics. In each case, De Landa discloses the self-directed processes of matter and energy interacting with the whim and will of human history itself to form a panoramic vision of the West free of rigid teleology and naive notions of progress and, even more important, free of any deterministic source for its urban, institutional, and technological forms. The source of all concrete forms in the West’s history, rather, is shown to derive from internal morphogenetic capabilities that lie within the flow of matter—energy itself. In unserer Vorlesungsreihe ist dieser Hintergrund von zentralem Interesse, weil wir uns ja verschiedene Umgangsweisen in der zeitgenössischen oder jüngeren Architekturtheorie anschauen, wie man heute versucht durch Denkfiguren der Negationsgeste (also zu sagen: “um das und das soll es nicht gehen”) Verhältnisse “im grossen Ganzen” zu stiften, oder zu halten, oder zu qualifizieren. Diese Konzepte beinhalten alle eine Auseinandersetzungen mit einer Logik der Negation, mit Nihilismus und einer Art objektiver Neutralisierung, die jedoch nicht eine absolute Neutralität im Sinne einer Beschreibung meint, sondern eher als eine Art Ziel oder Möglichkeit im Denkhorizont erscheint. Die Faszination für das “Nichts” weist einerseits eine fast poetische Dimension auf, ist aber gleichzeitig äußerst positivistisch-wissenschaftlich gemeint: Es handelt sich um eine Umschreibung davon, was Nihilismus ausrückt: nämlich, dass nichts wirklich Gewicht hat und dass LARS SPUYBROEK –9– GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Werte als vollkommen arbiträr erscheinen, weil man keinen Ursprung für Werte annimmt. Documenta (13) 2012 Nothingness. The void. An absence of matter. The blank page. Utter silence. No thing, no thought, no awareness. Complete ontological in- sensibility. Shall we utter some words about nothingness? What is there to say? How to begin? How can anything be said about nothing without violating its very nature, perhaps even its conditions of possibility? Isn't any utterance about nothingness al- ways already a performative breach of that which one means to address? Have we not already said too much simply in pronouncing its name? Perhaps we should let the emptiness speak for itself. Die weltweite und scheinbare Synchronizität der Ereignisse, von der wir vorher gesprochen haben, bringt das in neuer Form ins Bewusstsein: Wenn jegliches zu jeglicher Zeit relativ einfach möglich ist, dann haben Entscheidungen und Aktionen im Einzelnen nur mehr wenig Gewicht. Als Symptom zeigt sich dies wiederum in der gegenwärtigen Theorie Dis-kursen: Themen der Agency, des Handlungsvermögens und der Handlungswirkkraft, dominieren weite Teile der Diskurslandschaften. Das alte Schema von menschlicher Absicht und Intention auf der Seite der Kulturwelten, und Kausalität und Wirkung auf der Seite der LARS SPUYBROEK – 10 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Natur- und der technischen Wissenschaften, vermag nicht mehr in adäquater Weise, die Zusammenhänge zufassen. Am eindringlichsten zeigt sich das in den gegenwärtigen Diskussionen, welche wohl als wirklich “zeitkrisch” angesehen werden können: “die Klimakrise” und “das Anthropozän”. Minnesota Press, 2015 Book Cover Text: Critiques the environmental destruction caused by media technologies in the anthropocene era Smartphones, laptops, tablets, and e-readers all at one time held the promise of a more environmentally healthy world not dependent on paper and deforestation. The result of our ubiquitous digital lives is, as we see in The Anthrobscene, actually quite the opposite: not ecological health but an environmental wasteland, where media never die. Jussi Parikka critiques corporate and human desires as a geophysical force, analyzing the material side of the earth as essential for the existence of media and introducing the notion of an alternative deep time in which media live on in the layer of toxic waste we will leave behind as our geological legacy. Das Anthropozän bezeichnet eine Ära, in der die Aktivitäten des Menschen sich geologisch in die Erdgeschichte einschreiben, und zwar auf Zeitskalen von einer Grössenordnung, die bisher wenig oder nicht in Bezug standen zu menschlichen Lebensweisen. Konkret meint diese Erdgeschicht- LARS SPUYBROEK – 11 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – liche Einschreibung, dass zukünftige Menschen in den Sedimentschichten der Erde werden lesen können, wann unsere Generationen (seit der Industrialisierung im achtzehnten Jahrhundert bis zu den “klimaneutralen” Generationen der Zukunft) gelebt haben – so wie wir heute in den Sedimenten lesen können, wann es Eiszeiten gab, wann Dinosaurier gelebt haben, et cetera. Wenn man sich das veranschaulicht und auf sich wirken lässt, dann ist das gewaltig! Unsere Nutzung von Rohstoffen und Energie, sowie die Chemie (welche als Medikament, Elektrizität, Lebensmittel, Baustoffen et cetera) alle möglichen materiellen Partikel in Welt weiten zirkulierenden Umlauf bringt), rufen im Körper der des Planeten derartige Veränderungen hervor, die in Jahrtausenden noch ablesbar sein werden. Es handelt sich hierbei tatsächlich um eine neuartige Art von materiellem Gedächtnis – in welchem sich Psychisches und Physisches, Subjektives und Objektives mischen. Was uns jetzt begleiten wird ist genau diese besonderen Verbindung von Materialität und Zeit: Einerseits Klima und Anthropozän, andererseits die standardisierte Messungsphysik von Weltzeit über Atome und deren Gewichte. Das alles bringt eine Vorstellung hervor, in der Zeit nicht LARS SPUYBROEK – 12 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – primär als linearer Verlauf von Vergangenheit zu Zukunft und als Entwicklungsprozess betrachtet wird, sondern eher als eine Art Kontinuum erscheint, in welchem Prozesse der Anreicherung möglich sind. Die dinglich gesprochene Rede: Architektonik und ihr Vermögen zur “materiellen Anreicherung” Diese “Anreicherung” hat wiederum zwei Bedeutungsebenen. Einerseits bezieht sie sich auf wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt sowie auf die Entwicklung von Städten und ähnlichem, nennen wir es “Wohlstandspol”. Andererseits bezieht sie sich konkret darauf, dass die Quantenphysik und Atomtechnik neuartige militärische Anwendungen ermöglicht, Atomwaffen aber auch Dronen et cetera – sprechen wir hier von einem “Gewaltspol”. Dazwischen besteht die Vorstellung eines “Nichts”, ein Fulcrum, das quasi als Dreh- und Angelpunkt fungiert, um den herum die beiden Pole sich “in Proportion” zu halten haben. Diese Vorstellung ist heutzutage von großer Bedeutung und durchdringt viele Aspekte unserer Gesellschaft. Sie ist – zumindest latent – auch in den untersuchten Konzepten präsent. Fassen wir die entsprechenden Figure noch einmal zusammen und benennen wir sie: LARS SPUYBROEK – 13 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Figuren des Konstruierenden Denkens mit “Negation” um das Fulcrum von “Nichts” Beispielsweise zeigt Daniel Libeskind Interesse an Hieroglyphen. Er erklärt, dass er mittels seiner mechanischen Zeichnungen, insbesondere in den “Chamber Works,” die Sedimentierung von Schriftzeichen quasi archäologisch erforschen möchte. Dabei strebt er danach, möglicherweise etwas aufzudecken, was er selbst nicht als Zeichner oder Schreiber hineingelegt hat. Dies impliziert eine Dimension, die mit einem gewissen mystischen Bewusstsein oder sogar mit prophetischen Aspekten verbunden ist, je nach Auslegung. Es geht um die Wahrnehmung von Zeit als etwas, das er- LARS SPUYBROEK – 14 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – forscht werden kann; Zeit also nicht nur als etwas, in dem man gestalten kann, sondern auch als etwas, das selbst aktiv gestalten – im Sinne von “Anreicherung” – werden kann. Peter Eisenman verfolgt eine ähnliche Konzeption in seiner Herangehensweise an Architektur, die er als eine Art des Schreibens betrachtet, in dem keine expliziten Botschaften vermittelt werden. Sein Ansatz zeichnet sich ebenfalls durch einen mechanischen Umgang mit Formen, Strukturen und Setzungen aus, die nicht darauf abzielen, interpretatorisch vorzugehen, sondern eher einen nahezu algorithmischen Charakter aufweisen. Dies beinhaltet das Neuanordnen von Indexverhältnissen, das Herausstellen neuer Bezüge, und ähnliche Aspekte, wie wir gesehen haben. Bei der Betrachtung von Massimo Cacciari wurde deutlich, dass er einen Unterschied zwischen Projekt und Entwurf in der Architektur hervorhebt. Bei einem architektonischen Projekt, das auch eine politische Dimension hat und nicht rein ökonomisch motiviert ist, muss stets eine spezielle Art von Bewusstsein der grossen Zusammenhänge vorhanden sein. Cacciari beschreibt dies als “to feel the pull of the throw.” Ein Projekt wird als etwas verstanden, das in die Zukunft geworfen wird, ein Entwurf hingegen ist dann stark, wenn er immer den Bezug zu dem behält, wovon er sich absetzen möchte. Dies erfordert eine quasi zeit-materielle Art von Projektivität, um die Spannung auszuhalten; dies erachtet er als wesentlich. LARS SPUYBROEK – 15 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – In der Auseinandersetzung mit Pier Vittorio Aureli’s Ansätzen wurde uns die Konzeption der “unilateralen Synthese” vorgestellt. Diese bezeichnet eine Form der Synthese, bei der eine Art Abspaltung oder Bifurkation stattfindet, ähnlich einer Generationen Ordnung. Wenn ein Kind geboren wird, trägt es zwar den genetischen Code materiell weiter, bleibt jedoch dennoch entschieden autonom, “resolutely itself, autonomous.” Aureli greift diese Denkfigur auf und versucht, das Verhältnis von Stadt und Urbanismus auf dieser Grundlage neu zu durchdenken: er führt dafür die Figur des Archipels als “Meta-Form” ein. Im Werk von Kengo Kuma wird deutlich, dass er sich direkt mit dem Konzept des Nichts auseinandersetzt. Seine Vorstellung des Anti-Objekts zielt darauf ab, die Architektur in den Hintergrund treten zu lassen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass seine Absicht, die Architektur “zum Verschwinden zu bringen,” nicht bedeutet, dass es keine Architektur mehr geben soll. Vielmehr gründet diese Idee des “Verschwindens” selbst in einem architektonischer (Denk)Akt. Dies kann nur durch eine erneute Betrachtung der Mechanik als Kunst und Vorstellungskraft verstanden werden. Ähnlich wie bei einem Mechanismus spricht man seiner Vorstellung nach nur dann von Architektur, wenn man die Effekte die sie erzielt auch wieder gekonnt hervorbringen und gekonnt rückgängig machen kann. Ein Mechanismus impliziert stets die Fähigkeit, etwas zu erzeugen und gleichzeitig wieder zu neutralisieren. In diesem Sinne wird die LARS SPUYBROEK – 16 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Vorstellung der Negation plötzlich in einem stofflich-materiellen, mechanischen Sinn relevant. Dabei geht es nicht darum, ob man zustimmt oder ablehnt, ob man etwas überzeugend findet oder nicht. Vielmehr geht es darum, mit Negation auf eine Weise zu arbeiten, die sich materiell manifestiert und durch die Handlungen wieder an Gewicht gewinnen. In der Vorlesung zu Gilles Clément und seinem Konzept des “Planetary Gardens” wurde eine Vorstellung entwickelt, die sich nicht primär auf Architektur, sondern vielmehr auf Landschaftsarchitektur bezieht. Clément schlägt vor, dass anstelle der traditionellen Dichotomie von Stadt / Urbanität und Landschaft die Vorstellung von Welt als Bereich eines diskontinuierlichen, verteilten und bei weitem nicht alles abdeckenden (im Sinn wie die Ländergrenzen die ganze Welt “abdecken” und aufteilen) planetarischen Gärtnerns entwickelt werden sollte. Solches Gärtnern hat den Motor im Städtischen, das (nicht auf Produktion ausgerichtet) Versprechen der Ruhe und spiritueller Sammlung solcher “Gärten” entsteht aus der Stadt heraus, seiner Ansicht nach. Die Gärten sind sozusagen Absorptionsbereiche für intellektuelle Energie und Stofflichkeit, die nicht verausgabt werden sollen (in Ökonomische Produkte, Güter, gezielte Aktionen und Aneignungen). Vielmehr sollen diese “Energien” einer neuartigen Kultur der Muße und der Sorgfalt und Umsicht zuspielen. Diese Idee eines planetarischen Gärtnerns grenzt sich ab von der Symbolik der konventionellen Vorstellungen von LARS SPUYBROEK – 17 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Gärten, die mit paradiesischen Ideen assoziiert werden und davon leben, dass sie die Grenzen des abgeteilten und “frei gestellten” Bereichs eines Gartens klar setzen und so dicht/geschlossen wie möglich halten. Ein Garten wird gemeinhin – auch bei Clément – als ein Ort des Friedens betrachtet, an dem man im Grunde genommen alles was man im Speziellen weiss vergessen kann. Damit ergibt sich auch eine andere Optik auf den Christlichen Zusammenhang von Paradies und Wissen: der Verzehr des Apfels