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LENKA KARFÕKOV¡
Plotin und Augustin ¸ber die Zeit
ÑWenn nichts anderes als die Seele und ihr Intellekt
f‰hig ist zu z‰hlen, so ist Zeit ohne die Seele nicht mˆglich.ì
(Aristoteles, Physik 223a25 f.)
Ziel dieses Artikels ist es nicht, zu untersuchen, ob Augustin Plotins Abhandlung
Ѹber Ewigkeit und Zeitì (Enn. III,7 [45]) gelesen hat,1 oder ob ihm dessen
Gedanken nur vermittelt wurden (z.B. durch die kappadokischen V‰ter, wie es
einige Forscher annehmen).2 Ich mˆchte eher Augustins Auslegung mit der des
Plotin vergleichen und die sachlichen ‹bereinstimmungen und Unterschiede
zwischen beiden Auffassungen betrachten.
Plotin
Plotins Ausf¸hrungen ¸ber die Zeit folgen auf seine Auslegung zur Ewigkeit,
deren Bild die Zeit ist.3 Seiner ‹berzeugung nach l‰sst sich n‰mlich der Charakter des Bildes nicht untersuchen, ohne dass wir das erforschen, von dem es
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2
3
Eine Interpretation der gesamten Abhandlung bietet W. Beierwaltes, Plotin, ‹ber Ewigkeit und Zeit. Enneade III,7, Frankfurt a. M. 19813; vgl. auch A. Smith, Eternity and
Time, in: L. P. Gerson (Hrsg.), The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1996,
S. 196-216; S. K. Strange, Plotinus on the Nature of Eternity and Time, in: L. P. Schrenk
(Hrsg.), Aristotle in Late Antiquity, Washington D. C. 1994, S. 22-53.
Vgl. J. F. Callahan, Basil of Caesarea, a New Source for St. Augustineís Theory of Time,
in: Harvard Studies in Classical Philology, 63, 1958, S. 437-454. Die Diskussion zu
Augustins (nicht ganz wahrscheinlicher) Lekt¸re von Enn. III,7, bzw. Porphyriusí Abhandlung ¸ber die Zeit in Sent. 44 fasst K. Flasch (Was ist Zeit? Augustinus von Hippo,
Das XI. Buch der Confessiones: Text, ‹bersetzung, Kommentar, Frankfurt a. M. 1993,
S. 130-133) zusammen, der eher zur Vorsicht in dieser Frage mahnt und die sachliche
ƒhnlichkeit und Verschiedenheit der Vorstellung Augustins gegen¸ber den neuplatonischen Vorlagen zeigt (S. 133-150). Flaschs Schlussfolgerung, dass die Zeit bei
Augustin etwas ÑNichtiges, wenn nicht gar Bˆsesì sei (S. 150), erscheint jedoch nicht
ganz berechtigt.
Vgl. Platon, Tim. 37d.
PLOTIN UND AUGUSTIN ‹BER DIE ZEIT
33
abgeleitet ist.4 Die Ewigkeit (a≈„n) ist f¸r Plotin weder ganz mit dem geistigen
Wesen (º noht∂ o⁄s¯a) identisch noch mit der Ruhe (st°siq),5 sondern ist
eher eine Einheit aller f¸nf hˆchsten platonischen Gattungen (Wesen, Verschiedenheit, Identit‰t, Bewegung und Ruhe)6 und es geb¸hrt ihr Best‰ndigkeit
(§idiÕthq).7 Sie ist eine Art Anschauung (nÕhsiq) oder Leben (zvµ), das nicht
den Charakter einer Spanne hat (§diast°tvq), in sich selbst ruht und nicht mal
dieses, mal jenes ist, sondern dem alles auf einmal gegenw‰rtig ist wie in einem
Punkt. Deshalb wandelt sich dieses Leben nicht, nichts ist ihm vergangen noch
zuk¸nftig, sondern einzig gegenw‰rtig. Es ist vˆllig das, was es ist, ohne erst
etwas werden zu m¸ssen oder etwas nicht mehr zu sein.8 Die Ewigkeit ñ schlieflt
Plotin ñ ist also ÑLeben des Seienden, das im Sein besteht (º per˘ tŒ —n Øn tò
e»nai zvµ), das ganz und vollst‰ndig auf einmal ist (“mo◊ p£sa ka˘ plµrhq)
und vˆllig unausgedehnt (§di°statoq pantaxè)ì.9 Deshalb l‰sst sich die
Ewigkeit als unbeschr‰nkt (tŒ •peiron) verstehen, denn sie verliert nichts, was
ihr gehˆrt (mhdÆn a⁄to◊ §nal¯skei).10 Sie besteht Ñum das Eine, aus diesem
und zu diesemì (per˘ tŒ ¥n ka˘ §pí Øke¯noy ka˘ prŒq Øke¡no).11 Wir kˆnnen
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Enn. III,7(45),1,16-24. Dies ist Plotins wichtigster methodologischer Einwand gegen¸ber
Aristoteles, vgl. hierzu R. Chiaradonna, Il tempo misura del movimento? Plotino e Aristotele (Enn. III 7 [45]), in: M. Bonazzi ñ F. Trabattoni (Hrsg.), Platone e la tradizione
platonica. Studi di filosofia antica, Milano 2003, S. 222-250.
Enn. III,7(45),2. Diese ungenauen Definitionen der Ewigkeit hat Plotin wohl selbst
geschaffen in Entsprechung zu den Begriffsbestimmungen der Zeit, die er im Weiteren
ablehnen will: (1) Ewigkeit w‰re wohl identisch mit dem intelligiblen Wesen, sofern die
Zeit identisch mit dem beweglichen Bereich, d.h. der himmlischen Sph‰re w‰re; (2) die
Ewigkeit w‰re vielleicht identisch mit der Ruhe, sofern die Zeit identisch mit der Bewegung w‰re; beides freilich unter der Voraussetzung, dass zwischen Zeit und Ewigkeit
eine Beziehung von Bild und Vorbild abgeleitet aus Platons Vorstellung, besteht (vgl.
S. K. Strange, Plotinus, S. 34).
Enn. III,7(45),3,8-11; vgl. Platon, Soph. 254d-255a.
