Zeitsprünge
Forschungen
zur Frühen Neuzeit
Band 21 (217)
Heft 1/2
Der Körper des Kollektivs
https://doi.org/10.5771/9783465142713
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Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit
Herausgegeben vom
Stuttgart Research Centre for Text Studies und dem
Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften
Redaktion:
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Wissenschaftlicher Beirat:
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dieser Zeitschrift stellen jeweils die Meinung des Verfassers dar. Mit der Annahme des Manuskripts
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Redaktionelle Zuschriften und Manuskripte: Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften
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Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich, je vier Hefte bilden einen Band. Der Bezugspreis für einen
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© Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 17
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sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in gedruckter und elektronischer Form bedarf
der Genehmigung des Verlages.
Herstellung und Satz: Monika Beck (Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften)
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ISO 7
ISSN 131-751
ISBN 78-3-5-71-
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Der Körper des Kollektivs
Figurationen des Politischen
in der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von
Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp
Vittorio Klostermann · Frankfurt am Main
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Inhalt
Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp
Einleitung
1
Claudia Bruns
Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen Neuzeit
9
Silke Förschler
Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht.
Jan van Kessels Erdteilallegorien (1664 – 1666)
44
Bettina Brandt
»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«.
Zur vormodernen Geschlechtercodierung der Nation
in Bildern der »Germania«
71
Bettina Uppenkamp
Insel der Hermaphroditen. Bildpolitik im Umkreis des Hofes von
Heinrich III. von Frankreich
98
Veronica Biermann
Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht.
Christina von Schweden im Spiegel Gian Lorenzo Berninis
137
Ilaria Hoppe
Der eine Körper Habsburgs.
Zur Bildpolitik der Florentiner Regentschaft
164
Abstracts
189
Über die Autorinnen und Autoren
192
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Claudia Bruns, Sophia Kunze und Bettina Uppenkamp
Einleitung
Die Geschichte der Neuzeit ist geprägt von Auseinandersetzungen um die
territoriale und politische Vormachtstellung innerhalb wie außerhalb Europas.
Dabei handelt es sich um ein Europa, welches als politische Einheit imaginiert in
dieser Zeit erstmals Form annimmt. Der vorliegende Sammelband widmet sich
der Frage nach der visuellen Gestaltung und Repräsentation des Politischen, der
bildlichen Formierung abstrakter Konzepte wie Territorium, Nation, Grenze und
Herrschaft. Dabei geht es zentral um die Frage, wie und mit welchen visuellen
Mitteln und Strategien das Verhältnis zwischen biologischem Individual- und
symbolischem Kollektivkörper gestaltet wurde. Denn es ist nicht nur »alles
Räumliche verkörpert«1, Räume werden auch oftmals in Bilder des menschlichen
Körpers gefasst.2
Es gibt vielleicht kaum ein prägnanteres Beispiel für die Darstellung einer
Figuration des Politischen in der Frühen Neuzeit als das Frontispiz für Thomas
Hobbes’ Leviathan.3 Unter dem Eindruck des englischen Bürgerkriegs zwischen
1642 und 1649, dem Dreißigjährigen Krieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen in den nordamerikanischen Kolonien geschrieben, zählt der Text zu
den Grundschriften moderner Staatstheorie. In der oberen Hälfte des horizontal
geteilten Bildes, das dem Text voran steht, erhebt sich über dem Horizont einer
weiten Landschaft aus dem Meer machtvoll das Ungetüm eines gekrönten Riesen,
der seinen Schatten bis auf die im Vordergrund dargestellte befestigte Stadt wirft.
In der rechten Hand ein erhobenes Schwert, in der linken einen Bischofsstab
haltend, blickt dieser Riese denjenigen direkt an, der das Buch aufschlägt. Der
auf den ersten Blick wie mit einem Schuppenpanzer bewehrt wirkende Ober1 Hartmut Böhme, »Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne«, in: Christina Lechtermann, Kirsten Wagner u. Horst Wenzel (Hgg.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von
sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 53-72, hier S. 55 ff.
2 Dabei hat sich die Geographie zwar vielfach mit der Semiotik von Karten befasst, diese jedoch
selten in Zusammenhang mit Repräsentationen von Körpern gebracht. Valerie Traub, »Mapping the Global Body«, in: Peter Erickson u. Clark Hulse (Hgg.), Early Modern Visual Culture.
Representation, Race, and Empire in Renaissance England (New Cultural Studies), Philadelphia
2000, S. 44-98, hier S. 87.
3 In seinen vielfältigen gedanklichen Dimension ausführlich analysiert wurde das Frontispiz zum
Leviathan von Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen
Staates und seine Gegenbilder. 1651 – 2001, Berlin 2006.
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2
Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp
körper erweist sich als aus unzähligen kleinen Menschenfiguren dicht bei dicht
zusammengesetzt, deren Körper und Blicke alle auf den Kopf des Riesen ausgerichtet sind. Es sind die Untertanen des Staatsungeheuers selbst, welche seinen
Körper bilden, in dessen Form sie zugleich geordnet wie gefangen scheinen.
Der Souverän ist ein per Gesellschaftsvertrag gebildeter Kollektivkörper, der die
weltliche wie die kirchliche Macht in Händen hält. Am oberen Bildrand ist der
Vers aus dem Buch Hiob eingefügt, welcher die immense Macht des Seeungeheuers Leviathan umschreibt: »Keine Macht auf Erden, die ihm zu vergleichen
ist.«4 Der untere Teil des Frontispizes, der wie von schmalen Leisten gerahmt
wirkt, zeigt im Zentrum das Trompe l’Œil eines am Bildrahmen aufgehängten
schweren und fransengeschmückten Tuches, auf dem der Titel Leviathan of the
Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiastical and Civil zu lesen
ist, sowie der Name des Autors Thomas Hobbes of Malmesbury, darunter von
einer Kartusche gerahmt Erscheinungsort und Jahr, London 1651. Flankiert
wird dieser mittlere Teil links von Bildzeichen weltlicher Macht, Burg, Krone,
Kanone, Schusswaffen und Feldzeichen, eine Schlacht, denen auf der rechten
Seite solche der kirchlichen Macht korrespondieren. Dargestellt sind dort eine
Kirche, eine Mitra, die Blitzzeichen der Exkommunikation, die Waffen der
Logik, die gelehrte Disputation. Der alle Macht auf sich vereinende Souverän
als Angst erzeugender Leviathan ist die Voraussetzung für die Bändigung des
Wölfischen im Naturzustand.
Dass der Körper als ästhetische Konstruktion den Raum des Politischen
mitstrukturiert, lässt sich auch daran ablesen, dass »die Vorstellung vom kollektiven Körper und dessen fiktiver Person erfolgreich in operative Rechtsgrößen
umgemünzt« wurde und Eingang in juridische Diskurse gefunden hat.5 Mit dem
Siegeszug der weiblichen Nationalallegorie während der Französischen Revolution verbanden sich neue Formen des Ausschlusses von Frauen von politischer
Teilhabe. Und auch in der gegenwärtigen Rhetorik der EU-Verordnungen wird
immer wieder auf die Metapher der Nation als eigenständiges Subjekt zurückgegriffen. Die Vorstellung vom Kollektivkörper geht in ihrer Wirkung also über
eine rein metaphorische Funktion hinaus, indem sie materielle, politische und
institutionelle Effekte generiert.
Der Kulturanthropologin Mary Douglas zufolge steuert »der Körper als soziales
Gebilde die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird« und umgekehrt wird »in der (durch soziale Kategorien modifizierten)
4 Buch Hiob, 41, 14. Der Wortlaut im Lateinischen: »Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei …«.
5 Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel de Matala Mazza, »Vorwort«,
in: dies. (Hgg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M., S. 9-14, hier S. 11.
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Einleitung
3
physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung
manifest«.6 Zwischen sozialem und physischem Körper findet ein »ständiger
Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien beider
wechselseitig stärken«.7 »Durch das Bild des ›einen Körpers‹, der durch ›gemeinsame Blutbahnen‹ oder ein ›homogenes Nervensystem‹ zusammengehalten wird,
erscheint der soziale Körper unteilbar« – so Christina von Braun.8
Seit Norbert Elias’ wegweisenden Untersuchungen über den sogenannten
»Zivilisationsprozess« und die höfische Gesellschaft ist der Begriff der Figuration
in der soziologisch und auch in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschichtsforschung als ein Begriff etabliert9, der es erlaubt, das Verhältnis zwischen
bestimmten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen und den in sie
eingebundenen Individuen als interdependente Dynamik zu begreifen. Soziale
Figurationen, wie Elias sie versteht, sind keine starren Strukturen, die den Platz
des Einzelnen determinieren würden, sondern ein bewegliches, wandelbares
soziales Netzwerk von Beziehungen zwischen Akteurinnen und Akteuren, die
gleichwohl Regulierungen unterliegen. »Das Geflecht der Angewiesenheiten
von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander
bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird,
als Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen.«10
Figurationen stellen sich also in der Interaktion performativ her. Das höfische
Zeremoniell etwa, auch wenn seine Regeln verfestigt und kodifiziert sind, muss
ausgeübt und erfüllt, muss verkörpert werden, um seinen Zweck zur Stabilisierung und Repräsentation der höfischen Hierarchie zu erfüllen, deren Spitze vom
Körper des Königs, oder seltener dem der Königin, eingenommen wird. Dieser
königliche Körper aber vereinigt in sich, folgt man der einflussreichen These von
Ernst Kantorowicz11, zwei Körper, den menschlichen, leiblichen und sterblichen
Körper mit dem unsterblichen Herrschaftskörper, dem nach jüngeren Revisionen
der wegweisenden, vor allem staatspolitisch ausgerichteten Schrift Kantorowicz’
unter Berücksichtigung einer sakralen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
6 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, ungekürzte Ausg. n. d. 2. Aufl., Frankfurt. a. M. 1986, S. 99.
7 Ebd.
8 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper«, in: dies., Versuch über den Schwindel. Religion,
Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 291-435, hier S. 292.
9 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und
der höfischen Aristokratie, 8. Auflage Frankfurt a. M. 1997 u. ders., Über den Prozess der
Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 22. Auflage
Frankfurt a. M. 1998.
10 Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 70.
11 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl. München 1994 (zuerst 1957).
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4
Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp
Konzeption des Königtums als dritter Körper der heilige Körper hinzuzufügen
ist.12 Die Aufgabe höfischer Kunst, vor allem des höfischen Porträts, ist es in der
Regel die Verschmelzung genau dieser drei Aspekte im Bild des Herrschers oder
der Herrscherin zur Anschauung zu bringen. Räumliche Ordnungen, Architekturen und Bilder sind auf vielfältige und differenzierte Art und Weise an der
Herstellung und Bekräftigung gesellschaftlicher und politischer Figurationen
beteiligt. Bilder sind jedoch nicht auf ihre Funktion zur Repräsentation und
Stabilisierung von Herrschaft beizutragen beschränkt, sie haben unter Umständen auch das Potential, Herrschaft in Frage zu stellen und zu unterminieren.
Die Metaphorik vom Kollektivkörper hat eine lange und vielfältige Geschichte.13 Sie weist in die Antike zurück; zahlreiche antike Soziallehren haben
Verbindungen und Analogien zwischen der Körperlichkeit und sozialen oder
staatlichen Formationen gezogen. In christlicher Vorstellung verbindet sich mit
dem corpus christi die der civitas dei. Schon bei Paulus heißt es: »Wie nämlich
der Leib nur einer ist, jedoch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber trotz
ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus. Denn in
einem Geiste sind auch wir alle zu einem Leib getauft worden.«14 Diese imaginäre
Einheit des Kollektivs der Gläubigen stellte sich in der Kommunion her. Zur
körperschaftlichen Doktrin wurde, wie Ernst Kantorowicz feststellt, die Kirche
zu Beginn des 14. Jahrhunderts durch Papst Bonifatius VIII. erhoben, der die
Glaubensverpflichtung aussprach, »an eine heilige Kirche, katholisch und auch
apostolisch zu glauben […], die einen mystischen Leib darstellt, dessen Haupt
Christus ist, und das Haupt Christi ist Gott.«15 Die Körpermetaphorik blieb
auch im Mittelalter nicht dem Kollektiv der Gläubigen im mystischen Leib
der Kirche vorbehalten, sondern politisierte sich seit karolingischer Zeit.16 »Die
christliche Vorstellung von der Glaubensgemeinschaft als ›kollektivem Körper‹
sollte zunächst auf den Apparat der Kirche und dann auf den säkularen Staat
übertragen werden […].«17 Der König kann nun als Kopf des »body politic«
12 Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009.
13 Zum Zusammenhang von individuellen Körpern zum Staatskörper vgl. Rainer Guldin, Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin, Würzburg 1999. Siehe auch Silvia Sasse und Stefanie Wenner (Hgg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld
2002.
14 1 Korinther 12, 12.
15 Zitiert nach Kantorowicz (wie Anm. 11), S. 209.
16 Ebd. Kap. V, »Königtum und Verfassung. Corpus mysticum«, S. 208-282; Jacques Le Goff,
»Head or Heart? The Political Use of Body Metaphors in the Middle Ages«, in: Michael Feher
(Hg.), Fragments for a History of the Human Body, Teil III, New York 1989, S. 13-26.
17 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper und seine Säfte«, in: Sasse u. Wenner (wie Anm.
13), S. 103-115; siehe auch dies., »Der christliche Kollektivkörper und seine ›Sleeper‹«, in:
Christina von Braun, Wilhelm Gräb u. Johannes Zachhuber (Hgg.), Säkularisierung. Bilanz
und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin, Münster 2007, S. 171-193.
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Einleitung
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erscheinen, wie es in einem Dekret Heinrichs VIII. von England aus dem Jahr
1542 formuliert wurde.18 Das symbolische Verhältnis zwischen Landesrepräsentation und Körpermetaphorik ist auf komplexe Weise mit den realen Körpern der
Einzelnen verbunden.19 Schon im Mittelalter konnten symbolische Exklusionen
mit physisch spürbaren Konsequenzen verbunden sein oder auf diese verweisen,
kulminierend in Pogromen, aber auch in spezifischen geschlechtlichen, religiösen
oder (proto-)rassistischen Machtverhältnissen, welche Körperwahrnehmung,
-ausdruck und -gestaltung mitformierten.20 Ab dem 17. Jahrhundert verdichteten und intensivierten sich die Beziehungen zwischen Staat und Individuum
zunehmend. Nicht zuletzt die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten
wurde und wird durch Vorstellungen vom Kollektivkörper wesentlich mitgeprägt.21 »Die Spezifik des Kollektivkörpers«, so Silvia Sasse und Stefanie Wenner,
»im Unterschied zur Masse oder Meute (Canetti, Deleuze) ist vor allem in der
Korrelation von Ordnung und Transgression, von Regelhaftigkeit und -verstoß,
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Zusammenhalts begründet. Es scheint im
Kollektivkörper verdoppelt, was die Frage nach dem Körper selbst schon offen
lässt: das Ineinander von gemeinschaftlich imaginärer und symbolischer Figurierung und körperlicher Teilhabe im Konflikt von Abgrenzung, Verbindung,
Regulierung oder Exotopie.«22
Mit der organischen Metaphorik ziehen Vorstellungen von natürlicher Einheit und Ganzheit, wie solche von Krankheit und Verletzlichkeit und zieht vor
allem auch die Kategorie Geschlecht, ziehen sexualisierte und vergeschlechtlichte
Semantiken in den Diskurs des Politischen ein. Alle Beiträge in diesem Band
gehen davon aus, dass Bilder als ihrerseits gestaltete Artefakte in politischen
Figurationen diese nicht nur repräsentieren, sondern für ihre Herstellung eine
aktive und formative Rolle spielen und ihnen für die Gestaltung konkreter
historischer Imaginationen kollektiver Körper, der Gestaltung von Territorien,
Nationen, Grenzen und Herrschaft eine brisante Macht zukommt, die dazu
beiträgt, dass solche Imaginationen in historischen Realitäten Fuß fassen konnten. Gefragt wird vor allem danach, welche Rolle das Geschlecht als Gegenstand
18 Bredekamp (wie Anm. 3), S. 80, Anm. 166.
19 »Der medial bedingte Kollektivkörper prägt das Individuum bis in den Leib, die Psyche, die
Gefühlswelt hinein.« von Braun (wie Anm. 17), S. 333.
20 Zum Verhältnis zwischen christlicher Transsubstantiationslehre und einem sich als körperliche Realisierung des nationalen wie rassistischen Imaginären begreifenden Kollektivkörpers
vgl. ebd.
21 Mit Thomas Frank u. a. lassen sich folgende drei Dimensionen des Körperschaftsbegriffes
unterscheiden: »[D]ie bildliche Selbstrepräsentation einer sozialen Gruppe, das Verhältnis
der Einzelkörper zur Körperschaft und die Frage, wer das Gemeinwesen verkörpert«. Frank,
Koschorke, Lüdemann u. Matla Mazza (wie Anm. 5) S. 12.
22 Sasse u. Wenner (wie Anm. 13), S. 11.
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Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp
gestalterischer Strategien wie als ihr Medium darin spielte. Zur Debatte gestellt
wird, wie und mit welchen Konsequenzen für Individuen und Kollektive sich
visuell kommunizierte Geschlechterbilder auf Regime des Regierens auswirkten.
Die Beiträge dieses Bandes sind auf zwei Problemfelder der Figurationen des
Politischen in der Frühen Neuzeit konzentriert: Die Verhandlung und Bedeutung
des Geschlechts in der visuellen Inszenierung des Herrschaftskörpers und die
Imagination und Repräsentation des Kollektivkörpers in der, in der Regel als
weiblich konzipierten, Allegorie.
Im Zentrum des Beitrags von Claudia Bruns stehen anthropomorphe Europakarten an der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance. Europa nahm
auf kartographischen Darstellungen der Frühen Neuzeit erstmals die Kontur einer
Person an, sodass ein grundlegend neuer und eigenständiger Bildtypus entstand.
Karten, die Europa nun in Form einer Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen
zeigten, entwickelten neben den maßstäblichen Ptolemäuskarten rasch große
Beliebtheit. In dieser neuartigen Visualisierung des Kontinents verbanden sich, so
die These, geographische, geschlechtliche und ethnische Grenzziehungsprozesse
paradigmatisch miteinander.
Silke Förschler fragt in ihrer Untersuchung der zwischen 1664 und 1666
gemalten Erdteilallegorien Jan von Kessels danach, wie die bildliche Relation
von Körpern, Dingen und Raum die Vorstellung von kollektiver Identität
und Geschichte prägt und wie die Kategorie Geschlecht in Kessels komplexen
Bildanordnungen und -kompilationen von Motiven aus religiösen wie naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, in deren Zentrum die Allegorien der vier
Erdteile stehen, als Ordnungsstruktur wirkt. Der Aufsatz legt die Darstellungsvielfalt verschiedener Realitätsebenen im Bild dar, deren Bezüge das Ineinander
kollektiver europäischer frühneuzeitlicher Ordnungen vor der Folie anderer
Kontinente abbilden.
Bettina Brandt untersucht die Politisierung von Darstellungen des weiblichen
Körpers im Kontext der erstarkenden Nation am Beispiel der Germania. Dabei
geht es ihr darum, den Bogen zu spannen von einer bereits in der Frühen Neuzeit
mit Attributen wie Mütterlichkeit beladenen Germania hin zu ihrer Beanspruchung durch den deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert. Im Fokus ihrer
Untersuchungen steht die Frage nach der Funktion der Germania in Hinblick
auf die Bildung eines nationalen Kollektivkörpers im Spannungsfeld zwischen
Moralisierung und Sexualisierung.
Die Infragestellung von herrschaftlicher Macht durch sexualisierte Bilder
steht im Zentrum des Beitrags von Bettina Uppenkamp, der sich mit der Bildpolitik im Umkreis des Hofes von Heinrich III. von Frankreich beschäftigt.
Henri III. war wegen seines exzessiven Interesses an Kleidern und Schmuck,
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Einleitung
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seinem effeminierten Habitus und einer, nach Auffassung seiner Gegner erotisch
motivierten Günstlingspolitik, Zielscheibe zahlreicher Polemiken, die sich vor
allem an seiner jenseits einer eindeutigen Evidenz ausgeübten Geschlechterperformanz entzündeten und in ihrer teilweise faszinierten Abscheu vor allem
Aufschluss über die Grenzen liefern, die der König mit seinem manieristischen
Gestaltungswillen überschritt. Der Beitrag nimmt seinen Ausgangspunkt bei
einem in der deutschsprachigen Forschung bisher wenig beachteten satirischem
Text, der 1605 nach dem Tod Heinrich III. erschienen, unter dem Titel L’Isle des
Hermaphrodites bekannt geworden ist.
Veronica Biermann analysiert das Repräsentationsdilemma, welches der unbeherrschte Körper und das Geschlecht der Königen Christina von Schweden
aufgeworfen haben. Christinas vivacité, ihre raumgreifende Motorik, lebhafte
Mimik, ungezügelte Unruhe und überbordende Lebhaftigkeit waren notorisch,
ein Habitus, mit dem sie kontinuierlich gegen das weibliche decorum verstieß.
Ausgangpunkt der Analyse ist der von Gian Lorenzo Bernini für die Königin
entworfene allegorische Spiegel, mit dem er ein Bild in dem Medium entworfen
hat, welches im 17. Jahrhundert als einziges in der Lage war, auch Bewegung
zu reflektieren.
Ilaria Hoppes Beitrag zur visuellen Repräsentation in Zeremoniell und Bild
am Hofe der Medici schließt kritisch an die Überlegungen Ernst Kantorowicz’
zu den zwei Körpern des Königs an und zeigt am Beispiel einer habsburgischen
Regentin am Hofe der Medici zu Beginn des 17. Jahrhunderts wie dort ein
weiblicher Herrschaftskörper inszeniert wurde. Ganz im Gegensatz zum englischen Könighaus und auch anders als in Frankreich ist in der Staatstheorie der
Habsburger die Scheidung der Herrschaftskörper nie vollzogen worden. Seit
dem Mittelalter begründete sich ihre Politik stets über den heiligen, von Gottes
Gnaden eingesetzten Monarchen, genauso wie der Monarchin. Architektur,
Bildkünste und Zeremoniell dienten dazu, dieses Konzept, das gerade auf die
Einheit von Religion und Politik insistierte, medial durchzusetzen.
Die Beiträge gehen zurück auf einen Workshop des Basisprojektes Gender und
Gestaltung im Rahmen des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor, der im Mai 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin
stattgefunden hat.
Die Herausgeberinnen danken allen, die an dem Workshop und am Zustandekommen dieser Publikation mitgewirkt haben, sehr herzlich für die Überlassung
ihrer Manuskripte vor allem den Autorinnen, namentlich aber auch Bettina Bock
von Wülfingen für die Organisation und Abwicklung der Finanzierung aus den
Mittels des Cluster und ein sehr herzlicher Dank geht an Monika Beck, die das
Projekt für die Zeitsprünge mit großer Geduld betreut hat.
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Claudia Bruns
Anthropomorphe Europakarten im
Übergang zur Frühen Neuzeit
Mit dem Ausgreifen auf die bis dahin unbekannten Teile der Erde und dem
aufkommenden Humanismus veränderte sich das Verständnis von Europa grundlegend.1 Raum war nicht länger einer heilsgeschichtlich-zyklischen Zeitstruktur
unterworfen. Vielmehr erlaubte das neue Raumverständnis der Renaissance
eine stärker lineare und visuelle Konzeption von Bewegung und Zeit.2 Zugleich
entstand ein neues Interesse an dem aus der Antike überlieferten Wissen. Die
Verbreitung der ptolemäischen Werke im lateinischsprachigen Europa (nach
der Eroberung Konstantinopels) verlieh den mathematischen Methoden der
Kartographie, insbesondere denen der Projektion, einen enormen Aufschwung.3
Physisch-geographische Grenzen wurden nun mithilfe neuer Instrumente
technisch vermessen.4 In Hafenstädten wie Antwerpen, Lissabon oder Genua
wurden Ende des 15. Jahrhunderts erstmals Erdgloben gefertigt und professionell
vermarktet.5 Auftrag- und Geldgeber der Kartographen, wie Karl V. (1500 –
1558), wollten ihre Macht gespiegelt sehen.6 Ab 1600 entwickelten sich darüber
hinaus auch Atlanten und Karten zu weit verbreiteten Gebrauchsmedien mit
hohen Auflagen.7
Von Anfang an verband sich das Interesse an neuen Techniken der Kartierung
mit neuen Identitätskonstruktionen. Überhaupt gilt die Renaissance als entschei1 Peter Burke, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 2005 [engl. Original 1998], S. 49 f.
2 Yi-Fu Tuan, Segmented worlds and self. Group life and individual consciousness, Minneapolis
1982, S. 114-136; vgl. auch: Frank Lestringant, Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion
und Alterität in der Literatur der Renaissance, Bielefeld 2012, S. 8.
3 Die Entwicklung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts tat ihr übriges zur Verbreitung des
neuen Wissens.
4 Wolfgang Schäffner, »Das Ei des Brunelleschi. Projekte, Fiktionen und die Erfindung Europas«, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven,
München 2006, S. 43-58, hier S. 50.
5 Klaus A. Vogel, »›Plus ultra‹? Grenzbewusstsein und Raumwahrnehmung im Prozess der Rezeption der überseeischen Entdeckungen«, in: Guy P. Marchal (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jh.), Zürich 1996, S. 123-133, hier: S. 125.
6 Michael Wintle, »Renaissance maps and the construction of the idea of Europe«, in: Journal of
Historical Geography 25, 2 (1999), S. 137-165, hier S. 138.