durch Eva, und die damit einhergehenden Entwicklung von Neugier und Wissbegierde, wird spektral mit der Paradiesischen Unschuld und Unwissenheit als dem einen Pol, und der Macht und Verantwortung von Wissen als den anderen Pol gedacht. Clément’s Vorstellung folgt der Idee, dass wir unser gesamtes Wissen als eine Art Flora betrachten sollen: es handelt es sich dabei um eine Vielzahl an Pflanzenarten aus der ganzen Welt, die sich im Laufe der Zeit kontinuierlich durch Migration vermischen, ohne klare genealogische Ordnungen oder Ableitungen, Ursprüngen und Reinformen; Wissen als Fauna ergibt sich über eine Art kreativer Evolution. Das dinglich werdende Wissen selbst wird hier als “Garten” betrachtet, der verteilt über die ganze Welt auf diskrete Weise Zeit und Raumbezüge herstellt und bewahrt, kultiviert und erkundet, immer wieder neu und im Einklang mit so etwas wie globalem Klima und Wetter. LARS SPUYBROEK – 18 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Der planetarische Garten umfasst somit viel mehr als das, was üblicherweise als Globalisierung beschrieben wird. Sie ist ähnlich wie die gut etablierte Vorstellung, dass die Physik (als Wissen von der Natur) die Natur zwar abstrakt wie auch dinglich beschreibt, dass aber die Natur selbst notwendigerweise nicht als “Ganzes” erfasst ist im jeweiligen Stand des Wissens, welchen die Physik als Lehre von der Natur umfasst. Der globale Bereich des planetarischen Gärterns – als Bereiche von weltweiten und coexitierenden Wissenskulturen – ist wie die von der Physik “beherbergte Natur” im Bild oben, während die Architektur, um im obigen Bild zu bleiben, wie die Physik ist. Architektur ist Landschaftsarchitektur, deren Motor und Motive das Städtische ist – so würde ich es auf den Punkt bringen. Metaphysi(kali)sche Gesten: Architektur domestiziert die Technik Wenn man auf diese Weise über Negation reflektiert, so zeigen sich “Gesten” im Denken – eine Geste hat etwas unmittelbares und körperliches, es ist weder ganz in Kontrolle von Sprache oder Bewusstsein noch ist es in irgendeinem Sinn ursprünglich oder rein; wörtlich heisst eine Geste laut etymonline.com “a manner of carrying the body,” vom Mittelalterlichen Latein gestura “bearing, behavior, mode of action,” vom Lateinischen gestus “gesture, carriage, posture”. LARS SPUYBROEK – 19 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – 1991 Zum Buch, Klappentext: Gesten als Ausdruck einer Freiheit zu entziffern - das versucht so wohl die Phänomenologie wie auch die Geschichtsphilosophie. Doch geht die Geschichtsphilosophie davon aus, daß sich die Freiheit in der Zeit ereignet, und zwar in einer ganz spezifischen Zeit: der linearen. Erst auf dem Boden dieser Hypothese verschafft sie sich Zugang zu einem Phänomen wie der Geste. Die Phänomenologie dagegen versucht, so voraussetzungslos wie möglich vorzugehen. Sie nimmt ihren Ausgang von der konkreten einzelnen Geste. Und genau dies ist Flusser’s Verfahren, das, was sich in Gesten bekundet und zeigt, ohne historische oder ideologische Vor-Urteile »aufzuschließen«: strikte Arbeit an den Phänomenen. In den einzelnen Vorlesungseinheiten habe ich versucht, Ihnen diese Gesten quasi als Denk-Figuren in Aktion vorzuführen, damit Sie sie etwas kennenlernen können. Dabei ging es weniger darum, eine Art System aus den verschiedenen Architekturtheoretikern zu bilden, sondern darum zu verdeutlichen, dass sie sich alle mit dieser Dimension der Negation, des Nichts und der immensen Macht, die wir uns durch die moderne Wissenschaft und Technik angeeignet haben, auseinandersetzen. Es ist möglicherweise wichtig, hier speziell zu betonen, dass in diesem Verständnis nicht nur die LARS SPUYBROEK – 20 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Technik der Architektur Möglichkeiten bereitstellen soll (wie es heute geläufigerweise erwartet wird) – sondern dass auch in gegenlaufender Richtung die Architektur die Technik eigentlich “zähmen” soll, nämlich domestizieren. Oft wird angenommen, dass Technik für die Architektur nur interessant sei, insofern sie dem Architekten dabei hilft, etwas präziser, einfacher, schneller oder kostengünstiger zu gestalten. Gegen dieses ebenso arrogante wie konsumierende Verständnis spricht sich diese Vorlesung insgesamt aus. Hier wird eine grundlegend andere Verbindung zwischen Technik und Architektur diskutiert. Es geht um eine Beziehung, in der die Architektur – wie jede kulturelle Praxis – dazu beiträgt, das neue Vermögen, welches die Technik jeweils freisetzt, aktiv kennenzulernen und domestizierend zu gestalten. Solch neue “Potenziale,” die von der Technik immer wieder frei gesetzt werden, erstrecken sich nicht nur wie gegenwärtig auf die Elektrizität und die Atomphysik; ebenso war auch die Industrialisierung durch die Thermodynamik “in Bewegung bebracht”, oder in der Renaissance und Barock waren es vorallem die neue Notation der Algebra in der Mathematik, und der Optik, die auf ähnliche Weise transformative Kräfte entfaltetet haben, die nicht vorhersehbar waren und alles veränderten. LARS SPUYBROEK – 21 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Bernhard Siegert Brinkmann & Bosse, 2003 Passagen des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900 Die Architektur selbst hat sich im Laufe der Jahrhunderte auf abstrakte Weise, aber kontinuierlich, mit solchen Neuerungen auseinandergesetzt; warum sollte dies heute anders sein als früher? Dabei kommt das ins Spiel, was wir hier meta-physi(kali)sche (Denk)Gesten nennen – kurz: metaphysische Gesten. Gemeint damit ist ein Umgang-bezogenes Verhalten, das gewissermaßen Annahmen über Voraussetzungen trifft, die nicht eindeutig entscheidbar sind, ähnlich wie die Frage nach dem Huhn oder dem Ei. Die Wahl der Optionen macht einen Unterschied und beeinflusst die Art und Weise, wie die Welt betrachtet wird. Es ist daher weil jenseits der Anliegen des sogenannten “linguistic turn” des zwanzigsten Jahrhunderts interessant, wieder zu lernen, auf diese Weise “abstrakt-dinglich” sprechen, lesen und schreiben zu lernen. Es geht jetzt um eine literacy im Codieren. LARS SPUYBROEK – 22 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Atomzeit und atomische Zeit – Gravity and Grace / Schwerkraft und Gnade (Simone Weil) Lassen Sie uns nun spezifischer auf die Atomzeit eingehen. Das Buch, mit dem wir uns befassen werden, stammt von einem Architekten namens Lars Spuybroek. Sein Buch trägt denselben Titel wie ein sehr bekanntes Werk einer Philosophin aus dem frühen 20. Jahrhundert, Simone Weil, nämlich Gravity and Grace (veröffentlicht 1952, geschrieben vor und während dem zweiten Weltkrieg). Weil verfolgt in ihrem Werk die Bedeutung der Gravität und im übertragenen Sinn das Gewicht der Dinge, LARS SPUYBROEK – 23 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – das seit Newtons Physik als vereinigende physikalische Kraft angesehen wird. Also, die Gravität ist so etwas wie ein Prinzip, das heisst, es geht beim Gewicht der Dinge nicht wirklich um deren Eigenschaften der vereinzelte Dinge. Gewicht ist auch immer etwas universelles. Es ist nicht nur so, dass die materiellen Dinge Gewicht haben (ausser in einem künstlich erzeugten Vakuum). Sondern der Grund, sozusagen, warum die Dinge Gewicht haben, as ist was man Gravität nennt. Die Gravität steht mit Masse in Verbindung, und Maße steht wieder-um mit Licht in Verbindung. Verrückter Weise hat eine Sonne in einer Galaxie gleichzeitig das größte Gewicht in diesem Sinn, und sie ist ein reiner Lichtkörper! In einer Sonne vollziehen sich Kernfusionsprozesse, die Maße binden; über die Strahlung der Sonne verausgabt sie buchstäblich, was sie ständig sammelt und bindet: eine Sendung im Magazin Alpha auf ARD formuliert es wie folgt: Pro Sekunde fusionieren in ihrem Inneren rund 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu 596 Millionen Tonnen Helium. Das geht schon seit rund 4,6 Milliarden Jahren so. Dieser Massenunterschied von 4 Millionen Tonnen pro Sekunde sorgt dafür, dass unsere Sonne scheint, denn er wird als Energie freigesetzt. (Quelle: https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/ nachhaltigkeit/kernfusion-fusion-sonne-energiekraftwerk-102.html). LARS SPUYBROEK – 24 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Licht und Schwere beschäftigt Simone Weil. Sie macht dazu eine ethische Annahme: Weil geht davon aus, dass “Grace,” also Anmut, Gnade oder wie ich es übersetzen würde: Dankbarkeit, auch Eleganz und Schönheit, wie wir gleich sehen werden, genauso universell existiert wie die Gravität. Diese Eigenschaften werden als spirituell oder eben auch metaphys(ikal)isch als Lichtkörperlich betrachtet, also als körperlich und quasigestisch, aber auch als ebenso universell. Daher ist “Grace” nicht nur eine Eigenschaft, die man besitzen kann anstelle von Gravity, sondern die Polarität von beidem wird gebunden in moralischen Werten – eine Art ethischer Kernfusion. Grace and Gravity bilden eine Art Denk-Reaktor: Einerseits steht Grace für etwas Erhebendes und Erbauendes (als Lichtkörperlich), andererseits für das gegenstrebige davon, das Drückende und Schwere, die Gravität. Die Vorstellung besteht darin, dass hier eine Art Balance etabliert wird, eine Skala oder ähnliches, auf der man lernen kann, auf beiden Polen in gewisser Weise zu jonglieren. Dieses Jonglieren steht in Zusammenhang mit dem, was Simone Weil als Kunst bezeichnet. Kunst ist natürlich mit Kreativität verbunden. Jedoch setzt Weil der Kreativität – die im Wesentlichen das Erschaffen von Neuem bedeutet – eine Art Negation entgegen: sie spricht von “Creation” und “Decreation.” Dies führt zu einem völlig anderen Blickwinkel auf Mathematik und Technik: diesen anderen Blick LARS SPUYBROEK – 25 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – wollen wir als “atomic time” bezeichnen und von “Atomzeit” unterscheiden – in der “atomic time”, in der atomischen Zeit, wird das “Atom” vom Partikel und substantiellen Teilchen zum qualifizierenden Adjektiv: hier stehen Technik und Mathematik nicht automatisch in einer (oder auch mehreren) Linie des Fortschritts zusammen; die gegenläufige Richtung ist jetzt mit im Spiel. Das Eröffnen dieses Blickes, genau das ist das Interessante und Schöne an Simone Weil’s Buch. Bevor wir zu Lars Spuybroek, kommen, der sein eigenes Buch Grace and Gravity, Architectures of the Figure ganz nahe mit demjenigen von Weil verbunden wissen möchte, lassen Sie uns diesen “Blickwinkel” auf das Verhältnis von Mathematik und Technik etwas studieren. Decreation Dieses “positive Negativ-Vermögen”, welches Simone Weil Decreation nennt, beschreibt sie so: “Decreation: to make something created pass into the uncreated…”. Aber dennoch ist “Decreation” nicht etwa das Gleiche wie “destruction” (oder sogar “deconstruction”); für Weil heisst “Destruction”: “to make something created pass into nothingness. A blameworthy substitute for decreation.” Also, die Unterscheidung zwischen Decreation und Destruction zielt im Kern, ähnlich wie wir es hier gesehen haben, darauf ab, einen Umgang mit dem Nichts und mit der Negation zu entwickeln, LARS SPUYBROEK – 26 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – der nicht den Nihilismus befürwortet, sondern versucht, diesem entgegenzuwirken. Was bedeutet das konkret? Oder wie kann man darüber nachdenken? Simone Weil wählt hier eine naturphilosophische Weise, und das ist für uns heute etwas fremd, aber umso spannender und lehrreicher. Die Vorstellung von Gravität war für die Physiker wie Newton selbst keineswegs rein ein rein empirisches, physikalisches Phänomen. Besonders für Newton, wie für Weil, war es spirituell konnotiert. Newton betrachtete die Gravität metaphorisch als Haut Gottes, da sie allgegenwärtig ist und das Gewicht der Dinge spürbar macht. Nur durch sie konnten die physikalischen Zusammenhänge systematisch studiert werden. Man könnte LARS SPUYBROEK – 27 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – sie als eine Art abstraktes “Membran” betrachten, womit die Vorstellung von Gott einen eigenartigen – einen naturphilosophischen – Körper erhält, so Newtons Vorstellung. In ähnlicher Weise argumentiert Weil nun, auch ihr Ansatz zielt darauf ab, die Diskussion dessen, was die Dinge im grossen Ganzen zusammenhält, in Richtung Physik statt Theologie zu lenken. Sie sagt: “There exists a ‘deifugal’ force. Otherwise all would be God.” Das ist die Konsequenz, die etwas nüchterne und direkte, und auch furchtlose Konsequenz, die sie zieht. Eine andere Formulierung aus ihrem Buch: “An imaginary divinity has been given to man so that he may strip himself of it like Christ did of his real divinity.” Also, es hat etwas mit Körper, mit Körperwerden, mit endlicher Existenz zu tun. Auf diesen Aspekt werden wir jetzt nicht weiter eingehen. Ich möchte Ihnen dies als Hintergrundinformation