Enn. III,7(45),3,1 f.; vgl. Platon, Tim. 47d. Zur Geschichte der Begriffe §idiÕthq (ÑBest‰ndigkeit, Ewigkeitì) und a≈„n (urspr¸nglich Ñindividuelle Dauerì), vgl. A.-J. Festugière, Le sens philosophique du mot a≈„n. A propos díAristote, de caelo I,9, in: La parola
del passato, 4, 1949, S. 172-189. Mit der Beziehung zwischen a≈„n (Ewigkeit) und
§idiÕthq (Best‰ndigkeit) habe ich mich im Artikel Eternity according to Plotinus, Enn.
III,7, in: Freiburger Zeitschrift f¸r Philosophie und Theologie, 58, 2011, S. 444-448,
besch‰ftigt.
Enn. III,7(45),3,14-23.
Enn. III,7(45),3,36-38.
Enn. III,7(45),5,18-25.
Enn. III,7(45),6,2; vgl. Platon, Tim. 37d.
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LENKA KARFÕKOV¡
die Ewigkeit verstehen, versichert Plotin, weil wir sie ber¸hren (Øwaca¯meua)
und an ihr Anteil haben (mete¡nai), obwohl wir zugleich in der Zeit sind (Øn
xrÕnÑ).12
Wenn er nun sagen soll, was die Zeit ist, so versucht Plotin das eigene
Verst‰ndnis mit den Lehren seiner Vorg‰nger zu vergleichen, d.h. er will (wie
auch schon im Vorhergehenden) eine eigene Auslegung der Lehre Platons geben, der er freilich eine Polemik mit denjenigen Ansichten vorausschickt, die er
f¸r falsch h‰lt.
Im Ganzen sind es sechs abgelehnte Vorstellungen ¸ber die Zeit, die nach
Plotin in drei Gruppen geteilt werden: (1) Zeit ist identisch mit der Bewegung
(k¯nhsiq), und zwar entweder (1a) mit jeglicher Bewegung (p£sa k¯nhsiq),
oder (1b) mit der Bewegung des Alls (k¯nhsiq to◊ pantÕq); (2) Zeit ist das,
was sich bewegt (tŒ kino’menon); (3) Zeit ist etwas an der Bewegung (kinµse„q ti), und zwar entweder (3a) die Spanne der Bewegung (di°sthma
kinµsevq), oder (3b) deren Mafl (m≠tron), oder letztlich (3c) das, wodurch die
Bewegung begleitet wird (parakoloyuo◊n a⁄tè).13
Mit den Ersten beiden dieser Gruppen hat sich bereits Aristoteles in seiner
Physik auseinandergesetzt.14 (1) Die Vorstellung, dass die Zeit eine Bewegung
ist, ist deshalb abzulehnen, weil die Bewegung in der Zeit geschieht (Øn xrÕnÑ),
und deshalb nicht mit ihr identisch sein kann. Auch wenn die Bewegung aufhˆrt,
endet damit nicht die Zeit. Ja, auch eine ununterbrochene Bewegung des Alls ist
nicht selbst die Zeit, denn es existieren hier verschieden schnelle Bewegungen,
die gerade durch die Zeit gemessen werden (in welcher Zeit welche Strecke
zur¸ckgelegt wird).15
(2) Noch unwahrscheinlicher ist die zweite Auffassung (den Pythagoreern
zugeschrieben), in der die Zeit mit einer sich bewegenden Sache selbst gleichgesetzt wird, n‰mlich mit der himmlischen Sph‰re.16 ƒhnlich wie Aristoteles17
h‰lt es auch Plotin nicht f¸r nˆtig, sie eigens zu widerlegen, und erw‰hnt sie eher
der Vollst‰ndigkeit halber.18 Weit mehr Aufmerksamkeit widmet er daf¸r der
dritten Hypothese, und zwar in allen ihren drei Gestalten.
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Enn. III,7(45),7,3-5.
Enn. III,7(45),7,18-26.
Vgl. Aristoteles, Phys. IV,10, 218a33-218b20.
Enn. III,7(45),8,1-20.
Vgl. Simplicius, In Phys. IV,10 (CAG IX, 700,19 f.).
Vgl. Aristoteles, Phys. IV,10, 218b5-9.
Enn. III,7(45),2,2 f.; 7,24 f.; 8,20-22.
PLOTIN UND AUGUSTIN ‹BER DIE ZEIT
35
Die stoische Vorstellung von der Zeit als ÑSpanne der Bewegungì (3a) hat
grunds‰tzlich eine doppelte Bedeutung:19 Die Zeit wird hier n‰mlich verstanden
zum einen als ein Ganzes, d.h. als eine nicht existierende unendliche (unendlich
teilbare) Vergangenheit und Zukunft (auch a≈„n genannt),20 zum anderen als
gegenw‰rtiger Augenblick, d.h. als Intervall, das durch aktuelle Bewegung der
materiellen Substanz ausgef¸llt wird. Die Ñganze Zeitì im ersten Sinne des
Wortes ist eine Spanne oder ein Intervall (di°sthma) der Bewegung der Welt,21
d.h. einer kosmischen Periode im Pulsieren des gˆttlichen Pneumas (die sich
einigen Stoikern zufolge zahllos wiederholt). Die zweite Zeit (Gegenwart) ist
die Spanne der aktuellen Bewegung oder des Handelns der kˆrperlichen Substanz (so interpretieren die Stoiker Ñistì, das bei Platon der unwandelbaren
Ewigkeit vorbehalten bleibt).22 Die ÑSpanneì (di°sthma) der Stoiker hat also
urspr¸nglich keine r‰umliche Bedeutung, sondern ist durch die Aktivit‰t der
materiellen Substanz (durch das menschliche Handeln) beschr‰nkt. ƒhnlich wie
die Zeit wird auch der Raum erst durch Aktivit‰t begr¸ndet, n‰mlich durch die
tonische Bewegung des Pneumas.23
Wir werden sehen, dass diese Auffassung Plotin nicht ganz fern ist und
dass seine Polemik gegen die stoische Vorstellung von der Zeit in gewissem
Mafle auf einem Missverst‰ndnis beruht. Plotin versteht n‰mlich das stoische
Diastema als Intervall (di°stasiq) im Raum, als Strecke der Bewegung, und
merkt an, dass zu deren Bestimmung noch etwas anderes notwendig ist, n‰mlich
die Zeit. Die Zeit w¸rde sich dieser Vorstellung nach (in Plotins Verst‰ndnis)
entweder auf den Ort (tÕpoq) reduzieren, oder erneut auf die Bewegung, n‰mlich die Strecke, welche die Bewegung in ihrer Kontinuit‰t in sich selbst tr‰gt.