7 Die in Atlanten abgebildeten Ikonographien fanden somit hohe Verbreitung. Ebd., S. 153.
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Claudia Bruns
dende Phase für die Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses.8 Weit
über die Markierung von Eigentum hinaus verwies die kartographische Grenze
immer direkter auf fest umgrenzte kollektive Identitäten. Die »Revolution der
Raumwahrnehmung«9 spiegelte sich in den aufkommenden Separatkarten von
Europa, die es im Mittelalter kaum gegeben hatte. Der Kontakt mit den kolonialen Anderen veränderte den Blick auf das Eigene und führte zu einer Repräsentation von Europa als einer stärker fixierten Einheit mit linearen Konturen.
Europa nahm auf kartographischen Darstellungen der Frühen Neuzeit erstmals
die Kontur einer Person an, sodass ein »grundlegend neuer und eigenständiger
Bildtypus« entstand.10
Karten, die Europa nun in Form einer Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen zeigten, entwickelten neben den maßstäblichen Ptolemäuskarten rasch
große Beliebtheit. Durch diesen Typus der anthropomorphen Europakarte wurde
zwischen (kontinentalem) Landeskörper und menschlichem Körper eine enge
metaphorische Verbindung hergestellt, die zugleich als Schnittstelle zwischen
geographisch-territorialen Grenzziehungsprozessen einerseits und geschlechtlichen, religiösen oder (proto-)rassistischen Differenzkonstruktionen andererseits
fungierte.11 Bis heute werden physisch-territoriale Räume im ›bildhaften Symbolsystem‹ der Karte12 zum einen als »Landeskörper« beschrieben, zum anderen
repräsentieren Erdteilpersonifikationen nach wie vor bestimmte kollektive Räume
allegorisch.13 Selbst in der gegenwärtigen Rhetorik der EU-Verordnungen wird
8 Vgl. John Hale, »The Renaissance Idea of Europe«, in: Soledad García (Hg.), European Identity and the Search for Legitimacy, New York; London 1993, S. 46-63.
9 Vogel (wie Anm. 5), S. 129.
10 Elke Anna Werner, »Triumphierende Europa – Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion
europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit«, in: Almut-Barbara Renger u. Roland Alexander Ißler (Hgg.), Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009, S. 241-260, hier: S. 242.
11 Die Geographie hat sich zwar vielfach mit der Semiotik von Karten befasst, diese jedoch selten in Zusammenhang mit Repräsentationen von Körpern gebracht. Valerie Traub, »Mapping
the Global Body«, in: Peter Erickson u. Clark Hulse (Hgg.), Early Modern Visual Culture.
Representation, Race, and Empire in Renaissance England, Philadelphia 2000, S. 44-98, hier S.
87.
12 Zu Karte und Diagramm als »Bildzeichensystemen« im Gegensatz zu Gemälden oder Fotographien als »Ikon(en)« oder »Bildzeichen« vgl.: Gyula Pápay, »Die Beziehung von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft und Semiotik«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 86-100, hier S. 90.
13 Das Bild-Zeichen selbst ist Grossklaus zufolge bereits dem raumzeitlichen Schema vergleichbar: als »eines Schauplatzes, einer Bühne, auf der Körper, Figuren und Objekte signifikant
platziert werden«. Götz Grossklaus, »Bild als Zeichen. Der kultursemiotische Ansatz im Vergleich«, in: Andrew Hemingway u. Markus Buschhaus (Hgg.), Kunst und Politik. Jahrbuch der
Guernica-Gesellschaft. Schwerpunkt: Bildwissenschaft und Visual Culture Studies in der Diskussion, Bd. 10, Göttingen 2008, S. 131-140, hier S. 138.
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Anthropomorphe Europakarten
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immer wieder auf die Metapher vom Subjekt zur Beschreibung von politischen
Kollektiven zurückgegriffen. Dabei wird der Körper nicht nur symbolisch hervorgebracht.14 Vielmehr ist er mit den ihm zugewiesenen Körpertechniken ein
zentraler Ort gesellschaftlicher und politischer Praxis.15
Dass der Körper als ästhetische Konstruktion den Raum des Politischen
mitstrukturiert, lässt sich auch daran ablesen, dass »die Vorstellung vom kollektiven Körper und dessen fiktiver Person erfolgreich in operative Rechtsgrößen
umgemünzt« wurde und Eingang in juridische Diskurse gefunden hat.16 Der
Kulturanthropologin Mary Douglas zufolge steuert »der Körper als soziales Gebilde die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen
wird« und umgekehrt wird »in der (durch soziale Kategorien modifizierten)
physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung
manifest«.17 Zwischen symbolisch-sozialem und physischem Körper finde ein
»ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien
beider wechselseitig stärken«.18 So erscheint gerade »durch das Bild des ›einen
Körpers‹, der durch ›gemeinsame Blutbahnen‹ oder ein ›homogenes Nervensystem‹ zusammengehalten wird, [...] der soziale Körper [als] unteilbar«, wie
Christina von Braun bemerkt.19 Die Vorstellung vom Kollektivkörper geht in
ihrer Wirkung also über eine rein metaphorische Funktion hinaus, indem sie
materielle und institutionelle Effekte generiert.20
Im Folgenden soll der Typus der anthropomorphen Europakarte genauer
untersucht und herausgearbeitet werden, wie sich am Beginn der Frühen
14 Philipp Sarasin, »›Mapping the body‹. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik
und ›Erfahrung‹«, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003,
S. 100-121, hier S. 115.
15 Marcel Mauss, »Die Techniken des Körpers«, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 1,
Frankfurt a. M. 1989, S. 199-220.
16 Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel de Matala Mazza, »Vorwort«,
in: dies. (Hgg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-14, hier S. 11.
17 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, ungekürzte Ausg. n. d. 2. Aufl. v. 1973, Frankfurt a. M. 1986, S.
99.
18 Ebd.
19 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper«, in: dies., Versuch über den Schwindel. Religion,
Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 291-435, hier S. 292.
20 Mit Frank, Koschorke, Lüdemann u. a. lassen sich folgende drei Dimensionen des Körperschaftsbegriffes unterscheiden, »die bildliche Selbstrepräsentation einer sozialen Gruppe, das
Verhältnis der Einzelkörper zur Körperschaft und die Frage, wer das Gemeinwesen verkörpert«. Frank et al. (wie Anm. 16), S. 12. Kathleen Biddick, »Genders, bodies, borders. Technologies of the visible«, in: Speculum 68 / 2 (1993), S. 389-418. Zum Begriff des mapping vgl.
auch: Rosalyn Diprose u. Robyn Ferrell (Hgg.), Cartographies. Poststructuralism and the mapping of bodies and spaces, St. Leonards 1991; Sarasin (wie Anm. 14), S. 114 f.
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Claudia Bruns
Neuzeit gerade in dieser Kartenform bestimmte neue Repräsentationen des
Kollektivkörpers und seiner Grenzen mit Neuordnungen von (ethnisierten)
Geschlechtergrenzen verbanden. Mit John Brian Harley lassen sich Karten als
mit »Bedeutung aufgeladene Bilder« verstehen, welche als Teil der gesellschaftlich
produzierten Wissensdiskurse und Imaginationen untrennbar mit Machtverhältnissen verbunden sind.21 Durch die Art ihrer Zeichen-, Symbol- und Farbwahl
tragen sie in ihrer eigenen Bild- und Formsprache dazu bei, Weltwahrnehmung
zu strukturieren und eine besondere Form von Evidenz zu erzeugen.22
Karten bringen zwar Bilder räumlicher Ordnung hervor, sind jedoch keineswegs mit objektiven Abbildungen der Welt zu verwechseln, da sie Elemente
enthalten, die weder der sichtbaren Welt noch ihren mimetischen Repräsentationsformen entlehnt sind. Dabei ermöglichen auch die neu aufkommenden
maßstäblichen Europakarten der Frühen Neuzeit keine objektiveren Zugänge zur
Wirklichkeit als etwa mittelalterliche mappae mundi oder die anthropomorphen
Europakarten. Selbst die Europakarten der Gegenwart produzieren Wahrheitseffekte, indem sie permanent daran arbeiten, die nationalen wie die äußeren
Grenzen Europas als natürlich erscheinen zu lassen. So tragen kartographische
Verfahren dazu bei, die europäische Außengrenze gen Afrika zu naturalisieren
und zu einer überzeitlichen Gegebenheit zu erheben – etwa durch die symbolische Hervorhebung des Mittelmeers als natürlicher Grenze, die Einzeichnung
durchgängiger Grenzlinien oder eine kontrastive Farbgebung zwischen flächig
gegeneinander gesetzten Gebieten. Heute als selbstverständlich vorausgesetzte
Grenzverläufe wurden jedoch erst allmählich hervorgebracht. So konnte Afrika
in der Antike wie auch im Mittelalter durchaus noch als Teil Europas wie auch
Asiens gedacht werden. Die Grenzziehungen zwischen den Kontinenten waren
keineswegs eindeutig festgelegt und wurden auch bis in die Neuzeit hinein auf
Karten nicht durch Linien markiert. Erst mit der kartographischen Darstellung
Europas als kolonialer Königin zu Beginn der Frühen Neuzeit markierten die
21 John Brian Harley, »Maps, knowledege, and power«, in: Denis E. Cosgrove u. Stephen Daniels (Hgg.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design, and
Use of Past Environments, Cambridge, New York 1988, S. 277-312, hier S. 277; John Brian
Harley, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore, London
2001. Vgl. auch Lauren A. Benton, A Search for Sovereignty. Law and Geography in European
Empires, 1400 – 1900, Cambridge 2010; Christof Dipper u. Ute Schneider (Hgg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006; Christian Jacob,
The Sovereign Map. Theoretical Approaches in Cartography Throughout History, Chicago 2006;
Wojciech Iwanczak, Die Kartenmacher. Nürnberg als Zentrum der Kartographie im Zeitalter der
Renaissance. Darmstadt 2009 [2005]; Denis Wood, The Power of Maps, New York 1992.
22 Daher unterscheidet Gyula Pápay Karten und Diagramme als »Bildzeichensysteme« auch von
Gemälden oder Fotographien als »Ikon(en)« oder »Bildzeichen«. Gyula Pápay, »Die Beziehung
von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft und Semiotik«, in: Klaus Sachs-Hombach
(Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 86-100, hier S. 90.
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Anthropomorphe Europakarten
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linear gezeichneten Körpergrenzen der weiblichen Figur auch die geographischterritorialen Grenzen des Kollektivkörpers Europas – und zwar lange bevor man
nationalstaatliche Grenzen linear einzuzeichnen begann.
Wie der vorliegende Beitrag zeigt, beglaubigten und bestärkten sich Landesund Körpergrenzen wechselseitig vor allem über das Jungfräulichkeitsmotiv, das
zwar die Uneinnehmbarkeit europäischer Grenzen und das gestiegene imperiale
Selbstverständnis europäischer Herrscher symbolisierte, aber auch auf koloniale
wie vergeschlechtlichte Unterwerfungspraktiken und die steigende (Repräsentations-)Macht des aufstrebenden Dritten Standes (der Abenteurer, Kolonisierer,
Bildungsbürger und Kartographen) verwies. In der Europakarte in Form einer
Königin spiegelte sich nicht nur europäische Überlegenheit gegenüber anderen
Kontinenten, sondern auch der Versuch, sich ›des Weiblichen‹ wie ›des Wilden‹
gestaltend zu bemächtigen. Allein schon die Wahl von weiblichen (und nicht
männlichen) allegorischen Figuren zur Darstellung der Kontinente war für die
Zeitgenossen keineswegs selbstverständlich und verband sich, wie zu zeigen ist,
mit einer neuen Relationsbestimmung zwischen räumlichen, ethnisch-religiösen
und geschlechtlichen Grenzziehungsprozessen.
I. Die anthropomorphe Europakarte in Frauengestalt
Obwohl im Mittelalter wesentliche Grenzziehungen der antiken Geographie
für die Kontinente übernommen wurden und auch der Name »Europa« zur
Bezeichnung des Kontinents gelegentlich Verwendung fand, ersetzten spätestens
ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. neue Erklärungs- und Herleitungsmodelle die
antike Repräsentation des Kontinents. Biblische Figuren wie die drei Söhne
Noahs23 – oder vereinzelt und in etwas geringerem Maße auch die Heiligen
Drei Könige24 – entwickelten sich zu beliebten Personifikationen der Erdteile
23 In der Stiftsbibliothek von Sankt Gallen (Cod. Sang. 236) findet sich eine um 850 gezeichnete
Karte mit der Beischrift: »So haben die Söhne Noahs die Erde nach der Sinflut geteilt« (Ecce sic
diviserunt terram filii Noe post diluvium). Klaus Herbers, »Europa und seine Grenzen im Mittelalter«, in: ders. u. Nikolas Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich,
Berlin 2007, S. 21-42, hier S. 22 f. Eine Bemerkung, die sich auf die Bibelstelle Genesis 9,27 bezieht, welche das Land der Verheißung dem Jüngsten, »Japhet« (oder »Jafeth«), zusprach. Dieser
entwickelte sich allmählich zur allegorischen Repräsentation Europas. Rainer A. Müller, »Die
Christenheit oder Europa – zum Europa-Begriff im Mittelalter«, in: Reinhard C. Meyer-Walser
(Hg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, Grünwald 2009, S. 9-24, hier S. 11.
24 Michael J. Wintle, »The Magi«, in: ders., The Image of Europe. Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages, Cambridge 2009, S. 191-218; Erich Köllmann,
Karl-August Wirth, Max Denzler, Art. »Erdteile«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (RDK) 25 Bde., Bd. 5 (1965), Sp. 1107-1202, hier: »Die drei Könige«: Sp. 1113-1132; Hugo
Kehrer, Die Heiligen Drei Könige in Literatur und Kunst, Hildesheim, New York 1976 [1908].
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Claudia Bruns
und ließen den antiken Europa-Mythos, nach welchem der lusterfüllte Zeus in
Gestalt eines Stiers die Prinzessin namens Europa vom phönizischen Strand aus
nach Kreta entführte, wo sie drei Söhne gebar, bis zum Spätmittelalter in den
Hintergrund treten.25 Dies entsprach dem Bedürfnis, die nunmehr als heidnisch
abgelehnten antiken Götterwelten zurückzudrängen und christliche Erklärungsmodelle dagegen zu setzen. Besonders störte sich die christliche Morallehre an
Zeus’ lustvoller Verführung der Europa, welche von den Zeitgenossen weniger als
ein Zeichen siegreicher Eroberung und Fruchtbarkeit verstanden wurde, sondern
vielmehr zum verabscheuungswürdigen Symbol für das »lüsterne Verhalten des
obersten Gottes der Heiden« avancierte, das »regelmäßig als Beweis gegen seine
Göttlichkeit« verwendet wurde.26
Auch Boccaccio charakterisierte die Jupiterfigur noch 1361 (bzw. 1375) in
»De claris mulieribus« als »Gewaltmensch«, der eine »Unschuldige« »vergewaltigt« habe.27 In seinen Spekulationen über die Gründe für die Benennung des
Kontinents nach ihrem Namen kam aber schon eine neue, für die Renaissance
typische, positivere Bewertung der Europafigur und der Antike insgesamt zum
Ausdruck.28 Bemerkenswert ist, dass Boccaccio nicht mehr ausschließlich auf
die im Mittelalter so beliebte männliche Genealogie rekurrierte, sondern der
Europafigur, abgesehen von ihrer Funktion als »Stammmutter«, auch einen
Eigenwert zusprach. Hieß es doch, sie sei eine Frau »von besonderen Gaben«.29
Insgesamt lag er damit im Trend der wieder aufkommenden Rezeption des
Motivs des Europa-Mythos, die zwischen Mitte des 13. und Anfang des 14.
Jahrhunderts einsetzte.30
25 Vgl. Winfried Bühler, Europa. Ein Überblick über die Zeugnisse des Mythos in der antiken Literatur und Kunst, München 1968; Hans von Geisau, »Europe [I]«, in: Der kleine Pauly. Lexikon.
Auf der Grundlage von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Bd. 2,
Stuttgart 1967, Sp. 446-448.
26 Almut-Barbara Renger, »Nachwort«, in: dies. (Hg.), Mythos Europa, Leipzig 2003, S. 222-244,
hier: S. 226.
27 Giovanni Boccaccio, De claris mulieribus. Die großen Frauen [1361 oder 1375]. Lateinisch /
deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Irene Erfen und Peter Schmitt, Stuttgart 1995, S. 39 f.
28 Ebd., S. 41.
29 Ebd.
30 Erster lateinischer Autor, der in der Zeit nach Isidor den Raub der Europa durch Jupiter
kannte und von dieser auch den Namen des Bosporus herleitete sowie von den Söhnen
Agenors, Cadmus und Phoinix, berichtete, war der bedeutende Geschichtsschreiber und Erzbischof Wilhelm von Tyrus (ca. 1130 – 1186), Kanzler des Königreichs Jerusalem. Er kam aus
einer betuchten Familie, die Anfang des 12. Jahrhunderts aus Italien oder Frankreich nach
Palästina ausgewandert war. Möglicherweise war ihm nicht zuletzt wegen seines Wohnorts
in der alten, ehemals phönizischen Stadt Tyros der Europa-Mythos als lokale Überlieferung
bekannt. Ihm folgte der englische Chronist und Benediktinermönch Ranulf Higden (ca. 1280
– 1364), der den Mythos im ersten Band seines »Polychronicon« aufgreift. Klaus Oschema,
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Anthropomorphe Europakarten
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Zu Beginn der Frühen Neuzeit kam es schließlich zu einem signifikanten
Umschwung von den mittelalterlichen Repräsentationen der Kontinente als
biblische Männerfiguren hin zu den aus der Antike bekannten Frauengestalten.
Nun wurde nicht nur das Motiv der Europa aus dem antiken Mythos wieder
aufgegriffen und positiver besetzt.31 Es setzte sich zugleich eine Neubewertung
von Grenzziehungsprozessen durch, welche den Umschwung von der männlichen
zur weiblichen Repräsentationsfigur des Kontinents beförderte.
Europakarten in Form einer Königin wurden erstmals im ersten Drittel des
16. Jahrhunderts dargestellt. Sie erschienen als Abbildungen im Rahmen von
geographischen Universalgeschichten und Enzyklopädien, aber auch als einzelne
Blätter gedruckt, wodurch sie leicht ein größeres Publikum erreichten. Eine der
ersten Darstellungen dieser Art war die Zeichnung des Tirolers Johannes Putsch
aus dem Jahr 1537. Er war ein Weggefährte von dem am spanischen Hof und in
den Niederlanden erzogenen Habsburger Ferdinand I., der zunächst im Schatten
seines Bruders Karl V. stand. Dieser hatte nicht nur Spanien 1516 zu den mächtigen
habsburgischen Besitzungen hinzugewonnen und regierte es als König, sondern
wurde 1520 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Ferdinand stieg
ab 1526/27 zum König von Böhmen, Kroatien und Ungarn auf, wurde 1531 – noch
zu Lebzeiten seines Bruders – zum römisch-deutschen König gewählt und folgte
diesem von 1558 bis 1564 auf dem kaiserlichen Thron nach. (Abb. 1)
Die von Christian Wechel in Paris gedruckte Europa-Imago Putschs war Ferdinand gewidmet, dessen Kaisernachfolge zu diesem Zeitpunkt bereits feststand.32
Insofern erstaunt es nicht, dass das gekrönte Haupt dieser Europa-Allegorie in
Spanien lag, das Herz jedoch in Böhmen schlug, dessen König Ferdinand war.
Der Reichsapfel wurde durch die Insel Sizilien verkörpert, welche Ferdinands
Großvater (Ferdinand II.) ab 1479 als König regiert hatte. In der Figur der Königin versammelten sich die Länder Europas zu einem neuen Selbstbildnis in
kartographischer Form: Europas Leib schloss alle kontinentalen europäischen
Länder bis auf England, Irland, Norwegen und Schweden ein. Die kontinentale
Direktverbindung zu Asien schrumpfte zusammen, was die stolze Alleinstellung
des europäischen Kontinents nochmals hervorhob.
In gewisser Weise kann man die kartographischen Zeichnungen von Opicinus de Canistris (1296 – ca. 1352) aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts als
»Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und
kultureller Konnotation«, in: Heinz Durchardt (Hg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd.
2, München 2001, S. 191-235, hier S. 203 f.; Wilhelm von Tyrus, Chronicon, hg. v. R. B. C. Huygens, Turnhout 1986, 2,7 u. 13,1.
31 Wie die zahlreichen Ovid-Handschriften und Kommentare belegen, war die Rezeption antiker Mythen dennoch im Spätmittelalter ebenso beliebt wie umstritten. Oschema (wie Anm
30), S. 204.
32 Michael J. Wintle, The Image of Europe (wie Anm. 24), S. 247.
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Claudia Bruns
Abb. 1: Johannes Putsch, »Europa prima pars terrae in forma virginis« [1537],
erschienen in: Heinrich Bünting, Itinerarium sacrae scripturae. Das ist ein Reisebuch
über die gantze heilige Schrift, 1592 [erstmals Helmstadt 1582]
Vorläufer für die personifizierenden Kartenwerke des 16. Jahrhunderts ansehen
– auch wenn diese keine direkten Nachahmer fanden und das Werk eines verschrobenen, wenn nicht psychotischen Einzelgängers blieben: Ihn selbst beflügelte die Auseinandersetzung mit seinem kranken Körper dazu, großformatige,
symbolisch hoch aufgeladene und schwer zu dechiffrierende Bleistiftzeichnungen
anzufertigen, auf denen die Kontinente erstmals anthropomorphisiert dargestellt
waren (vgl. Abb. 2).33
Mal erschien Europa in seinen Zeichnungen als Frau, mal als Mann. Im
Gegensatz zu den kartographischen Europa-Darstellungen des ausgehenden 16.
33 Die Zeichnungen werden heute in der Vatikanischen Bibliothek (Palatinus 1993 and Vaticanus 6435) aufbewahrt. Eine Sammlung von Faksimile-Abdrücken findet sich in: Richard G.
Salomon (Hg.), Opicinus de Canistris. Weltbild und Bekenntnisse eines avignonesischen Klerikers
des 14. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von A. Heimann und R. Krautheimer, Bd. 2, Wien 1936;
Richard G. Salomon, »A Newly Discovered Manuscript of Opicinus de Canistris«, in: Journal
of the Warburg and Cortauld Institutes 16 (1953), S. 45-57.
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Anthropomorphe Europakarten
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Abb. 2: Opicinus de Canistris (14. Jhdt.): Figürliche Zeichnung des Mittelmeerraums
[Afrika als Mann, Europa als Frau]; Bildquelle: Cod. Vat. Lat. 6435
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Jahrhunderts war auf Opicinus’ Skizzen auch Afrika noch als eigenständige Person
zu erkennen. Die Beziehung zwischen Europa und Afrika setzte er bisweilen als
Verhältnis ins Bild, in welchem um Zu- und Abneigung, um Dominanz und
Unterordnung, möglicherweise auch um Vergewaltigung und ihre Abwehr
gerungen wurde (die afrikanische Figur wird mit phallisch ausgestrecktem Zeigefinger gezeigt, Abb. 2), womit er seinen dunklen Visionen Ausdruck verlieh
und nicht zuletzt auf das konflikthafte Verhältnis zwischen Christentum und
Islam über den Rückgriff auf sexualisierte Bilder anspielte.
Im Gegensatz zu Opicinus’ wechselnden Zuordnungen der Geschlechter
zu den Kontinenten sollte sich im 16. Jahrhundert die Darstellung Europas als
Frau auf den anthropomorphen Karten durchsetzen, welche nun überwiegend
allein gezeigt wurde.
Wenige Jahre nach der Verbreitung von Putschs anthropomorpher Europakarte
wurde Matthias Quads Kölner Kupferstich von Europa (vgl. Abb. 3) erstellt,
der ein Jahr später in vereinfachter Form in Sebastian Münsters wegweisender
Baseler »Kosmographie« (Cosmographia universalis) erschien (vgl. Abb. 4). Während Münster im Begleittext noch auf die biblische Abstammung der Söhne
Noahs verweist, nach welcher Jafet nicht nur ein Teil Europas, sondern auch
Afrika zugesprochen wurde34, bringt das kartographische Bild die Verbindung
zu Afrika nicht mehr zum Ausdruck. Vielmehr werden die Differenzen zwischen
den Kontinenten betont. Europa sei »ein trefflich fruchtbar landt« mit einer
»natürlichen te[m]perierten lufft«, wodurch es sich von der »grosse[n] Hitz«
Afrikas unterscheide.35
Die verschiedenen Flüsse unterstreichen die Körpermetaphorik der Figur, weil
sie wie Adern eines menschlichen corpus den Landschaftskörper durchziehen.36
Statt Jerusalem ins Zentrum zu setzen – wie es die mittelalterlichen mappae
mundi machten –, war nun Böhmen durch einen runden Waldsaum hervorgehoben und wurde etwas oberhalb des Nabels, mehr auf der Höhe des Herzens
der Person platziert.
Die Vorstellung vom Herzen als dem Sitz der Sinne und der Seele verbreitete
sich mit der verstärkten Aristotelesrezeption ab dem 13. Jahrhundert, welche die
Idee einer Hierarchie der verschiedenen Körperteile stützte, auch wenn sie von
34 Sebastian Münster, »Europa«, in: ders., Cosmographia. Beschreibung aller Länder, Basel 1545.
35 Wolfgang Schmale, »Europa – die weibliche Form«, in: L’homme. Europäische Zeitschrift für
feministische Geschichtswissenschaft 11 (2000), S. 211-233, hier S. 228.