für den Vorstellungsraum mitgeben, in dem Spuybroek denkt wenn er, in gewisser Weise erneut, den beinahe skandalösen oder zumindest sehr überraschenden Versuch unternimmt, sich mit der aktuellen Technik auseinanderzusetzen, insbesondere mit Automaten. Denn wenn man in der Tradition der Mechanik über diese Zusammenhänge nachdenkt – also wenn man einfach mit der Hypothese arbeitet, dass es ein Gegenprinzip zur Gravität geben müsse – dann stellt sich die Frage: Was könnte dieses Gegenprinzip sein? Für Weil ist es “Grace.” Mit dem Hervorheben auf die “Denkmechanik” hierbei LARS SPUYBROEK – 28 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – möchte ich diese Thematik keinesfalls trivialisieren; im Gegenteil, sie hat einen spielerischen und menschlichen Zugang. Ähnlich verfährt Spuybroek, wenn er darauf hinweist, dass, wenn es in der Physik solche Prinzipien gibt, wir dem Technischen auch in der Kunst eine gewisse Autonomie zusprechen müssen. Seinen Ansatz halte ich für wichtig und inspirierend heute weil er vormacht, wie man neue Wege finden kann, um über das Verhältnis von Kunst und Technik zu sprechen. Jedoch greife ich damit schon zu weit vor. Lassen wir das vorerst so stehen. LARS SPUYBROEK – 29 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Gewicht als Messgrösse von Gravität: was ist die Referenz dafür? Was ich Ihnen noch zeigen möchte, ist eine Kuriosität, die jedoch eng mit allem zusammenhängt. Es handelt sich um eine Art Neuigkeit, die ziemlich viel Aufsehen erregt hat. Wiederum geht es geht um die Gravität, darum wie ihre Kraft als Gewicht gemessen wird: es geht um das Kilogramm. Für jedes standardisierte Messen braucht es eine Referenz: früher war das oft der menschliche Körper, weil er für alle Menschen mehr oder weniger gleich proportioniert ist – man nahm mass in Ellen (Unterarm), Füssen (immer noch im AngloAmerikanischen Kulturraum), Fingerbreiten und so weiter. Mit der Französischen Revolution im achtzehnten Jahrhundert wurde eine globale Standardisierung etabliert, seit damals gibt es das heute LARS SPUYBROEK – 30 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – noch sogenannte International Bureau for Weights and Measures. Anstatt den menschlichen Körper als unmittelbare Referenz für Masseinheiten zu verwenden, wurden globale Standards als Artefakte gefertigt: so wie es für die Meterstäbe einen Prototypen als “Original” gibt, so gibt es auch für das Kilogramm einen solchen Prototypen als “Original”. Was Sie hier sehen, ist eine Kopie dieses Kilogramm-Prototypen. Und was jetzt jüngst Schlagzeilen wie die obige gemacht hat, ist dass das Kilogramm selbst (der Original Prototyp, wie auch die Kopien davon) während der letzten 200 Jahren oder so buchstäblich an Gewicht verliert. Anders als die Schlagzeile suggeriert, ist das natürlich nicht “mysteriös;” sondern das normale und erwartbare Altern von Materie. Dennoch LARS SPUYBROEK – 31 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – verdeutlicht die Geschichte, wie die die Zeit in der Materialität selbst in gewisser Weise aktiv ist. Kommen wir damit noch einmal auf die rahmende Vorstellungen zurück, wie wir heute über Zeit als etwas nachdenken, das Eigenheiten vereinen soll in einer Weise so dass einem fast schwindelig werden kann: Zeit soll real, gleichzeitig, fortschreitend, anreicherbar sein, die Metrik für ihr Zählen und Ordnen (Kalender) beziehen wir nicht mehr aus den Sternkonstellationen und deren Rotationen, sondern absolut: aus dem Gewicht von Atomen, wobei das Atomgewicht buchstäblich das Alter des Universums indiziert (die chronometrisch-zeitliche Distanz zum sogenannten Big Bang). LARS SPUYBROEK – 32 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Die empörte Form von Zeit Wir haben bereits zahlreiche bedeutende Aspekte der Atomzeit kennengelernt. Ehe wir uns nun Spuybroek’s Buch zuwenden, möchte ich Ihnen einen ästhetischen Zugang zu diesen Fragen näherbringen – er bezieht den ästhetischen Begriff des Sublimen, für das Erhabene, mit ein. Damit eröffnet sich für diese Art von “Spekulation mittels Mechanik und metaphysischen Gesten” eine schöne Anschlussweise an den alten Begriff des Sublimen, wie es die Rhetorik rund 100 Jahre nach Vitruv, also im ersten Jahrhundert CE, eingeführt hat. Anne Carson Decreation. Poetry - Essays - Opera (2005) Auf diesen Zusammenhang bin ich durch ein Buch gestoßen, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Es stammt von einer zeitgenössischen Dichterin namens Anne Carson. Carson greift den Begriff “Decreation” aus Simone Weil’s Buch Grace and Gravity auf. LARS SPUYBROEK – 33 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Sie hat einen Band veröffentlicht, indem sich Gedichte, Essays und “Opera” finden. Opera steht hier nicht nur für eine Kunstform, sondern auch für das Werk, oder das Gefertigte, als gattungsspezifisches (Genres) und geformtes. Eigentlich geht es ihr in der Auseinandersetzung mit diesen Genres oder Formaten darum, die “Decreation” als ästhetische, und metaphysische Geste künstlerisch – in ihrem eigenen Werk – zu erkunden. Es ist ein sehr beachtliches Buch. In einer ihrer Episoden im Buch hat sie sich mit dem Begriff des Erhabenen und des Sublimen auseinandergesetzt. Dabei wird der Begriff nicht auf die herkömmliche Weise betrachtet, wie wir ihn üblicherweise in der Ästhetik seit dem Zeitalter der Aufklärung und der Romantik verstehen, wo das Erhabene dafür steht, wie gewaltig und eigentlich unfassbar Ästhetik unsere individuelle Gefühlsrealität beeinflusst. Der Begriff des Erhabenen und des Sublimen hat jedoch eine viel ältere Herkunft und stammt aus der Rhetorik, genauer gesagt von einem römischen Rhetoriker namens Longinus, de im ersten Jahrhundert CE gelebt hat. Über diese historische Dimension, insbesondere die rhetorische Geschichte des Sublimen, möchte ich Ihnen einige Gedanken präsentieren, die auf faszinierende Weise mit den zeitkritischen und offenen Themen resonieren, mit denen wir uns hier beschäftigen – wie Atomzeit, Gleichzeitigkeit, das Nichts, die Negation und die Affirmationen als metaphysische Gesten. LARS SPUYBROEK – 34 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Schauen wir zunächst das philologische Spektrum des Begriffs an, wie es auf etymonline.com erfasst ist: Longinus hat einen Text geschrieben, der übersetzt wird mit On the Sublime – eine Übersetzung des griechischen hypsos. Wenn wir heute im etymologischen Wörterbuch schauen, dann lesen wir etwa: “the sublime is expressing lofty ideals in an elevated manner.” Wenn man jetzt, wie Simone Weil das vorgemacht hat, nach einem Gegenprinzip zur Gravität sucht, eines das auch universell ist, wie die Gravität, aber in LARS SPUYBROEK – 35 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – gewisser Weise den anderen Pol manifestiert – dann ist klar: es muss etwas dann muss das etwas Erhebendes sein wie “Grace.” Es muss etwas Luftiges sein, ein Gegenpol zum Drückenden, Ziehenden, zum Gewicht. Und genau das finden wir mit Anne Carson im “Sublimen”: “lofty ideas in an elevated manner... or directly from latin sublimis “uplifted, high, borne aloft, lofty, exalted, eminent, distinguished,” possibly originally “sloping up to the lintel,” from sub “up to” (see sub-) + limen “lintel, threshold, sill” (see limit (n.)). Der Begriff des Sublimen hat auch mit “Status” und “Imposing” (engl. für eindrucksvoll, gebietend) zu tun. Wenn wir uns das Sublime so veranschaulichen, so finden wir in diesem Begriff gewissermaßen eine nahezu materielle Form, könnte man sagen. Eine Form die uns diese Grenze als so etwas wie einen dinglichen und transportierbaren Horizont oder so etwas Ähnliches gibt – eine solche Form würde ich “die empörte Form”, und den Umgang damit als “das Empören von Form” bezeichnen. Empörung und Entropie als Wahrscheinlichkeitszustand Ich bin nicht sicher, und es ist nicht einfach, hierfür die Worte gut zu wählen. Aber es gibt einen interessanten Doppelsinn bezüglich des Begriffs der Empörung. Empörung wird heute oft als Geste an sich zelebriert, indem man über alles mögliche LARS SPUYBROEK – 36 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – “empört” ist; in diesem Fall dient die Empörung fast schon als ein Mechanismus, um sich den schwerwiegenden Themen zu entziehen. Es gibt eine Art, Empörung auf moralisierende Weise zu inszenieren, die dann nicht authentisch ist. Aber wenn wir gewissermassen “a-moralisch” und als “Mechaniker” danach fragen, was wir eigentlich meinen mit dem Begriff der Empörung , dann stellt sie sich als einen mentalen Zustand das, in dem die Dinge nicht festgelegt sind: Empört sind wir, wenn wir nicht wissen, was gerade mit uns geschieht. Empört sind wir, wenn wir nicht wissen, ob wir gleich wütend, traurig, glücklich oder etwas anderes sein sollen. Empörung ist mit der Unbestimmtheit der Faktoren verbunden, die einen Zustand ausmachen. Daher kommt diese interessante Verbindung zwischen Empörung und Entropie: Entropie bezeichnet ebenfalls einen Zustand, aber einen objektiven; nämlich einen wahrscheinlichkeitstheoretischen Zustand. Entropie bezeichnet den Default oder Ausgangs Zustand eines physikalischen Systems, in dem alles gleich wahrscheinlich ist, in dem alles gleich möglich ist. Mit der Informationstechnik und der Digitalisierung ist Entropie eines der wichtigsten Konzepte heute, um Phänomene zu beschreiben. Unsere Frage ist: kann Entropie, als Begriff einer objektiven Subjektivität (so etwas wie die Wahrscheinlichkeits-Mentalität eines physikalischen Systems) in Verbindung mit Empörung als gegenpoligem Begriff, nämlich als Begriff einer sub- LARS SPUYBROEK – 37 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – jektiven Objektivität, helfen, diese einen Umgang mit Negation und mit dem Nichts zu finden, der den Nihilismus zurückzuweisen vermag? Anders formuliert, kann das Begriffspaar Empörung und Entropie – ähnlich wie Gravität und Gnade/Anmut bei Weil – operieren? Die folgenden Ausführungen als Hinführung und Einstimmung auf die folgende Besprechung des Buches von Spuybroek. Wie beginnt man, “anders” auf das Vertraute zu schauen? Hier ist der Link zu einer Website, auf der Longinus vorgestellt wird [https://www.poetryfoundation.org/articles/69397/from-on-the-sublime]. Sie können dort über ihn lesen. Hier will ihn direkt zitieren. Er beginnt: First of all, we must raise the question whether there is such a thing as an Art of the sublime or lofty. Some hold that those are entirely in error who would bring such matters under the precepts of Art. A lofty tone, says one, is innate, and does not come by teaching; nature is the only Art that can compass it. Works of nature are, they think, made worse and altogether feebler when wizened by the rules of Art. But I maintain that this will be found to be otherwise if it be observed that, while nature as a rule is free and independent in matters of passion and elevation, yet is she wont not to act at random and utterly without system. Further, nature is the original and vital underlying principles in all cases, but system can define LARS SPUYBROEK – 38 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – limits and fitting seasons, and can also contribute the safest rules for use and practice. Moreover, the expression of the sublime is more exposed to danger when it goes its own way without the guidance of knowledge, – when it is suffered to be unstable and unballasted, – when it is left at the mercy of mere momentum and ignorant audacity. It is true that it often needs the spur, but it is also true that it often needs the curb … Mit diesen Worten eröffnet er seinen Text, in welchem er das Werk von vielen verschiedenen Dichtern auf diese bestimmte Qualität hin befragt, die er “hysos” oder eben, “das Sublime”, das Erhabene nennt. Longinus führt mit seinem Buch dieses Konzept in die Poetik und Rhetorik ein, das kann man sich ein bisschen so vorstellen, wie wenn im achtzehnten Jahrhundert mit der Thermodynamik plötzlich die “Temperatur” in die Physik eingeführt wird: Die Temperatur war eine erste universelle Eigenschaft in dem Sinn als dass es nichts gibt was keine Temperatur hätte. So hatte man vorher nicht gedacht, da waren die Eigenschaften der Dinge “elementar”, sie hatten Zustände die sich aus der Mischung von Wasser, Erde, Feuer und Luft ergab – die Dinge waren flüssig oder gefroren, wolkig oder brennend, rauchend oder flüchtig, und so weiter. Dieser Unterschied, den die Temperatur als universelle (nicht elementare) Eigenschaft bedeutet, hat die gesamte Weise verändert, wie man die Natur der Dinge ermessen , befragt und beschrieben hat. Ähnlich ist es mit diesem Begriff des Sublimen, nur dass es eine LARS SPUYBROEK – 39 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Eigenschaft ist die nicht von selbst den Texten eigen wäre, sondern mit Kunstfertigkeit