Dieses Zweite w‰re jedoch eine Art ÑVielheit der Bewegungì (tŒ pol÷ t∑q
kinµsevq), verstanden entweder als Zahl (zu dieser Auffassung kommen wir
gleich), oder als Bewegung, die nicht augenblicklich ist (k¯nhsiq o⁄k §urÕa),
d.h. eine Bewegung in der Zeit. Auf diese Weise jedoch l‰sst sich die Zeit nicht
korrekt definieren. Die ÑSpanne der Bewegungì ist also entweder nicht verschieden von der Bewegung selbst, oder sie ist eine Art Intervall, in dem sich die
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21
22
23
Vgl. Chrysipp nach Arius Didymus, Physica, Frag. 26 (SVF II,509,18-30).
Diese Bezeichnung benutzt im Unterschied zu Chrysipp Marcus Aurelius, vgl. Ad se
ipsum, IV,3,7 (Dalfen 23,14); XII,7 (Dalfen 108,19); XII,32 (Dalfen 112,21.32).
Vgl. Apollodor nach Arius Didymus, Physica, Frag. 26 (DG 461,7 f.).
Vgl. Platon, Tim. 37e. Siehe hierzu V. Goldschmidt, Le système stoïcien et líidÈe de
temps, Paris 1953, S. 43.
Vgl. P. Hadot, Porphyre et Victorinus, II, Paris 1968, S. 386.
36
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Bewegung ausspannt. 24 Dieses Zweite gilt zwar, meint Plotin, doch derzeit
wissen wir nichts ¸ber dieses Intervall und es w‰re nˆtig, es weiter zu definieren,
wenn wir sagen sollen, was die Zeit ist. Entschieden jedoch l‰sst sich dieses
Diastema nicht ˆrtlich verstehen.25
Die Zeit als ÑZahl der Bewegungì (§riumŒq kinµsevq), die wir bereits
erw‰hnt haben, f‰llt in Plotins Interpretation in eins mit der Zeit als ÑMafl
(m≠tron) der Bewegungì (3b).26 F¸r Aristoteles, der diese Auffassung vertrat,
ist jedoch beides nicht ganz identisch. Aristoteles definiert die Bewegung als
ÑZahl (Anzahl) der Bewegung nach dem Vorher und Nachherì (§riumŒq kinµsevq kat¢ tŒ prÕteron ka˘ flsteron).27 Im abgeleiteten Sinn ist dann die Zeit
auch ÑMafl der Bewegungì (m≠tron kinµsevq ka˘ to◊ kine¡suai),28 n‰mlich
im Verh‰ltnis zum Grundmafl, welches die Kreisbewegung des Himmels ist. Die
Anzahl der Bewegung ist jedoch Zeit im Bezug auf jegliche Bewegung. Zeit
kann nur deshalb Mafl der Bewegung sein, da sie ihre Anzahl ist: Zeitlichkeit
bedeutet Z‰hlbarkeit. ÑAnzahl (Zahl, Z‰hlbarkeit) der Bewegungì zeigt damit
das Wesen der Zeit auf, w‰hrend das ÑMaflì eher ihre Funktion ausdr¸ckt.29
Plotin entfaltete in seiner Kritik dieser Auffassung30 nicht die Motive, an
die angekn¸pft werden kˆnnte (z.B. dass zum Z‰hlen eine z‰hlende Seele nˆtig
ist), sondern konzentriert sich auf seine Grundabsicht, die Zeit von der Bewegung zu trennen. Soll die Zeit ein ÑMaflì sein, dass regelm‰flige und unregelm‰flige, gleichm‰flige und ungleichm‰flige Bewegung gleichermaflen misst,
muss dieses Mafl unabh‰ngig davon sein, was mit ihm gemessen wird. Dann
w‰re es notwendig dieses Mafl selbst zu definieren und seine Definition kann
nicht sein, dass es ÑMafl der Bewegungì ist.31 Wenn dieses Mafl als Zahl definiert wird,32 muss es sich entweder um eine aus Einheiten bestehende Zahl
24
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Enn. III,7(45),8,53-56: tŒ di°sthma ... parí ‘ a⁄t∂ º k¯nhsiq t∂n par°tasin ∞xoi
oÃon symparau≠oysa Øke¯nÑ.
Enn. III,7(45),8,23-70.
Enn. III,7(45),9,1 f.
Aristoteles, Phys. IV,11, 219b1 f.
Phys. IV,12, 220b32 f.
Vgl. P. F. Conen, Die Zeittheorie des Aristoteles, M¸nchen 1964, S. 140 ff.; W. Beierwaltes, Plotin, ‹ber Ewigkeit und Zeit, S. 228.
Zu Plotins Polemik mit Aristoteles (auch im Hinblick auf die anderen Vorg‰nger Plotins)
vgl. R. Chiaradonna, Il tempo.
Enn. III,7(45),9,6-15.