36 Vgl. die Interpretation der kartographischen Zeichnungen, die zur Illustration von Michael
Draytons (1563 – 1631) topographischem Gedicht »Poly-Olbion« über England und Schottland von William Hole erstellt wurden und Teile der Landschaft männlich und weiblich
personifizieren: Kenneth Olwig, »Gendering the body landscape«, in: ders., Landscape, Nature, and the Body Politic. From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002,
S. 126-128.
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Abb. 3: Matthias Quad, »Europae Descriptio«, Köln 1587, Kupferstich, Regensburg,
Staatl. Bibliothek 2° Hist. Pol. 620
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Abb. 4: Sebastian Münster: »Europa als Königin«, in: ders., Cosmographia universalis,
Basel 1588 (1. Aufl. 1544/ 45)
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Anthropomorphe Europakarten
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einer komplizierten Debatte um den Vorrang zwischen Herz oder Kopf sowie
zwischen Körper und Seele begleitet wurde.37 Die unteren Körperregionen der
Europafigur bildeten die Grenze zu Asien, das somit abgewertet wurde.
Über die Kombination von Körper- und Königinnenmetaphorik entstand im
Medium geographischer Information der Eindruck einer harmonischen, starken und natürlichen Ganzheit, welche sich entweder auf Europa als Kontinent
beziehen konnte oder – in propagandistischer Absicht – auf eine supranationale
Macht innerhalb Europas.38
Entsprechend des einen (christlichen) Leibes mit den vielen Gliedern und wie
rund sechzig Jahre später im Leviathan, der Staatstheorie von Thomas Hobbes aus
dem Jahr 165139, die vielen Körper der Einzelnen ihren Willen an den Souverän
abgeben und in dessen mächtiger Gestalt aufgehen, formen sich die Konturen
der Kaiserin aus den zum Meer gelegenen Grenzen der europäischen Länder. Wie
schon bei Putsch so bilden auch bei Quad und Münster Spanien und Portugal
den Kopf Europas mit einer Krone, die das Band »Hispania« ziert. Schließlich
war Spanien zu diesem Zeitpunkt die mächtigste aufstrebende Kolonialmacht
Europas. Bei ihnen formen Gallien und die Alpen den Brustbereich, der rechte
Arm wird durch Italien verkörpert, der linke durch »Saxonia«, der Rumpf von
»Germania« und Ungarn, die unteren Extremitäten konturieren Griechenland,
Bulgarien und Russland. Über das Zepter ist England eng mit Europa verbunden,
ein Hinweis auf die Allianz zwischen Karl V. und Heinrich VIII., die in späteren
Darstellungen angesichts der Spannungen zwischen beiden Mächten wieder
unterbrochen wird.40 Das Herz der Königin Europa liegt auch hier jeweils in
Böhmen. Die Gesichtszüge der holzgeschnittenen Europa wiesen aus Sicht der
Zeitgenossen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Portrait Isabella von Portugals,
der Gemahlin Karls V. auf, wie es auf Medaillen überliefert wurde.41
37 Michael Camille, »The Image and the Self. Unwriting Late Medieval Bodies«, in: Sarah Kay
u. Miri Rubin (Hgg.), Framing Medieval Bodies, Manchester, New York 1994, S. 62-99, hier
S. 70.
38 Wintle (wie Anm. 32), S. 249.
39 Für Bredekamp ist die Bildpanegyrik der englischen Königin Elisabeth, die im Folgenden
im Zusammenhang mit den anthropomorphen Europakarten interpretiert wird, Vorbild für
die Darstellung des »Staats-Riesen« im Frontispiz von Hobbes Leviathan, nicht jedoch die
anthropomorphe Europakarte. Horst Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder (1651-2001), Berlin 2006 [1999],
S. 76.
40 Wintle (wie Anm. 24), S. 249.
41 Insofern verweist die Darstellung auch auf politische Bestrebungen, die auf eine Erneuerung
von Karls Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zielten. Franz Adrian Dreier, »Ein
politischer Traum«, in: Barbara Mundt (Hg.), Die Verführung der Europa, Berlin 1988, S.
181-186, hier S. 185 f.; vgl. zur Diskussion der Hinweise auf Gesichtszüge der Infantin Isabella
Clara Eugenia der Europa-Imago auch: Schmale (wie Anm. 35), S. 225.
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Claudia Bruns
Derartige Europakarten in Frauengestalt fanden zahlreiche Nachahmer und
verbreiteten sich bald im gesamten Heiligen Römischen Reich wie auch in Dänemark, Schweden und England42, was zu der Frage führt, warum in der Renaissance
eine weibliche Figur mit derartigem Erfolg zur Personifikation des Kontinents
aufsteigen und damit ihre männlichen Vorgänger nachhaltig ablösen konnte.43
Dabei diente die Figur Europa nicht nur der Begründung des kontinentalen
Namens, sondern verlieh den Landesgrenzen auch die Kontur ihres Körpers.
II. Der Wechsel zur weiblichen Repräsentation des Kontinents
Anders als an der Wende zur Frühen Neuzeit hatte das christliche Mittelalter
männliche Figuren zur Personifikation der Erdteile herangezogen. Während der
antike Europa-Mythos eine Paargeschichte zwischen Zeus und Europa erzählte, in der es um Eroberung, sexuelle Vereinigung und die Zeugung leiblicher
Nachkommen geht, standen im Mittelalter männliche Erdteilallegorien im
Vordergrund: Allen voran die Söhne Noahs und später auch die Heiligen Drei
Könige. Sie repräsentieren zwar ebenfalls genealogische Reihen, diese wurden
jedoch nicht aus einem Paar, sondern von einem Stammvater abgeleitet. Die
antike Figur der weiblichen Europa verschwand für Jahrhunderte aus der kulturellen Wahrnehmung.
Wie konnte es zu Beginn der Frühen Neuzeit zu einem derartig fundamentalen Umschwung in der allegorischen Repräsentation der Kontinente hin zur
weiblichen Repräsentation kommen? Es scheint auf der Hand zu liegen und wird
zumeist zur Erklärung herangezogen, dass vor allem der Aufschwung der AntikeRezeption seit dem 13. Jahrhundert die Rezeption des Europa-Mythos beflügelte
und dabei auch die Idee von Europa als weiblicher Figur wieder belebte. Bereits
die Römer schufen hoheitsvolle Frauenfiguren mit landestypischen Attributen,
um unterworfene Provinzen zu verkörpern.44
42 Ebd., S. 224.
43 Diese Frage nach der Bedeutung der weiblichen Europa-Imago ist in der Forschung von
Wintle aufgeworfen und von Schmale weiter bearbeitet worden. Während erster die Frage
vor allem mit dem neuen hegemonialen Selbstverständnis Europas als Folge von kolonialen
Othering-Prozessen beantwortet und auf die Herrschaftseffekte der Königinnendarstellung
eingeht, weist Schmale auf die Gleichzeitigkeit von machtvoller Repräsentation und der Konnotationen mit weiblicher Fremdheit hin. Was diese Ambivalenzen bedeuten und wie sich der
Wechsel von männlichen zu weiblichen Repräsentationen erklären lässt, bleibt offen. Schmale
(wie Anm. 35); Wintle (wie Anm. 6).
44 In die weibliche Personifikation schrieb sich bereits damals eine gewisse Ambivalenz ein: Zwar
sollte sie Macht und Herrschaft der Römer demonstrieren, doch veranschaulichte sie die
römische Hegemonie vor allem über die Analogie, die die Zeitgenossen zwischen unterworfe-
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Anthropomorphe Europakarten
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Doch nicht nur der Aufschwung der Antike-Rezeption spielte für Aufkommen
und Verbreitung der Europakarten in Frauenform eine Rolle. Wichtig war auch,
dass der Mensch mit seiner Leiblichkeit und seinem geschlechtlichen Körper in
den Fokus der Aufmerksamkeit der Humanist/innen rückte. Erst dies ermöglichte
es, sich auf Frauenfiguren als Repräsentantinnen des Landeskörpers zu beziehen.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts entwickelte sich der entblößte menschliche Leib
zu einem Objekt der Betrachtung und metaphorischen Projektion.45 Menschliche
Körper und Landeskörper wurden im selben historischen Moment zu einem
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Vermessung. Während erste
anatomische Studien an Frauenkörpern vorgenommen wurden46, beflügelte die
Annexion überseeischer Territorien die Herausbildung neuer topographischer
Vermessungs- und Darstellungstechniken. Die dabei entwickelten und zum
Einsatz kommenden technischen Instrumente richteten sich gleichermaßen auf
menschliche wie auf territoriale Körper.
Mit der veränderten Haltung zur Leiblichkeit ging auch ein unterschiedliches
Verhältnis der Geschlechter zur Repräsentation von Grenze einher: Während
männliche Figuren im Mittelalter eher für die Aufhebung von Grenzen standen oder mit der Fähigkeit ihrer Transzendenz assoziiert wurden, verkörperten
Frauen eher Grenzziehungen und Begrenzungen. Die ihnen zugeschriebene
Leiblichkeit reduzierte sie auf Signifikanten der Endlich- und Körperlichkeit,
der irdischen Begrenztheit, auch wenn ihnen in unterschiedlicher Intensität die
Fähigkeit zugesprochen wurde, eine Position der Liminalität, der Vermittlung
und des Schwellenraums einzunehmen, der positiv (Maria) wie auch negativ
(Eva) besetzt sein konnte. Die topographischen Verortungen von Frauenfiguren
auf der Ebstorfer Weltkarte zeigen diese als liminale Wesen, die nicht nur in
ihrer Möglichkeit zur Vollkommenheit zu gelangen, begrenzt waren, sondern
oft in Grenz- und Übergangssituationen platziert wurden.
Der Einsatz männlicher Allegorien war hingegen dadurch motiviert, dass den
mittelalterlichen Zeitgenossen vor allem an einer Durchlässigkeit oder Aufhebung
der Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits gelegen war, welche vorzugsweise
vom Mann repräsentiert werden konnten. Die dem Weiblichen zugeordnete Leiblichkeit war zwar auch Teil zeitgenössischer Männlichkeitskonstruktionen, diese
konnten jedoch darüber hinaus beide Teile der Zeugung, eros und logos, Materie
und deren Transzendenz, civitas terrena und civitas Dei miteinander verbinden.
nen »Barbaren« und unterworfenen Frauen zu ziehen wussten. Kaiser Hadrian ließ im 2. Jahrhundert zahlreiche seiner Münzen mit den weiblichen Sinnbildern der kolonisierten Gebiete
in Afrika und Asien schmücken. Diesen Aspekt macht Wintle stark. Wintle (wie Anm. 6).
45 Camille (wie Anm. 37), S. 66.
46 Vgl. Jonathan Sawday, The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance
Culture, London, New York 1995; Hartmut Böhme, Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte
und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, Gießen 2012.
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Claudia Bruns
D. h., durch den Einsatz männlicher Allegorien wurden die Geschlechtergrenzen
und damit Grenzziehungen an sich weniger hervorgehoben als durch weibliche.
Grenzziehungen hatten im Mittelalter den Beigeschmack des Sündhaften. Wenn
also einerseits die Einheit der von Gott geschaffenen oikumene, andererseits
deren Überwindung dargestellt werden sollte, eignete sich die männliche Figur
besonders gut. Während dem Mittelalter mehr daran gelegen war, Grenzen zu
überwinden und die Übergänge zum Raum des Transzendenten durch männliche Heiligenfiguren oder gar Christus selbst zu betonen, rückte die Renaissance
den Menschen in seiner leiblichen Begrenztheit in den Vordergrund. Dies trug
dazu bei, eine Wende zur allegorischen Darstellung Europas durch weibliche
Figuren einzuleiten. Anders gesagt: Wo nicht mehr die Fähigkeit zur Transzendenz alles Irdischen, sondern das Irdische selbst und seine Vermessung in den
Vordergrund traten, war die unterstellte symbolische Nähe von Frauenfiguren
zur Leiblichkeit und irdischen Begrenztheit der Existenz kein Hinderungsgrund
mehr für ihre Darstellung als Personifikationen des Kontinents. Die Funktion
von Frauenfiguren, Grenzen zu repräsentieren, gewann durch das neue ebenso
wissenschaftliche wie machtpolitische Interesse an Beobachtung, Vermessung
und Grenzziehungen vielmehr an Gewicht.
III. Die anthropomorphe Europakarte: Ambivalenzen weiblicher
Machtrepräsentation
Auf den ersten Blick war die Europaallegorie in Form einer Königin sicherlich
auch für die Zeitgenossen eindrucksvoll. Sie scheint den Glanz und die Stärke
des gesamten Kontinents oder eines europäischen Herrscherhauses zu symbolisieren. Und doch stellt sich gerade angesichts der eingeschränkten Regentschaftsrechte adeliger Frauen die Frage, inwiefern eine Frauenfigur einen politischen
Körper repräsentieren konnte. Die Unterscheidung zwischen politischem und
natürlichem Körper geht auf Ernst Kantorowicz zurück, der im Anschluss an
englische Juristen des 16. Jahrhunderts grundlegend unterschied zwischen einem
natürlichen, sterblichen (body natural) und dem ewigen, unsterblichen Körper
des Königs (body politic). Der politische Körper galt den englischen Juristen als
der umfassendere und weitere. Ihm wurden göttliche Kräfte zugesprochen.47 Der
als schwach empfundene natürliche Körper konnte gar durch den politischen
»hinweggezogen« und durch die Kraft der Königswürde »überwältigt« werden.48
Zugleich bot dieses Konzept die Möglichkeit, den König als natürlichen Körper
47 Zit. n. Ernst Hartwig Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters, München 1994 [1957], S. 32.
48 Ebd., S. 33.
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Anthropomorphe Europakarten
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zu töten, ohne das Prinzip des ewigen Königtums zu gefährden – ein wichtiger
Schritt auf dem Weg zu mehr parlamentarischer Kontrolle gegenüber der Krone.49
Es fragt sich, ob die kartographisch mit Europa identifizierte Herrscherinnenfigur in der Wahrnehmung der Zeitgenossen dazu fähig war, den politischen
und nicht nur den natürlichen Körper zu repräsentieren. Welche Grenzen
waren Frauen(figuren) gesetzt, um politische Macht zu verkörpern? Um sich
der historischen Bedeutung und zeitgenössischen Wahrnehmung der Karte zu
nähern, soll sie im Kontext zeitgenössischer Diskurse und Bildproduktionen
analysiert werden.
Europas jungfräuliche Außengrenzen:
Maria zwischen Königin, Jungfrau und Mutter
In den anthropomorphen Karten wurde Europa nicht nur als Figur der antiken
Mythologie dargestellt, sondern – im Anschluss an mittelalterliche allegorische
Deutungen der Europafabel50 – mit Attributen der Marienfigur aus der christlichen Ikonographie verbunden. Seinen bildlichen Ausdruck fand die Marienassoziation etwa in der Präsentation als mütterliche Schirmherrin, deren Mantel
sich über den Kontinent ausbreitet und diesen harmonisch eint; wurde doch
die christliche Madonna ikonographisch oft mit Schirm- und Schutzmantel
dargestellt, welcher im Laufe der Zeit zum königlichen Kleidungsstück umgedeutet wurde.51
49 Vgl. die Überlegungen von Regina Schulte, in: Regina Schulte, »Der Körper der Königin
– konzeptionelle Annäherungen«, in: dies. (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und
Herrschaft in der höfischen Welt, Frankfurt a. M. 2002, S. 9-26, hier S. 13.
50 Diese hatte auch ihre Vorgeschichte in den christlich-allegorischen Deutungen des Europa-Mythos, nach welchen die Prinzessin Europa eine verirrte Seele sei, die durch Christus
(in der Figur des Stier-Zeus’) zu Gott finde. So heißt es in der Auslegung der Europafabel
durch den Kleriker Pierre Bersuire im Jahr 1342: »Diese Jungfrau Europa versinnbildlicht
die Seele […] Jupiter ist der Sohn Gottes, der sich, um die Seele zu retten, in einen Stier
verwandelte, was bedeutet, dass er körperliche Gestalt annahm.« Zit. n. Christiane Wiebel,
»Mythos als Medium. Zur unterschiedlichen Deutbarkeit früher Europa-Darstellungen«, in:
Siegfried Salzmann (Hg.), Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der Industriellen
Revolution, Bremen 1988, S. 38-55, hier S. 39. Die Verbindung von antikem Europa-Mythos
mit der christlichen Heilsgeschichte in den mittelalterlichen Ovid-Bearbeitungen ist eine
der zentralen Referenzen für die Verflechtung antiker und christlicher Elemente, welche für
die Selbstdeutung Europas zentral werden sollte. Roland Alexander Ißler, Metamorphosen des
»Raubs der Europa«. Der Mythos in der französischen Lyrik vom frühen 14. bis zum späten 19.
Jahrhundert, Bonn 2006, S. 20.
51 Bredekamp (wie Anm. 39), S. 81.
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Noch zentraler als die Anspielung auf Marias schützende Mütterlichkeit war
für die Zeitgenossen die Zuschreibung von Virginität, die zugleich ihre Heiligkeit
und Verbindung zum Göttlichen begründete.
Durch die Inscriptio »Europa prima pars terrae in forma virginis«, die sich
oberhalb der Karte vom protestantischen Pfarrer Heinrich Bünting von 1589
findet (Abb. 5), wurde Europas neu empfundene Vorrangstellung unter den
Erdteilen explizit mit Marias Jungfräulichkeit in Verbindung gebracht.52 Das
Ideal der Virginität verwies unmittelbar auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihrer
Körpergrenzen und im Rahmen der kartographischen Darstellung damit auch
auf die der Landesgrenzen Europas. Dennoch führt es zu der Frage, inwiefern
das Konzept der Jungfräulichkeit selbst zu einem Teil des Politischen wurde,
indem es Königinnen über den natürlichen Körper hinaus zu einem politischen
Körper verhelfen konnte. Während Ines Stahlmann die These vertritt, dass das
Virginitätsideal Frauen seit der Spätantike die Möglichkeit bot, Affektkontrolle
zu beweisen und damit eine eher Männern zugeschriebene Fähigkeit zu zeigen,
die zu ihrer Aufwertung dienen konnte, betont Ingrid Kasten am Beispiel der
Legendenliteratur, dass das Virginitätsideal »in der religiösen Ordnung des Mittelalters [...] einerseits als Modus der Kontrolle über das Leiblich-Weibliche und
andererseits als Modus der Vergewisserung männlicher Omnipotenz« fungierte.53
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen unterschiedlichen Positionen für
die Deutung der frühneuzeitlichen anthropomorphen Europakarte?
Das Beispiel der englischen Königin Elisabeth I. (1533 – 1603) aus dem Hause
der Tudors vermag diesen Zusammenhang zu erhellen, weil sie sich selbst das
Image einer Virgin Queen gab, das dazu beitrug, ihre Regentschaft zu stabilisieren. Um 1592, etwa zeitgleich zu den anthropomorphen Europadarstellungen,
entstand das berühmte Ditchley-Portrait von Königin Elisabeth, das Marcus
Gheeraerts dem Jüngeren zugeschrieben wird (vgl. Abb. 6).
Das Ditchley-Portrait zeigt die Regentin in Ganzkörperdarstellung auf einem
Weltglobus stehend, prachtvoll und aufwändig, in Jungfräulichkeit signalisierendem Weiß gekleidet. Ihr Körper ragt zu großen Teilen über die Erde hinaus in den
Himmel, was ihre Verbindung zum Göttlichen nahe legt. Ihr breit ausladender
Rock schwebt über dem nach dem Atlas von Saxton dargestellten Raum Englands, dessen Grafschaften in farbigen Flächen gegeneinander abgegrenzt werden.
52 Vgl. Schmale (wie Anm. 35), S. 222 f.
53 Ingrid Kasten, »Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers«, in: Ingrid
Bennewitz u. Ingrid Kasten (Hgg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur, Münster 2002, S. 199-219, hier S. 204; Ines Stahlmann,
»Jenseits der Weiblichkeit. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des frühchristlichen Askeseideals«, in: Christiane Eifert, Angelika Epple, Martina Kessel, Marlies Michaelis, Claudia
Nowak, Katharina Schicke, Dorothea Weltecke (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer?
Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1996, S. 51-75.
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Abb. 5: Heinrich Bünting, »Europa prima pars terrae informa virginis«, in: ders.,
Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift,
Magdeburg 1589 [erstmals Helmstadt 1582], Holzschnitt, 27,5 x 36, Bildquelle:
Österreichische Nationalbibliothek Wien
Ihr Körper wird jedoch nicht – anders als auf den zeitgleich entstehenden
anthropomorphen Europakarten – als mit dem Landeskörper identisch ausgestellt. Vielmehr weist sich das Herrscherinnenbildnis gerade nicht durch eine
Gleichsetzung von Frauen- und Landeskörper aus, wie von Roy Strong nahe
gelegt54, sondern demonstriert Elisabeths Erhabenheit über alles Irdische.
Dieser Eindruck wird durch weitere Bild- und Textelemente unterstrichen:
Das nur fragmentarisch erhaltene, auf einer Tafel rechts im Bildhintergrund zu
lesende Sonett beginnt mit den Worten »The prince of light«: Ein Titel, mit
dem Elisabeth offenbar auf das Selbstverständnis absoluter Könige zurück griff,
galt doch die Sonne mit ihren Strahlen als männliches Symbol, dem man die
54 So heißt es bei Strong: »Queen, crown and island become one. Elizabeth is England, woman
and kingdom are interchangeable.« Roy C. Strong, Gloriana. The Portraits of Queen Elizabeth
I., London 1987, S. 136.
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Abb. 6: Marcus Gheeraerts d. J. (ca. 1592): Elisabeth I., »Ditchley« Portrait, Canvas,
241,3 x 152,4, 95 x 60; Bildquelle: National Portrait Gallery, London, Nr. 2561
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Fähigkeit zusprach, durch Schattenwürfe und Umrissbildungen die weiblich
konnotierte Materie gestalten, formen und hervorbringen zu können.55 Indem
sich Elisabeth selbst mit der Sonne verglich, stattete sie sich mit einem männlichpolitischen Körper aus.
Andererseits griff sie jedoch auch auf zeitgenössische Weiblichkeitsbilder
zurück und nutzte diese in ihrem Sinne. So rief ihr weißer Madonnenmantel
eine Nähe zur Jungfrau Maria auf, mit deren Namen sie sich auch offiziell
schmückte. So war sie bekannt unter den Beinamen »The Virgin Queen«, »The
Maiden Queen« oder »Gloriana«.56 Für Elisabeth I. lässt sich also eindrücklich
zeigen, dass sie versuchte, sich als Herrscherin mit göttlichem, ewigem Körper
auszustatten und das, was an ihren vergänglichen leiblichen Körper erinnerte,
möglichst zu verbergen.57 Sie wusste »die zwei Seiten des königlichen Körpers
unablässig gegeneinander auszuspielen«.58
Im Gegensatz zur Situation in England fielen die Möglichkeiten für adelige
Frauen, eine Regentschaft zu übernehmen auf dem europäischen Festland gänzlich anders aus. Adelige Frauen waren in der Regel nicht als Thronfolgerinnen
vorgesehen (Salische Gesetze). Sie durften lediglich stellvertretend einspringen,
wenn der natürliche Körper des männlichen Königs noch zu jung, zu schwach,
debil oder gebrechlich für die Regierung war.59 In dem Moment, in dem sie an
der Seite des königlichen Regenten die Funktion der Ehefrau erfüllten, rückten
sie in eine zwar noch immer machtvolle, aber letztlich untergeordnete Position.
Die Betonung des königlichen Paares führte meist dazu, dass die Königin den
55 Vgl. grundlegend: Heide Wunder, »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen
Neuzeit, München 1992.
56 Vgl. auch John N. King, »Queen Elizabeth I. Representations of the Virgin Queen«, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), S. 30-74.
57 »[...Z]wischen 1563 und 1596 vollzog sich in der Sprache der Gesetzgebung eine subtile Verschiebung von der naturgetreuen Repräsentation des Körpers der jungen Königin – die ›natürliche
Repräsentation‹ ihrer ›Person, Gunst und Gnade‹ – hin zu einer idealisierten Darstellung des
politischen Körpers der gealterten Königin – ›Ihrer Majestäts Person und Gesicht, diese schöne
und großmütige Majestät, mit der Gott sie beschenkt hat‹. [...] Seit den frühen 1590er Jahren
dominierte die von Roy Strong so genannte ›Maske der Jugend‹ als offiziell genehmigtes Muster
›Ihrer Majestäts Person und Antlitz‹ die Herstellung der königlichen Bildnisse. [...Typischerweise, C. B.] ruft dieses intime Bild [gemeint sind die Portrait-Miniaturen von Hillard von ca. 1600,
C. B.] Elizabeths mystische Jungfräulichkeit auf, indem es sie als junge und strahlende Jungfrau
mit entblößtem Busen und offenem, auf die Schultern fallendem Haar darstellt.« Louis Montrose, »Elizabeth hinter dem Spiegel. Die Ein-Bildung der zwei Körper der Königin«, in: Regina
Schulte (Hg.), Der Körper der Königin. (wie Anm. 49), S. 67-98, hier: S. 91.
58 Schulte (wie Anm. 49), S. 15.
59 Wunder (wie Anm. 55), S. 205 ff.; Heide Wunder, »Herrschaft und öffentliches Handeln
von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit«, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der
Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 27-54.
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Part der Verkörperung des sterblichen leiblichen Körpers auf sich zog, während
der Leib des Königs neben ihr umso göttlicher erschien.60
Wenn man von den Repräsentationsstrategien Königin Elisabeths auf das
Spektrum der Deutungsmöglichkeiten der kartographischen Europaallegorie
schließt, vermochte die Europafigur für den Kontinent durchaus eine Form des
übernatürlichen politischen Körpers zu repräsentieren, der über die Figur der
Heiligen Jungfrau die natürliche Leiblichkeit der weiblichen Figur transzendieren konnte.