erzeugt werden kann. “Can there be such a thing as an Art of the Sublime or Lofty?” Diese Frage war fast schon ketzerisch: In früheren Zeiten wurde die Fähigkeit, fesselnd, überzeugend, berührend zu sprechen nicht als individuelle Kompetenz angesehen. Sondern man glaubte, dass man selbst nur Medium ist für etwas Göttliches, das sich in der Rede ausdrücken kann wenn man begabt ist. Zu behaupten, dass es eine Technik oder Rhetorik – eine Kunst – geben könnte, die den Umgang mit dem Erhabenen kultivieren könnte – es geht in der Ästhetik immer um eine Art seelisches Berührtsein. Ein kürzlich erschienenes Buch von Robert Doran diskutiert, wie genau dieser Begriff der Erhabenheit stark polarisiert ist, weil er bei Longinus eine Art von natürlicher Basis des Geistigen oder Spirituellen annimmt. Genau dies ist es, was Longinus für unser naturphilosophisches Interesse so fruchtbar macht. Die Fähigkeit, die Qualität des Sublimen im Schreiben zu erreichen, hat natürliche Quellen bei Longinus, in der Rhetorik. Sie macht eine spezifische Objektivität dieser Ästhetik aus.Das heißt, es handelt sich um eine Ästhetik, die nicht primär subjektiv ist und uns als Individuen betrifft, sondern es wird eine Form von Intersubjektivität etabliert. Diese Intersubjektivität unterscheidet sich von direkten moralischen Vorstellungen (Urteilen wie dass etwas schön oder hässlich sei, gut oder böse et cetera), da das Erhabene zwar Werte voraussetzt, aber nicht festlegt. Deswegen LARS SPUYBROEK – 40 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – auch der Vorschlag, von einer Empörung der Form zu sprechen, wie oben erläutert. Etwas provokant formuliert dreht sich die Thematik um eine Form von Rhetorik oder Poetik, die den Einfallsreichtum in der literarischen Verarbeitung von Fakten zelebriert. Es ist herausfordernd zu behaupten, dass Fakten oder Dokumente jemals eine vollständig adäquate Darstellung einer Situation bieten können. Daher lenke ich bewusst den Blick auf die ästhetische Dimension dieser Thematik, anstatt auf eine rein pragmatische oder alltägliche Betrachtungsweise zu setzen. Es geht hier um eine Ästhetik, die einen Raum für Intensität schafft, welcher jedoch nicht überall gleichermaßen vorhanden ist. Es ist unmöglich, sich den ganzen Tag auf diese Aspekte in gleichem LARS SPUYBROEK – 41 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Maße einzulassen. Manche Dinge müssen funktionieren, vorhersehbar sein und einem langfristigen Zweck dienen. Dennoch ist die Ästhetik ein äußerst wichtiger Faktor für jede menschliche Ethik. In diesem Kontext wird in der Ästhetik eine Form von Einfallsreichtum gefeiert, die sich mit Fakten auseinandersetzt. Es geht hier nicht um eine spezifische Geschichte oder eine konkrete Moral, sondern vielmehr darum, einfallsreich mit den Gegebenheiten umzugehen, unabhängig von ihrer konkreten Natur. Besonders interessant ist dabei, dass diese Ästhetik – sie ist weder ausschließlich eine Eigenschaft der Sprache, noch ist sie alleinig einer individuellen Persönlichkeit zuzuordnen. Denn das, was diese Ästhetik beschreiben kann, sind Phänomene, die mit Erfahrungen von “Ekstasis” verbunden sind, also Situationen, in denen man nicht vollständig bei sich selbst ist. Es geht also um alle Aspekte, die mit dieser Empörung einhergehen, einschließlich Gefühlen der Überwältigung, der Ekstase, des Erstaunens, der Überraschung und der Unbegreiflichkeit. All diese Gefühle versetzen uns gewissermaßen außerhalb unserer gewohnten “Verfassung,” sodass wir quasi außer Kraft gesetzt werden. Diese Ästhetik bezieht sich auf Situationen, in denen wir nicht wirklich wir selbst sind, sondern von den Ereignissen überwältigt werden, die nicht nur uns, sondern allen Menschen widerfahren können. In diesem Zusammenhang wird eine Objektivität postuliert, die eine Form der Intersubjektivität LARS SPUYBROEK – 42 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – beschreibt, die nicht bereits von Stereotypen geprägt ist, sei es in Bezug auf Geschlecht, Menschlichkeit, Anthropozentrismus, Rassismus oder andere Vorurteile. Hier geht es darum, dass man nicht als individuelles Subjekt agiert, aber dennoch innerlich davon berührt ist. Dies ist das Faszinierende an dieser Thematik. Eine Konsequenz davon ist eben auch: “sublimity is principally a manifestation of the mental qualities of the writer, not a property of language per se.” Dies bedeutet, dass dies auch der Punkt ist, der bei Lars Spuybroek von großer Bedeutung ist. Es geht um Fähigkeiten und Handlungen. Diese Form der Ästhetik befasst sich nicht nur mit der Frage, wie Phänomene beschrieben, bewahrt, verstanden und kommuniziert werden können, sondern auch damit, wie sie entstehen. Das ist das architektonische an diesem Verständnis von Ästhetik. LARS SPUYBROEK – 43 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es handelt sich hier um eine sowohl rhetorisch als auch mechanisch Perspektive. Diese Perspektive ist auch bei Spuybroek von Bedeutung im Kontext seines Konzepts der “Grace Machine”, wie wir gleich sehen werden. Der bezieht sich auf einen Umgang mit Technik, während Technik im Grunde automatisch tut was sie tut. Allerdings ist die Art und Weise, wie dieser automatische Prozess vonstatten geht, nicht von selbst ersichtlich, sondern erfordert ein gewisses Können um erkennbar zu sein. Diese Ebene macht das Thema für uns heute interessant, da wir uns mit Computern und Technologie in Beziehung setzen möchten. LARS SPUYBROEK – 44 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es gilt folglich, die Fähigkeit zu entwickeln, mit solchen Transzendental-Erfahrungen umzugehen, ohne sie jedoch in eine narrative Struktur zu zwängen. Es handelt nicht davon zu behaupten: “Mir ist ein Text erschienen” oder “Ich habe eine religiöse Geschichte erlebt von dem, was hier geschieht,” sondern vielmehr darum, phänomenal einen Effekt zu beschreiben, eine Erfahrung zu schildern. Dies verleiht solchen ästhetischen Erlebnissen etwas Universelles und auch Transhistorisches, nämlich die Möglichkeit, sich quasi entsetzt oder empört – also buchstäblich ein bisschen ausser sich – zu verweilen. Diese Herausforderung ist keineswegs trivial. Sich wirklich mit Empörung auseinanderzusetzen, hat viel mit dem zu tun, was Cacciari als “to feel the pull of the throw” bezeichnet, also mit dem Gefühl des Nichtwissens über die genaue Positionierung und dem Verbleiben in einer beständigen Spannung. Dieses “in einer Spannung bestehen bleiben” führt uns zur Figur, da eine Figur wie eine Skulptur stets eine Haltung einnimmt, die balanciert, die gehalten werden muss: eine Contrapposto. Sie muss also ein Gleichgewicht selbst balancieren, nicht weil sie belastet ist; sondern weil sie unter Spannung steht. Dies ist das Interessante an dieser Thematik. Der Respekt ist eine Eigenschaft, die unabhängig von einem konkreten Ort und einer spezifischen Zeit existiert, was es ermöglicht, zwischen dem wahren “Sublime” und einem falschen “Sublime” zu unterscheiden. Es ist wichtig, in der LARS SPUYBROEK – 45 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Rhetorik auch ein falsches “Sublime” im Spiel zu haben, da Rhetorik natürlich manipulativ sein kann. Rhetorik gibt die Möglichkeit, eine starke Intensität zu erzeugen, indem man weiß, was die Menschen berührt und quasi solche Erfahrungen vortäuscht, ohne dabei einer tatsächlichen Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Ein solches Vorgehen würde als falsches “Sublime” gelten. Wenn ein Text auf diese Weise falsch sublimiert ist, dann wird er nicht zur Quelle für die Zukunft, er repräsentiert nicht die Natur im eigentlichen Sinne. Es handelt sich als “falsches” Erscheinen, weil keine transgenerische oder transhistorische Natur darin erscheint, die sich von selbst (automatisch) fortsetzt. LARS SPUYBROEK – 46 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Das Klassische als transgenerisch und transhistorisches “Automaton” In vielen Positionen des 20. Jahrhunderts lag ein starkes Augenmerk auf Strukturen, Grammatiken und der Form, oder sogar schlicht auf dem Text und dem Schreiben. Das Sublime bringt jedoch eine Aktivität auf Seiten des Lesenden mit ein. Hierin liegt die Relevanz dieses Diskurses und des rhetorischen Begriffs des Erhabenen für den Status von Schriftlichkeit, Code, Programmierung und ähnlichen Aspekten in der heutigen Zeit. Es ergibt sich hierbei eine andere Perspektive auf das Klassische. Wenn wir uns an den Vortrag zu Eisenman erinnern: hier wurde diskutiert, wie zwischen dem klassischen Kanon und dem modernen Ansatz, der sich davon absetzen will und alles anders machen möchte, eine Kontinuität in der Haltung der Negation hergestellt werden kann, also wie “non-classical” versus “the classical” offen gelegt werden kann. In dieser Vorstellung soll der Architekt autonom sein, wie von Eisenman dargestellt. Hier mit Longinus’s Lehre des Erhabenen soll die phänomenale Natur autonom sein. Die beiden Diskurse unterscheiden sich sehr, aber dennoch ähneln sie sich im Wesentlichen. Es geht darum, wie Unterbrechung und Kontinuität in zusammenspielen. Bei Longinus ist dieses Spiel bereits in der Natur des Phänomens am Werk. Das Erlebnis einer Krise oder das Verweilen im Em- LARS SPUYBROEK – 47 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – pörung durch etwas Sublimes bedeutet, dass ein Bruch in der Kontinuität besteht, obwohl das Erlebnis kontinuierlich weitergegeben werden kann, selbst wenn jedes Verständnis davon quasi einen architektonischen Schnitt darstellt. Diese Dynamik verleiht den beschriebenen Dingen anhaltenden Wert und Bedeutung. Dies ist die vermittelte Idee. Was kann eine “Lehre”? Keine Definitionen (wie bei Eisenman) sondern das Nennen von Quellen Wie lässt sich dieser Zustand erreichen? Wie gelangt jemand dazu, auf diese Weise zu schreiben? Wie lässt sich das theoretisieren? Dies ist von großer Bedeutung. Eine Definition von Sublimität LARS SPUYBROEK – 48 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – kann nicht gegeben werden. Dennoch ist es möglich zu beschreiben, wie sie entsteht. Longinus unterscheidet dabei die “Five most productive sources of sublimity.” Das ist erstens: “The first and most important is the power [ability] to conceive great thoughts.” So, große Gedanken denken. Große Zusammenhänge denken. Es ist eine Fähigkeit. Darin kann man sich üben. Das heißt noch nicht, dass man dann etwas Sublimes sagen kann, aber man kann sich darin üben. Zweitens “The second is strong and inspired emotion.” Zwei Hauptquellen, große Gedanken und starke Gefühle. Also, mit starken Gefühlen umgehen können und große Gedanken denken. Die zwei Sachen gehören fast zusammen. Also, das eine geht eigentlich nicht ohne das andere. Und das sind die Hauptquellen von dieser Qualität, die er das “Sublime” nennt. Die drei weiteren, so sagt er, das sind keine natürlichen sondern technische Quellen. Die zwei natürlichen Quellen, darin kann man sich zwar üben, aber es ist auch Dispositionen. Dass oder ob man starke Gefühle wahrnimmt oder grosse Gedanken denken kann – das ist zu einem großen Teil gegeben; aber das alleine ist nicht genug, so oder so muss man sich üben darin. Talent oder Disposition. Aber die anderen drei Quellen – das sind solche, die explizit technisch sind. Das heißt, die man wirklich lernen kann. Und diese drei anderen sind: “certain kinds of figures.” Schemen und Figuren denken. “These may be divided into figures of though and figures of speech.” Denkfiguren und LARS SPUYBROEK – 49 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Redewendungen oder Redefiguren. Dann weiters: das was Longinus “die phrasis” nennt, “the noble diction.” Dazu sagt er: “This has as subdivisions choice of words and the use of metaphorical and coined words.” Hier ist das Poetische ganz wichtig, welches Vokabular man verwendet, welche Emotionalität damit erreicht werden kann. Das ist vielleicht das Zentralste an der Rhetorik. Und weiters, ebenso eine technische Quelle: “And then finally, to round off the whole list, dignified and elevated words arrangement.” Die Komposition und die Synthesis. Zum Beispiel, Libeskind macht mit seinen “Chamber Works” eine Komposition, eine Synthesis, die aber keinen Zusammenhang klärt sondern nur ein Verweisspiel etabliert, also indiziert. Es geht darum, eine Darstellung zu schaffen, die eine Synthese ist im Sinn von “Arrangement.” – Arrangement, ein Kernbegriff in jedem Architekturverständnis. LARS SPUYBROEK – 50 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Kurzum: Aus dem Zusammenspiel der drei technischen und die zwei natürlichen Quellen, kann dieses Vermögen zustande kommen, das etwas Sublimes auszudrücken und zu verkörpern vermag. Es kann zustande kommen, aber ohne Garantie. Doran bringt es hier auf den Punkt: “One does not, however, learn to have elevated thoughts; it