Aristoteles versteht die ÑZahl der Bewegungì, welche die Zeit ist, ausdr¸cklich als Ñgez‰hlte Zahlì (tŒ §riumo’menon), nicht als ÑZahl, mit der wir z‰hlenì (û §riumo◊men),
vgl. Phys. IV,11, 219b7 f. Plotin setzt in seiner Auslegung das Gegenteil voraus, wohl auf
PLOTIN UND AUGUSTIN ‹BER DIE ZEIT
37
handeln oder um ein Ñzusammenh‰ngendes Maflì (synexÆq m≠tron), n‰mlich
Grˆfle (m≠geuoq). Diese Grˆfle ist dann entweder etwas von der Bewegung
Verschiedenes, etwas ihr parallel Verlaufendes (¸ber das wir jedoch noch nichts
wissen), oder die Bewegung selbst. Anders gesagt: die Zeit ist entweder ein von
der Bewegung verschiedenes Mafl (das eigens definiert werden m¸sste), oder ist
selbst die gemessene Bewegung. Wenn wir sie als von der Bewegung verschiedenes Mafl verstehen, dann messen wir dieses Mafl nicht durch sich selbst,
sondern durch eine Zahl im Sinne einer bestimmten Anzahl von Einheiten.33
Nach Aristoteles soll es, wie wir uns erinnern, um eine Anzahl Ñnach dem
Vorher und Nachdemì gehen. Nur wird auch dieses ÑVorher und Nachherì
entweder ˆrtlich verstanden, oder selbst durch die Zeit gemessen. In diesem
zweiten Fall jedoch ñ wenn das ÑVorherì die Vergangenheit bis zum gegenw‰rtigen Jetzt ausdr¸ckt und das ÑNachherì die mit dem jetzt Gegenw‰rtigen
beginnende Zukunft ñ ist die Zeit abh‰ngig vom Beobachter, der das Jetzt bestimmt. Dann ist Zeit jedoch nicht eher als die Seele, die sie misst und in
gewisser Weise Ñgeht sie aus der Seele hervorì. Ist es jedoch dabei notwendig,
dass das Messen selbst Grundlage der Zeit ist?34 Laut Plotin ist die Zeit nicht
wesentlich (kat¢ tŒ t¯ Østin), sondern nur akzidentell (kat¢ symbebhkÕq)
Mafl der Bewegung.35 Eher freilich ist die Bewegung (der Himmelskˆrper) Mafl
der Zeit, denn sie zeigt die Zeit an, ohne sie damit entstehen zu lassen.36
Das letzte, epikureische Verst‰ndnis (3b) endlich versteht die Zeit als Ñdas,
was die Bewegung begleitetì (parakolo’uhma t∑q kinµsevq), d.h. als eine
Art Akzidenz (s’mptvma)37 der Ereignisse, die selbst eine Art Akzidenz von
kˆrperlich Seienden sind. Die Zeit ist also eine Art ÑAkzidenz der Akzidenzenì
(s’mptvma symptvm°tvn), wie Sextus Empiricus das epikureische Zeitverst‰ndnis charakterisiert38 (die Ausdr¸cke parakolo’uhma, s’mptvma,
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Grund einer exegetischen Tradition (Aspasius, Alexander von Aphrodisias), die aus
sachlichen Gr¸nden den Text des Aristoteles korrigiert (vgl. Simplicius, In Phys. IV,11,
CAG IX, 714,31-34), siehe hierzu S. K. Strange, Plotinus, S. 44 f.; R. Chiaradonna,
Il tempo, S. 231.
Enn. III,7(45),9,15-31.
Enn. III,7(45),9,55-84.
Enn. III,7(45),12,41 f.
Enn. III,7(45),13,1-5.
Epikur, Ad Herod. 73. ƒhnlich spricht Lucretius ¸ber die Zeit als ¸ber etwas, das nicht
von sich selbst aus existiert, doch Ereignisse begleitet (consequitur), vgl. Lucretius, De
rerum nat. I,459 f. (Bailey I, 198).
Vgl. Sextus Empiricus, Hypotyp. III,19,137 (Mutschmann ñ Mau I,171); Adv. math.
X,219 (Mutschmann II,349).
38
LENKA KARFÕKOV¡
symbebhkÕq sind f¸r Epikur in ihrer Bedeutung einander sehr nahe39). Diese
Vorstellung lehnt sich an Aristotelesí Feststellungen an, dass ÑBewegung die
Grˆfle, und die Zeit die Bewegung begleitetì (§koloyue¡ g¢r tò mÆn meg≠uei
º k¯nhsiq, tè dÆ kinµsei “ xrÕnoq), oder dass dazu, was in der Zeit ist, die
Zeit notwendig dazugehˆrt (§n°gkh parakoloyue¡n).40 Die epikureischen
ÑEreignisseì, die durch die Zeit begleitet werden, sind die Tage, N‰chte, ihre
Teile, das Unterliegen oder Nicht-Unterliegen den Anregungen (p°uh, §p°ueiai), Bewegungen und Ruhe (kinµseiq, mona¯),41 welche selbst ÑEreignisseì
kˆrperlicher Dinge sind. Ihnen Ñf‰lltì die Zeit Ñzuì (wie der Begriff s’mptvma
andeutet), von ihnen wird sie ausgesagt, ohne jedoch eine selbst‰ndige Substanz
zu haben.42
Gerade dieser letzte Punkt ist Zielscheibe der Kritik Plotins. Auch diese
Definition sagt n‰mlich nicht, was die Zeit ist. Was ist denn dieses Begleitende
und wie genau ist sein Verh‰ltnis zur Bewegung? Folgt es der Bewegung, existiert es mit ihr zugleich, oder geht es ihr vielleicht voraus? Dann aber setzt dieses
Begleitende bereits die Zeit voraus und kann sie nicht definieren.43
Nach dieser vorbereitenden Kritik beginnt Plotin mit der Auslegung, wie
nun die Zeit zu verstehen ist. Wie wir bereits wissen, will er sie in ihrer Beziehung zur Ewigkeit verstehen. Dieses Verst‰ndnis jedoch steht der Frage
gegen¸ber, wie und warum sich die Zeit ¸berhaupt von der Ewigkeit unterschieden hat, auf die Plotin eine mythologisierende, seiner gnostischen Widersacher w¸rdige Antwort gibt.
Die Zeit, so Plotin, hat ihren Ursprung in der Ñneugierigen Naturì (w’siq
polypr°gmvn), die sich nicht mit ihrem Ruhen im Sein zufriedengab, sondern
etwas mehr als die Gegenwart suchte und sich somit in Bewegung brachte.
Dadurch wurde auch die Zeit als Abbild der Ewigkeit in Bewegung gesetzt.44
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43
44
Vgl. W. Beierwaltes, Plotin, ‹ber Ewigkeit und Zeit, S. 239. Wie C. Bailey zeigt, unterschied wohl Epikur zwischen symbebhkÕq als st‰ndig Begleitendem und s’mptvma als
gelegentlich Begleitendem (vgl. C. Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, New York
1964 [19281], S. 300-309).
Vgl. Aristoteles, Phys. IV,12, 220b24-26 und 221a24 f.
Vgl. Epikur, Ad Herod. 73; Sextus Empiricus, Hypotyp. III,19,137 (Mutschmann ñ Mau
I,171); Adv. math. X,219 (Mutschmann II,349); X,224-226 (Mutschmann II,350).
Vgl. W. Beierwaltes, Plotin, ‹ber Ewigkeit und Zeit, S. 238 ff.
Enn. III,7(45),10,1-8.
Enn. III,7(45),11,15-20. Dieses Motiv wird durch H. Jonas betont, der nicht nur auf
dessen N‰he zur gnostischen Vorstellung des mythischen ÑFallesì aufmerksam macht,
sondern zugleich auf dessen nicht-rationales Verst‰ndnis der Zeit und den unendlichen
PLOTIN UND AUGUSTIN ‹BER DIE ZEIT
39
Die Zeit hat also ihren Ursprung in der Seele, denn in ihr ist Ñeine Art unruhige
M‰chtigkeitì (tiq d’namiq o⁄x Ωsyxoq) gegenw‰rtig, die das, was sie Ñdortì
(im ewigen Bereich des Seienden) sieht, immer auf Ñanderesì ¸bertragen will.