Dem Virginitätsideal kam somit eine bedeutende Rolle für die Installation eines politisch machtvollen weiblichen Herrschaftskörpers zu.61 Als Jungfrau besaß
die Landesrepräsentation gleichsam heilige Körpergrenzen, deren Unverletzlichkeit zunächst von ihr selbst verbürgt wurde. Mit ihrer sexuellen Unzugänglichkeit
offenbarte sie eine Form der Kontrolle der eigenen Lust, welche Frauen in der
Regel abgesprochen wurde. Damit bewies die Jungfrau einen höheren Grad
an Selbstbeherrschung als andere Frauen. Diese genuin als männlich kodierte
Eigenschaft befähigte sie im Selbstverständnis der Zeit in besonderer Weise zur
Regierung über andere und zur Kontrolle der Grenzen. Nicht zufällig wurde
den ebenso kriegerischen wie jungfräulichen Amazonen in Jehan de Mandevilles
Reisebeschreibungen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts die Fähigkeit zu einer
besonderen Grenzkontrollfunktion zugesprochen.62 Aus christlicher Perspektive
verband sich mit der erotischen Enthaltsamkeit überdies eine besondere Nähe
zu Gott, als dessen wahre und einzige Braut sich die Jungfrau verstand.
Trotz dieser Möglichkeit, sich über Jungfräulichkeit aufzuwerten, schrieben
sich in das Virginitätskonzept bestimmte Abwertungen ein. So lässt sich die
Konstruktion einer jungfräulichen Europaallegorie symbolisch auch als männlicher Triumph über die Frau und ihre Sexualität lesen, indem diese keinem
Mann der Eigen-, geschweige denn der Fremdgruppe zugänglich sein sollte.
Als gemeinsamer Besitz aller europäischen Männer, auf den man symbolisch
gemeinsam verzichtete, waren die Körpergrenzen der Jungfrau Europa auch für
keinen fremden Mann zugänglich oder durchdringbar. Der gemeinsame Verzicht
der europäischen Männer hält über die Gewährung und Gewährleistung der
Unverletzlichkeit der jungfräulichen Körpergrenzen einen gewissen patriarcha60 Dies macht Regina Schulte etwa am Beispiel der Ehe Marie Antoinettes deutlich: »Sie, die
Fremde, repräsentierte den maroden Körper des Königs des Ancien Régime, solange er als
politischer Körper im eigenen Lande noch nicht aufgegeben sein sollte«. Schulte (wie Anm.
49), S. 17.
61 Vgl. Anm. 53.
62 [John Mandeville], The travels of Sir John Mandeville, übersetzt und eingeleitet durch Charles
William Reuben Dutton Moseley, London, New York 2005 [1983], S. 165 f.; vgl. dazu: Claudia
Bruns, Europas Grenzen seit der Antike: Karten – Körper – Kollektive (Kap. Das Geschlecht der
Grenze), Köln u. a. (im Erscheinen).
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len Machtanspruch über den Körper der Frau wie auch über den Landeskörper
aufrecht. Indem Frauen- und Landeskörper aufeinander verwiesen, war der
weiblichen Allegorie geradezu ein Appell zum Grenzschutz inhärent, der auch
zur militärischen Verteidigung des Landes mobilisieren konnte.
Europas unverletzlicher Körper konnte so als Trophäe eines siegesgewissen
Kontinents dienen, der seine Grenzen zu errichten und zu schützen vermochte – bezeichnenderweise zu dem historischen Moment, in dem die Länder der
Neuen Welt hemmungslos von europäischen Männern »entjungfert« wurden,
um in der Sprache der zeitgenössischen kolonialen Quellen zu bleiben.
Als Braut Christi wurde die Europa-Imago besonders dort, wo ihre menschlichen Züge, z. B. als Isabella von Portugal oder Isabella Clara Eugenia, zu erkennen waren63, zur Braut des obersten Regenten Europas, der im aufkommenden
Absolutismus damit in die Position Christi aufrückte. Die Profanisierung der
religiösen Bedeutung der Heiligen Jungfrau ging einher mit einer Sakralisierung
der weltlichen Macht europäischer Regenten oder ihrer Repräsentationen.
Somit konnte die Marien-Europafigur – trotz ihrer heiligen Jungfräulichkeit
– auch ins Weltliche zurückfallen und auf den irdischen Leib bezogen, als konkrete Frau inszeniert werden: Mit den Zügen der Gemahlin von Karl V. (oder
Ferdinands) wird sie zu einer Frau mit natürlichem Leib, die innerhalb einer
Paarkonstellation verankert ist. Im Bild der mächtigen Königin ist zugleich auch
ihre Ohnmacht präsent. In der weiblichen Allegorie Europas spiegeln sich stolzer
Triumph, die Möglichkeiten weiblicher Macht und doch auch eine männliche
Hegemonie über das Weibliche.
Diese wurde durch das Blickregime, das die Karte evozierte, verstärkt – entwickelte sich doch das Sehen zum privilegierten Medium neuen Erkenntnis- und
Machtgewinns. Optik, Anatomie und Geometrie erlebten als Wissenschaften
wie als Herrschaftstechniken einen rasanten Aufschwung. »Der Blick war«, wie
Christina von Braun bemerkt, »nicht mehr das Tor zur Sünde, sondern er wurde zur definitorischen Macht über die Erscheinung des Anderen«.64 Auch das
Geschlechterverhältnis wurde nun zunehmend als Blickverhältnis dargestellt.
So nahm der Betrachter der Europa-Karte die Position des männlichen Blickes
auf die sich ihm als Landeskörper darbietende Frau ein, welche auch mit der
Ehegattin des Herrschers assoziiert wurde. Nicht zuletzt das Wissen um den
antiken Mythenstoff legte eine Identifikation des Betrachters der Europa mit
dem erobernden obersten Gott (Zeus) nahe. Zeus selbst wurde nicht mehr zu
sehen gegeben. Der Körper des Königs rückte durch die Verschiebung der leib63 Zur Diskussion der möglichen Deutungen der Gesichtszüge der Europafigur und der damit
verbundenen dynastischen Verbindungen: Schmale (wie Anm. 35), S. 225.
64 Christina von Braun, Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich
2001, S. 27.
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lichen Repräsentation auf die Frau umso eindrucksvoller in die übernatürlichunsterbliche, beobachtende und (die Natur) formende Subjektposition. Die
Grenzen seiner Macht wurden symbolisch an ihren Körper delegiert.
Ihre Repräsentation als Königin wertete die weibliche Europa-Imago auf,
ihre Jungfräulichkeit konnte ihr das Prestige einer gewissen Selbst- und Lustbeherrschung verschaffen – innerhalb des Königspaares sah sie sich jedoch als
(geraubte, vergewaltigte) Gattin abgewertet, wie auch ihre Assoziation mit dem
fruchtbaren, paradiesischen Land eine gewisse Unterordnung unter das männliche Prinzip vermittelte.
Europas inneres Paradies: Eva oder der weibliche Landschaftskörper
Es zeigt sich, dass nicht nur Anspielungen auf Maria in ihrer Eigenschaft als
keusche Jungfrau (virgo) für die Interpretation der Karte von Bedeutung waren. Vielmehr tauchen im selben Bild nun auch Anspielungen auf die biblische
Eva auf. In den neuen Herrschaftsanspruch Europas65 spielten gleichermaßen
Paradies-, Marien- und Fruchtbarkeitsassoziationen hinein.66 Der zuvor überwiegend negativ konnotierten Evafigur wurden nun durchaus positive Qualitäten
zugeschrieben, die mit einer Aufwertung der Natur einhergingen. So spielten
die Europakarten auf Eva als Repräsentantin des Paradieses vor allem durch die
schön gestaltete Landschaft im Inneren des allegorischen Landeskörpers an. Die
Karten zeigen etwa die Donau als »paradiesischen Mutterstrom«, womit die
Fähigkeit der Europa-Imago zur Prokreation und Fruchtbarkeit betont wurde.
Dennoch wurde das Landesinnere weniger als Wildheit denn als schöne,
wohlgeordnete Natur dargestellt – unterschieden die Zeitgenossen doch zwischen
wilder Natur, welche über die Bibel mit Assoziationen von Wüste verbunden
wurde (Jesaja 51,3 u. 41,18-19; Jeremia 25,38) und der schön gestalteten Landschaft
im Sinne eines »Garten Eden«. Während das Mittelalter die Göttin der Natur als
heroische und aktive Figur allegorisierte, wurde diese während der Renaissance
von dem männlichen Monarchen in der Rolle des schöpferischen Prinzips abgelöst und auf die Position eines passiven Landschaftskörpers zurückgeführt.67
»Das männliche Prinzip [...] kam durch die unsichtbare, himmlische Geometrie
65 Europa beschrieb sich nun als »ersten Erdteil«, was sich bis heute in der westlichen Kartographie der Welt sowie in der Rede von »Erster« und »Dritter Welt« spiegelt: »Europe came to be
not simply an equal part of the world, but to dominate it, to reach out its powerful tentacles
and control the globe. That Eurocentrism has been an essential feature of Western mapping
of the world ever since […].« Wintle (wie Anm. 6), S. 139.
66 Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische
Schriften, Köln u. a. 1993, S. 35; Schmale (wie Anm. 35), S. 225.
67 Kenneth Olwig (wie Anm. 36), S. 138 f.
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Anthropomorphe Europakarten
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perspektivischer Linien zum Ausdruck, die die Szenerie penetrierten und ihr
eine räumliche Form gaben«, so Kenneth R. Olwig.68 Die weiblich imaginierte
europäische Landschaft trat hier somit als von göttlicher Hand Geformte wie
auch der männlichen Formung Bedürftige, gleichsam ›Zivilisierte‹ hervor. Erst
durch die Einwirkung des formenden Blicks, den Sonnenstrahlen gleich, sollte
sie Gestalt annehmen können.
So erscheint die Natur der Europaimago den männlich codierten Kräften
gärtnerisch-zivilisierender Gestaltung und den Gesetzen von Ästhetik und Geometrie, von welcher man annahm, dass sie nicht nur Harmonie, sondern auch
politische Ordnung herstelle69, unterworfen – und ist keineswegs ungebrochen
als Figur königlicher Machtfülle oder Repräsentantin der Überlegenheit Europas
zu verstehen, als die man sie auf den ersten Blick wahrnehmen würde.70 Mit
der Gattinen- und Paradiesassoziation war eine Rückführung des Weiblichen
auf das Natürliche verbunden, eine Reduktion auf den sterblichen Körper (body
natural), der einer so figurierten Europa – als lustvoller Eva – die Regierungsfähigkeit absprach.
Dürers Holzschnitt »Der Zeichner des liegenden Weibes« (ca. 1527) bringt
die zeitgenössisch virulente – im wahrsten Sinne des Wortes formierende – Beobachterperspektive gegenüber der Frau in besonders prägnanter Weise zum
Ausdruck (vgl. Abb. 7).
Die relativ kleine Illustration, die erstmals in einem Fachbuch über die »Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt« erschien und u. a.
die Regeln der Zentralperspektive anschaulich werden lassen wollte, erreichte –
nicht zuletzt wegen ihrer voyeuristischen Qualitäten – eine gewisse Berühmtheit
(Abb. 7). Im Bild wird ein entblößter Frauenkörper und vor allem die nur mit
einem Tuch lose bedeckte Scham der Frau aus einer gewissen Distanz heraus
betrachtet und zentralperspektivisch vermessen. Ein offenbar zeichentechnisch
versierter Mann fixiert den Körper, der ihm gegenüber auf demselben Tisch
liegt, auf dem er seine Zeichnungen macht. Zwischen beiden befindet sich eine
Abtrennung in Form eines Fensters mit rektangulärem Gitter, dem sogenannten
Albertischen Fenster, durch das hindurch er auf den Frauenkörper sehen kann.
Die optischen Gitter, die das Gesehene mit einem Rasterfeld überziehen und die
Geräte dienten dazu, den perspektivisch gesehenen dreidimensionalen Raum auf
die Fläche zu übertragen. Ein derart voyeuristischer Blick auf den Frauenkörper
wäre ohne die Betonung wissenschaftlicher Distanz nicht darstellbar gewesen.71 In
68 Übersetzung durch C. B., Ebd., S. 134.
69 Ebd., S. 144.
70 So die Lesart Wintles: Wintle (wie Anm. 6), S. 137-65.
71 Christina von Braun konstatiert für die Renaissance eine Verschiebung von der Lust hin zur
Schaulust. Silke Wenk und Sigrid Schade verweisen auf das Verschwinden des Mannes aus
dem Bild. von Braun (wie Anm. 64), S. 216; Silke Wenk u. Sigrid Schade, »Inszenierungen
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Claudia Bruns
Abb. 7: Albrecht Dürer (ca. 1527): »Der Zeichner des liegenden Weibes«, in: ders.,
Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt (auch: Emotivität des
Weibes), Holzschnitt, Buchillustration, 7,6 x 21,5 cm;
Bildquelle: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
dem Moment, in dem die Kartographie die Längen- und Breitengrade vermaß,
wurde auch der Frauenkörper gleichsam einer neuen Kartierung unterworfen.
Erst die Alberti-Scheibe und die Rasterung des Sehfelds machten den »Blick in
den Schoß der Frau ungefährlich«.72 Sie vermittelten den Anschein von Kontrolle
und Beherrschung – nicht zuletzt des eigenen Begehrens.
Die Frau wird hier noch einmal explizit unter die ›Auf-Sicht‹ des Mannes
gestellt, in dessen Macht es liegt, ihre Körpergrenzen zu bewahren oder – mithilfe der neuen technischen Sehinstrumente, die mit seiner Selbstkontrolle auch
seine Naturbeherrschung demonstrieren – zu durchbrechen. Und doch wird bei
Dürer auch die männliche Blickperspektive selbst zum Thema gemacht, indem
der Gelehrte in seiner Studier- und Experimentierstube als Blickender dargestellt
wird, der seinerseits den Blicken des Betrachters/der Betrachterin ausgesetzt ist.73
Auf der anthropomorphen Europakarte werden hingegen die männlichen Blicke
auf die Frau nicht selbst zu sehen gegeben, sondern vorausgesetzt.
Doch nicht nur die Grenzen Europas, sondern auch die Grenzkonstruktionen
der neu ›entdeckten‹ Kontinente wurden entlang der Jungfräulichkeitsmetaphorik
diskursiviert und reguliert. Im selben Moment, in dem sich Europa allegorisch
des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumod Bussmann, Renate
Hof, Elisabeth Bronfen (Hgg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften,
Stuttgart 1995, S. 340-408, hier: S. 383 f. Vgl. auch dazu: Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der
Moderne, Marburg 2001.
72 Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21.
Jahrhundert. 15 Fallstudien, 2 Bde., Bd. 1, Marburg 2010, S. 39.
73 Ebd.
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Anthropomorphe Europakarten
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über die Figur der Jungfräulichkeit zu definieren begann, sollte das ›jungfräuliche Land‹ in der Fremde unterworfen und gebrochen werden. Betrachtet man
die Europa-Allegorie im Kontext der kolonialen Diskurse, verschieben und
erweitern sich die Dimensionen ihrer Bedeutung und die damit verbundenen
Möglichkeiten zeitgenössischer Wahrnehmung.
Die Jungfräulichkeit kolonialer Grenzen:
Ambivalenzen der ›Eroberung‹ und das Weißwerden Europas
Während für Europa zu schützende, undurchdringliche, mit Keuschheit assoziierte Grenzen errichtet wurden, durchbrachen europäische Conquistadores
diese in Amerika bewusst. Mit der zu brechenden Jungfräulichkeit wurde
gleichermaßen auf das Land angespielt, das mithilfe militärischer Gewalt und
neuer Vermessungstechniken annektiert werden sollte, wie auch auf dessen
gewaltsam zu erobernde Bewohner/innen. Viele Berichte aus der Neuen Welt
beschrieben Massenvergewaltigungen der Bevölkerung durch die Kolonisierer.74
Die Ausübung sexualisierter Gewalt war üblich und entsprach keineswegs dem
Bild der Selbstbeherrschung und Kontrolliertheit, das europäische Männer von
sich entwarfen. Und doch wurde gerade die Abgrenzung von den vermeintlich
ungezügelt lustvollen »Wilden« zu einem wichtigen Moment in der Herausbildung europäischer Identität und zivilisatorischer Überlegenheitsrhetorik.
Die Abgrenzung vom gegnerischen Anderen über die vermeintlich bessere
Behandlung von Frauen75 legitimierte im Motiv der ›zu rettenden Jungfrau‹ die
Ausübung von Gewalt und diente als Ausweis eigener Zivilisiertheit.
Die Bildproduktion aus dem kolonialen Kontext verspricht die zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen der kartographischen Europafigur weiter zu
differenzieren und deren Funktion als ambivalente Gegenfigur zum ›Wilden‹
– wie auch ihre partielle Identität mit dem ›Fremden‹ – offen zu legen. Mit der
berühmten Federzeichnung Jan van der Straets (ca. 1588), die die Ankunft des
florentinischen Seefahrers und Nautikers Amerigo Vespuccis (ca. 1441 – 1512) in
Amerika zeigt und welche als Kupferstich zirkulierte (Abb. 8), ist die Urszene der
kolonialen Grenzüberschreitung, des ersten Kulturkontakts mit den Bewohner/
innen der Neuen Welt paradigmatisch als Begegnung der Geschlechter visualisiert worden. Auch hier wird das Bild einer jungen Frau vorgeführt, die einen
Kontinent personifiziert, diesmal jedoch, im kolonialen Setting, ist sie entblößt,
74 Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a. M. 1985 [frz.
Orig. 1982], S. 170 f.
75 Louis Montrose, »The Work of Gender in the Discourse of Discovery«, in: Representations 33
(1991), S. 1-41, hier S. 19 f.
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Abb. 8: Jan van der Straet, »America«, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um 1590,
Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
was – im Gegensatz zur bekleideten Europa – ihre sexuelle Zugänglichkeit signalisiert. Wie in der Europadarstellung wird auch hier die Ambivalenz zwischen
männlichem Grenzziehungs- und Grenzüberschreitungsbegehren verhandelt.
In der Begegnung mit der ›fremden Frau‹ avanciert diesmal der Nautiker
Vespucci zum allegorischen Repräsentanten Europas, der sich des fremden
Territoriums wie der nackten Frau gleichermaßen zu bemächtigen versteht. In
diesem Bemächtigungs- und Eroberungsprozess, dessen politische Legitimation
dadurch verstärkt oder überhaupt erst gegeben ist, dass er in einem sexuellen
Verzicht gipfelt, spielt das zur Schau gestellte Blickregime wie auch das Jungfräulichkeitsmotiv erneut eine zentrale Rolle.
Doch hat Victoria Schmidt-Linsenhoff jüngst eine alternative Lesart vorgeschlagen.76 Das männliche Subjekt, das in vielen der Amerikaallegorien ähnlich
wie in der anthropomorphen Europakarte nicht zu sehen gegeben wurde, sei
hier selbst zum Gegenstand der Betrachtung geworden und mache den Blick
76 Schmidt-Linsenhoff (wie Anm. 72), Bd. 1, S. 32.
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Anthropomorphe Europakarten
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des Entdeckers zum Thema. Der betrübte Blick auf das im Augenblick der
Entdeckung wieder verlorene Paradies führe zu einer melancholischen Selbstreflexion des Verlusts, so Schmidt-Linsenhoff. Somit komme in van der Straets
Bild nicht nur die Unterwerfung der Frau, sondern auch eine gewisse Trauer
über die Kosten des Fortschritts und den Auszug der Lüste aus dem männlichen
Körper zum Ausdruck. Es handele sich gar um eine Selbstproblematisierung der
männlichen Moderne.
Trotz des Reizes dieser Perspektive, die das Subversive im kolonialen Bild
aufsucht, lässt sich nicht übersehen, dass auch die ausgestellte Melancholie des
Eroberers zugleich genuiner Teil dessen war, was ihn ermächtigte: Seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und die damit verbundene Distanz zur Lust waren
paradigmatische Elemente seiner Macht. Paradoxerweise war es gerade der Diskurs des sexuellen Verzichts, der die Eroberungen und territorialen Annexionen
legitimierte. Der symbolisch zur Schau gestellte Respekt vor jungfräulichen
Körpergrenzen avancierte zur Voraussetzung politisch legitimer Eroberung,
territorialer Grenzüberschreitung und Ermächtigung. In diesem Kontext geriet
auch die Melancholie zum integralen Teil der Hegemonieansprüche und fand
nicht zuletzt einen Nachhall in Rudyard Kiplings berühmten Kolonial-Gedicht
»The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) (1899).77 Insofern
muss auch der melancholische Verzicht Vespuccis im Kontext der Selbstinszenierung der Männlichkeit des aufstrebenden dritten Standes gelesen werden,
welche nicht nur mit den kolonialen Praktiken im Einklang stand, sondern
diesen legitimierend zuarbeitete.
IV. Von der Repräsentation der Macht zur Macht der Repräsentation
Die anthropomorphen Europakarten tauchten nicht zufällig in dem Moment auf,
als es zu einem Bruch in der epistemischen Ordnung des Wissens kam. Dieser
zeichnete sich durch eine neue Skepsis bezüglich einer (analogen) Abbildbarkeit
der Welt aus, an der auch die kolonialen Prozesse ihren Anteil hatten. Denn, was
an Eroberungen stattfinden konnte, musste durch Kulturtechniken vermittelt
und in die Beherrschbarkeit durch abstrakte Regeln von Schrift und Gesetz
wie auch durch Vermessung und kartographische Repräsentationen übersetzt
werden. Dieser Prozess ging mit einer Aufwertung der Repräsentation und des
Bildes ebenso einher, wie mit einer Ermächtigung der sich neu herausbildenden
Gruppe von Händlern, Priestern, Seefahrern und Wissenschaftlern aus dem
niedrigen Adel oder Bürgertum.
77 Rudyard Kipling, »The White Man’s Burden«, erstmals in: McClure’s Magazine 12 (1899).
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Mit der Möglichkeit, den abwesenden Souverän zu vertreten, entstand ein
Freiraum nicht nur für extreme Willkür, sondern auch für neue Formen der
Subjektivität.78 Zwar zielte das Vorgehen der Kolonisierer zunächst angestrengt
darauf, die Macht der Repräsentation mit der Repräsentation der Macht in Übereinstimmung zu bringen – dennoch mischte sich immer »mehr Selbstvertretung
in Stellvertretung«.79 Das sich somit als brüchig enthüllende Verhältnis zwischen
Zeichen, Referent und Bedeutung schwächte langfristig die monarchische Autorität.80 Damit war einerseits der Nährboden für eine unheilige »Allianz von
Ethnozentrismus und Repräsentation« im Sinne Spivaks geschaffen, in welcher
Repräsentation zu einer Form von Aneignung gerät.81 Es zeigte sich aber auch,
dass die »Repräsentation von Macht [...] durch die Macht der Repräsentation
selbst herausgefordert werden« konnte und ein eigenes Widerstandspotential in
sich barg (hier zunächst für eine bestimmte privilegierte Gruppe – in der Folge
aber auch für die Kolonisierten selbst).82
Nicht zuletzt die Topographie der Karte als einer prominenten neuen Repräsentationsform souveräner Macht »sollte Besitztitel erhärten« und das Erkundete
»dem Bild des Eroberers assimilieren«.83 Dadurch erhielten die kartographischen
Repräsentationsformen, aber auch die handelnden Repräsentanten vor Ort, die
Akteure kolonialer Gewalt, ein neues Gewicht und einen eigenständigen Handlungsraum – so besaß Kolumbus etwa den Titel des Vizekönigs –, und dennoch
hatten letztere als Stellvertreter der Macht im Namen des Königs/ der Königin
zu agieren. Sie besetzten einen Zwischenraum, der langfristig auch einen neuen
politischen Repräsentationsraum eröffnete.
In diesem Zwischenraum erfüllten die anthropomorphisierten Europa-Karten
eine doppelte Funktion: Sie sollten die gestiegene Macht des europäischen
Souveräns verkörpern und die Macht der neuen Akteure über die symbolischen
Repräsentationsformen des Herrschers selbst zum Ausdruck bringen. Männer,
die den Kontakt zwischen Europa und den Kolonien herstellten, wie Kolumbus,
Vespucci und Raleigh, gewannen Macht über Formen der Repräsentation, die
zwar den Souverän ehren sollten, in die sie aber auch ihre eigene Macht einzuschreiben begannen. Die Gelehrten in Europa griffen diese Möglichkeit auf
78 Robert Weimann, »Einleitung: Repräsentation und Alterität diesseits/ jenseits der Moderne«,
in: ders. (Hg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs,
Frankfurt a. M. 1997, S. 7-43, hier S. 19.
79 Ebd., S. 20 u. 27.
80 Ebd., S. 29.
81 Gayatri C. Spivak, »Can the Subaltern Speak«, in: Cary Nelson u. Lawrence Grossbery
(Hgg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, S. 271-313; Weimann (wie
Anm. 78), S. 10.
82 Weimann (wie Anm. 78), S. 33.
83 Ebd., S. 10.
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und führten sie fort, sei es in der Absicht, dem Souverän einen ambivalenten
Spiegel seiner Macht zu schenken, wie im Fall des Tirolers Johannes Putsch, sei
es durch den Entwurf eines universellen, die Grenzen souveräner Macht transzendierenden Ordnungssystems, wie im Fall der Kartenmacher oder im Versuch,
religiöse Belehrung mit dem Bild europäischer wie männlicher Souveränität zu
verschmelzen.