is not acquired through methodos (system of method); one becomes the sort of person to whom elevated thought and discourse come ‘naturally’.” Wenn man sich in diesen Dingen übt, dann formt das die Person. Es liegt nicht in einer Methode, die einfach jede befolgen könnte, und dann würde es auch passieren. Das ist die wiederum die ethische Dimension solcher Ästhetik. Phantasie und Methode Ethik und Ästhetik bilden gewissermassen zwei Pole eines Kugelkreises. Das Denken in großen Zusammenhängen erfordert eine ausgeprägte Fantasie. Dies bedeutet nicht, dass man alles erfindet, sondern dass man eine Spannung aufrechterhalten kann, so dass einem Dinge buchstäblich (her)einfallen können, ins Erfahren. Um diese Spannung aufrecht zu erhalten, ist eine umfassende Vorstellungskraft erforderlich. Man muss quasi in der Lage sein, eine gewisse Unentschlossenheit auszuhalten. Es geht darum, wie man in diesem Zustand der Unentschlossenheit eine Haltung einnehmen kann. Um eine solche Haltung zu finden im Zustand der LARS SPUYBROEK – 51 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Empörung, der Unentschlossenheit, ist eine beträchtliche Fantasie erforderlich – ich stelle mir immer vor, dass es ein bisschen so ist als ob wir viele Bälle in der Luft jonglieren. Am Anfang absorbiert das Lernen alles, kapselt die Aufmerksamkeit ein; ab wenn man es kann, kann man alle möglichen Zusammenhänge spielerisch erfahren. Man kann Komplexitäten jonglieren. Fantasie ist eng mit einem Vorstellungsraum verbunden, der reich ist. Es müssen immer viel mehr Möglichkeiten mitgedacht werden als diejenigen, auf die man sich letztendlich einigen wird. Solche Vorstellungskraft basiert nicht nur auf Exaktheit, sondern ziel auch darauf ab, Ideen gewisserweise auszubrüten. Zu großen Zusammenhängen kommt man, wenn man LARS SPUYBROEK – 52 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – die Dinge gedeihen lässt, nicht wenn man allzu hygienisch Ordnung halten will. Früher sprach man oft von Musen in diesem Zusammenhang. Es ist nicht ratsam, alles sofort entscheiden zu wollen, sondern man muss sich mit etwas vertraut machen, es kennenlernen, eine Beziehung dazu aufbauen. Es ist ähnlich wie beim Erlernen neuer Wörter. Wenn Sie neue Wörter kennenlernen, die Sie zuvor noch nie gehört haben, kann das zunächst befremdlich wirken. Es ist aber faszinierend, wie diese Wörter, sobald man sie gehört habe, plötzlich überall auftauchen und oft von anderen Menschen verwendet werden, ohne dass man davon vorher Notiz genommen hätte. Neue Wörter muten uns zu, den gesamte Wortschatz über den wir verfügen neu zu überdenken – weil etwas Neues mit im Spiel ist das man LARS SPUYBROEK – 53 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – vorher nicht benannt hatte. Das braucht Zeit und es lässt sich nicht durch eine vollständig kontrollierte Entscheidung erlangen. Unpersönliche Privatheit In diesem Sinne kann man sagen, dass die Rhetorik des Sublimen immer schon “jenseits der Rhetorik” ist. Die Rhetorik entfaltet sich oder manifestiert sich im Grunde genommen in einem öffentlichen Kontext. Die Rhetorik des Sublimen spielt jedoch nicht hauptsächlich in der Öffentlichkeit, sondern ist eigentlich etwas Privates. Aber es handelt sich um eine eigenartige Art von Privatheit, die nicht wirklich persönlich ist; das ist Interessante daran. LARS SPUYBROEK – 54 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es ähnelt ein wenig den spirituellen Praktiken die wir kennen, wie zum Beispiel das Gebet, die Meditation oder auch mystische Vorstellungen. Allerdings sind diese Praktiken innerhalb eines Sinngefüges verankert, sei es in einem Narrativ oder einer Vorstellung von Göttlichkeit. Die Rhetorik des Sublimen befindet sich quasi am gleichen Ort, strebt aber nicht primär als etwas Verbindendes (wie man es für die Religionen vielleicht sagen kann), sondern invers dazu, als eines Fortstrebens. Mimesis: Modell und Präsenz Das Interessante dabei ist, dass es einen indirekten Diskurs zwischen Präsenz und Repräsentation ermöglicht. Das bedeutet, es ermöglicht einen anderen Bezug zum Modell. Was heisst es, ein Modell als Vorbild zu nehmen? Man will es imitieren, aber in der Weise, wie es entstanden ist. In seiner unpersönlich privaten Architektonik. LARS SPUYBROEK – 55 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es handelt sich um einen Modellbegriff, der in einem performativen und ebenso natürlich wie sozialen Kontext auftritt, vorallem in künstlerischen Aktivitäten. Wenn jemand in der Musik eine Partitur spielt, inwiefern kann man diese Partitur dann als Modell verstehen? Es ist eine Art Vorbild, das die “Wahrheit eines Stückes” bewahrt, aber gleichzeitig zeigt sie es nicht, sondern verlangt dass es aufgeführt, dass es dargestellt wird. Dies hängt stark mit der Rolle von Mimesis für Lernprozesse im Allgemeinen zusammen. Das Interessante ist, dass darüber die Mimesis mit Eifersucht, “jealousy” oder Griechisch: Zelosis ins Verbindung gebracht ist. Wenn die Merkmale und Eigenschaften nicht in eine unpersönliche Privatheit der Dingen gehören, dann ergibt sich da- LARS SPUYBROEK – 56 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – raus eine andere Art Ökonomie von Aufmerksamkeit, kann man sagen. Intersubjektivität im unpersönlich-Privaten Es ist bedeutend, dass das Modell in diesem Sinn eine Art Intersubjektivität etabliert, die nicht persönlich ist, sondern eine Unpersönlichkeit aufweist, die dennoch unterschiedlich spezifisch sein kann. Wenn man ein Kunstwerk oder einen Text, dem diese Qualität (des Sublimen) zugeschrieben wird, würdigt, und sich damit auseinandersetzt, entsteht eine Form von Intersubjektivität, die vielfältig gestaltet sein kann. LARS SPUYBROEK – 57 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Dies ist auch interessant, da es in das Verhältnis von Autor und Leser eingreift, auf eine Weise, in der weder der Autor das Modell bestimmt, noch der Leser das Modell bestimmt. Das Verhältnis, wie der Leser das Werk des Autors liest und interpretiert, während der Autor gleichzeitig die Projektionen des Lesers erkennt, ermöglicht die fortlaufende Entwicklung dieses Modells, und führt zu dessen kollaborativer Ausgestaltung und Figuration. Schließlich lässt sich das Ganze auf eine einfache Formel bringen. Die verschiedenen Techniken dienen dem Erlernen dieses Prinzips, jedoch geht es im Kern darum, dass Worte großartig werden, wenn die Gedanken gewichtig sind. Somit sind wir wieder beim Thema Gewicht, oder beim Nihilismus. Be- LARS SPUYBROEK – 58 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – deutung hat, was Gewicht hat – und was einen kunsftertigen Umgang fordert, weil es sich nicht direkt in dieser Bedeutung anbietet. Das Luftige, Erhebende, Empörende des Sublimen ist eine Art Fulcrum – ein Dreh- und Angelpunkt – für eine Mechanik von Grace and G ra v i t y . D i e s i s t e i n entscheidender Gedanke, der nun, und damit komme ich zu Lars Spuybroek, von ihm aufgegriffen wird. Womit man sich beschäftigt, muss eine Bedeutung haben, die nicht selbst gemacht ist. Dafür muss sich das “Worum es geht” quasi im Kreis bewegen. Es muss uns fremd sein. Aus diesem Kreislauf finden wir einen anderen Bezug zu Automatismen, zur Technik, zur Schönheit und zur Bedeutsamkeit. Spuybroeks Buch trägt den Titel Grace and Gravity, mit dem Untertitel Architectures of the Figure. Mit diesem Hintergrund können wir verstehen, dass es ihm nicht darum geht, dass die Architektur Plastik werden soll, Skulptur werden soll. Es geht nicht mehr um den Diskurs, dass alle künstlerische Architektur im Grunde Skulptur sei, sondern im LARS SPUYBROEK – 59 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Gegenteil. Sein Anliegen ist es, dass die Architektur figurativ ist, wenn sie in der Lage ist, Erfahrungen aufscheinen zu lassen. Dabei geht es nicht darum, Erfahrungen zu manifestieren oder phänomenologische Phänomene zu produzieren, sondern tatsächlich die Phänomene zu erschaffen. In Longinus’ Theorie des Sublimen geht es nicht darum, zu klassifizieren, was als sublim betrachtet werden kann und in welchem Maße etwas sublim sein soll. Es geht um das Schaffen von solchen Erfahrungen. Ähnlich verhält es sich bei Spuybroek. Das Figurative ist hier nicht repräsentativ gedacht. Ein Haus soll keine Figur darstellen oder repräsentieren, sondern es wird als figurativ betrachtet, wenn es in der Lage ist, eine Erfahrung hervorzubringen, die bisher nicht erwartet wurde oder möglicherweise noch nicht existiert hat. Deshalb spricht er auch von einer “Grace Machine.” Ähnlich wie im Strukturalismus und im Poststrukturalismus ist auch bei ihm eine neue Aufmerksamkeit auf die Mechanik von Interesse. Und zwar deswegen, weil sie von der Intention eines Einzelnen abstrahieren kann, ohne die aktive Rolle des einzelnen damit müssig zu machen, ohne sie auszuradieren oder ihr jedes Gewicht abzusprechen. Wenn Libeskind einen mechanischen Umgang mit abstrakten Formen in seinen Plänen vereint oder wenn Eisenman ähnliche grammatische Übungen mit den Grundrissen und der Planung eines Hauses durchführt, ist dies wichtig, weil sich aus den mechanischen Strukturen etwas ergeben kann. Es geht nicht darum, “ich, der etwas LARS SPUYBROEK – 60 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – sagt,” sondern darum, “ich gehe mit den Dingen so um, dass sich daraus etwas zeigen kann.” Dies ist auch das Anliegen von Spuybroek. Eine Physik des Phänomenalen So mit den Dingen umzugehen lernen, dass sich daraus etwas wie von selbst zeigen kann – das ist auch die Verbindung zu dem, was wir als Atomzeit und als “atomische Zeit” (Atomic Time) herstellt haben. Beim Umgang mit den Dingen durch Form geht es nur um Worte, sondern auch um Körperlichkeit der abstrakten Vorstellungen. Man könnte vielleicht sogar von einer Art Rhetorik des Sublimen als Meta-Physik sprechen. Denn wie lässt sich über das Schaffen von Phänomenen, von Erscheinungen, architektonisch nachdenken? Mechanik braucht Geometrie, Formen und Elemente. Für eine solche Rhetorik ist es zentral dass Licht in seiner Stofflichkeit begriffen wird. Spuybroek spricht von Licht, das “radiant” ist, also nicht nur (passiv) scheint, sondern (aktiv) strahlt. Er betont, dass es darum geht, “the site of appearances” zu gestalten, also Orte des Erscheinens. Figurative Architektur artikuliert somit, stofflich, “sites of appearances” ähnlich einem “Screen”, einem Bildschirm der aktiv strahlt und stark mit der Quantenphysik und dem heutigen Verständnis von Licht, Sonne, Elektrodynamik und ähnlichen Konzepten verknüpft ist. LARS SPUYBROEK – 61 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – In diesem Artikel leitet Spuybroek die Geschichte dieses Lichtbegriffs und dieser Optik her. Diese Vorstellung bricht mit der kunsthistorischen Idee von Perspektive als einem subjektiven Gesichtspunkt, der irgendwie zur individuellen Innerlichkeit eines Einzelnen gehört. Im Gegensatz dazu ist das Anliegen eines solchen Licht-Physik, eines solchen Erscheinungs-Materialismus, immer objektiv und real (nicht subjektiv und individuell). Es geht darum, dass ein solches unpersönliches Empörtsein geteilt werden kann, dass es objektiv sein kann, ohne in isolierten Kapseln zu verbleiben, in denen die eigene Innerlichkeit unüberwindbar weit von der anderer entfernt ist. Dies ist von wesentlicher Bedeutung. Es dreht sich nicht um Perspektive oder Darstellungstechnik, sondern um LARS SPUYBROEK – 62 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – die Physik des Lichts und seine Natur, die sowohl aktiv als auch passiv ist, sowohl reflektierend als auch strahlend. Sie können diesen Text einfach im Internet finden. In meiner Architekturtheorievorlesung 1 im Wintersemester habe ich zwei Episoden über Optik und Perspektive, in denen es auch um eine solche Stofflichkeit von Licht geht. Lars Spuybroek’s Buch Uns geht es aber jetzt um Spuybroek‘s Buch. Lars Spuybroek war und ist eine Weg weisende Figur in der gegenwärtigen Architekturtheorie, vorallem auch weil er mit Computern an der Schnittstelle zwischen Kunst und Architektur arbeitet und wissen will, was die Digitalisierung für die Architekturpraxis in einem architektonischen, einem theoretischen Sinn bedeuten kann. Er hat ein Büro in den Niederlanden, NOX Architecture, und lehrt darüber hinaus Architektur an der Georgia Tech Universität in den USA. Während sich der Diskurs um Computer und Architektur der 90er und 2000er Jahre weitgehend etwas tot gelaufen hat (wenige oder keine überraschenden und luftigen Einfälle mehr zeigt, sondern zunehmend pragmatisch geworden ist oder moralisierende journalistische Meinungsbildung betreibt) hat Spuybroek keine Angst vor einem neuartigen Umgang mit Metaphysik und spirituellen Themen. Ich kenne kein vergleichbares Buch heute. Es erscheint wirk- LARS SPUYBROEK – 63 