ÑDas Eine in sich selbstì tauscht sie somit gegen das Eine, das einen ontologisch
schw‰cheren Bereich der ÑAusdehnungì (m∑koq) vereinigt. Die Seele selbst
unterlag also der Zeit (Ñhat sich verzeitigtì, ≤ayt∂n ØxrÕnvsen) und hat der
Zeit auch den Kosmos unterworfen, den sie als eine Nachahmung der Welt
Ñdortì geschaffen hat.45 Der Kosmos der Ausdehnung bewegt sich n‰mlich in
der Seele und die ƒnderungen ihres Wirkens (Øn≠rgeia) und ihres diskursiven
Abw‰gens (di°noia), in denen eines auf das andere folgt, hat n‰mlich eine
Zeitfolge (tŒ Øwej∑q) verursacht. Das Leben hat sich damit Ñausgedehntì (di°stasiq o›n zv∑q) und einen zeitlichen Charakter angenommen.46 Die Zeit ist
also ÑLeben der Seele in Bewegung, von einem Stadium zum n‰chsten ¸bergehendì (cyx∑q Øn kinµsei metabatikè Øj •lloy e≈q •llon b¯on zvµ).47
Als solches ist sie Abbild der Ewigkeit (des Lebens Ñdortì), das sich statt durch
wirkliche Einheit, Identit‰t und Unausgedehntheit, nur durch Kontinuit‰t (syn≠xeia) als Nachahmung der Einheit auszeichnet, das nicht in sich selbst verharrt,
sondern seine Wirkung abwechselt, das die verdichtete Unausgedehntheit durch
st‰ndige Abfolge ersetzt und das nie ein Ganzes darstellt, sondern best‰ndig erst
zum Ganzen hinstrebt (§e˘ ØsÕmenon ”lon). Es ahmt also das Sein Ñdortì nach,
indem es sich das Sein st‰ndig aneignen will (es jedoch nie hat).48
Die Zeit ist also, so kˆnnten wir schlieflen, nach Plotin eine Seinsweise der
Seele, die eine Art Zugang zu zeitlosen Formen hat, sie jedoch auf das Gebiet
der Andersheit ¸bertr‰gt und, indem sie sich st‰ndig nach anderem sehnt, eine
Abfolge als Vielheit erschafft, die von ihr vereint wird. Die Zeitlichkeit als
unterschiedlich von der unausgedehnten Ewigkeit, die alles auf einmal umfasst,
wird damit durch das Sehnen der Seele nach anderem, durch ihre Unruhe, Neugier, durch ihr Ausschreiten zu anderem und wieder zu anderem gestiftet, die
das Sein nachzuahmen eilt, ohne es jemals erreichen zu kˆnnen.
45
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48
Horizont der Aktivit‰t, welche auf die Neuzeit verweisen, vgl. H. Jonas, Plotin ¸ber
Ewigkeit und Zeit: Interpretation von Enn. III 7, in: A. Dempf et alii (Hrsg.), Politische
Ordnung und menschliche Existenz: Festgabe f¸r E. Voegelin zum 60. Geburtstag,
M¸nchen 1962, S. 313 f.
Enn. III,7(45),11,20-30.
Enn. III,7(45),11,31-43.
Enn. III,7(45),11,43-45.
Enn. III,7(45),11,45-59.
40
LENKA KARFÕKOV¡
Von welcher Seele jedoch spricht Plotin? Wohl von der Weltseele (º cyx∂
to◊ pantŒq), wie er selbst im Schlussteil seiner Auslegung erw‰hnt. Sogleich
f¸gt er jedoch hinzu, dass die Zeit auch Ñin unsì ist, da sie Ñin gleicher Weise
(“moeidÂq) in jeder Seele ist und alle Seelen eine Seele sindì. Letzteres ist der
Grund, warum die Zeit nicht in einzelne Seelen Ñzerst¸ckeltì (o⁄ diaspasuµsetai), ‰hnlich wie auch die Ewigkeit nicht zerst¸ckelt ist.49
Augustin
Augustins Auslegung ¸ber die Zeit im elften Buch seiner Bekenntnisse50 folgt
zwar auch auf eine Erw‰hnung der Ewigkeit, von der sich die Zeit unterscheidet
(die Ewigkeit Ñstehtì im Unterschied zur Zeit, nichts vergeht in ihr, aber alles ist
anwesend),51 seine Ausf¸hrungen sind dennoch anders aufgebaut als die Plotins.
Ihren Rahmen bildet eine Auslegung ¸ber die Schˆpfung der Welt nach dem
Beginn des Buches Genesis52 und die vorwitzige Frage, was Gott tat, bevor
(antequam) er die Welt geschaffen hat. 53 So wird Augustin zu dem Thema
gef¸hrt, das uns nun interessiert: ÑWas ist also die Zeit? Ich weifl es, wenn mich
niemand fragt; wenn ich jedoch auf diese Frage antworten soll, so weifl ich es
nicht.ì54
Ausgangspunkt der Suche Augustins ist sodann nicht Polemik mit seinen
Vorg‰ngern, sondern die Beobachtung, welche Zeit-Erfahrungen wir haben. Die
Zeit ist in unbeachteter Selbstverst‰ndlichkeit in unserer Rede gegenw‰rtig,
Dinge kommen und gehen, deshalb sprechen wir von Zukunft und Vergangenheit,55 in der Grammatik lernen wir ¸ber die Ñvergangene, gegenw‰rtige und
49
50
51
52
53
54
55
Enn. III,7(45),13,65-69.
Eine Auslegung dieses Buches habe ich im Artikel Zeit, Selbstbeziehung des Geistes und
Sprache nach Augustin, in: Freiburger Zeitschrift f¸r Philosophie und Theologie, 54,
2007, S. 230-249, versucht.
Conf. XI,11,13 (CCL 27, 201).
Conf. XI,3,5 (CCL 27, 196).