In diesem Prozess spielte die Artikulation von Selbstbeherrschung und sexuellem Verzicht, welche über das kartographisch inszenierte Jungfräulichkeitsmotiv
der Europakarte vermittelt wurde, eine zentrale Rolle. Dieses gewann eine politische Funktion, indem es auf eine heimliche Leer-/ Schwachstelle der souveränen
Machtrepräsentation verwies, den natürlichen Körper, dem der l’homme de science
entsagte. In dem Maße, wie das Konzept der Jungfräulichkeit auf die Überwindung und Abtötung des natürlichen Körpers wie auch auf seine Abstraktion
hindeutete, ließ sich dessen Betonung im Rahmen der Europakartographie durch
bürgerlich-humanistische Kartenmacher als Chiffre einer stärkeren Kontrolle des
Königs lesen und als Hervorhebung ständischer Partizipationswünsche, welche
sich gerade im Blick auf den gemeinsam begehrten und durch den gemeinsamen
Verzicht hervorgebrachten Frauenkörper konstituieren. Im Spiegel der jungfräulichen Europa-Imago sollte sich die Überwindung des Leiblichen wie die Teilhabe
am politischen Körper, auch für die Vertreter des Dritten Standes, imaginativ
realisieren. – Freud sollte später die Herausbildung von »höher zivilisierten«
Gesellschaftsformen mit dem gemeinschaftlichen Mord am Urvater und dem
anschließenden sexuellen Verzicht der Söhne auf die Frauen erklären, womit er
die Formierung des exklusiv brüderlichen Zusammenschlusses zur Republik in
gewisser Hinsicht treffend erfasste.84
In den Auseinandersetzungen zwischen den aufstrebenden »Söhnen« des Dritten Standes im Kampf gegen den absolutistischen Souverän wurde das Bild des
Herrschers endgültig durch das einer weiblichen Allegorie ersetzt, während – oder
gerade weil – reale Frauen ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten beraubt
wurden. Sie sahen sich auf die Funktion reduziert, die imaginäre Ganzheitlichkeit sowie die höheren Werte und Tugenden des Kollektivs zu repräsentieren85,
84 Dieter Thomä, »Statt einer Einleitung: Stationen einer Geschichte der Vaterlosigkeit von 1700
bis heute«, in: ders. (Hg.), Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Berlin
2010, S. 11-64; vgl. auch: Claudia Bruns, »Kontroversen zwischen Freud, Blüher und Hirschfeld. Zur Pathologisierung und Rassisierung des effeminierten Homosexuellen«, in: Ulrike
Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hgg.), Dämonen, Vamps und
Hysterikerinnen. Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900,
Bielefeld 2011, S. 161-183, bes. zu Freud S. 174-177.
85 Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln u. a. 1996,
S. 76; vgl. auch Lynn Hunt, The familiy romance of the French Revolution, London 1992,
S. 81 ff.: »The presence of the female figure in iconography was not, consequently, a sign of
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denen sich das männliche Bürgertum nach dem Sturz des Monarchen nun
verschrieb. Aus dem Ditchley-Portrait Elisabeths ging der Leviathan hervor86,
in dessen Folge sich die visuelle Ordnung des Politischen aufspaltete in einen
unsichtbaren, leiblosen männlich konnotierten Staat und die weibliche Allegorie
der überpolitischen Ganzheit.
Den frühneuzeitlichen anthropomorphen Europakarten in weiblicher Form
kam in diesem Prozess eine Doppelrolle und Vermittlungsfunktion zwischen
aufstrebender Bürgerschicht und monarchischer Dynastie zu. Das Bild des
Herrscher-Körpers wurde dabei sukzessive durch weibliche Europa- und
Nationalallegorien ersetzt, die vor allem von den aufstrebenden bürgerlichen
Teilen des Dritten Standes ins Spiel gebracht worden waren. Die weibliche
Allegorie erfüllte auf symbolischer Ebene eine Scharnierfunktion zwischen zwei
rivalisierenden männlichen Gruppen und zwischen den sich mit diesen Gruppen herausbildenden neuen Repräsentationssystemen – eine Funktion, die als
»traffic in women«87 (Gayle Rubin) beschrieben werden kann und hier zugleich
die Medialität weiblicher Liminalität unterstreicht. Dabei erfuhr der Akt der
Stellvertretung selbst eine Aufwertung und ließ bei aller bildlichen Repräsentation der Macht auch die Macht der Repräsentation samt ihrer Ambivalenzen
und modernen Brechungen deutlich werden – und zwar gerade mithilfe des
Geschlechterdiskurses im Moment seiner kolonialen Reformulierung.
V. Resümee
Während das Mittelalter männliche Personifikationen von Europa bevorzugte,
kam es zu einem radikalen Umschwung in der Frühen Neuzeit, in der Europa
nunmehr durch weibliche Figuren repräsentiert wurde. Die weibliche Form der
Karte konnte dabei einerseits auf den Herrschaftsanspruch Europas oder einer
besonders ausgreifenden Macht innerhalb Europas, andererseits aber auch auf
die der Grenzziehung inhärenten Ambivalenzen selbst verweisen. So stand die
Art der hier behandelten Kartographie für einen neuen, räumlich-visuellen und
female influence in politics. As Marina Warner has argued for the nineteenth century, the representation of liberty as female worked on a paradoxical premise: women, who did not have the
vote and would be ridiculed if they wore the cap of liberty in real life, were chosen to express
the ideal of freedom because of their very distance from political liberty. Liberty was figured as
female because women were not imagined as political actors.« (hier S. 82 f.); Joan B. Landes,
Women in the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca 1988, bes. S. 139 ff.
86 Vgl. Anm. 32.
87 Gayle Rubin, »Der Frauentausch. Zur ›politischen Ökonomie‹ von Geschlecht«, in: Gabriele
Dietze u. Sabine Hark (Hgg.), Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie,
Königstein im Taunus 2006 [1975], S. 69-122.
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Anthropomorphe Europakarten
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wissenschaftlichen Zugang zur Welt, der den Landeskörper als einen der Vermessung zu Unterwerfenden, zu Erforschenden bzw. als gestalteten (Paradies-)
Garten präsentierte. In ihrer Identifikation mit dem Landeskörper ließ sich die
Europa-Imago als eine Metapher für Naturhaftigkeit lesen, welche mithilfe des
wissenschaftlichen Blicks und der Beobachtung erforscht und entschlüsselt, aber
auch beherrscht werden sollte.88
Andererseits bildete sich die anthropomorphe Europakarte in Resonanz auf
die Unterwerfung außereuropäischer Länder heraus. Der Kollektivkörper des
neu ›entdeckten‹ Kontinents wurde ebenfalls als weiblich allegorisiert; diesmal
jedoch weniger, um starke Außengrenzen zu repräsentieren, als vielmehr um
die Durchbrechung fremder Landes- und Körpergrenzen zu befeuern und
zu legitimieren. Kam doch der Figur des zu erobernden weiblichen Anderen
im Kolonisierungsprozess eine wichtige naturalisierende Funktion zu, welche
allerdings mit dem Selbstbeherrschungsdiskurs in Konflikt geriet. Schließlich
verwies die Ambivalenz der anthropomorphen Karte in weiblicher Form zugleich
auf die als männlich wahrgenommene Lust der Erkundung und Eroberung in
wissenschaftlichem, geschlechtlichem und kolonialem Kontext, wie auch auf
die notwendige Bezwingung und gezielte Kontrolle dieser Lust, welche seine
Herrschaft über andere legitimierte.
Als Symbol europäisch-zivilisatorisch aufgeklärter, »heller« Herrschaft und
jungfräulicher (Selbst-)Beherrschtheit markierte die Europafigur der anthropomorphen Europakarten die Grenze zum »dunklen Wilden«, und doch stand sie
gleichzeitig als geformter Landschaftskörper und weiblich identifizierte Andere
des Mannes für den Vorgang ihrer eigenen Unterwerfung. Das Motiv der Jungfrau
vermittelte zwischen beiden Polen. Damit besetzte die kartographische EuropaImago eine Position der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen: Sie
war einerseits mächtige Regentin und herausragender abgegrenzter Landeskörper
Europas, zugleich jedoch eine dem Souverän unterstellte Gattin, ein von männlicher Hand gestalteter Paradiesgarten, wie auch als heimische Jungfrau ein zu
schützender und als jungfräulich-koloniales Land ein zu erobernder (Kollektiv-)
Körper. Ihre Erfindung wies nicht zuletzt auf den homosozialen Brüderbund
voraus, der sich ab der Französischen Revolution unter dem Mantel der weiblichen Allegorie zusammenfand und sich über den gemeinsamen Verzicht auf ›die
Frau‹ kulminierend im Motiv der Selbstbeherrschung und über den Ausschluss
realer Frauen von politischer Partizipation konsolidierte.
88 Territoriale Metaphern und topographische Ausdrücke, die Rede von Feldern, Regionen, Bereichen, Gebieten, Dominien usw., suggerieren auch in der Philosophie zugleich mit deren
Abgrenzbarkeit ihre Beherrschbarkeit. Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkonzeption und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1995, S. 942.
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Claudia Bruns
All diese Dimensionen scheinen in der anthropomorphen Repräsentation
der Europakarte gleichermaßen auf und konnten je nach Situation aktualisiert
werden. Die Ambivalenz zwischen mariengleicher Herrscherin und gewaltsam
geraubter, sexuell eroberter Frau, zwischen Heiliger/ Maria/ Regentin und Hure/
Eva/ Wilde ist so in die kartographische und visuell-räumliche Wissensordnung
der Zeit eingelassen. Ihre Uneindeutigkeit machte sie an der Schwelle zur Neuzeit
zu einer modernen Figuration von Repräsentation und zur paradigmatischen
Figur der Grenze.
Mit der weiblichen Repräsentation Europas in der Europakarte lässt sich daran
erinnern, dass sich Prozesse der gewaltsamen Aneignung des kolonialen Anderen
selbst in der zentralsten und mächtigsten Referenzfigur europäischer Identität
spiegeln und sich so auch in ihr die Ambivalenz eines Selbstentwurfs zeigt, der
seine fundamentale Angewiesenheit auf Andere weder leugnen, noch abstreifen
kann. In den Worten Butlers geht es somit darum, »die Formen aufzufinden, in
denen die Identifizierung in das verwickelt ist, was sie ausschließt, und darum,
den Linien dieser Verwicklung zu folgen um der Landkarte eines zukünftigen
Gemeinwesens wegen, die sich dabei abzeichnen könnte«.89
89 Judith Butler, »Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt a. M. 1994,
S. 101-138, hier S. 136.
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Anthropomorphe Europakarten
43
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Johannes Putsch, Europa prima pars terrae in forma virginis [1537],
erschienen in: Heinrich Bünting, Itinerarium sacrae scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift, 1592 [erstmals Helmstadt 1582]
Abb. 2: Opicinus de Canistris, Figürliche Zeichnung des Mittelmeerraums [Afrika
als Mann, Europa als Frau], 1337, Cod. Vat. Lat. 6435
Abb. 3: Matthias Quad, Europae Descriptio, Köln 1587, Kupferstich, Regensburg,
Staatl. Bibliothek, 20 Hist. Pol. 620
Abb. 4: Sebastian Münster, Europa als Königin, in: ders., Cosmographia universalis, Basel 1588 (1. Aufl. 1544/45)
Abb. 5: Heinrich Bünting, Europa prima pars terrae informa virginis, in: ders.,
Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige
Schrift, Magdeburg 1589 [erstmals Helmstadt 1582], Holzschnitt, 27,5 x 36,
Österreichische Nationalbibliothek Wien
Abb. 6: Marcus Gheeraerts d. J., Elisabeth I. („Ditchley“ Portrait), ca. 1592, Öl
auf Leinw., 241,3 x 152,4 cm, London, National Portrait Gallery, Inv.-Nr. 2561
Abb. 7: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, in: ders., Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt (auch: Emotivität des
Weibes), 1538, Holzschnitt, 7,6 x 21,5 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett
Abb. 8: Jan van der Straet, America, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um
1590, Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
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Silke Förschler
Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
Jan van Kessels Erdteilallegorien (1664 – 1666)
Als Gesamteindruck verwirrt die Bildordnung der vier Erdteilallegorien des
Antwerpener Hofmalers Jan van Kessel.1 Jeweils ein großes Öl-auf-KupferGemälde ist von sechzehn kleineren umrahmt, jedes der Gemälde ist wiederum
mit einem schwarzen Ebenholzrahmen versehen und mit einem Städtenamen in
Goldbuchstaben beschriftet. Nähert man sich den Motiven wird die Einordnung
dessen, was hier zu einem Bildgefüge geformt ist, allerdings nicht einfacher. Die
Ebenen, die in die Bildfindung Eingang gefunden haben, lassen sich nicht mit
einem Blick auseinander halten und für eine schlüssige Interpretation wieder
zusammenfügen. So stehen weibliche und männliche Figuren auf den Hauptgemälden inmitten von Gegenständen und Naturalia; auf den jeweils um das
zentrale Bild herum arrangierten kleineren Gemälden sind Stadtansichten und
Tierdarstellungen zu sehen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese
Bilderanordnung zu deuten. Der Fokus ist dabei auf Erscheinungen von »Natur«
gerichtet. Mit seinen Rahmungen als ästhetischem Präsentationsverfahren bildet
van Kessel eine Sehschule für den Umgang mit lokalen und exotischen Naturalia.
Mit Hilfe der verschiedenen Rahmungen differenziert der Künstler in gleichem
Maße unterschiedliche Orte von »Natur«, wie er sie auch räumlich vereinheitlicht.
Die Allianzen mit weiblichen Erdteilallegorien sowie mit deren Attributen, die
eindeutig der Sphäre des Kulturellen zugehörig sind, stabilisieren diese visuellen
Praktiken der Naturaneignung. Die mit diesen Praktiken verbundenen Ökonomien des Sammelns werden im Kolonialismus der Folgezeit wesentlich.2 Mit den
Allegorien in den zentralen Gemälden, mit ihren geschlechtlichen Markierungen
und ihren Verweisen auf ethnische Identität erlangen die Darstellungen von
Natur auf den Bildern Kessels körperliches Gewicht.
1 Meine erste Begegnung mit den Gemälden Jan van Kessels verdanke ich Dorothea CoŞkun,
die 2004 unter dem Titel ›Theatrum Mundi‹. Die Kunst- und Wunderkammer als Bühne der Kolonialkultur am Beispiel Jan van Kessels Erdteilallegorien im Doktorandinnen-Kolloquium von
Viktoria Schmidt-Linsenhoff an der Universität Trier ihre Analysen zu den Erdteilallegorien
präsentierte.
2 Vgl. hierzu Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007; Bettina Dietz, »Mobile Objects: The Space of Shells
in Eighteenth-Century France«, in: The British Journal for the History of Science 39.3 (2006), S.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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Jan van der Straets Bildprägung
Die Repräsentation anderer Kontinente hat in dem um 1590 entstehenden Kupferstich des Seefahrers Amerigo Vespucci von Jan van der Straet einen wichtigen
Vorläufer (Abb. 1). Auf ihm ist zu sehen, wie Vespucci mit den Insignien der
westlichen Zivilisation gewappnet unbekanntes Land betritt. Sein Schiff mit
vom Wind geblähten Segeln unmittelbar im Rücken, trifft er nach nur wenigen
Schritten auf der terra incognita eine lediglich mit einer Schnur um die Hüfte,
Wadenschmuck und einer Federhaube bekleidete Frau in einer akkurat geknüpften Hängematte. Der Entdecker trägt einen Gelehrtenmantel über Harnisch
und Schwert, in der linken Hand hält er ein Astrolabium, das ihn leitet, in der
rechten einen christlichen Kreuzstab mit aufgeblasener Standarte der katholischen
Majestäten von Spanien. Mit einer ähnlichen Geste wie Eva, die im Paradies auf
Geheiß der Schlange nach dem Apfel greift, ist die rechte Hand des weiblichen
Aktes mit einer offenen Handhaltung Vespucci zugewandt. Die exotische Fauna und Flora, wie beispielsweise ein Ameisenbär mit Klauen im Vordergrund,
Koniferen mit thujaähnlichen Zweigen, eine Pflanze, deren Zapfen an die einer
Araucaria erinnern, sowie die Legende »America« weisen den weiblichen Akt
indessen als Erdteil-Allegorie aus. Im Hintergrund der ungleichen Begegnung
zwischen dem Ankömmling und der Einheimischen werden die Risiken und
möglichen zukünftigen Geschehnisse der Neuen Welt sichtbar: eine kannibalische Mahlzeit verweist auf die gefahrenvolle Seite des schönen, sich erst einmal
einladend gebenden, weiblich imaginierten Erdteils.3
Als Blatt 1 der druckgraphischen Folge von Jan van der Straet mit dem Titel
Nova Reperta, die im Antwerpener Verlagshaus von Theodor und Philipp Galle
erscheint, eröffnet der Kupferstich America eine Serie mit den technischen Errun-
363-382; Anke te Heesen: »From Natural History Investment to State Service: Collectors and
Collections of the Berlin Society of Friends of Nature Research, c. 1800«, in: History of Science
42 (2004), S. 113-131; Staffan Müller-Wille, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung
eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné, Berlin 1999; Londa Schiebinger u.
Claudia Swan (Hgg.), Colonial Botany: Science, Commerce and Politics in Early Modern World,
Philadelphia 2005.
3 Stuart Hall hat darauf hingewiesen, dass gerade in den Berichten Vespuccis ausführlich auf
die sexuelle Dimension der Entdeckung, Eroberung und der Beherrschung eingegangen wird.
So hebt Vespucci die Naturnähe und die Schamlosigkeit der Einheimischen ebenso hervor
wie die Schönheit und die Attraktivität der Frauen, die selbst nach der Schwangerschaft noch
bestehen blieben. Vgl. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht« (1992), in:
ders., Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 137-179, hier
S. 161.
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Silke Förschler
Abb. 1: Jan van der Straet, America, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um 1590,
Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
genschaften der Neuzeit.4 Weitere neue Entdeckungen wie der Magneteisenstein,
das Schießpulver, der Buchdruck, die Brille sowie die Ölfarbe und die Handhabung von Seidenraupen sind auf den folgenden Blättern zu sehen. Dargestellt
sind die Innovationen in szenischen Anordnungen, meist in Interieurs wie Werkstätten, Ateliers und Studierzimmern. Der prominent platzierte America-Stich
führt vor Augen, welchen Stellenwert dem ›Entdecker und Benenner‹ (retector et
denominator) Vespucci zukam. Diese exponierte Positionierung des Blattes und
der Vergleich mit den alltagsnahen Innenansichten eines europäischen Lebens
stellt die Bedeutung des weiblichen Aktes in seiner Stellvertreterfunktion für einen ganzen Kontinent in ein noch grelleres Licht. Den zur Allegorie geronnenen
nackten weiblichen Körper gilt es wie den unbekannten Erdteil zu erforschen.
Gleichzeitig zeigt der Stich auch die Wirkmächtigkeit des Bildmusters Akt für die
4 Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, »Jean de Léry hält sich die Augen zu, und Amerigo Vespucci
erfindet America«, in: dies., Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21.
Jahrhundert, Band 1, Marburg 2010. S. 28-46.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
47
allegorische Darstellung von Erdteilen. Hierarchien herzustellen und einzuziehen
sowie eine vermeintlich klare Trennung herbeizuführen gelingt um 1600 über die
Relation von Bekleidung und Nacktheit, von Weiblichkeit und Männlichkeit
sowie über die Konfrontation von Natur und Kultur. Der weibliche Körper avanciert zu einer Möglichkeit historische Ereignisse zu allegorisieren und sie als Teil
einer abendländischen Teleologie zu interpretieren. Maike Christadler hat herausgearbeitet, auf welche Arten und Weisen der Stich van der Straets in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ikonischen Interpretations-Paradigma der
Postcolonial Studies stilisiert wurde. Das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft, denn
es wird deutlich, dass der Stich zwar häufig verwendet wird, das Verständnis für
die spezifische Bildlichkeit jedoch nicht sehr umfassend ist.5 Hildegard Frübis
stellt den Stich in einen größeren Zusammenhang von Umbruchssituationen in
der Frühen Neuzeit. Der Akt, die Natur und der unbekannte Kontinent stellen
gleichermaßen das Erobern, das Entdecken und die Inbesitznahme als zentrale
Praktiken im kolonialen Diskurs aus.6
Einen weiteren Aspekt eröffnet Viktoria Schmidt-Linsenhoff für die Interpretation des Stiches. Für sie besteht der wesentliche Punkt der America-Bildprägung
in der Sichtbarmachung des männlichen Entdeckerblicks. Im Unterschied zu
den meisten Erdteilallegorien ist die männliche Besetzung der Blickposition Teil
des Bildes und kann derart selbst betrachtet werden.7 Unter Verzicht auf das
»europäische Privileg Blick« entstehe interkulturelle Kommunikation. SchmidtLinsenhoff macht dies an einem Holzschnitt deutlich, der im Reisebericht Histoire
d’un voyage fait en la terre de Brésil von Jean de Léry aus dem Jahre 1578 zu finden
ist. Er zeigt den französischen Kolonisator in der indigenen Hängematte. Wie
die vor ihm hockende Tupinamba-Frau hält er sich die Hand vor die Augen.
Auch wenn im Hintergrund ein als Akt stilisierter Tupinamba-Krieger seinen
Pfeil schärft, wirkt die Geste des gemeinsamen Augenzuhaltens als Begegnung
auf Augenhöhe.8 Der Holzschnitt lässt sich im Sinne Mary Louise Pratts als
Darstellung einer »Contact Zone« verstehen. Als sozialer Raum an dem zwar
Kulturen aufeinandertreffen, an dem es zu wechselseitigen Aneignungs- und
Transferprozessen kommt, der jedoch durchzogen ist von Machtasymmetrien,
wie beispielsweise Sklaverei und Kolonialismus.9 Die geschlossenen Augen lassen
5 Maike Christadler, »Giovanni Stradanos America-Allegorie als Ikone der Postcolonial Studies«,
in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Postkolonialismus. Jahrbuch der Guernica Gesellschaft,
Bd. 4, Osnabrück 2002, S. 17-33.
6 Hildegard Frübis, Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995.
7 Schmidt-Linsenhoff (wie Anm. 4), S. 32.
8 Vgl. ebd., S. 28-29.
9 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes, Travel Writing and Transculturation, London 1992, S. 6 f.
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Silke Förschler
sich so eher als eine nachahmende Kontaktaufnahme lesen, als kleine Irritation
eingeübter europäischer Sehgewohnheiten. Eine Aufweichung hierarchischer
Blickprivilegien und eine Schwächung bestehender Machtpositionen gehen
damit nicht einher.
Weltaneignungen
Für meine Überlegungen zu den rund hundert Jahre später entstehenden Erdteilallegorien Jan van Kessels sind die auf dem Stich van der Straets eingeführten Beziehungen von geschlechtlich markierten Körpern, von männlicher und
weiblicher Positionierung, von Verhaltensweisen sowie von Dingen der Natur
und Dingen der Kultur in gleichem Maße grundlegend. Jedoch verlaufen die
Aneignungen auf den Gemälden van Kessels anders. Dinge der Natur, also Tiere
und Pflanzen, werden nun explizit unter Aspekten der Wissens- und Erkenntnisvermittlung angeordnet. Sie sind damit als Teil der Welterfassung ausgestellt. Die
Relation aus Rahmungen und Bildsetzungen ist als dominierendes Verfahren der
Motivordnung eine wirkmächtige Form, die jedoch insofern zu Dissonanzen mit
dem Inhalt führt, als dass sie irritierend widerstreitende Repräsentationsformen
der Kunst und der Naturgeschichte gleichberechtigt ins Bild setzt. Es handelt
sich bei den Erdteilallegorien van Kessels um einen seltenen Moment einer
Gleichzeitigkeit verschiedener Idealvorstellungen von Naturrepräsentation. Im
Sinne Michel Foucaults können sowohl Elemente einer sinnlichen Fülle in der
Ästhetik der Natur als auch das Bemühen ausgemacht werden, den Gegenstand
von seiner eigenen Ästhetik zu befreien.10 Mit der semantischen Fülle von Geschlechterallegorie, Stillleben, Stadtansichten, Kunst- und Naturalienkammer
sowie naturhistorischen Darstellungsweisen in van Kessels Erdteilallegorien
geschieht die Skalierung11 einer kolonialen Welt auf eine in der Malerei so umfassende Art und Weise wie nur möglich. Die gewählte Kombination von nicht
kohärenten Darstellungsmodi in einem zusammenhängenden Gefüge lässt sich
10 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt am Main 1971, S. 176-179.
11 Der Begriff der Skalierung bietet den Vorteil, anhand von Größenverhältnissen die soziale
und kulturelle Gemachtheit von Ordnungen einzelner Orte und Differenzen verschiedener
Orte in der Frühen Neuzeit zum Ausdruck bringen zu können. Skalierungen im Bild nachzugehen bedeutet nicht lediglich Perspektiven von Räumlichkeit im Bild auszumachen oder die
angeordneten Allegorien und Naturalia nach ihrer Position im Bild zu bewerten. Vielmehr
geht es darum, Effekte von Natur-Skalierungen im Bild zu beschreiben und interne Differenzen von Naturvorstellungen auszumachen. Wesentlich sind dabei auch die Grenzziehungen
zu anderen bildlichen Skalierungen sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das
Naturverständnis aus der eingezogenen Größenordnung. Vgl. hierzu Neil Smith, »Contours
of a Spatialized Politics«, in: Social Text 33 (1992), S. 54-81, hier S. 66.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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nicht in das dominante Narrativ zur Allegorie einordnen, das besagt, dass die
Körperlichkeit der Allegorie jede noch so große Kluft zwischen Form und Inhalt
überbrücken kann.12 Trotzdem bringen die Körper der dargestellten Figuren eine
unmittelbare Präsenz in die diffuse Raumordnung und markieren Differenzen
in den kollektiven Vorstellungswelten.