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – lich wie aus einer anderen Welt in der heutigen Architekturtheorie Diskurslandschaft. Betrachten wir zunächst das Inhaltsverzeichnis. Das zentrale Kapitel ist “The Grace Machine – Of the Figure and the Gap”. Bereits hier wird deutlich, um welchen Zusammenhang es geht. Ich möchte Ihnen empfehlen, den Rahmen des Computus oder der Kalenderzeit oder des Arrangements von Zeiten, von dem wir zu Beginn gesprochen haben, stets im Hinterkopf zu behalten, wenn wir jetzt über die “Grace Machine” sprechen. LARS SPUYBROEK – 64 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es geht dabei um “Grace and Figure, Grace and Gift.” Erinnern wir uns an das Diffiziele beim Übersetzen von Grace – es kann als Gnade aber auch als Anmut oder gar als Dankbarkeit ins Deutsche übersetzt werden. Also, es geht um “Grace” und Figur, “Grace” und Geschenk. Auch die Gewohnheit und das Spiel sind hierbei relevante Aspekte. Es geht immer um etwas Zyklisches, und das ist – überraschenderweise – auch der Ursprung des Begriffs “Figur”. Die Figur Die Figur in der Rhetorik sowie in der Plastik steht in Zusammenhang mit dem Zyklischen. Es ist nicht belanglos oder zufällig, dass Figuren im Denken und in der Sprache als “Tropen” bezeichnet werden: Ähnlich den geographischen Tropen, die sich um den Äquator befinden und ein relativ homogenes Klima aufweisen, sind auch Figuren tropisch in dem Sinn, als dass sie sich um eine Art Äquator drehen: eine Figur im Denken und in der Sprache zeichnet sich durch Wendigkeit und Wendbarkeit LARS SPUYBROEK – 65 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – aus. Sie gestalten sich aus einer kontinuierlichen Bewegung heraus, immer wieder gleich und dennoch etwas anders. Figuren bleiben stets, in jeder Herausgestaltung, abhängig davon, wo sie erscheinen: the consist in the use of a phrase other than that which is proper to it”, wie etymonline.com sagt. Weiterhin unterscheidet Spuybroek zwischen “Foot Space and Hand Space.” Er argumentiert, dass Lebewesen ohne Hände in einer anderen Welt leben. Obwohl es sich um dieselbe Welt handelt, wird sie von diesen Lebewesen nicht nur anders wahrgenommen, sondern ist objektiv für sie anders. Er verallgemeinert die Rolle des Körpers figurativ. Ich werde mich in den folgenden Ausführungen hauptsächlich auf das erste Kapitel und auf das Vorwort konzentrieren. Spektrale Architektur Es handelt sich um das Verhältnis von Mimesis und Physis sowie um Ornamente, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem liegt, was der Autor als “spektrale Architektur” bezeichnet. Dabei wird wiederum Bezug genommen auf die Atomzeit, Atomphysik und Quantenphysik. Wir haben es hier stets mit Spektren zu tun und mit “Screens,” auf denen diese Spektren zur Erscheinung gebracht werden können. Der Autor betrachtet diese Thematik materialistisch, insbesondere die Stofflichkeit des Lichts, und entwickelt eine Art Physik des Computierens. Dabei ist das Können ähnlich LARS SPUYBROEK – 66 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – konstitutiv wie bei Longinus das Dichten: Es entsteht eine Art Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine, in dem es auch um Automaten und , wie er sagt, Thaumata geht, auch um Pain and Sweetness. Allerdings werde ich relativ rasch durch diese Präsentation gehen, denn mein Ziel kann es hier nur sein, Ihr Interesse etwas zu wecken. Ich kann Ihnen einige Ideen aus diesem Buch vermitteln und Ihnen Kontext dazu geben. Das Buch ist jedoch so reichhaltig und gut gemacht (im rhetorischen Sinn von “gut gemacht”), dass es mir jetzt nicht darum geht, Ihnen eine Quintessenz zu präsentieren. Gerade in diesem Buch lassen sich Form und Inhalt wirklich nicht separieren voneinander. Genau dadurch ermöglicht es eine Erfahrung mit Technik, auch mit Computertechnik, die an eine alte Tiefenstruktur anschliesst, die genuin architektonisch ist und zu der wir aber, mit der Entwicklung der industriellen Technik seit rund 200 Jahren, den Bezug verloren haben. Chasms – Die Künste und das Polytechnikum Ich habe einige Zitate ausgewählt, um bestimmte Punkte hervorzuheben, die sowohl für das architektonische Selbstverständnis als auch für Spuybroek’s spezifische Denkweise von Bedeutung sind. Die Frage, wie ein Architekt dazu gelangt, architektonisch zu denken oder sich zu verhalten, ist LARS SPUYBROEK – 67 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – dabei von großer Relevanz. Spuybroek sieht einen Bruch zwischen Kunst und Technik, der mit der Aufklärung und der Industrialisierung einherging, und bemüht sich, diesen zu überwinden – eine Bestrebung, die viele Menschen heutzutage teilen. Jedoch geht es ihm nicht darum, eines über das andere vorherrschen zu lassen. Vielmehr interessiert ihn das Verhältnis zwischen “Appearances and Workings” – also wie Phänomene entstehen (workings) und wie sie in Erscheinung treten (appearances). Er schreibt dazu: … the split is merely a symptom of a far more fundamental chasm between appearances and workings, where appearances are interpreted as if they are Text and can be read as if they are information, and where workings are nothing but blind interactions between forces and matter. In that regard, Art, Art history, Art theory, and philosophy suffer as much under the chasm as engineering and design. LARS SPUYBROEK – 68 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Das ist auch wieder jenes Kernanliegen, das sich heute oft als neuen Materialismus bezeichnet. Also, es geht um eine Art Eigen-Aktivität von Material. Materielle Prozesse sind nicht einfach als blinde Interaktionen zu denken, die “workings” hinter dem was in Erscheinung tritt sind nicht einfach „blind interactions between forces and matter,“ sondern es ist komplexer. Dieses Verhältnis ist wichtig, es fasst in gewisser Weise eine exakte Umschreibung von dem, was wir hier “die Atomzeit” nennen. Atomzeit unterscheidet sich von der “atomischen” Zeit darin, dass in ihr diese “workings” als blinde Interaktionen gefasst werden – was nicht adäquat ist. Spuybroek beschreibt dieses gespaltene Verhältnis zwischen den Künsten und der Polytechnik so: LARS SPUYBROEK – 69 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – We remain locked in – as in the syndrome – either working at the dark reverse side of images and trying to expand the realm of materiality and technics as far as possible, or from the other side, to expand the realm of appearances as deeply as possible into matter without ever being able to explain how things work. Wovon er hier spricht ist das bekannte Problem der black boxes, das wir in vielen Anwendungen von heutiger Computertechnik haben. Die Künstliche Intelligenz ist dann am produktivsten, wenn wir gar nicht im Detail verstehen wollen, wie sie arbeiten – wie sie zu ihren Lösungen kommen. Was aber schlägt er vor, dass man tun kann? Save the Appearances – Phenotechnik and Philosophical Gymnastics Sein konkretes Vorhaben, wie er erklärt, besteht darin, die Erscheinungen zu “retten.” Dies steht im Gegensatz zur üblichen Herangehensweise, bei der es darum geht, die Erscheinungen zu bereinigen. Für ihn ist es von höchster Bedeutung, die Dinge und ihre Erscheinungen zu komplex vermischt zu erachten. Er betont, dass dies keine polemische Aussage sei. Vielmehr liegt seinem Ansatz eine Physik (Optik) und eine Metaphysik der Stofflichkeit von Licht zugrunde. Das heisst, es geht ihm nicht um eine Phänomenologie im herkömmlichen Sinne, son- LARS SPUYBROEK – 70 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – dern vielmehr um das Konzept einer Phenotechnologie, wie er sagt. Es ist nicht nur so, dass die Dinge nur für uns phänomenologisch erscheinen würden, so betont er, sondern die Dinge erscheinen (aktives scheinen, to radiate) auch für sich selbst, ganz unabhängig davon, ob jemand sie wahrnimmt. Die Phänotechnik sucht nun die “workings” zu lernen, mimetisch wie oben besprochen, davon wie dieses aktive er-scheinen der Dinge an sich (nicht für uns) geschieht. Dies bedeutet, dass Erfahrung nicht rein idealistisch und subjektivistisch betrachtet wird, sondern das ist, was man in der Philosophie als realistisch meint. Um diese Ideen zu diskutieren, betont er, braucht es Übung in einer Art philosophischen Gymnastik. LARS SPUYBROEK – 71 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Auch das, das Sprechen von philosophischer Gymnastik, stellt keine Abwertung der Philosophie dar; vielmehr drückt Spuybroek aus, dass er die Gesten der Philosophie erlernen möchte, dass er seinen Denkkörper schulen will, und nach Beweglichkeit der Denkfiguren strebt. Sein Ziel ist es nicht, nach der einen richtigen Haltung zu suchen und zu streben, sondern Beweglichkeit zu entwickeln. Dieses Verständnis von theoretischer Bildung möchte ich Ihnen ans Herz legen. Die Vorlesungen hier sind ebenfalls weitgehend darauf ausgerichtet. Sie sollen die Gesten der Theoretiker erlernen – nicht wie Sie sortieren, einordnen, ausgrenzen oder behalten sollen. Theorie macht einen nicht sicher, sondern frei. Dualität als Verbindendes im Paradoxen, nicht als Gegensätze Nun geht es darum, beide Aspekte zu vermischen – “thing and appearance must be confused”, so formuliert Spuybroek. und zwar deshalb, weil für ihn in diesen beiden Dingen (als Phänomene) Beweglichkeit und Stasis, Stille, enthalten sind. Die Dinge sind geprägt von einer “Stillness” und gleichzeitig auch von einer “Motion”, “Motivik”, einer Bewegtheit die “still gestellt” werden kann. Wir können uns das als eine Art polares Modell denken, das einen sphärischen Körper aufspannt – ähnlich wie es der Nordpol und Südpol für ein Weltmodell LARS SPUYBROEK – 72 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – tun. Damit wird das Modell für etwas Zyklisches denkbar, wo im Grunde genommen alles, was darin Platz findet, immer “etwas von beiden Polen verkörpert” – an jedem Ort der Welt ist sozusagen ein bisschen Südpoligkeit und ein bisschen Nordpoligkeit. Spuybroek schreibt: When we draw a diagram that says “movement” on one side and “stillness” on the other... with two semicircular arrows pointing in opposite directions to show the continuous reversal of one into the other, we should put the word “beauty” with the arrow that points from stillness to movement, and “Grace” with the other arrow. Both beauty and Grace are turns, transformations, but in opposite directions that cannot be separated from one another: the shining of the one is turned into the movement of the other, and vice versa. In short, it works. Üblicherweise wird Arbeit mit der Produktion von etwas in Verbindung gebracht, mit einem klaren Anfang und Ende – einem fertigen Produkt. Ein Automatismus hingegen läuft einfach ab, er endet auch nicht sondern wiederholt sich ständig. Bei den “workings” von denen Spuybroek spricht, bei seinem Arbeitsbegriff, sind beide Aspekte vermischt. In dem, was er Arbeit nennt, läuft eine zirkuläre Transformation ab ein bisschen so wie die Zeit unweigerlich fortschreitet, und es fallen diskrete “Produkte” von diesem Transformationsprozess ab wie von der fortschreitenden Zeit Minuten, Stunden, Tage, Jahre et cetera “abperlen”. LARS SPUYBROEK – 73 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es ist eine Art Arbeit im Magma: ein Unterscheiden, ein Trennen, ein Verbinden, ein Durchdenken, ein Durchkneten. Es perlen ständig Dinge ab, die resolut sich selbst sind, und dennoch kann man nicht davon sprechen, dass “die Arbeit” je ende, zu einem Ende komme. Das bedeutet vorallem eines: das Produkt selbst ist nicht das Ausschlaggebende, nicht das ist, was diesen Arbeitsbegriff auszeichnet. Das Interessante an der Vorstellungswelt die Spuybroek entwickelt ist, dass es diese beiden gegenstrebigen Bewegungen gibt: Einerseits das Schöne und andererseits das Graziöse, das Begnadete wie er es nennt (grace). Beide interagieren miteinander und bilden einander gegenüberliegende Pole. Durch die Optik ihrer “Gegenpoligkeit” kann man in den Blick nehmen, wie Erscheinungen an und in und mit den Dingen entstehen: nicht als Geschichte, als Bericht dessen, was geschehen ist; LARS SPUYBROEK – 74 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – sondern als Mechanik: es geht darum, wie Erscheinungen “gemacht” werden. Die Grace Machine Hier haben wir einige Formulierungen, die das auf den Punkt bringen: Grace is enabling but not assured; it depends on automatism yet is not automatic. The definition of Grace as a movement that we cannot truly locate – since we cannot say if we are moving or being moved – links directly to the meaning of habit and inhabitation. The word “habit” shares its etymological roots with “able,” and inhabitation likewise with “enable,” a distinction that resolutely structures the whole book. LARS SPUYBROEK – 75 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Es