Conf. XI,10,12 (CCL 27, 200). Augustin hat sehr wahrscheinlich manich‰ische Fragesteller im Sinn, dieselbe Frage erscheint jedoch in der epikureischen Polemik gegen die
Stoiker, vgl. Cicero, De nat. deor. I,21 (Stanley Pease I,187-191); Lucretius, De rerum
nat. V,168 f. (Bailey I,440); ein Bestreiten des zeitlichen Anfangs der Welt wirft Augustin auch den Platonikern vor, vgl. Civit. XI,4 (CCL 48, 323-325) und XII,13 (CCL 48,
366). Siehe hierzu E. P. Meijering, Augustin ¸ber Schˆpfung, Ewigkeit und Zeit, Leiden
1979, S. 40-44 und 105-108.
Conf. XI,14,17 (CCL 27, 202,8 f.).
Conf. XI,14,17 (CCL 27, 203).
PLOTIN UND AUGUSTIN ‹BER DIE ZEIT
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zuk¸nftige Zeitì.56 Zugleich sprechen wir von Ñkurzer und langerì Zeit,57 denn
Ñwir sind uns bewusst der Intervalle der Zeit und vergleichen sie miteinanderì
(sentimus intervalla temporum et conparamus sibimet), d.h. wir messen (metimur) einen mit dem anderen.58
Erst auf Grundlage dieser Beobachtung widerlegt Augustin die Argumentation seiner Vorg‰nger, um in dieser Polemik zugleich eine eigene Zeitvorstellung zu erarbeiten. Gegen die Aporie der nicht-existierenden Zeit
ñ Vergangenheit und Zukunft sind nicht,59 die Gegenwart ist ausdehnungslos ñ
zeigt Augustin, dass die drei Arten der Zeit, so wie wir von ihr sprechen, eine
dreifache Gegenwart ist. Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit (memoria, expectatio, contuitus), d.h. eine Spur des Vergangenen, Vorstellung des
Zuk¸nftigen und die aktuelle Aufmerksamkeit, die das Zuk¸nftige in Vergangenes ¸berf¸hrt, haben zugleich ihre Gegenwart in unserem Geist.60 Die
ausdehnungslose Gegenwart als Wandel des Zuk¸nftigen in Vergangenes wird
dabei durch die Vorstellung des Geistes erg‰nzt, der sich entsprechend den
vergehenden Dingen ausdehnt und damit eine Spur ihres Vergehens entstehen
l‰sst, die er in sich selbst messen kann.61
Die zweite Polemik Augustins wendet sich gegen die Vorstellung, die Zeit
mit Bewegung gleichsetzt, wie sie uns bereits in der Auslegung Plotins und
Aristotelesí begegnet ist. Augustin f¸hrt sie unter Berufung auf Ñirgendeinen
gelehrten Menschenì (a quodam homine docto) zuerst in der Gestalt an, dass die
Zeit Bewegung von Sonne, Mond und Sternen sei.62 Doch auch wenn deren
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Conf. XI,17,22 (CCL 27, 205).
Conf. XI,15,18 (CCL 27, 203).
Conf. XI,16,21 (CCL 27, 204,1 f.).
Dem Einwand der nicht existierenden Zeit (da weder Vergangenheit noch Zukunft sind)
trotzt auch Plotin, Enn. III,7(45),13 und vor ihm Aristoteles, Phys. 221b31 ff. Eine
Entfaltung dieses Einwandes (einschliefllich des Problems der nicht fassbaren Gegenwart) finden wir bei Sextus Empiricus (Hypotyp. III,19,136-150, Mutschmann ñ Mau I,
171-174; Adv. mathem. X,169-247, Mutschmann II,339-354), zwischen dessen Erw‰gungen und Augustins Auslegung gemeinsame Punkte zu finden sind: Die Zeit kann keinen
zeitlichen Anfang haben, die Zeit ist nicht auflerhalb der Seele (vgl. K. Flasch, Was ist
Zeit?, S. 125-130).
Conf. XI,20,26 (CCL 27, 206 f.); XI,28,37 (CCL 27, 213 f.).
Conf. XI,27,35-36 (CCL 27, 213).
Conf. XI,23,29 (CCL 27, 208,1 f.). Diese Position scheint von Platon (Tim. 39c-d) abgeleitet zu sein; einigen Forschern zufolge konnte sie Augustin aus der Polemik der
kappadokischen V‰ter ¸bernommen haben, wo sie deren Gegner Eunomius zugeschrieben
wird (vgl. Basilius von†Caesarea, Adv. Eun. I,21, SC 299, 246), siehe hierzu oben, S. 32
mit Anm. 2.
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Bewegung aufhˆren sollte, w¸rde die Zeit nicht enden, meint Augustin. Sie w‰re
zumindest in unserer Rede gegenw‰rtig, die sich aus kurzen und langen Silben
zusammensetzt, welche verglichen werden kˆnnen.63 Wenn der Tag (dies) durch
den Lauf der Sonne um die Erde gegeben wird, dann kˆnnte er l‰nger oder
k¸rzer sein, falls sich die Sonne auf ihrer Bahn versp‰tet oder schneller wird.
Womit jedoch messen und vergleichen wir die L‰nge dieser Intervalle? Sicher
nicht durch die Bewegung selbst, sondern eben durch die Zeit, die deshalb nicht
mit der Bewegung identisch sein kann. Die Zeit ist also eine Art Spanne (distentio), die es ermˆglicht, die Schnelligkeit der Bewegungen zu vergleichen.64
Deswegen ist die Zeit nicht identisch mit der Bewegung (welcher Sache auch
immer), sondern durch die Zeit messen wir Bewegung und Ruhe.65 Sofern wir
aber die Bewegung durch die Zeit messen, womit messen wir dann die Zeit? Die
Antwort kann nicht lauten, dass wir sie mit irgendeiner Einheit messen, die dazu
festgelegt wird (z.B. durch die L‰nge der kurzen Silbe), denn dies w¸rde
bedeuten, die Zeit auf den Raum zu ¸berf¸hren: eo modo loca metimur, non
tempora. 66 Das Intervall, mit dem wir die Zeit messen, ist laut Augustin die
Spanne des Geistes selbst (distentio ... animi),67 n‰mlich seine F‰higkeit, Dinge
in ihrem Vergehen zu messen und in sich deren messbare Spur zu bewahren.68
Der Geist registriert also nach Augustins Vorstellung, wie sie in diesen
beiden Polemiken formuliert wurde, vergehende Dinge und h‰lt die Spur ihres
Vergehens fest, d.h. er wird sich deren zeitlichen Charakters bewusst. Damit
verzweigt sich seine eigene Gegenwart zugleich in eine dreifache Dimension der
aktuellen Aufmerksamkeit, der Erinnerung des Vergangenen und der Erwartung
des Zuk¸nftigen. Die Zeit, wie sie Augustin versteht, scheint auf der Gegenseitigkeit von vergehenden Dingen und der Dreieinheit des Geistes gegr¸ndet,
der f‰hig ist, das Vergehen als ein verlaufendes Ganzes zu verstehen.