Europa und America auf Cesare Ripas Sinnbildern
Die Erdteil-Gemälde entstehen zwischen 1664 und 1666 und befinden sich
heute in der Alten Pinakothek in München, sie umfassen insgesamt 68 Einzelkompositionen, gruppiert um die Hauptgemälde Europa, Asien, Afrika und
Amerika (Abb. 2 und 3).13 Im Zentrum dieser Gemälde stehen Allegorien, deren
Bedeutungsapparat in einer Mischform von Innen- und Außenraum-Ansichten
dargeboten wird.14 Die Mitteltafel, die jeweils auf dem Rahmen den Namen
der wichtigsten Stadt des Kontinents trägt, ist umgeben von 16 kleinen Tafeln
mit Silhouetten bedeutender Städte, die wiederum auf den einzelnen Rahmen
benannt sind. Im Vordergrund befinden sich landestypische Tiere15 – Vierbeiner,
12 Vgl. Cornelia Logemann, Miriam Oesterreich u. Julia Rüthemann (Hgg.), Körper-Ästhetiken.
Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip, Bielefeld 2013; Manuel de Vega (Hg.), Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition, Oxford 2008; Insa Härtel u. Sigrid
Schade (Hg.), Körper und Repräsentation, Opladen 2002; Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln, Weimar, Wien 1996; Sigrid Schade, Monika
Wagner u. Sigrid Weigel (Hgg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln 1994.
13 Klaus Ertz u. Christa Nitze-Ertz, Jan van Kessel. Kritische Kataloge der Gemälde (Flämische
Maler im Umkreis der Großen Meiser, Bd. 8), Lingen 2012, S. 162 f. argumentieren, dass
die vier Bilder nicht nacheinander, so ist die Europa auf 1664 datiert und die Amerika auf
1666, sondern zeitgleich entstanden sind, denn einige Rückseiten tragen flüchtige Pinselzeichnungen von Tieren, die sich auch auf den Schauseiten befinden, jedoch nicht für die
entsprechende Vorderseite, sondern für andere Täfelchen, häufig auch für solche der anderen
Kontinente. Einige Städte sind falschen Kontinenten zugeordnet (zu Asien: Athen, Angola,
Kap der Guten Hoffnung; zu Afrika: Kap St. Augustin in Brasilien). Die Bilder befinden
sich noch in ihren originalen schwarzen Ebenholzrahmen, eine spätere Vergoldung wurde
1966 entfernt. Jede Kupfertafel ist für sich gerahmt und trägt vorn auf der oberen Leiste den
jeweiligen Städtenamen in, wie es scheint, gleicher Handschrift wie die Beschriftung auf der
Rückseite. Zu den Funktionen und Formen der Verso Tierzeichnungen vgl. Nadia Baadj,
»Sketches of Simians and Savages on the Versos of Jan van Kessel’s Copper Plates«, in: Boletin
del Museo del Prado, XXX, 48 (2012), S. 72-83.
14 Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 40.
15 Als formalen Vorläufer lässt sich Joris Hoefnagels Cadiz-Ansicht von 1575/82 nennen. Auch
hier liegen im Vordergrund Muscheln. Weitere Vorläufers sind die Ende des 16. Jahrhunderts
entstandenen und auch im 17. Jahrhundert verbreiteten Kupferstiche von Adriaen Collaert,
die ebenfalls Erdteilallegorien in Verbindung mit Tieren vor einem Landschaftsgrund zeigen,
von denen Van Kessel einige kopiert hat. Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz, ebd.
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Silke Förschler
Abb. 2 und 2a (unten): Jan van Kessel, Vier Erdteile, Europa, 1664 – 1666, Öl auf
Kupfer, Mitteltafel 48,5 x 67,5 cm, Außentafeln jeweils ca. 14,5 x 21 cm, München,
Alte Pinakothek; unten: Ausschnitt
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
Abb. 3 und 3a (unten): Jan van Kessel, Vier Erdteile, America, 1664 – 1666, Öl auf
Kupfer, Mitteltafel 48,5 x 67,5 cm, Außentafeln jeweils ca. 14,5 x 21 cm, München,
Alte Pinakothek; unten: Ausschnitt
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Silke Förschler
Vögel, Fische. Die vier bis dahin bekannten Erdteile gehören zu den beliebtesten Motiven für Bilderzyklen im 16. und 17. Jahrhundert und waren häufig
Bestandteil dekorativer Raumprogramme. In der niederländischen Kunst des 16.
Jahrhunderts waren sie als graphische Folgen verbreitet. Europa leitet stets den
Zyklus ein und wird – meist mit Krone, Globus oder Reichsapfel ausgestattet
– als der wichtigste Kontinent hervorgehoben.
Ripa publiziert um 1600 seine Iconologia, ab der dritten Auflage 1603 mit illustrierenden Holzschnitten. Es handelt sich dabei um ein alphabetisch geordnetes
Kompendium abendländischer Bildlektionen mit Personifikationen sowie mit
strikten Gestaltungsanweisungen für die Umsetzungen von abstrakten Begriffen.16
Der Aufbau der Darstellungen erfolgt nach einem Muster, eine menschliche Figur
wird im Zentrum dargestellt: unbekleidet oder bekleidet, mit Gegenständen,
Pflanzen oder Tieren, eher passiv oder recht aktiv. Die Iconologia enthält nach
Ripa Sinnbilder für Dinge, die man nicht sehen, sondern nur wissen kann.17 Die
Begriffsbilder beschäftigen sich gleichermaßen mit Handlungen, Gewohnheiten
und Eigenschaften sowie Wertvorstellungen. Aus der Verbindung von menschlichen Figuren, ihren Ausdrucksmöglichkeiten und Gegenständen, die äquivalent
zu den Begriffsdefinitionen sind und so zu Attributen werden können, entsteht
ein Sinnbild. Die Disposition der Figur setzt die Komposition einer Haltung,
einzelner Gesten und der Kleidung voraus, außerdem sollen Farbe, Fülle und
Alter auf den darzustellenden Begriff abgestimmt werden.18 Ripas Ziel besteht
darin, die Betrachtenden des Bildes zum Nachdenken darüber zu bringen, warum der Begriff gerade auf diese Weise dargestellt wurde.19 Bei den geografischen
Stichwörtern werden die vier Erdteile und die Provinzen Italiens illustriert, sie
bilden eine einheitliche Gruppe, Europa unterscheidet sich allerdings deutlich
von den anderen. Sie ist als Herrscherin im Königsgewand und mit Krone zu
sehen, der Tempietto auf ihrer rechten Handfläche steht für die Religion. Einheitlich werden die übrigen Erdteile durch einen charakteristischen Bewohner und
ein bezeichnendes Tier dargestellt (Abb. 4 und 5). Die wenig bekleidete America
trägt einen Federschmuck auf dem Kopf und hat Pfeil und Bogen in der Hand,
16 Vgl. Miriam Oesterreich u. Julia Rüthemann, »Einleitung«, in: Logeman u. a. (wie Anm. 12),
S. 35.
17 »Una diuersa cosa da qualla, che si vede con l’occhio.« Erste Seite des Vorworts der »Iconologia«, n. p.
18 Ebd., dritte und vierte Seite.
19 »E mi par cosa da osseruarsi il sottoscrivere i nomi ... perche senza l cognitione del nome non
si può penetrare alla cognitione della cosa significata, se non sono Imagini triuiali ...« Ebd.,
achte Seite. Vgl. hierzu Gerlind Werner, Ripa’s Iconologia. Quellen – Methode – Ziele, Utrecht
1977, S. 7-15
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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Abb. 4: Cesare Ripa, Europa, Iconologia, Ausgabe Padua 1618
zwischen ihren Füßen liegt ein von einem Pfeil durchbohrter Menschenkopf,
hinter ihr ist ein Ligur platziert.20
20 Die Holzschnitte der anderen Allegorien zeigen folgende Zuordnungen: Asia trägt ein juwelengeschmücktes Kleid mit einem Kamel, Africa als kaum bekleidete, dunkelhäutige Figur
mit Korallenschmuck, wird von einem Löwen, einer Schlange, einem Skorpion begleitet und
trägt einen Elefantenkopf auf dem Haupt. Nur Africa wird visuell die Ehre zuteil, mit antiken
Attributen ausgestattet zu sein, das Füllhorn mit Getreide ist schon auf antiken Medaillen zu
sehen.
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Silke Förschler
Abb. 5: Cesare Ripa, America, Iconologia, Ausgabe Padua 1618
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
55
Topologien der Erdteilallegorien
Anordnungen der männlichen und weiblichen Figurationen, der Dinge und
der Tiere im Bild(raum) können als Ausdruck einer topologischen Relation21
verstanden werden, die Aussagen über die Topografie von Erdteilen im 17. Jahrhundert formulieren. Wie in der Iconologia von Ripa angelegt, zeichnen sich die
weiblichen Personifikationen der Erdteile van Kessels dadurch aus, dass sie Abstraktes anhand ihrer körperlichen Präsenz erfahrbar machen. Miriam Österreich
und Julia Rüthmann bezeichnen in ihrer Einleitung des Bandes Körperästhetiken
allegorische Körper als signifikante Zeichen, die über kodifizierte Verweissysteme
an bestimmte Bedeutungen gebunden sind, gerade ohne dass Bildform und Inhalt
über äußere Ähnlichkeit korrespondieren müssen. Das Allegorische soll in der
Lage sein, über die reine Zeichenebene Semantiken miteinander so zu verbinden,
dass die Verbindung selbst unsichtbar wird. Wie Silke Wenk dargelegt hat, wird
mit dem Bild nicht nur auf ein Abstraktum, sondern mit dem weiblichen Köper
auch stets auf das Signifikat Weiblichkeit selbst verwiesen und lässt so nicht nur
Rückschlüsse auf die gesellschaftlich anerkannte Konzeption von Weiblichkeit
zu, sondern formt diese auch immer wieder mit.22
Van Kessels Erdteilkammern
Van Kessel stellt auf den Mitteltafeln eine weibliche Personifikation jeweils mit
männlichem Begleiter dar. Ihre Attribute entsprechen weitgehend den graphischen Vorbildern sowie auch den Beschreibungen Ripas. Jedoch erweitert Kessel
die von Ripa eingeführte Konzeption der Personifikation durch die unterschied-
21 Der Begriff der Topologie wird geleitet von den Ansätzen der topografischen und topologischen Beschreibung, die Sigrid Weigel und Stephan Günzel in die Debatte um den Spatial
Turn eingebracht haben. Mit der Betonung des »Grafischen« in der Topografie stellt Weigel
die Lesbarkeit kultureller Zeichen für die Konstruktion von Raum sowie Zuschreibungsprozesse an Raumkonstellationen in den Fokus. Günzel ergänzt die topografischen Fragestellungen um topologische Aspekte. Für den Autor zeichnen sich diese dadurch aus, dass eine
topologische Beschreibung Verhältnisse fasst, die auch unter veränderten Bedingungen gleich
bleiben. Im Vordergrund stehen bei Günzel die Relationen von Körpern und Objekten zum
Raum und die Frage nach der Art dieser Beziehung. Sigrid Weigel, »Zum ›topographical
turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetic. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), Heft 2, S. 151-165;
Stephan Günzel, »Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döring u. Tristan Thielmann (Hgg.), Spatial
Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 219-237.
22 Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln 1996, S. 6-7.
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Silke Förschler
lichen Raumordnungen im Bild und die verschiedenen Darstellungsweisen der
Dinge. Die umgebenden phantastischen Räume sind nach Art einer Kunst- und
Wunderkammer mit kostbarem Kunsthandwerk, mit wissenschaftlichen Geräten
und exotischen Naturalien gefüllt; zudem gibt es Landschaften und Stadtansichten.23 Ebenso vielfältig sind die Darstellungsweisen von Bildern unterschiedlicher
Genres, von Materialien, von Architektur, Skulptur, Zeichnung und Malerei.
Doch welche Register werden im Detail in den Erdteilallegorien Europa und
America aufgerufen? Welche Dinge werden gezeigt und wie lässt sich die Relation
zwischen Rahmungen, Gender und Naturalia beschreiben?
Europa
Der Rahmen der Mitteltafel Europa trägt die Inschrift »ROMA«, womit die
Allegorie in der Hauptstadt der Christenheit verortet ist. Zudem fällt der Blick
durch den Bogen links auf die Engelsburg, das Mausoleum des römischen Kaisers
Hadrian und Schutzburg der Päpste; davor ist die Statue des Herkules Farnese
als weiterer Hinweis auf die römische Antike zu erkennen.24 Der Verkörperung
des Erdteils Europa, einer gekrönten Frauengestalt in einem Brokatkleid und
hermelingeschmückter Bluse, wird von einem Putto ein Füllhorn gereicht.25 In
unmittelbarer Nähe zu ihr sind Insignien päpstlicher Macht auf einem Tisch
ausgebreitet, die Tiara, die Schlüssel Petri und eine Bulle Papst Alexanders VII.
Am Tisch lehnen Degen, Papstkreuz und eine Hellebarde. Macht und Herrschaft
der Europa sind über Dinge zum Ausdruck gebracht, deren Gebrauchszusammenhang eindeutig männlich codiert ist. Teil dieses Bedeutungsgefüges ist
auch das Porträt von Alexander VII. Neben dem christlich religiösen Kontext
wird über die Darstellung von Dingen auch die Verbindung zu den Künsten
und einem alltäglichen Lebenszusammenhang eröffnet: Im Vordergrund liegen
Palette, Malstock und Flöte aufgereiht inmitten von Gegenständen des erlese23 Als Vorläufer im Œuvre van Kassels sind die 40 Städtelandschaften von 1643 – 1644 zu nennen. Sie befinden sich heute im Museo del Prado, Madrid. Sie sind jeweils einzeln gerahmt,
ergeben aber gemeinsam ebenfalls ein Gesamtbild. Außerdem folgen die sich heute in Washington in der Sammlung Paul Mellon befindlichen Insekten und Kriechtiere aus dem Jahre
1658 der Gruppierung von 16 kleineren Bildern um ein Mittelbild.
24 München, Alte Pinakothek, Europa 1664, Mitteltafel Öl auf Kupfer 48,4 x 67,1 cm, signiert
auf dem Bild im Bild unten halbrechts in Form von Raupen: jan van kesse FECIT 1664.
Sechszehn Öl auf Kupfer-Tafeln mit Stadtansichten, die ca. 14,5 x 21 cm groß sind um die
Mitteltafel gruppiert. Alle Darstellungen sind oben auf dem Rahmen benannt, die 16 Stadtansichten tragen unten auf den Rahmen zusätzliche Nummern von 1-16.
25 Ich beziehe mich hier auf die detaillierte Auflistung von Ertz u. Nietze-Ertz (wie Anm. 13),
S. 163 f. aller gezeigten Gegenstände und Bildelemente.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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nen Zeitvertreibs: Trinkgefäße, Spielbrett, Würfel, Ballspiel, Flöte. Daneben
liegen eine Geldbörse mit verstreuten Münzen und eine Kostenaufstellung in
einer Schatulle. Zu dieser Dingwelt gehört auch die Sanduhr auf dem Tisch,
auf der eine Muschel mit Seifenblasen liegt. In der rechten Ecke sind Waffen,
Rüstungen, Trommeln und eine Fahne zu sehen. Als Verweise auf Militär und
Kriegsführung sind auch sie einem rein männlich codierten Handlungszusammenhang zuzurechnen.
In den Wandnischen des Raumes stehen Skulpturen gekrönter Frauen mit
Zepter und Schilden. Diese Personifikationen europäischer Königreiche26 sind
anders als die Europa in Stein geschlagen und so im Bild als Teil der Architektur
kenntlich gemacht, die den Bildraum fasst, und nicht als lebendig und handelnd
imaginiert. Wesentlich für die Konstruktion des Kontinents Europa als kulturell
einheitlichem Ort sind jedoch nicht nur die Dinge, die sich zweifelsfrei und
unmittelbar kulturellen Gebrauchszusammenhängen zuordnen lassen, sondern
auch die Dinge der Natur, deren Ästhetik auf unterschiedliche Weisen durchgespielt wird. So befindet sich im Zentrum des Gemäldes eine männliche Figur,
die Europa ein Bild mit Insekten und Schmetterlingen präsentiert, ein weiteres
mit Schmetterlingen steht auf dem Boden, daneben ein Blumenstrauß. Halb
verborgen unter einem schützenden Vorhang steht links im Vordergrund ein
Gemälde mit Insekten und drei Alraunwurzeln.27 An den Wänden über dem
Gesims sind vier Bilder mit Wassertieren angebracht. Auf dem Himmelsglobus
sind vor allem exotische Tiere zu erkennen, davor lehnt ein Buch mit Insekten
und Schmetterlingen, das mit »Pelegrins sont qui dans ces villes pour leur
bourdon chercent coquilles« betitelt ist. Der Oberschnitt des prominent im
Vordergrund stehenden Buches macht den Autorennamen Plinius lesbar, ein
Verweis auf dessen Historia Naturalis (entstanden 77 n. Chr.). Plinius bietet dort
eine Übersicht über den Wissensstand seiner Zeit in sämtlichen Bereichen der
Naturwissenschaft, aber auch der bildenden Kunst. Die Ordnung der Historia
naturalis spielt in der Naturgeschichte und Naturphilosophie bis ins späte 18.
Jahrhundert eine wesentliche Rolle und ihr universaler Erklärungsanspruch ist
als Dispositiv der Europa-Allegorie zu verstehen.
26 Die zweite Skulptur von rechts verweist mit dem Lilienschild auf Frankreich. Die weibliche
Figur links vom Kamin ist mit dem Reichsapfel ausgestattet und vertritt das Heilige Römische Reich. Das Kamingebälk schmückt in der Mitte eine Kartusche mit einer Inschrift (Apell
/ Ellu. Edu.), eine weitere Kartusche befindet sich im Kamin unter zwei schnäbelnden Tauben
(VAN VIER EN VOR. / AL EVEN SCHOU / ANNO / 1665).
27 Mandragora ist ein Alraun in menschenähnlicher Gestalt, dem vielfache Eigenschaften zugewiesen werden und der eigentlich einem längst überwundenen Aberglauben zuzurechnen ist.
Seine Darstellung ist fast unter einem Tuch verborgen, damit ist auf seine Zuordnung zu einer
Welt im Halbdunkeln verwiesen.
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Naturgeschichte giert nach dem Besonderen. Der unbegreiflichen Vielfältigkeit alles Lebendigen auf die Schliche zu kommen, bedeutet den Zweck
der Naturgeschichte zu erkennen. Das hierbei angewandte Vorgehen ist weder
wahllos noch zufällig, ging es doch darum, den göttlichen Plan in der Fülle zu
entdecken.28 Dass dieser gegeben ist und im Einzelnen und Besonderen erkannt
werden kann, ist die Grundannahme der Naturgeschichte. Auch van Kessels
Bildanordnung der Tiere repräsentiert in besonderem Maße die Vielgestaltigkeit
des Lebens. Im Hauptgemälde finden sich detaillierte Studien unterschiedlicher
Schmetterlinge. Sowohl in Rahmen gesetzt, als auch auf einer aufgeschlagenen
Buchseite zur weiteren Betrachtung präsentiert, beweisen die Insekten ein fein
beobachtendes Auge.
Wie van Kessels Gesamtensemble deutlich macht, sind Relationen zwischen
Tieren und Räumen dabei wirkmächtige Kräfte, um Ordnungsmuster im Umgang mit der belebten Natur zu finden, auszubilden und zu etablieren. Lebendigkeit im Bild darstellbar zu machen erfolgt in der Frühen Neuzeit mit dem
Ideal der Mimesis und mit Bezügen zu tierlicher Morphologie.29 Das sich auf
den zur Europa-Allegorie gehörenden Gemälden ergebende Oszillationsspektrum
von tierlicher Ästhetik und bildlichem Eigensinn ist nicht ohne die Skalierungen
sowohl der Bilder untereinander als auch der Bilder im Bild möglich.Wesentlich ist der Gegensatz von lebendigen und toten Tieren. Sind die rahmenden
Ansichten geprägt durch tierliche Bewegungen, wie den Vogelflug, einen sich
aufrichtenden Bären und den stumm an Land liegenden Fischen, finden sich im
Hauptgemälde sowohl flatternde Schmetterlinge als auch konservierte. Letztere
sind mit gespreizten Flügeln auf die Bildflächen gereiht.
Die konstituierende Bedingung für die Etablierung einer Naturvorstellung in
der Frühen Neuzeit ist die Verbindung von Darstellungen einzelner Lebewesen
28 Ludwig Trepl, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M.
1987, S. 45-47 führt die Basisidee der Naturgeschichte aus: Jede Tier- und Pflanzenart hatte
ihre eigene kausale wie finale Selbständigkeit, die lebende Natur unterlag einer Vielzahl von
Sonderbestimmungen. Diese galt es gegenüber der Experimentalphysik zu verteidigen, die
nach allgemeinen Gesetzen strebte und damit nach einer Reduktion von Natur, die gleichermaßen befreiend wie entfremdet war. Im Traditionszusammenhang der Naturgeschichte sieht
Trepl die theoretisch unterfütterten Gebiete der Verhaltensforschung, der Evolutionsbiologie
und der Ökologie.
29 Holger Simon, Die Morphologie des Bildes. Eine kunsthistorische Methode zur Kunstkommunikation, Weimar 2012 entwickelt eine ›Morphologie des Bildes‹, die Perspektive, Rahmung,
Farbgebung und Größe sowie Motive, Symbole und Bildinschriften umschließt. Formen
bilden ikonische Strukturen, die derart Bildprogramme strukturieren. Für den historischen
Verlauf sind zudem Wandlungen von Formen und Medien interessant. Vgl. insbesondere
S. 95 f.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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und Raumordnungen.30 Mit seiner Wahl unterschiedlicher Bildräume macht van
Kessel drei Naturinterpretationen gleichzeitig gegenwärtig. Die Stadtansichten,
die jeweils einem Ort zugeordnet sind und diesem wiederum eine tierlichen
Szene, bilden das Rahmenwerk für die Erdteilallegorie. Sie zeigen ein spezifisches
Tierwissen der Zeit und bezeugen den historischen Zustand der Stadtsilhouetten.
Beispielsweise ist Lissabon durch Kraken mit überdimensional langen Fangarmen
gekennzeichnet, durch Krebse und Fische im Bildvordergrund, deren Körperspannung Vitalität zum Ausdruck bringt, obwohl sich alle Wassertiere auf dem
trockenen Land befinden. Im Mittelgrund wird ein weiteres Merkmal sichtbar:
Der Tajo, auf dem reger Schiffsverkehr herrscht. Damit ist Lissabon als wichtiger
Ausgangspunkt für die Entdeckungsreisen kenntlich gemacht, die ab 1499 zu
den Kolonien Portugals in Asien und Südamerika führten.31
Frans Snyders Hahnenkampf im Vordergrund bestimmt die Ansicht Londons.
Die Perspektive ist von einem imaginären Hochplateau im Süden aus auf die
mächtigste Stadt der damaligen Zeit gerichtet. Hinter den südlichen Vorstädten
bildet die Themse den Bildmittelgrund. Rechts ist der Tower auszumachen, die
Tower Bridge ist bebaut. Westminster Cathedral ist links zu erkennen. Diese
detaillierte Ortsansicht, deren Vorlage nicht bekannt ist, verweist auf van Kessels
Interesse an topografischen Merkmalen. Im Vordergrund der mit zeithistorischen
Charakteristika bestückten Stadtsilhouetten – so ist beispielsweise auf dem Gemälde von Köln der aus einem Ost- und Westteil bestehende Torso des Doms
auszumachen, die Ansicht von Paris zeigt die Doppeltürme von Notre Dame auf
der Île de la Cité – stehen ausnahmslos Tierszenen und Tierpräsentationen. Ihr
Variantenreichtum und ihre Detailkenntnis, seien sie von Vorlagen übernommen
oder aus eigener Anschauung gewonnen, zeigen das Interesse und Bemühen
eine adäquate Form für die belebte Welt in all ihren Erscheinungen zu finden.
Die Hauptbildebene macht sowohl die naturhistorische Praktik der Schmetterlingszeichnung, als auch ihre Ordnung nach morphologischen Kriterien
sowie ihre lebensechte Darstellung auf einem Bild im Bild deutlich. Mit diesen
Verschachtelungen stellt van Kessel das Ineinandergreifen von künstlerischen
30 Naturvorstellungen von Abhängigkeit zu Raumvorstellungen zu verstehen, bedeutet auch,
dass Natur immer nur als verschränkt mit Kultur zu begreifen ist. Fredric Jamesons Verständnis von Kultur als »increasingly dominated by space and spatial logic«, lässt sich auch auf die
generelle Vorstellung von Natur als homogen und einheitlich übertragen. Um frühneuzeitlichen Konzeptionen von Natur auf die Spur zu kommen bieten sich räumliche Ordnungsvorstellungen der scala naturae, des Sammelns und Ausstellens in Kunst- und Naturalienkammern sowie in Menagerien an. Frederic Jameson, »Postmodernism, or the Cultural Logic of
Late Capitalism«, in: New Left Review 146 (1984), S. 71-89, hier S. 71.
31 Die zeitgenössische Ansicht Lissabons von Süden nach Norden ist eine Quelle für das Aussehen der Stadt vor der Zerstörung durch das Erdbeben 1755. Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm.