geht um das Spannungsfeld zwischen “Inhabitation,” etwas bewohnen, etwas zum Eigenen machen, und dem was eine “Gewohnheit” darstellt. An diesem Spannungsverhältnis arbeitet diese Arbeit, das was Spuybroek “the workings” nennt. Es geht darum, so kann man vielleicht am besten sagen, “wie etwas passiert,” wie es von statten geht. Und das nun benennt Spuybroek als “Grace Machine,” weil “Grace” nicht etwas ist, was wir uns aneignen können, ohne dass es einem schon “gegeben wäre” – ohne dass man eine Disposition dafür hat. Spuybroek spricht hier von einer Art Existenz – in der Philosophie mein man mit Existenz das Dasein, das Sein an einem Ort – dessen Orte gewissermassen aus dem Räderwerk von Automatik abperlen. Automatisch steht dabei für das , was natürlich ist. Was sich aus dieser automatischen Natur (wörtlich selbst-bewegte Natur, von auto(selbst) und -matos (animiert, beseelt, denkend) herausgestaltet, ist was Spuybroek “figurate archi- LARS SPUYBROEK – 76 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – tecture” nennt: “figurate architecture is not an architecture that itself takes on the qualities of the figure, but rather lets figures appear.” Also, es geht nicht darum zu sagen, Architektur soll Skulptur werden. Gnade/Anmut/Dankbarkeit ist absolut im Sinn von ohne Bedingungen Diese “Grace Machine” ist eine “paradoxical machinery,” so Spuybroek. Das Paradoxe ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Haltung. Das Figurative bezieht sich hier auf eine Architektur, die Haltungen hervorruft. Haltungen eröffnen auf interessante Weise das Thema des Kanons als etwas, das überhaupt nicht normativ sein kann – ähnlich wie die Qualität des Sublimen, die rhetorisch nicht beschreibbar ist. In dieser Hinsicht verhält sich das Thema des Kanons und der ethischen Haltungen, die er vermitteln kann (die Contrappost Mechanik als Referenz für ein menschliches Maß der Dinge) wie das Thema des Erhabenen/Sublimen. Beide sind in ihrer Qualität nur quantitativ zugänglich (Mechanik, Technik) und können dennoch nicht positiv beschrieben werden. The ties between movement as given and posture as pursued can never be directly established. If it were, LARS SPUYBROEK – 77 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Grace would be the same as training, and could be repeated infinitely. Dies ist auch der Punkt, der das Thema “Grace” heutzutage oft mit Robotern in Verbindung bringt. Spuybroek’s gegenpolige Welt-AufspannVerbindung zwischen den Graziösen und dem Schönen findet hier nämlich einen interessanten Ausdruck, eine Variation im Thema: Anstelle vom Graziösen und dem Schönen stehen hier Eleganz und Präzision. Das Figurative stellt sich darin dar, dass es eigentlich gar kein Präzision ohne Eleganz gibt, und auch keine Eleganz ohne Präzision – so wie es nichts Graziöses gibt ohne Schönheit, und keine Schönheit ohne Anmut, wobei in beiden Fällen nie der eine Pol den anderen Pol dominiert. Vielmehr finden beide eine Kontrapost Haltung, könnten wir sagen. Hier liegt eine grosse Faszination, die auch in der Literatur oft behandelt wurde. Zum Beispiel über Puppen oder Marionetten, die von außen gesteuert werden und gerade darüber bestimmte Facetten von Menschlichkeit verkörpern können, die sonst schwer zu greifen sind. Ich möchte nicht weiter darauf eingehen, aber man kann sich vielleicht damit etwas besser dasjenige vorstellen, was Spuybroek als “paradoxical machinery” feiert. Es geht um Haltungen, die eine Art Erlebnis darstellen, das Anlass für einen Versuch – einen Essay – im Umgang mit dem Sublimen gibt. Man kann die Fertigkeiten und auch die gefertigten Dinge (die aus der Zyklizität des Automatischen “abperlen”) nicht klassifizieren oder LARS SPUYBROEK – 78 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – definieren. Aber man kann lernen, eine Rezeptivität dafür zu entwickeln. Hier verbindet sich Kunst mit Technik, Technik mit Kunst: wenn ein enorm prekäre Sache so stark in ihrer Erscheinung gemacht werden kann, dass sie immer wieder zum Referenzpunkt wird für weiteres Tun. So ungefähr, glaube ich, ist die Faszination, die dieses Denken hier antreibt. Shining Out – Gift Cycle Aber was hat es auf sich, mit diesem Abperlen aus der polaren und automatischen Zyklizität? Kommen wir jetzt auf die Facette der Dankbarkeit, die in “Grace” enhalten ist und schauen wir, was Spuybroek damit macht. Das Sprechen von einer Grace LARS SPUYBROEK – 79 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Die Dankbarkeitsspirale als Motor von Kunst und Technik Machine hat tatsächlich auch eine interessante anthropologische Dimension. “Grace” hat zwar mit Dankbarkeit zu tun, aber es ist eine Dankbarkeit, die nicht direkt göttlich ist – wie etwa im Christentum. Spuybroek schreibt: The ancient notion of Grace is deeply embedded in a far older history though, namely that of gift exchange. And with the gift we start to understand far better how thing-appearances work. Purely emphasizing the thing as a realist entity would quickly place our relationship with them in an objectivist framework; similarly, an emphasis on appearance could – LARS SPUYBROEK – 80 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – thank to phenomenology – only be understood in a subjectivist mode, since it is based on subjective experience. Neither applies to gift exchange, which is of cyclical nature, The two positions cancel each other out. Der letzte ist der zentrale Satz: So wie der Gift Cycle den Austausch von Geschenken beschreibt, geht es auch bei der Grace Machine um eine Art Neutralisieren, wobei aber kein absoluter Nullpunkt etabliert wird – sondern vielmehr alles in zyklischer Bewegung gehalten wird. Spuybroek unterscheidet diese Zyklizität dann in drei Phasen. “Three stages: giving, receiving and returning.” Und das ist der Punkt. Es ist zyklisch, aber nur kontinuierlich in einem Sinn als dass Dinge daraus abperlen. Also, “giving, receiving, and returning – three stages that, unsurprisingly, correspond again with the Three Graces” in den mythischen Erzählungen, nämlich die “goddesses of charm, beauty, nature, human creativity, goodwill, and fertility which Hesiod names Aglaea (“Shining”), Euphrosyne (“Joy”), and Thalia (“Blooming”). LARS SPUYBROEK – 81 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Die Weltoffenheit des unpersönlich Privaten Eine solche Dankbarkeitsspirale gibt uns eine Mechanik im Umgang mit Werten, und ist für das figurative Denken und die Zyklizität seiner Domäne von Bedeutung – wir wollen jetzt diese Domäne als das Domestische der “unpersönlichen Privatheit” bezeichnen, von der wir vorher gesprochen haben. Diese Privatheit ist ein tropischer Ort, in dem Sinn als dass in der Rhetorik und Poetik die unpersönlichen Sprachfiguren oder Denkfiguren “Tropen” heissen, weil hier ihre Wendigkeit konstitutiv ist, nicht ihre “Bedeutung” LARS SPUYBROEK – 82 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – oder ihre semantische “Referenz”. Solche Sprachund Denkfiguren agieren als eine Art generische Subjektivität. Spuybroek schreibt: … tropos, in English trope, […] positions the turn unequivocally in the domain of the figure. Now, instead of immediately placing the figure in the tradition of rhetoric and Mimesis […] I begin by taking the figure as literally as possible. The strength of standing does not by itself simply turn into the sideways movement of appearing, it requires a specific Form of weakening that allows the parts of the figure to mobilize and connect to one another in order to construct a standing entity. Therefore, standing and appearing cannot simply be compounded by hyphenating two terms; they require a third aspect, something that is not-standing, a weakening that enables stance to bend sideways, a doubling that sounds extremely ambiguous and paradoxical, which I term contrapuntal based on the classic notion of contrapposto. And here we have arrived at the arguments of the very first chapter. Of course, it is no accident that contrapposto is derived from sculpture’s vocabulary – in rhetoric it is called chiasmus – since sculpture necessarily addresses the problem of stance; after all, that is what statue means. Hier ist die Art der Haltung eingeführt, um die es geht. Mit den Darstellungen, die wir bereits gesehen haben lasse ich das für sich selbst sprechen, und fügen noch eine zweite Passage dazu: However, such a real thing does not yet appear by itself, and still relies on an outer source, namely light in combination with human consciousness, to ap- LARS SPUYBROEK – 83 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – pear. A thing-appearance, on the other hand, not only stands forth, it also shines forth and makes a claim on the realm of seeing, thinking, and feeling, without being a priori seen, understood, or felt by others. Before being properly thought through in its philosophical consequences, such a statement needs to be experimentally constructed, and that I mean quite literally. My conclusion, in the last section of the second chapter, is that a thing-appearance, if it exists, does two things simultaneously: it stands vertically and appears horizontally, and therefore needs to take a turn. Standing-forth, Shining-forth – Radiant Intersubjectivity Spuybroek beginnt, so richtig mit der Sprache zu arbeiten. Diese “radiants” – dieses aktive Scheinen oder Screening, das vorhanden ist am Ort der Intersubjektivität – wie kann man es objektiv beschreiben? Oder anders gefragt: wie kann man die technischen Begriffe so verwenden, dass wir das was sie Können ohne die herkömmliche Sterilität (Eindeutigkeit, Starrheit) wahrnehmen können? Ein “Screen” wird wenige Leute als etwas Poetisches ansprechen. Oder etwas, das irgendwie mit einer Epiphanie, einer Erscheinung in Verbindung gebracht werden kann. Doch genau darum geht es ihm. Um dies zu erreichen, beginnt er von “shining forth” und “standing forth” zu sprechen. Also, vom Herausleuchten und vom leuchtenden Hervortreten. Und das ist interessant, LARS SPUYBROEK – 84 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – weil es quasi eine Vermischung von Raum und Zeit darstellt. Das Leuchten ist immer gegenwärtig. Das Leuchten kann auch nicht eingefangen werden. Etwas ist belichtet, wenn es geschehen ist. Doch eine Dauer mit dem Leuchten zu verbinden – das ist ungewöhnlich. Ebenso beim “standing forth”: eine Dauer mit dem Stehen zu verbinden – das ist ungewöhnlich. Weiters ist es ungewöhnlich, dass es in unterschiedlichen Skalen erscheint, die koexistieren. Lassen Sie uns versuchen, das etwas zu “beleuchten”. Man könnte sagen: Einerseits ist das Stehen, wenn wir an eine Haltung denken, etwas, was ohne Bewegung ist. Doch andererseits, wenn die Haltung aktiv eingenommen ist, müssen ganz viele unterschiedliche Muskelspiele stimmen, zum Beispiel. Jedes einzelne davon kann man als Skala beschreiben, die in ihrem Zusammenspiel die Haltung ausmachen als etwas, was viele partielle Gleichgewichte jonglieren kann. Ein Körper hat von vielen Gliedern, Organen, zwei – zwei Hände, zwei Füße und so weiter. Zwei Hirnhälften. Dadurch, dass der Körper sich in einer Symmetrie halten kann, wird für unsere Körper ein enormer Ausdrucksreichtum ermöglicht. Um dies zu beschreiben, prägt Spuybroek Worte neuartig, so dass das was er mit “Figur” meint, sehr interessant erscheint: eine Figur wird zum “radiant thing”. LARS SPUYBROEK – 85 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Das empörte Modell Spuybroek zieht damit einen interessanten Schluss daraus. Er sagt, mit der Contrapposto (er bezieht sich hier auf Leonardo), damit liesse sich eine Verbindung zwischen Grace und der Figur stiften: …we establish the link to Grace: the appearance of gracefulness is paradoxically not of any strength but of the weakness of stance. Yet, its appearance is not a question of a static image, but of many images moving through and over one another, a blurred and thickened state of the image that the Greeks already called shining or radiance. In dieser Verbindung von Anmut und Figur hat dieses Fort-Scheinen (shining forth) oder Fort-Stehen (standing forth) mit den vielen Skalen zu tun. Mit einer Art Gestimmtheit oder Stimmung, die aktiv gehört oder empfunden werden muss. With the notion of radiance, appearances conceptually change from a dependence on exogenous human consciousness to an endogenous, inside-out luminosity where the mobility of the parts shines out but now as issued by the whole. A figure, then, is a radiant thing. Die Wende hier ist wichtig: “an appearance of gracefulness is not due to strength but to the weakness of stance.” Dieses “weakness of stance” hat damit zu tun, dass etwas fort-scheinen kann das eigentlich “un-gesetzt”, “prekär” oder eben “em- LARS SPUYBROEK – 86 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – pört”, als Gegenteil von “firm” (Engl. für das deutsche Adjektiv “entschlossen”) ist. Anmut hat mit einer Leichtigkeit im Umgang damit zu tun, was nicht einfach auszuhalten ist – einer Spannung, die trägt aber auch zerrt, weist aber auch fügt. Das Modell dafür, für einen solchen Begriff der Figur, ist der hinkende Gott Hephaistos, der “Craftsman”. Here the full powers of Hepaestus come to the fore, the Limping God married to the first of the Three Graces, Aglaea, a name that literally means ‘shining.’ Deeply hidden in our abilities it is disability that leads to Grace, weakness that works, and pain that structures the architecture of the figure. If the second, third, and fourth chapters are about the spectrality of architecture, the fifth, sixth, and seventh are about our own spectrality. Yet, that involves as much architecture as the other set of three chapters. Instead of seeing us humans living in an architectural environment, we quickly begin to see how we ourselves turn into architecture, by becoming a structure bearing the unbearable – pain – and a figure of carrying based on the rhetoric of metaphor and chiasmus. We begin to see that the figure of contrapposto introduced in the first chapter is never a figure of virtuosity and relaxation, but of true weakness, pain, and suffering. We are hurt. Though Grace looks like a Form of ease, it is difficult and can only be acquired through, sometimes extreme, difficulty. We have entered the domains of religion, which from our phenotechnical viewpoint means a technological realm of appearances, light and spectrality. LARS SPUYBROEK – 87 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Damit setzt Spuybroek mit seiner Phenotechnik eine Verletzlichkeit mitten ins Zentrum von Technik – heute oft Inbegriff für Stärke, Eindeutigkeit, Entschlossenheit, Zielgerichtetheit et cetera. Die Technik verdankt ihre “Schönheit” dieser Verletzlichkeit, dieser erhobenen (empörten) Unentschiedenheit. Hephaestus ist der “Limping God” – der hinkende Gott, aber auch der Handwerker, der Mechaniker und der Skulptur, des Feuers und der Vulkane. Er war der Schmied unter den griechischen Göttern, der die technischen und künstlerichen Instrumente fertigen kann. Und er war verheiratet mit einer der drei mythischen Figuren für Grace, nämlich mit Aglaea. Neben Euphrosyne (“Joy”) und Thalia (“Blooming”) ist Aglaea laut Hesiod jene der drei Graces, die das “shining” verkörpert. Das ist deswegen so interessant, weil hier die Technik nicht von der Perfektion als Stärke her gedacht ist, sondern von der Verletzlichkeit. Am deutlichsten werden die Implikationen dieser Wende wenn wir darüber nachdenken, was wir meinen wenn wir sagen: Technik ist ein “Achievement.” Wir sollten die Technik wertschätzen nicht dafür, dass sie uns stärker und unverletzlicher macht, sondern dafür dass sie uns Verletzlichkeit gibt – Verletzlichkeit heisst auch Sorgsamkeit, Achtsamkeit, Moderatheit und so weiter. Hier liegt eine ganz andere Ethik gegenüber von Technik, als sie heute gängig ist. Natürlich mag diese Vorstel- LARS SPUYBROEK – 88 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – lung etwas befremdlich erscheinen, aber wenn wir über Klima, Globalisierung, all die großen Zusammenhänge nachdenken, all die Themen, die uns heute herausfordern, dann ist es zumindest interessant. Denn es würde erlauben, die Änderungen der Lebensstile die auf uns zukommen, nicht so sehr als eine Buße zu verstehen; es könnte vielleicht Wege aus den so oft Scham und Haß getriebenen Diskursen weisen. Abschliessende Bemerkungen, zur Methodik von Spuybroek’s Architekturverständnis Zum Abschluss möchte ich gerne auf zwei, drei methodische Aspekte eingehen, die in einem verallgemeinerten Sinn wichtig sind (auch jenseits von Spuybroek’s Buch) und die sein Buch aber sehr schön vorführt. LARS SPUYBROEK – 89 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Einer dieser Aspekte betrifft das Thema Gleichzeitigkeit. Wir haben bisher vorallem die Geste der Negation als Spiegelfiguren gesehen, als bestimmte Drehungen von gegebenen Symmetrien die alle mit der Zeit ringen, mit ihrem chronologischen linearen fortlaufen: das Anti-Objekt bei Kuma, in welchem die Architektur Architektur ist, insofern sie Architektur zum Verschwinden bringt; oder wir hatten bei Eisenman die Gest einer Kommunikation ohne Botschaft besprochen, oder bei Libeskind die Weissagugnen einer mechanischen Hieroglyphik, oder bei Clément die Planetarischen Gärten als weltweit verteilte Gärten des Wissens, regional and lokal unterschiedlich entwickelt, kultiviert, gepflegt. Das alles sind metaphysische Gesten, die eigentlich nach einer Chronometrik suchen im Umgang mit einer Synchronizität des Geschichtlichen – die Gleichzeitigkeit, die Realzeit die wir hier in dieser Vorlesungsheinheit auch als Atomzeit beschrieben haben. Mit Spuybroek jetzt finden wir uns in einer Art Tropik, die uns zu einer Art Naturkunde des Figurativen anleitet; die Materialität dieses Figurativen, das ist ein quasi-Vulkanischen Magma von “anachronical Connections”. Anachronismen bedeuten hier, Harmonien oder Resonanzen zwischen Zeiträumen zu finden, die sehr weit voneinander entfernt liegen können. Wie zum Beispiel die Geschichte von Hephaestos als mythische Figur am Ursprung von Technik, in Verbindung gebracht mit der heutigen Physik von Licht, der Quantenphysik. Spuybroek findet solche LARS SPUYBROEK – 90 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Bezüge in der Tiefe der Zeit. Das ist vielleicht das, was Longinus “große Zusammenhänge” nennen würde. Also, Dinge, die eigentlich sehr weit hergeholt scheint und die aber dennoch auch ganz nahe beieinander liegen. Aber in welcher Weise? Wie ein kosmischer Rubik Würfen, so Spuybroek: the machine of phenotechnology, like a cosmic Rubik’s Cube running wild, relentlessly keeps on shredding history by making its anachronical connections, turning the multileveled symmetries into a kaleidoscopic mosaic of stories, images, and philosophies. Mechanisches Lesen – Die “fifty percent rule on method” Wie aber kann man mit dieser Metapher eines Rubik Würfels etwas anfangen in Bezug zur Frage nach der Methodik? Was können wir daraus lernen, dafür wie sich mit metaphysischen Gesten theoretisieren lässt? Das Wichtigste scheint mir die Verbindung von Puzzle und Mosaik, dem Setzen der diskreten Teile durch kontinuierliche Bewegungen die kreisend, wendend, drehend vorgehen. Spuybroek beschreibt im Vorwort, wie er versucht hat eine mechanisches Lesen zu praktizieren während er das Buch geschrieben hat. LARS SPUYBROEK – 91 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Er beschreibt, wie er enorm viel und breit gelesen hat – aber nicht, um spezifische Antworten zu finden, Übersichten zu schaffen, oder lediglich um Wissen anzuhäufen. Sondern was ihn interessiert hat war ein mechanisches Lesen. Dabei bestand seine eigene Aktivität darin, dass er wie ein Schauspieler (Actor) unterschiedliche und bewusst gewählte Haltungen eingenommen, ausprobiert, und praktiziert hat bei diesem Lesen. Er hatte sich dabei eine einfache Regel auferlegt – eine Art Metamethode. Sein Anspruch war: Unabhängig von dem, was er gelesen hat, sollte er sich so lange mit einem Text auseinandersetzen, bis er genau die Hälfte des Textes gerne mochte und die andere Hälfte nicht. Oder anders gesagt, bis er sich genau mit der Hälfte des Textes einverstanden erklären konnte und mit der anderen Hälfte nicht. Diese Metamethode ähnelt im Kern selbst der Form, von der er im Buch spricht – also dem Figurativen, dem Tropischen, dem Zyklischen, dem Skulpturalen, und der Ethik des Hervorhebens uns Ausweitens der Verletzlichkeiten, hier nun mit dieser Metamethode auf sich selbst angewandt. Wenn man darüber nachdenkt, was das bedeutet, finde ich das äußerst interessant als Umgangsform. Denn unser Problem besteht oft darin, dass wir nur die Dinge wahrnehmen oder lesen, die unsere bereits bestehenden Ansichten lediglich bestätigen. Es ist äußerst anstrengend, sich mit etwas auseinanderzusetzen, was unseren Überzeugungen erst einmal widerspricht. Und umgekehrt: LARS SPUYBROEK – 92 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Einfach nur die Dinge zu lesen, gegen die man aufgebracht ist, also wenn man sich ausschließlich mit dem beschäftigt, bei dem man bereits im Voraus weiß, dass man es ablehnen wird, das ist ähnlich selbstbestätigend, und unproduktiv. Veranschaulichen wir uns also die Ethik dieses mechanischen Lesens: Nehmen wir an wir sprechen über einen Text, bei dem wir fast jeden Satz unterstreichen möchten um zu sagen wie wichtig er sei, hier müssten wir probabilistisch denken, wir müssten so lange darin lesen, wir müssten so viel hineinprojezieren, den Text in Kontext und in seiner Motivik virtuell anreichern, aufladen, und dann Haltungen, die wir so impliziert (eingesäumt, eingefaltet) finden extrapolieren (ein bisschen so so wie die Computer KI das mit unseren Daten macht heute) – bis wir mindestens mit der Hälfte nicht mehr einfach so einverstanden sind. Dafür müssten wir uns aus der Identifikation mit dem Text heraus entfremden, bis wir Dinge darin lesen können, mit denen wir eigentlich nicht mehr einverstanden sind. Und umgekehrt auch bei einem Text, den man eigentlich nicht ertragen kann: auch hier müssten wir uns so lange mit ihm auseinandersetzen, bis wir einen Zugang finden können. Was ich Ihnen zeigen möchte, ist, dass durch ein solches Theorieverständnis man von den schwierigen und den scheinbar starren Dingen lernen kann. Das ist ein Ansatz im Umgang mit dem sogenannten Klassischen, der heutzutage etwas verloren gegangen ist. Im Hinblick auf all diese LARS SPUYBROEK – 93 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Überlegungen ist es sehr einfühlsam und schön, wie Spuybroek das hier entwickelt. Die Sprache muss mit sich selbst in Berührung bleiben Abschließend für die heutige Vorlesung habe ich zwei Folien. Wir haben einerseits gesehen, wie dominant die Sprache teilweise als Metapher und als Instrument, insbesondere im 20. Jahrhundert, für die Architektur wurde. Aber nicht nur für die Architektur. Im 20. Jahrhundert sprechen wir vom sogenannten Linguistic Turn. Während man bisher immer gedacht hatte, die Sprache solle so transparent wie möglich sein, wird die Sprache plötzlich vordergründig. Das Interesse besteht darin, die Verbindung zwischen Rhetorik und Architektur neu zu denken, insbesondere über die Technik. Diese Verbindung bezieht sich darauf, dass es in LARS SPUYBROEK – 94 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – der Sprache selbst eine Öffentlichkeit gibt, die durch die Sprache konstituiert wird. Diese Öffentlichkeit hat viel mit einer unpersönlichen Subjektivität zu tun. Denn über Worte kann man nicht einfach verfügen, ähnlich wie bei Mechanismen: man muss sich ihnen unterordnen um sie gut handhaben zu können. Eine solche Öffentlichkeit hat viel mit Code und Codierung zu tun, da Code Gewohnheiten etabliert und verbreitet, was mit Macht verbunden ist. Ausblick, nächste und letzte Vorlesungseinheit In der kommenden letzten Vorlesung werden wir einerseits über Junya Ishigami sprechen, insbesondere über sein Buch Another Scale for Architecture. Andererseits möchte ich auch einige allgemeine Fäden zusammenführen und reflektieren, die sich durch die Vorlesungen dieses Semesters gezogen haben. Dabei geht es um den Gedanken, der unser Motto war: “By Way of Scale – Architecture and the Abduction of Space.” Wir werden darüber nachdenken, wie wir Raum betrachten können als etwas, das aus der Zeit herausgelöst wird, was aus ihr “entführt” wird (Abduction). Die Konzepte der Atomzeit werden dabei hoffentlich auch anschaulicher werden – sie kommt gewissermassen als gegenüberliegender Pol zu Geschichte ins Spiel. Denn Geschichte wird erst dann wirklich zu LARS SPUYBROEK – 95 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – Geschichte, wenn sie nicht “gemacht” wird sondern “passiert” – dafür braucht es ein Aussen zu dem, was wir als “Geschichte” kultivieren, kommunizieren, et cetera. Heutzutage scheint es oft, dass wir ein solches Aussen verloren haben. Darauf wollen wir in der abschließenden Vorlesung noch einmal eingehen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Begriff der Skala: was kann das Denken in Scales leisten, diesbezüglich? LARS SPUYBROEK – 96 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT – 97 – – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT – 98 – – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT – 99 – – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT – – 100 – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – LARS SPUYBROEK TRANSCRIPT – 101 – – GRACE AND GRAVITY VO Architekturtheorie 2 – TRANSCRIPT – VO AT 2 Transkript Wien S2024 attp.tuwien.ac.at LARS SPUYBROEK – 102 – GRACE AND GRAVITY