Augustin ist sich nat¸rlich bewusst, dass die Spanne des eigenen Geistes als
Mafl des rezitierten Hymnus ausreicht, hˆchstens noch als Mafl des eigenen
Lebens. Doch auch das Ganze der menschlichen Geschichte (saeculum),
deren Bestandteil die menschlichen Leben sind, hat seine Zeit. 69 Misst auch
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Conf. XI,23,29 (CCL 27, 208).
Conf. XI,23,30 (CCL 27, 209).
Conf. XI,24,31 (CCL 27, 210).
Conf. XI,26,33 (CCL 27, 211,12).
Conf. XI,26,33 (CCL 27, 211,20 f.).
Conf. XI,27,36 (CCL 27, 213).
Conf. XI,28,38 (CCL 27, 214,25 ff.).
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diese unser Geist durch eine Art weitergegebene Erinnerung der menschlichen
Gattung? Augustin kennt zwar die Vorstellung einer solchen Erinnerung des
Geschlechts Adams,70 hier kommt sie jedoch nicht zum Tragen. Er denkt eher
dar¸ber nach, Ñob es einen Geist gibt, begabt mit so gewaltigem Wissen und
Vorherwissen, dass er alles Vergangene, alles K¸nftige so kennt, wie ich ein
wohlbekanntes Lied?ì71 Dieser Geist jedoch kann sicherlich nicht Gott selbst
sein, versichert Augustin (Sed absit ut tu ... ita noveris omnia futura et praeterita), 72 denn Gottes Erkenntnis hat keinen zeitlichen Charakter und kann
deshalb die Zeit nicht begr¸nden. Gott erwartet doch die Zukunft nicht und
erinnert sich nicht an die Vergangenheit, sondern besteht in unver‰nderlicher
Ewigkeit (inconmutabiliter aeternus),73 in der ihm alles auf einmal gegenw‰rtig
ist. Im Schluss seiner ‹berlegungen ¸ber die Zeit deutet Augustin somit die
Mˆglichkeit eines Geistes an, der mit seiner Erwartung und Erinnerung die Zeit
der Welt umfasst. Dieser Geist m¸sste Ñbewunderungs- und staunenerregendì
sein (nimium mirabilis ... animus iste atque ad horrorem stupendus).74 Trotzdem
m¸sste es ein geschaffener Geist sein, denn ohne Schˆpfung gibt es keine Zeit;75
und wiederum w‰re es wohl kein Engelsgeist, der obgleich geschaffen, der Zeit
nicht unterliegt.76 Einige Forscher urteilen wohl zu recht, dass Augustin hier so
etwas wie eine Weltseele im Sinn hat, deren Vorstellung ihm bekannt war und
die er f¸r eine annehmbare (wenn auch unsichere) Hypothese hielt.77
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Conf. X,20,29 (CCL 27, 171).
Conf. XI,31,41 (CCL 27, 215,3-6): ... si est tam grandi scientia et praescientia pollens
animus, cui cuncta praeterita et futura ita nota sint, sicut mihi unum canticum notissimum. Deutsche ‹bersetzung J. Bernhart: Augustinus, Confessiones ñ Bekenntnisse,
M¸nchen 1955, S. 669 (modifiziert).
Conf. XI,31,41 (CCL 27, 215,10 ff.).
Conf. XI,31,41 (CCL 27, 216,16).
Conf. XI,31,41 (CCL 27, 215,6 f.). Zu dieser Stelle vgl. auch unten, S. 89 f. mit Anm. 87.
Conf. XI,13,15 (CCL 27, 202).
Conf. XII,15,19-21 (CCL 27, 225 f.).
Vgl. R. J. Teske, The World-Soul and Time in St. Augustine, in: Augustinian Studies, 14,
1983, S. 75-92. In seinen anderen Werken f¸hrt Augustin ausdr¸cklich an, dass er auf die
Frage nach der Weltseele nicht mit Sicherheit antworten kann (vgl. Cons. evang. I,23,35,
CSEL 43, 34 f.), er ist sich freilich auch hier sicher, dass Gott nicht die Weltseele ist (vgl.
Gen. litt. VII,4,6, BA 48, 516), da die Seele der Welt geschaffen worden sein muss (Retr.
I,11,4, CCL 57, 35). Vgl. hierzu K. Flasch Was ist Zeit?, S. 404-415; A.-I. BoutonTouboulic, Líordre cachÈ. La notion díordre chez saint Augustin, Paris 2004, S. 201-210.
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Erst ganz am Ende seiner Erw‰gungen ber¸hrt Augustin also den Punkt,
von dem Plotin in seiner Abhandlung ausgeht, n‰mlich die Seele, der die Zeit
der Welt zuzuschreiben ist. Augustin l‰sst freilich die mythologische Erkl‰rung
der Verzeitlichung der Seele, verschuldet durch ihre Neugier, vˆllig aus. Die
Erschaffung der Zeit ist f¸r ihn Werk Gottes selbst 78 ñ Augustin hat wahrscheinlich im Sinn, dass Gott sowohl Schˆpfer der verg‰nglichen Dinge als auch
des Geistes ist, der f‰hig ist, dieses Vergehen zu registrieren.
Es ist freilich schwer zu erkl‰ren, wie sich aus der unver‰nderlichen Ewigkeit auf einmal die Zeit abgelˆst hat, ohne dass in Gott ein neuer Wille entstanden w‰re. Gottes Wille gehˆrt zum Wesen Gottes, in ihm ist weder Wechsel
noch Bewegung, und doch ist die Welt f¸r Augustin nicht ewig.79 Dieses Paradox versucht Augustin nicht zu erkl‰ren, er konstatiert nur, dass das unruhige
Herz des Menschen weder die Ñimmer stehende Ewigkeitì zu denken, noch zu
begreifen vermag, wie die Zeit aus deren steten Gegenwart Ñhervorbrichtì (excurrere):80 ÑWer h‰lt das menschliche Herz auf, dass es Stand habe und sehe,
wie die stehende Ewigkeit, selbst weder k¸nftig noch gewesen, das K¸nftig und
Gewesen der Zeiten verf¸gt?ì81 Er gibt sich mit der Feststellung zufrieden, dass
Gott der Zeit nicht zeitlich vorausgeht, und dass es deshalb keinen Sinn hat zu
fragen, was Ñvorì der Erschaffung der Zeit war, denn ein solches ÑVorherì gab
es nicht.82
Der Mensch ist also f¸r Augustin ein zeitstiftendes und mit der Zeit eng
verbundenes Wesen, das von der Zeitlichkeit nur schwer abstrahieren kann.