13), S. 167.
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Silke Förschler
und naturhistorischen Darstellungsweisen von Natur aus. Gemeinsam ist ihnen
eine exponierende Ästhetik. Manche Tiere werden gerahmt, andere lebendig ins
Bild gesetzt, wiederum andere in einem möglichen Habitat imaginiert. Diese
Skalierung macht die Tiere zu Sammlungsobjekten, zu einem Ausweis künstlerischer Kenntnisse über Exotisches oder zum Attribut fremder Orte. Durch die
so geschaffenen Größenverhältnis wird »Natur« hierarchisiert.
Räumliche Ensembles in denen Naturalia, Artificialia und Scientifica ineinandergreifen, werden gerne als Paradebeispiel für eine frühneuzeitliche
Raumordnung der Kunst- und Naturalienkammer interpretiert, deren Faszinationskraft darin begründet liegt, einen gegebenen Zustand aller Dinge auf ein
Mal und die Dinge selbst in all ihrer Gegenwärtigkeit beschreiben zu können.
Der hier kondensierte Formenreichtum der Kunstkammerstücke wird häufig
als Assoziationsraum der Dinge aus den drei Ordnungen und gleichzeitig als
verlorengegangene Kombinationskunst verstanden.32 Eine Unterscheidung von
Charakteristika der Naturgeschichte und der Kunst- und Naturalienkammer
nimmt Horst Bredekamp vor.33 Ausgehend von dem von Plinius dem Älteren
geprägten Begriff der Naturgeschichte (naturalis historia), der sich nicht auf die
Entwicklung der Objekte und Arten bezieht, sondern auf die Beschreibung eines
gegebenen Zustandes, differenziert Bredekamp das gegenwartsverhaftete Konzept der Naturgeschichte von den klassifizierenden Beschreibungen im Raum.
Er kommt zu dem Ergebnis, dass klassifizierendes Beschreiben in der Frühen
Neuzeit auf den Erfahrungen beruht, die sich auf visuellem Gebiet seit mehr als
zweihundert Jahren in den Sammlungen der Kunstkammer ergeben hatten.34
Ganz allgemein wird der Naturgeschichte häufig der Vorwurf einer Wahl- und
Theorielosigkeit gemacht, ihre spezifische Art zu Sammeln als ein Anhäufen
ohne eine näher bestimmbare Selektion verstanden.35 Mit Blick auf van Kessels
Erdteilallegorien lässt sich eine Überschneidung zwischen den Verfahrensweisen
der Naturgeschichte, wie sie beispielsweise in dem aufgeklappten Buch Plinius’
zur Geltung kommt und den Präsentationsformen einer Kunst- und Naturalienkammer finden, nämlich die Notwendigkeit, die Dinge zu ästhetisieren. Dies
erfolgt durch Rahmungen, durch Setzungen vor einen Hintergrund sowie durch
unterschiedliche mediale Verortungen.
32 Vgl. Stefan Laube, »Gegen die Schubladisierung der Welt. Die Kunsthochschule Giebichenstein in Halle an der Saale wird 100 – und gewinnt der alten Wunderkammer neue Seiten ab«,
in: Süddeutsche Zeitung, 15. Juli 2015, Nr. 150, S. 10.
33 Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer
und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993.
34 Ebd., S. 16.
35 Trepl (wie Anm. 28), S. 43-44.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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Einer frühneuzeitlichen Raumvorstellung von Natur nachzugehen, wie sie
beispielsweise in van Kessels Europa zu finden ist, ist vor dem Hintergrund der
Verzeitlichung von Natur in der Moderne von besonderer Bedeutung.36 Aufkommende Historisierungsbestrebungen werden in den Schilderungen des Wandels
von der Naturgeschichte zu den modernen Lebenswissenschaften gemeinhin
als »Bewältigung des Erfahrungsdrucks«37 verstanden. Es ist davon auszugehen,
dass der Relation zwischen Naturalia und dem sie umgebenden Raum, sei es im
Stillleben, in Kunstkammerstücken oder in Allegorien, eine größere Bedeutung
zukommt, als wir dies aus unserer »Gegenwartsbefangenheit«38 heraus beschreiben
würden. Dabei sind die räumlichen Relationen nicht monokausal und in eine
Richtung zu interpretieren. Stattdessen kann festgestellt werden, dass bestimmte
Präsentationstechniken, wie beispielsweise die gereihten Schmetterlinge im Rahmen mit bestimmten Darstellungsweisen naturhistorischer Wissensvermittlung
korrespondieren wie die aufgeschlagene Buchseite zeigt. Und auch in die andere
Richtung ist der Einfluss der Darstellungsweisen auf dem Papier und der Leinwand auf den Raum auszumachen. So finden sich lebende Insekten auf dem
Fußboden der Kunst- und Wunderkammer. Wesentlich für die Konzeption einer
Ordnung der Naturgeschichte ist das Vorgehen, verschiedene Räume ineinander zu setzen. Stellt man dieses Verfahren in einen größeren Rahmen, so stellt
es sich als Effekt der europäischen Expansionen und Reisetätigkeiten um 1700
in alle Himmelsrichtungen und der dadurch entstehenden und wachsenden
Sammlungen von Kunst und Naturalien dar.39
Zentral für die Gemälde van Kessels sind bei allen Auseinandersetzungen
mit räumlichen Ordnungen die Allegorien. Wie Monika Wagner für das 19.
Jahrhundert festgestellt hat, findet hier eine vermehrte »Integration von Personifikationen in genrehaften Szenen« statt.40 Im Unterschied dazu lässt sich am
36 Michel Focuault, »Question on Geography«, in: Colin Gordon (Hg.), Power/ Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972 – 1977, New York 1980, S. 63-77, hier S. 70 beschreibt
Raum als »das tote, das fixierte, das nicht dialektische, das unbewegliche. Zeit war im Gegensatz dazu Reichtum, Fertilität, Leben, Dialektik.« Und auch Karl Marx, Grundrisse (1973), S.
524, 539 macht in der zunehmenden Durchsetzung des Kapitalismus eine »Vernichtung des
Raumes durch die Zeit« aus.
37 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, München 1976, S. 18.
38 Hermann Lübbe, »Begriffsgeschichte und Begriffsnormierung«, in: Gunter Scholtz (Hg.),
Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, S. 31-41, hier S. 41.
39 Vgl. hierzu Pratik Chakrabarti, »Sloane’s Travels. A colonial History of Gentlemanly Science«,
in: Alison Walker, Arthur Macgregor u. Michael Hunter (Hgg.), From Books to Bezoars. Sir
Hans Sloane and his Collection, London 2012, S. 71-79.
40 Monika Wagner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19.
Jahrhunderts in Deutschland. Von der Cornelius-Schule zur Malerei der Wilhelminischen Ära,
Tübingen 1989, S. 25.
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Beispiel van Kessels für das 17. Jahrhundert der Versuch einer Einbettung der
Personifikationen in ein Ordnungsgefüge der Dinge ausmachen. Ihre Gerinnung
zur Allegorie erfolgt bei van Kessel über die Verortung der Europa innerhalb von
Dingbedeutsamkeiten eines religiös aufgeladenen Gebrauchszusammenhangs
sowie eines wissenschaftlichen und eines lebensweltlichen. Und wenn van Kessel für seine Darstellungen von Naturalia Bilder anderer Künstler als Vorlagen
nutzt, interessiert ihn vor allem auch die Diversität von Seinszuständen. Tote
und lebendige Tiere werden differenziert, die Trägermedien für ihre Darstellung
werden variiert: Die Tiere erscheinen inmitten eines Rahmens, auf Papier oder
als Bildelement des zentralen Bildraums.41
America
Im Vergleich mit dem Europabildensemble ist der Bildraum der America-Allegorie weniger strukturiert und die dargestellten Figuren sind kaum bekleidet.42
Das Hauptgemälde trägt auf dem Rahmen den Ortsnamen »Parajba en Brasil«.
Die Personifikation America sitzt mit einer Begleitung in der linken vorderen
Ecke auf dem Boden; neben ihr sind zwei Kinder zu sehen. Die verschiedenen
Hautfarben der Figuren sind ein Verweis auf die Vorstellung von Brasilien als
multiethnisch.43 Im Vergleich zu den anderen drei Allegorien sind kaum Dinge
aus dem Kulturkontext Amerikas gezeigt. Die Gefäße im Vordergrund, die Waffen
und die Samurairüstung sind asiatischen Ursprungs.44 Eine wichtige Grundlage
für van Kessels Darstellung bilden die Veröffentlichungen von Teilnehmern
der Brasilienunternehmung Maurits’ von Oranien in den Jahren 1637 – 1644.
So ist der vierbeinige Fisch Guaperna im Vordergrund Pisos’ Historia naturalis
Brasiliae von 1658 entnommen, ebenso die beiden Ameisenbären und der bärtige
Affe auf dem Gefäß mit Goldmünzen. Dieses Buch bot auch die Vorlage für
die Tapuya-Indianer in den Wandfeldern links und rechts vor der Tür, die Piso
seinerseits nach Gemälden Albert Eckhouts kopiert hatte. Eckhout gehörte zum
41 Darüber hinaus bediente er sich für die Darstellung der Tiere diverser graphischer oder gemalter Vorlagen. Die Veduten beruhen vielfach auf Braun/ Hogenbergs Städtebuch Civitates
Orbis Terrarum. 36 der kleinen Tafeln wiederholen die 40 Kupfertafeln umfassende, 1660
datierte Serie van Kessels im Prado. Die Erdteile müssen sehr beliebt gewesen sein, da es zum
einen mehrere Serien gegeben hat und De Brie berichtet, dass van Kessel einen außerordentlich hohen Preis von 4.000 Gulden für seine Serie erzielte.
42 München, Alte Pinakothek, Amerika 1666, Mitteltafel Kupfer, 48,6 x 67,8 cm, signiert unten
rechts: Jan van Kessel Fecit Anno 1666.
43 Vgl. hierzu Denise Daum, Albert Eckhouts »gemalte Kolonie«: Bild- und Wissensproduktion über
Niederländisch-Brasilien um 1640, Marburg 2009.
44 Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 183.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
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Gefolge Maurits’ von Oranien in Brasilien und hatte die Bewohnerinnen und
Bewohner in Typenportraits festgehalten, ebenso einzelne Tiere und Pflanzen in
Gemälden und Zeichnungen.45 Eine andere Quelle ist Jan Linschotens Itinerario
aus den Jahren 1579 – 1592, dem die Szene auf dem untersten rechten Wandbild
entnommen ist: Die Verbrennung eines toten Brahmanen und seiner lebenden
Witwe. Die Kannibalenszene darüber malt van Kessel in Anlehnung an Theodor
de Brijs America.46 Weist sich van Kessel damit als Kenner des zeitgenössischen
Bildrepertoires zu unbekannten Welten, fremden Kulturen und wundersamen
Sitten aus, sind die Insektenbilder, wie auf dem Hauptgemälde der Europa, als
Zeugnisse seiner Kenntnis einer ästhetisierten Wissenschaftlichkeit prominent
platziert, die in Europa höchstes Ansehen genießt.
Naturhistorische Bilder mit Insekten sind in der Frühen Neuzeit ein Ausweis
empirisch genauer Beobachtung. Gleichwohl lässt sich in den naturhistorischen
Überblickswerken des 17. Jahrhunderts keine einheitliche Darstellungsweise ausmachen. Mit Hilfe verschiedener Anordnungen und Ansichten unterschiedlicher
Insekten soll deren schwer ins Bild zu bringende Lebendigkeit zwar auf einen
Blick einleuchten; wie dies erfolgt ist jedoch keinesfalls festgelegt. Die ersten
Protokolle und Publikationen der Royal Society of Science und der Académie des
Sciences, die europaweit rezipiert werden, machen deutlich, wie nah künstlerische
und wissenschaftliche Bildprägungen einander sind. Das Anliegen der nationalen Wissenschaftsakademien in London und Paris, gegründet 1662 sowie 1666,
ist es, die gewonnenen Erkenntnisse zu fixieren und zu verbreiten.47 Besonders
herausfordernd, so die zeitgenössische Meinung, ist die genaue Abbildung von
exotischen Tieren. Anhand der exakten Darstellung von Tieren aus fernen Ländern zeigt sich, so die Annahme, wahre Wissenschaftlichkeit. In der Wiedergabe
ihres Äußeren, das den europäischen Betrachtenden fremd ist, muss genauso viel
Sorgfalt angewandt werden wie bei der Veranschaulichung von anatomischen
Sachverhalten. Beides ist gleichermaßen unbekannt und soll detailgenau vermittelt werden. Indem van Kessel also die ästhetisch-wissenschaftlichen Rahmungen
von Insekten und die Präsentation einzelner Fischtypen auf dem Boden in das
Hauptgemälde integriert, stellt er eine zentrale Praktik kolonialer Weltaneignung
45 Vgl. zu den kolonialen Mustern und Narrativen in Albert Eckhouts Brasilienbilder Daum
(wie Anm. 43), sowie Virginia Spenlé, »›Savagery‹ and ›Civilization‹: Dutch Brazil in the
Kunst- und Wunderkammer«, in: Journal of Historians of Netherlandish Art 3:2 (2011), S. 1-19.
46 Diese Bezüge haben auch Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 183 dargestellt.
47 »Ce que nos Memoires sont de plus considerable, extace témoignage irreprochable d’une
verité certaine & reconnuë.« Claude Perrault, »Preface«, in: Memoires pour servir a l’histoire
naturelle des animaux, Paris 1676. »Das was an unseren Ergebnissen am beachtlichsten ist, ist
die unzweifelhafte Evidenz einer sicheren und anerkannten Wahrheit.« (Übersetzung Silke
Förschler).
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aus. Die Verflechtung empirisch erworbener Ansichten mit dem zu exotischen
Tieren bereits in naturhistorischen Druckwerken bestehenden Bilderschatz ist
ein beliebtes Verfahren in der Frühen Neuzeit. Auch auf den rahmenden Stadtansichten ist dieses Verfahren auszumachen. So ist beispielsweise auf dem mit
»Domingo« überschriebenen Gemälde eine Giraffe aus André Thevets Cosmographie universelle aus dem Jahre 1575 zu finden, eine andere Giraffe ist Conrad
Gesners Historia Animalum von 1551 entnommen. Das Panorama von Havanna
lässt im Vordergrund sowohl Rubens’ Jagd auf Nilpferd und Krokodil erkennen,
als auch Gesners Krokodil. Svetlana Alpers hat in ihrer Kunst der Beschreibung
dargelegt, dass in van Kessels America eine dreifache Vereinnahmung durch die
»dünkelhafte«, europäische Kultur erfolgt.48 Alpers erkennt in van Kessels Zitat
der einfühlsamen Portraits Eckhouts wenig Wertschätzung; ihrer Meinung nach
geht jedes Eindenken in die Andersartigkeit in der europäischen Bildform der
Allegorie verloren. Außerdem erkennt Alpers in der Figur des brasilianischen
Indianers dessen Umgestaltung in einen David Michelangelos. Die dominanteste
Inbesitznahme sieht Alpers in der Darbietungsform der America inmitten der
Sammlung einer fürstlichen Kunstkammer.49 Zu Alpers Auflistung von Formen
übergriffiger Aneignungen ist die einer ästhetisierenden Wissenschaftlichkeit der
Naturalia hinzuzufügen. In der Art und Weise ihrer Rahmungen, ihrer Präsentation und Medialisierung erfolgt eine Skalierung der Welt. In ihrer allegorisierten
Vergeschlechtlichung wird diese Skalierung als Ordnung naturalisiert.
In Anlehnung an Foucaults Analyse des Gemäldes Las Meninas von Velázquez
aus dem Jahr 1656 lassen sich die Erdteilallegorien van Kessels in ein anderes
Licht stellen.50 Foucault erkennt in den Hoffräulein eine »essentielle Leere«, die
er darauf zurückführt, dass die Bildkonzeption die Episteme des Menschen noch
nicht fassen kann. Diese unbesetzte Stelle verweise auf den Raum der Betrachtenden und verbinde diesen mit dem Bildraum der selbst »klassische Repräsentationsinstrumente« einsetze. Ist die Repräsentation von Las Meninas also noch
in der »klassischen Repräsentation« verhaftet, erkennt Foucault darin dennoch
ein Metabild, da seine Bildlinien den Herrscher als Modell, die Betrachtenden
sowie den Autor an einen »idealen Punkt« außerhalb des Bildes verlagern.51
Der wesentliche Unterschied zwischen Jan van Kessels Erdteilallegorien und
van der Straets Vespucci-Stich besteht darin, dass um 1700 bereits ein weitaus grö48 Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985,
S. 281.
49 Ebd.
50 Für den Hinweis auf den Vergleich zwischen Velasquez und van Kessel danke ich Jörn Steigerwald auf dem Arbeitstreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung
im Oktober 2015.
51 Foucault (wie Anm. 36), S. 44.
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ßerer Bilderfundus zur Thematik anderer Kulturen und Naturen zur Verfügung
stand. Trotzdem bezieht sich van Kessel auf die bereits eingeführte Bildformel der
Erdteilallegorie, nicht ohne auf die ebenfalls existierenden visuellen Reiseschilderungen zu verzichten. Den bewährten Verweiszusammenhang weiblicher Körper
nutzt van Kessel um ein bildräumliches Zentrum zu schaffen. Wovon die vier
Erdteilallegorien jedoch eigentlich berichten ist der Versuch einer Bändigung des
veränderten Weltwissens. Indem bekannte und unbekannte Bilder und Dinge in
Räumen verortet werden und in verschiedene Medien transformiert – so werden
beispielsweise Eckhouts gemalte Typenportraits nun zu steinernen Skulpturen
und gestochene Veduten zu Gemälden – wird auch ihre Beherrschung und
Kontrolle mit Hilfe ihrer Rahmung vorgeführt.
Dieses immense Bemühen Welt zu strukturieren hat zwar einen Zielpunkt in
den Allegorien, jedoch ergibt ob der Materialfülle der allegorisierte Körper, das
heißt der Zusammenhang von Körperzeichen, Geschlechtlichkeit und Attributen,
nicht den alles umfassenden Bedeutungszusammenhang. Im Vergleich der vier
Gemälde machen die unterschiedlichen Figurationen allerdings wie schon bei
Ripa eindeutige Unterschiede zwischen der prächtig gekleideten Europa und
der mit bloßen Brüsten gezeigten America. Anders als die Hoffräulein wollen
die Allegorien, die Naturalia und die Dinge nicht aus ihren großen schwarze
Ebenholzrahmen hinaus, stattdessen verleihen ihnen die Holzrahmen und die
gemalten Rahmungen eine ästhetische Identität und eine Ästhetik der Handhabbarkeit. Die Hoffräulein haben ihr ideales Gefüge in einem Punkt außerhalb
des Bildes, die Allegorien in der Art und Weise ihrer Komposition hingegen
inmitten verschiedener Rahmungen.
Bedeutungsebene Raumordnung
Das Schema der Bild-Anordnung, so wird häufig vermutet, ist von Kabinettschränken angeregt.52 Wirft man einen Blick in die Geschichte des Präsentationsmöbels wird deutlich, dass van Kessel eine Form wählt, die so viel Oberflächenpräsentation wie möglich bei maximaler Tiefenraumillusion garantiert und
sich damit nicht an den gebräuchlichen Schrankmodellen der zeitgenössischen
Kunst- und Wunderkammern orientiert. Denn wie Anke te Heesen darlegt
kamen in den Kunst- und Wunderkammern vor allem Kabinettschränke zum
Einsatz, die den jeweiligen Mikrokosmos aus Kunst und Natur in den Raum des
52 Vgl. hierzu auch Nadia Baadj, »A world of materials in a cabinet without drawers. Reframing
Jan van Kessel’s The four parts of the world«, in: Netherlands Yearbook for History of Art 62.1
(2012), S. 202-237, die Verbindungen zum zeitgenössischen Antwerpener Kunstkasten nachweist.
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66
Silke Förschler
bergenden Schrankes bringen.53 Dabei handelt es sich um Prunkmöbel, die als
Stollenschrank – als eine »offene, hochgestelzte Kastentischform« – präsentiert
werden.54 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts trat neben den Kabinettschrank,
so te Heesen, das »Repositorium«, ein Begriff der Schränke, Regale, Abstelltische gleichermaßen bezeichnen konnte. Kunstgegenstände, Naturobjekte,
Bücher und Archivmaterial fanden in ihm Aufbewahrung. Offene Stellflächen
verweisen auf eine offene Zugangsweise zum Wissensobjekt. Im Verlauf des 18.
Jahrhunderts, mit dem Wandel von der Einmaligkeit und Besonderheit der
Dinge hin zu deren Regelhaftigkeit und Typisierung, kommen Schränke mit
Glas zum Einsatz, die auf einen Blick die Zugehörigkeit der ausgestellten Dinge
zu Arten, Klassen oder Kulturen deutlich machen. Diese späteren Zeige- und
Präsentationsschränke nimmt van Kessel vorweg, indem er Schrankfächern
gleich sein Hauptgemälde mit kleineren Gemälden umrahmt. Die Dominanz
der schwarzen Holzrahmen hebt zum einen die im jeweiligen Bildvordergrund
entfaltete Varianz der präsentierten Tiere, der ausgestellten Dinge und der
menschlichen Figuren hervor, gleichzeitig betonen die Rahmungen auch den
Tiefensog verschiedener Bildwelten.
Diese Bildräume verweisen auf zwei Skalierungsmodelle. Ein Modell besteht
in der Ordnung von Veduten – Ortsansichten, die mit Naturansichten verbunden sind, so dass nicht nur eine Topografie deutlich erkennbar ist, sondern auch
topologische Aspekte dargelegt werden. Die Alternative zeigt das Hauptbild, das
die reale Ebenholzrahmung aller Gemälde des Erdteilensembles auf verschiedene
Arten aufnimmt. Zum einen gibt es gerahmte Gemälde im Hauptteil mit Insekten, Stillleben oder ethnografischen Szenen, zum anderen rahmen die Wandnischen einzelne Figuren, sowie die Bogenarchitektur den Blick in die Ferne. Die
Anmutung der räumlichen Ordnung als Kunst- und Naturalienkammer bildet
eine weitere Rahmung.55
53 Anke te Heesen, »Vom Einräumen der Erkenntnis«, in: Anette Michels u. Anke te Heesen
(Hgg.), Auf/ Zu. Der Schrank in den Wissenschaften, Berlin 2007, S. 90-97.
54 Adolf Feulner, »Kunstgeschichte des Möbels« (1927), in: Propyläen Kunstgeschichte, Sonderbd.
2, Berlin 1980, S. 64; Michael Bohr, Die Entwicklung der Kabinettschränke in Florenz, Frankfurt am Main 1993.
55 Ulla Krempel, Jan van Kessel der Ältere, München 1973 schlug gegen die Regalordnung der
Erdteilallegorien vor, dass sie von Landkarten, wie beispielsweise von Johan Blaeus’ Weltatlas
(Hauptausgabe 1663) beeinflusst seien. Auf Blaeus’ Weltatlas trägt die Gesamtkarte oben in
kleinen Bildfeldern die sieben Planeten, links die vier Jahreszeiten, rechts die vier Elemente,
unten die sieben Weltwunder. Svetlana Alpers (wie Anm. 48), S. 237 beschreibt zum einen die
Erweiterung des inhaltlichen Horizonts der Karten durch die Bilder sowie das Verschwimmen
von Grenzen zwischen Vermessung, Aufzeichnung und Illustration.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
67
Bedeutungsebene Entwicklungsnarration
Für eine Skalierung der Erdteilallegorien untereinander bietet sich abschließend die Perspektive auf frühneuzeitliche Konzeptionen zur Entwicklung des
Menschen an. Der französische Philosoph und Theologe Carolus Bovillus stellt
1509 in seinem Liber de Sapiente die Menschheitsentwicklung im Verhältnis von
Selbstreflexion und Dingen dar.56 An der Spitze der Menschheitsentwicklung steht
Bovillus’›homo-homo-homo‹.57 Auf dieser höchsten Ebene der Reflexion ist der
Mensch ein »anderer Gott«.58 Der Mensch erkennt sich als sapiens homo, indem
er erkennt, dass alle Dinge in ihm sind wie in einem »Spiegel«; umgekehrt findet
er sein geistiges Prinzip wie das »Auge des Universums«59 in allen Dingen wieder.60
Wesentlich für das Erklimmen der Entwicklungsstufen ist die Bewegung, mit
der der Mensch zuerst ein Teil der Natur ist und sich dann im Unterschied zur
Natur selbst erkennt und derart einen Gegensatz zur Natur wahrnimmt. Der
Mensch positioniert sich also im Verhältnis von Natur und Dingen und in der
Unterscheidung zu ihnen.61 Ernst Cassirer hat Bovillus’ Schrift als »die vielleicht
merkwürdigste und in mancher Hinsicht charakteristischste Schöpfung der
Renaissancephilosophie« bezeichnet, da sie seiner Meinung nach »Altes« und
»Neues« miteinander verbindet, »Überlebtes« und »Zeugungskräftiges« findet
sich hier auf engem Raum nebeneinander.62 Zu finden ist das mittelalterliche
Denken eines Kosmos, der alles mit einem »Gewebe von Analogien« zu überspinnen und in einem Netzwerk der Analogie einzufangen versucht.63 In Bouvillus’
Schrift sieht Cassirer auf der untersten Stufe die Existenzweise, die der Stein, die
56 Für den Hinweis auf die Verbindung zwischen Kessels Erdteilallegorien und Carolus Bovillus
danke ich Ulrich Pfisterer und Jasmin Mersmann auf dem Treffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung im Oktober 2015 ganz herzlich.