Diese Zeitlichkeit jedoch muss nicht nur den Charakter einer ÑSpanneì (distentus) zwischen Vergangenem und Zuk¸nftigem haben, die gleichermaflen vergeht, sondern kann sich auch zur eschatologischen Zukunft ausrichten
(extentus). Sie muss daher nicht eine ÑZerstreuungì (secundum distentionem)
sein, sondern kann auch zur ÑKonzentrationì (secundum intentionem) auf das
Unverg‰ngliche werden. Diese vereinigende Arbeit jedoch schreibt Augustin
nicht dem menschlichen Geist allein zu, sondern zugleich dem Vermittler zwischen der gˆttlichen Einheit und der geschaffenen Vielheit (inter te unum et nos
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Conf. XI,14,17 (CCL 27, 202,1 f.).
Conf. XI,10,12 (CCL 27, 200).
Conf. XI,11,13 (CCL 27, 201).
Conf. XI,11,13 (CCL 27, 201,14-16): Quis tenebit cor hominis, ut stet et videat, quomodo
stans dictet futura et praeterita tempora nec futura nec praeterita aeternitas? Deutsche
‹bersetzung J. Bernhart, S. 623 (modifiziert).
Conf. XI,12,14ñ13,16 (CCL 27, 201 f.).
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multos).83 Dieser Mittler ist dem Glauben Augustins zufolge derselbe wie der
Mittler der Schˆpfung als der Entstehung der Vielheit aus der gˆttlichen Einheit,
n‰mlich das Wort (verbum), mit dem Gott die Welt erschaffen hat,84 Ñdas ewig
ausgesprochen wird und in dem ewig alles ausgesprochen istì.85
In drei Dimensionen seiner Gegenwart ausgespannt kann sich der menschliche Geist nicht selbst vereinigen, sofern ihm keine Hilfe zuteilwird ñ n‰mlich
die Hilfe des gˆttlichen Wortes, das in die verg‰ngliche Vielheit gestiegen ist.
Diese Intervention jedoch soll die Zeitlichkeit als solche nicht ¸berwinden,
sondern gibt ihr die Einheit einer auf die Ewigkeit konzentrierten Zeit.
Augustins Gott ist selbst Ursprung der Zeit (die Zeit ist nicht durch die
Neugier der Seele entstanden) und gew‰hrt selbst die Mˆglichkeit, der Zeit den
Charakter einer vereinigten Hinwendung zur Ewigkeit zu geben. Der Mensch
¸bt in diesem Konzept die Zeit sozusagen aus, denn durch seinen Geist h‰lt er
das Vergehen der Dinge fest und konstatiert deren Intervalle. Ob es neben dem
Menschen noch einen anderen Ausf¸hrer der Zeit gibt, solch einen Ñbewunderungs- und staunenerregenden Geistì, der durch seine Erwartung und seine
Erinnerung die Geschichte der Welt zu einem Ganzen verbindet, ist f¸r Augustin
eher eine Randfrage.
Im Vergleich mit Plotin erweist sich f¸r Augustin auch der Zusammenhang
von Zeit und Sprache, die ebenfalls zwischen Einheit und Vielheit vermittelt, als
auff‰llig. Dieser Zusammenhang ist zwar f¸r Augustin kein direktes Thema,
dennoch finden wir in seinem Text wichtige Hinweise darauf: Gott schafft durch
ein zeitloses Wort, in dem er alles auf einmal ausspricht. Der Mensch verbindet
durch seine Sprache, in der die Zeit gegenw‰rtig ist, vergehende Dinge zu einem
Ganzen und vergegenw‰rtigt das Vergangene oder erst zu Erwartende (beispielsweise erz‰hlt er die Geschichte seines Lebens wie Augustin im ersten Teil
seiner Bekenntnisse). Damit erf¸llt er seine Aufgabe eines Vereinigers der
vergehenden Vielheit. Eine Voraussetzung dieser Arbeit ist die F‰higkeit, das
Verstreichen der Dinge zu registrieren und sie in Zeitintervallen zu verbinden.
Die Dreieinheit des Geistes (seine Hinwendung zur Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft, vereint in der aktuellen Gegenwart) ist also Grundlage der Sprache, die das Vergehende vereint, selbst jedoch zeitlich ist (es handelt sich um
eine Art Gegen¸ber zu Gottes auflerzeitlicher Rede, die die Zeitlichkeit begr¸ndet). Die Sprache erscheint damit als ein Hˆhepunkt der Arbeit der Zeit, die
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Conf. XI,29,39 (CCL 27, 214).
Conf. XI,5,7 (CCL 27, 198).
Conf. XI,7,9 (CCL 27, 198,2 f.).
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der Geist durch seine Dreieinheit leistet. Zugleich ist sie aber selbst Ort der Zeit
und muss selbst durch die Arbeit des Geistes registriert und in ein Ganzes verbunden werden.
Wohl gerade wegen dieses unteilbaren Zusammenschlusses von Sprache
und Zeit kann das R‰tsel der Zeit nicht befriedigend in der Sprache gelˆst werden, obgleich sie ein privilegierter Ort bleibt, an dem sich die Zeit zeigen und
verst‰ndlich werden kann: ÑWas rufen wir in der Sprache (loquendo) vertrauter
und gel‰ufiger in Erinnerung als die Zeit? Und wir verstehen auch, wenn wir
von ihr sprechen, und verstehen zugleich, wenn wir einen anderen von ihr sprechen hˆren.ì 86 Diese Selbstverst‰ndlichkeit ist f¸r Augustin, wie wir sehen
konnten, nicht nur ein rhetorischer Einstieg in das schwierige Thema Zeit,
sondern zugleich eine methodologische Orientierung, von der er sich in beiden
Polemiken seiner Ausf¸hrungen leiten l‰sst und mit deren Hilfe er auch seine
eigene Position entfaltet.
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Conf. XI,14,17 (CCL 27, 202,6-8): Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? Et intellegimus utique, cum id loquimur, intellegimus etiam, cum
alio loquente id audimus.