57 Vgl. Wiebke Schrader, »Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur ›homo-homo-homo‹Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus«, in: Perspektiven der Philosophie 28 (2002),
S. 127-168.
58 Carolus Bovillus, Liber de Sapiente, c 7, zitiert in: Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in
der Philosophie der Renaissance, Leipzig, Berlin 1927.
59 Zu »Spiegel« und »Auge des Universums«, vgl. Bouvillus, Liber de Sapiente, c 26 (wie Anm.
26), S. 355.
60 Vgl. Martina Scherbel, »Der Mensch in seiner Mitte. Zum philosophischen Werk Wiebke
Schraders«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 2008, Bd. 34, hrsg. v. Georges
Goedert u. Martina Scherbel, Amsterdam, New York 2008, S. 19-46.
61 Hier liegt der Brückenschlag zu anthropologischen Erklärungen von Kultur und der Funktion von Differenz nahe. Beispielsweise führt Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of
Concepts of Pollution and Taboo, London 1966 aus, dass soziale Gruppen ihrer Welt Bedeutung
aufzwingen, indem sie Dinge in klassifizierende Systeme ordnen und organisieren.
62 Vgl. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Wiesbaden
1927, S. 103.
63 Ebd.
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68
Silke Förschler
Pflanze, das Tier sowie der Mensch gemeinsam haben. Der homo der Natur kann
allerdings weiter aufsteigen und zum Menschen der Kunst, zum homo-homo,
werden. Realisiert er die Notwendigkeit dieser Differenz, hat er sie überwunden.
Dies ist notwendig, da erst auf der letzten Stufe der Gegensatz von Natur und
Freiheit, von Sein und Bewusstsein aufgehoben ist. Als homo-homo-homo ist
der Mensch nun Auge und Spiegel des Alls, er formt und bildet die Bilder der
Dinge in sich selbst.64 Der Mensch ist als Knotenpunkt in der Welt gedacht,
inmitten der Dinge ist er der Akteur, der alles in der Natur mit Möglichkeiten,
Schatten, Formen, Bildern und Bedeutung füllt.65
Appliziert man nun die Gedanken Bovillus’ auf van Kessels Gemälde Europa und Amerika so lassen sich hier mehrere Verbindungen finden. Schon die
Platzierung der weiblichen Figuren könnte kaum unterschiedlicher sein. Sitzt
die Figur der Europa in prächtige Gewänder gekleidet zwischen den religiösen
Insignien zu ihrer Rechten und den Insekten- und Blumenstilleben in greifbarer
Nähe auf der linken Seite, ist die Figur der America lediglich mit einem Tuch
um den Schoß bekleidet und direkt auf den Boden platziert. In ihrer Nähe sind
spielende Kinder sowie eine nur mit roten Federn geschmückte männliche Figur
angeordnet. Muscheln sowie asiatische Gongs im Vordergrund stellen zwar auch
einen Dingbezug her, jedoch handelt es sich dabei um Dinge, denen aus europäischer Perspektive ein weniger komplexer kultureller Zusammenhang unterstellt
wird. Weder ein religiöser Gebrauch noch die Transformation von Naturalia in
Kunst können unmittelbar mit der America verbunden werden. Zwar legt die
Bildfindung der America nahe, dass eine Trennung zwischen Menschsein und
Natur bereits stattgefunden hat, jedoch bezweifelt die Bildprägung, dass die in
Amerika lebenden Menschen bereits die Stufe von Kunstschaffenden erklommen
haben. Ausgestellt sind nämlich wie auf der Europa-Allegorie ausschließlich
christlich-abendländische Narrationen und Formen. Die Position von Bovillus’
»homo-homo-homo«, des Menschen als Auge des Universums, so lässt sich
argumentieren, nehmen der Künstler und die Betrachtenden ein, indem sie
in einer Gesamtschau aller vier Erdteilallegorien die Welt überblicken und als
gegebene Natur rezipieren können.
64 Bovillus, Kap. 26, fol. 133a-b. Cassirer, ebd., S. 97.
65 Ebd., fol. 355.
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Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht
69
Schluss
In Anlehnung an Isabelle Stengers ist die Grundlage für den hier verwandten
Interpretationshorizont die Annahme, dass es keine vorgängige Natur gibt,
stattdessen jedoch viele Inszenierungen und Relationen. Dies lässt sich derart
verstehen, dass in den unterschiedlichsten Kontexten, beispielsweise im Atelier
und in der Sammlung etwas inszeniert werden kann und ›Natur‹ sich darin zeigt.
Dieses in Erscheinung treten von ›Natur‹ ist jedoch nicht einfach nur kontextabhängig und beschränkt auf ein Setting, sondern alle Einheiten von ›Natur‹ haben
miteinander zu tun. Für dieses Spiel verschiedener teleologischer Beziehungen
schlägt Spengers den Begriff des entre-capture vor. Mit ihm kann ein gegenseitiges
Ergreifen von Identitäten, die mit ›Natur‹ in Verbindung stehen, beschrieben
werden. Identitäten von ›Natur‹ erfinden sich gegenseitig und nehmen gleichzeitig
aufeinander Bezug.66 Versteht man van Kessels Verschachtelungen von Natur als
entre-capture, stehen sowohl die toten und die lebendigen Tiere, die Stadtansichten und die Stillleben für verschiedene Formen von ästhetischer und damit auch
klassifizierender Naturerfassung. Eine augenzwinkernde Verschachtelung findet
sich in der Signatur »Joan van Kessel« auf dem Europa-Gemälde (Abb. 2a). In
einem eigens gerahmten Bild, das an ein Gemälde mit einer Insekten-Landschaft
und an ein Blumenstillleben gelehnt ist, bilden die einzelnen Buchstaben aus
Schlangen, Würmern und Raupen den Namen des Künstlers. 67 Hier verweisen
die sich schlängelnden und windenden Tierkörper auf ihn und auf sein Schaffen.
Die ethnisierten und kulturalisierten Menschenkörper wiederum verzahnen
sich mit den formal zwar unterschiedlichen, jedoch in sich jeweils klaren Mustern folgenden Naturbildern. Die Körperlichkeit der Erdteilpersonifikationen
changiert derart zwischen einem allegorischen Verweiszusammenhang und einer
Naturalisierung der skalierten Welt.
66 Isabelle Stengers, »Ökologie«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2 (2009), S. 29-35, insbesondere S. 32-33.
67 Das bekannteste Beispiel einer Signatur, die in die innerbildliche Narration integriert ist und
deren Verweisstruktur über die Zeichen des Schriftzugs hinausreicht, ist Caravaggios »Enthauptung Johannes des Täufers«, von 1608 in der Johannes-Kathedrale von La Viletta, Malta.
Hier ist der Künstlername »F Michel Angelo« am unteren Bildrand aus dem Blutstrom gebildet.
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Silke Förschler
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz, Marburg 2010,
Bd. 2, Abbildungen, S. 7
Abb. 2, 2a: Brasil Holandês, A »Alegoria dos Continentes« de Jan van Kessel »o
Velho« (1626 – 1679). Uma Visao seiscentista da Fauna dos Quatro cantos do Mundo,
Rio de Janeiro 2004, S. 8, Abb. 5
Abb. 3, 3a: Konrad Renger, Claudia Denk, Flämische Malerei des Barock in der
alten Pinakothek, München, Köln: Pinakothek-DuMont 2002 S. 243
Abb. 4: Cesare Ripa: Iconologia, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms
1984 S. 333
Abb. 5: Krückmann, Peter O. (Hg.), Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg,
(Ausst.- Kat.), Bd. 1, München 1996. S. 57, Abb. 3
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Bettina Brandt
»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
Zur vormodernen Geschlechtercodierung der Nation
in Bildern der »Germania«
Körper und Kollektive sind auf vielfältige, historisch und kulturell variable Weise
aufeinander bezogen. Mit der Sozialanthropologin Mary Douglas lässt sich der
Körper als ein Modell verstehen, mit dem Kollektive ihre ›Ganzheit‹ und Grenzziehungen imaginieren. Doch auch leibhaftige Körper sind Gegenstand und
aktive Träger von Praktiken kollektiver Regulierung, wie dies Michel Foucault
für moderne Subjektivierungs- und Herrschaftspraktiken mit dem Begriff der
»Bio-Macht« beschrieben hat.1 In beiden Richtungen ist die Beziehung zwischen
Körper und Kollektiv eine politische, und dabei spielt die Kategorie Geschlecht
eine signifikante Rolle: Auf die (religiös oder wissenschaftlich begründete)
›Natur‹ des Körpers zurückgeführt, ist die Unterscheidung männlich/weiblich
ein effektvolles Instrument zur Einteilung des Sozialen und zur Legitimation
kontingenter Ordnung.2
Die Beziehung zwischen Individualkörper und imaginiertem Kollektiv soll in
diesem Beitrag am Beispiel der weiblichen Verkörperung Deutschlands in einer
Langzeitperspektive in den Blick genommen werden. Im politischen Diskurs
einer deutschen Reichsnation griffen Humanisten mit der Germania eine Figur
römisch-antiker Herkunft und mit ihr eine lange Tradition der weiblichen
Verkörperung von Ländern, Provinzen und Städten auf. Die rhetorische Figur
der Personifikation erlaubt es, überindividuelle Einheiten zu individualisieren
und sinnlich wahrnehmbar zu machen. In anthropomorpher Gestalt erhält ein
Abstraktum wie die Nation weitreichende semantische Spielräume, indem sie
1 Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1970;
zu einer regulierenden »Bio-Macht« als Komplement zur Massenmobilisierung der Nationalkriege im 19. Jahrhundert vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, 10. Aufl., Frankfurt a.
M. 1998 (Sexualität und Wahrheit, 1), Kap. V, S. 166-181.
2 Sigrid Schade, Monika Wagner u. Silke Wenk (Hgg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz,
Köln 1994; zum Körper als Teil verknüpfender sozialer Performanzen: Sylvia Sasse u. Stefanie
Wenner (Hgg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002; zur »symbolischen Organisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung« auf der Basis der biologischen
Reproduktion und zu einer »Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse« vgl.
Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005, hier S. 44 f.
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Bettina Brandt
mit Eigenschaften, Gefühlen, Handlungsfähigkeit, Zeitlichkeit und Narrationen
versehen wird und als Körper Ein- und Ausschlüsse, Beziehungen und Abgrenzungen anschaulich macht. Die Personifikation fordert nicht nur zu Bewertungen (moralischer oder ästhetischer Art) auf, sondern auch zu einem Abgleich
zwischen individuellen Erfahrungen und kollektiven Deutungen und Normen.
Das kulturelle Schema ›Körper‹ setzt Individuum und personifizierte Nation in
eine Beziehung, die sowohl »Realitätseffekte« erzeugt als auch die Wahrnehmung
von »Alltags-Körpern« prägt und verändert.3 Fragen von Macht und politischer
Ordnung rücken Individuen auch mit allegorischen Darstellungen auf den Leib.
Allerdings gilt es, diese Mechanismen zu historisieren und zu fragen, ob und in
welcher Weise die allegorischen Körper zeitgenössisches Wissen adressieren, ob
sie neue Körperbilder entwerfen, oder ob sie mit zeitgenössischen Plausibilitätserwartungen in Konflikt geraten.
Wie die feministische Geschlechterforschung gezeigt hat, (re-)produziert der
(weiblich oder männlich dargestellte) allegorische Körper stets auch Wissen über
die Geschlechterordnung. Dieser Aspekt der Codierung und Sinnstiftung wird
jedoch im Kurzschluss zwischen dem Zeichen und einem einzigen Signifikat – wie
eben der Nation – unsichtbar gemacht. Die Merkmale, die den weiblichen Körper
zum geeigneten Zeichen der Nation werden lassen, erscheinen so als inhärente,
dem Zeichenprozess enthobene, ›natürliche‹ Eigenschaften des Zeichens.4 Im
Folgenden sollen daher Bilddarstellungen der Germania nach Geschlechtercodierungen und deren Wandel, nach dem semantischen Zusammenspiel von
Geschlecht, Nation und politischer Ordnung und schließlich nach den Effekten
befragt werden, die diese Konstruktionen für die Handlungsspielräume von
Frauen und Männern besaßen.5 In drei Etappen werden die Umgestaltungen des
weiblichen Körpers der Nation und seiner männlichen Bezugsfiguren beleuchtet:
3 Sigrid Schade, Monika Wagner u. Silke Wenk, »Allegorien und Geschlechterdifferenz. Zur
Einführung«, in: dies. (wie Anm. 2), S. 5; zum Zusammenhang von Bildverstehen und körperlicher Erfahrung vgl. John M. Krois, »Bildkörper und Körperschema«, in: John Michael
Krois. Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hrsg.
v. Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011 (= Actus et Imago; 2), S. 253-271.
4 Schade, Wagner, Wenk (wie Anm. 3), S. 2 sowie ausführlich Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln u. a. 1996.
5 Umfassender zu dieser Fragestellung Bettina Brandt, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010. Allgemein zur Germania als politisches Symbol im 19. Jahrhundert: Lothar Gall, Germania. Eine deutsche Marianne?
Une Marianne allemande?, Bonn 1993 sowie Marie Louise von Plessen (Hg.), Marianne und
Germania 1789 – 1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – eine Revue, Ausst. Kat. Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1996. Zur Vormoderne: Detlef Hoffmann, »Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation«, in: Rainer Schoch u. Gerhard Bott (Hgg.),
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Ausst. Kat.
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 137-155.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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Um 1500 nahm die Germania erstmals den Körper einer Mutter an, der eine
ethnisch-kulturelle Grenze gegenüber ›fremden‹ Herrschaftsambitionen markierte. Im Bild eines zwischen Sexualität und Moral oszillierenden Kollektivkörpers
ging es nach dem Dreißigjährigen Krieg um einen Rangwechsel der Herrschaft
legitimierenden Prinzipien: Nicht zuerst der Stand, sondern Männlichkeit sollte
die Normen garantieren, auf denen politische Ordnung und Herrschaftsausübung
beruhten. Von Germania als unsterblichem Körper der Natur leitete sich um
1800 sodann ein bürgerlich-partizipatorisches Verständnis des Politischen ab,
das zu einem sozial inklusiven, aber exklusiv männlichen Raum erklärt wurde.
Ein Ausblick auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigt schließlich
die langfristigen Effekte der Geschlechtercodierung des Nationalen auf, aber
auch die Grenzen des weiblichen Kollektivkörpers, der den zeitgenössischen
Authentizitätserwartungen nicht mehr entsprach. Der Körper der Nation sollte
ein männlicher und schließlich ein die Alltags-Körper umgreifender Raum sein.
Der Körper der Mutter:
ethnisch-kulturelle Grenzziehung als politisches Argument
Im humanistischen Umfeld Kaiser Maximilians I. erfuhr die Germaniafigur eine
nachhaltige Umgestaltung, die aber das Wissen um die Tradition der Germania
als Teil der römischen Herrscherikonographie seit dem ersten nachchristlichen
Jahrhundert verrät.6 Während die Germania in der Triumphalarchitektur und auf
Münzen der römischen Kaiserzeit gefangen, trauernd oder als befriedete Kriegerin
die römische Provinz Germania verkörperte, und Miniaturen aus ottonischer Zeit
wie das Evangeliar Ottos III. sie neben anderen Länderallegorien im spätantiken
Motiv der Huldigung besiegter Völker vor dem Kaiser (im Muster römischer
Kaiser- und Majestas Domini-Darstellungen) präsentierten (Abb. 1), ließ Kaiser
Maximilian I. die Germania in einer Folge farbiger Pergamentminiaturen, die
er 1512 bei Albrecht Altdorfer in Regensburg aufgab, als faktische Inhaberin
kaiserlicher Herrschaft auftreten (Abb. 2 und 3).7 Die Miniaturen zeigten einen fiktiven Triumphzug, der zu den Erinnerungsprojekten des Habsburgers
gehörte und dessen Ausführung in Holzschnitten wahrscheinlich die Wände
6 Zu Germania-Darstellungen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit s. Elke Trzinski, Studien
zur Ikonographie der Germania, Münster 1990.
7 Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Das Reich Germanie, 1512 – 1516, Wien, Albertina
Museum, Inv. Nr. 25211 (Ausschnitt); Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Die römische Krönung, 1512 – 1516, Wien, Albertina, Inv. Nr. 25211 (Ausschnitt).
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Bettina Brandt
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Abb. 1: Dedikationsbild aus dem Evangeliar Ottos III., um 1000. Linke Seite: Dem
Kaiser huldigende Provinzen, von rechts nach links: Roma, Gallia, Germania,
Sclavinia. Rechte Seite: Thronender Kaiser.
Abb. 2: Albrecht Altdorfer
(Werkstatt), Bannerträger:
Das Reich Germanie
(Ausschnitt), Miniatur
zum Triumphzug Kaiser
Maximilians I., 1512-16.
Abb. 3: Albrecht Altdorfer
(Werkstatt), Bannerträger: Die
römische Krönung (Ausschnitt),
Miniatur zum Triumphzug Kaiser
Maximilians I., 1512-16.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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von Rathaussälen schmücken sollte, also als kaiserliche Bildpolitik gedacht war.8
Germania, die »Germanisch fraw«, wie Maximilian seinem Sekretär diktiert hatte,
trat in einer Darstellungssequenz der Kriege und Errungenschaften Maximilians
nach der Personifikation der Kaiserwürde (die »Romisch fraw«) auf. Roma und
Germania erscheinen als marienhafte Doppelgängerinnen mit langen blonden
Locken und Gloriolen. Doch während die ehrwürdige Vor-Gängerin mit der
Kaiserkrone die Herrschaftsinsignien nicht ergriffen hat, sondern mit leeren, wie
segnenden Händen auf dem Thron sitzt, hat ihre Nachfolgerin Germania Zepter
und Schwert, die Insignien faktischer Herrschaftsausübung, ergriffen. Germania
wird auch nicht von Engeln gehuldigt, sondern sie herrscht, und sie blickt, etwas
höher sitzend, auf Roma hinab. In Maximilians Triumph führen beide Frauen
die nun gängige Reichstitulatur »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation«
zusammen, aber es ist Germania, die die imperiale Macht ausübt – eine Aussage,
mit der der erwählte, aber nicht vom Papst gekrönte Kaiser seine Ehrerbietung
ausdrückte, aber auch politische Unabhängigkeit von Rom betont haben mochte.
Mit der Inthronisierung der Germania und damit der politischen Aufwertung
der Idee von einer deutschen Nation fiel die literarische Erfindung der Germania
als Reichsmutter zusammen. Während der Zeit des Ersten Reichsregiments (1500
– 1502), eines ständischen Regierungsorgans, das dem Kaiser die Entscheidung
über die Reichsfinanzen und die Kriegsführung aus der Hand zu nehmen drohte,
setzte sich der Humanist und Tübinger Poetikprofessor Heinrich Bebel in einer
Eloge auf das Kaisertum als Errungenschaft einer germanisch-deutschen Nation für die kaiserliche Autorität ein. In seiner Oratio ad Regem Maximilianum
Caesarem, de ejus atque Germaniae laudibus (1501) entwarf er für diese inklusive
Deutung einen gemeinsamen und kontinuierlichen Abstammungsraum, einen
Ursprung, der Kaiser, Reichsstände und auch den humanistischen Gelehrten umfasste.9 Das Bild für die Kontinuitätsfiktion gab die Figur der Mutter Germania.
»Übermenschlich groß«, aber in elendem Zustand beauftragt Germania ihren
Sohn Bebel, den kaiserlichen Sohn Maximilian dazu zu bewegen, die kranken
Glieder der Mutter zu kurieren, und das hieß, den Gehorsam der Reichsstände
einzufordern. Wurde der mütterliche Körper der Nation als transhistorische
und quer zur Ständeordnung liegende Einheit imaginiert, war die Germania als
politischer Reichskörper jedoch vertikal gegliedert: Maximilian war das Haupt,
8 Horst Appuhn, Der Triumphzug Kaiser Maximilians I., Dortmund 1979, S. 166. Zum Triumphzug als Gedächtnisprojekt vgl. Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft
um Maximilian I., München 1982, S. 148-153, und Trzinski (wie Anm. 6), S. 148 ff.
9 Heinrich Bebel, »Lob Deutschlands«, in: Paul Joachimsen (Hg.), Der deutsche Staatsgedanke
von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Entwicklung,
Darmstadt 1967, S. 32-41.
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Bettina Brandt
Fürsten und Edle bildeten die Glieder des Reiches.10 Der Gehorsam der Glieder
gegenüber dem Haupt wird hier nicht unmittelbar durch die gottgegebene Ordnung geboten, sondern er erscheint als ein Gebot der Nation, die als Mutter zu
ehren erst sekundär wieder auf die christlichen Gebote verweist.
Die mit einem gemeinsamen germanischen Ursprung legitimierte Einheit
von Kaiser und Reich bemühte auch der Straßburger Humanist Hieronymus
Gebwiler, als er 1519 im Wahlkampf zwischen dem Enkel Maximilians, Karl,
und dem französischen König Franz I. Valois für den Habsburger Partei ergriff:
Du kannst dich also nicht eben wenig beglückwünschen, berühmte Germania, du Fruchtbarste an Männern, die dem Mars heilig sind, du Reichste
an glänzendsten Stammbäumen berühmter und edler Fürsten und Grafen:
Aus deren Reihen betraue einen klugen und Friede bringenden Kaiser mit
dem vakanten Kaiserthron, den fremden Stamm der Gallier aber halte von
dir fern, damit du, die du bis jetzt über die anderen geherrscht hast und zu
der auswärtige Nationen mit Zittern aufgeblickt haben, nicht irgendeinem
Ausländer, der nicht von germanischem Blut abstammt, aber mit diesem
Herrschaftszeichen geschmückt ist, wie eine Kaufsklavin zu dienen gezwungen bist.11
Auch hier herrscht Germania durch ihre Söhne, deren Einheit und Identität
durch das Bild des mütterlichen Körpers konstituiert wird. Germanias Mutterkörper verbindet die kriegerischen, vom römischen Kriegsgott selbst anerkannten
Germanen mit den Wahlfürsten des Jahres 1519 im Verhältnis der Blutsverwandtschaft, und diese nicht mehr nur historisch-kulturelle, sondern ethnische Nation
markiert eine scharfe Grenze gegenüber einem als fremd bezeichneten Außen,
den Franzosen, denen überdies politische Moralschwäche attestiert wird. Die
Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem wird im Bildbereich familiärer
und ethnischer Zugehörigkeit entfaltet, die historische Kontingenz überschreibt
und politische Grenzziehungen emotional auflädt, denn die Öffnung nach außen
ist gleichbedeutend mit einem Ehr- und Herrschaftsverlust, der auch das innere
Machtgefüge der Reichsnation auf den Kopf stellen würde.
Während des Dreißigjährigen Krieges berief sich vor allem das protestantische Lager auf die Reichsmutter Germania. Ein illustriertes Flugblatt, das
1620 während des Böhmisch-pfälzischen Krieges erschien, zeigte das Vaterland
»werther Teutscher Nation« als protestantische Maria Regina (Abb. 4)12: Mit
10 Ebd., S. 33: Maximilian ist das »blühende Haupt aller meiner Glieder«.
11 Hieronymus Gebwiler, Libertas Germaniae, Augsburg 1519, Cap. VI. Zu Germania in humanistischen Texten s. Trzinski (wie Anm. 6), S. 167 ff.
12 Hertzliches Seufftzen vnnd Wehklagen/ auch christlicher Trost vnnd endtlich Göttliche Hülff vnsers
vielgeliebten Vatterlandes/ werther Teutscher Nation, 1620, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Inv. Nr. IH 101.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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Abb. 4: Hertzliches Seufftzen vnnd Wehklagen/ auch christlicher Trost vnnd
endtlich Göttliche Hülff vnsers vielgeliebten Vatterlandes/ werther Teutscher Nation,
illustriertes Flugblatt, 1620.
ausgebreiteten Armen herrscht sie über die vom Glaubenskrieg heimgesuchte
Christengemeinde, die im Bildhintergrund Märtyrer, betende Bürger, Bauern
und den Krieg führenden Adel einschließt. Deutlich ist es die Gestaltung des
weiblichen Körpers, die die politische Botschaft, den Appell an die überkonfessionelle Einheit der Nation, visuell transportiert. Zwar ist die Germania mit einem
langen, unter der Brust gegürteten weißen Hemd bekleidet, doch werden Bauch
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Bettina Brandt
und Brüste hervorgehoben, indem der Nabel über dem gewölbten Bauch und
die Brustwarzen unter dem Stoff sichtbar sind. Während das dem Bild beigefügte
Gedicht die Gemeinschaft aller deutschen Christen gegen den päpstlichen Antichristen in Rom – und damit auch ein Feindbild – beschwört, stellt das Bild
einer schwangeren Germania den verbindenden Fluchtpunkt vor Augen: Das
Geburtsland als alle Stände einschließende Abstammungsgemeinschaft. Eine
andere politische Aussage machte ein ebenfalls protestantisches Flugblatt zum
Prager Frieden 1635 (Abb. 5).13 Hier sitzt das »Teutsche Reich«, das zugleich als
»Resp[ublica] Rom« und als »Reichs-Mutter« bezeichnet wird, dem Kaiser und
dem sächsischen Kurfürsten als Vertragspartnern vor, um sie in ihrer Liebe zum
»Reichs-Mutter-Hertz« zu vereinen. Das Bild der Reichsmutter vertritt hier ein
Plädoyer für das Reich als überparteiliche, überkonfessionelle Regelungsinstanz
und für einen an Vertrags- und Rechtsdenken orientierten Reichspatriotismus.14
Nicht der Kaiser ist das Haupt, sondern das Reich als nationale politische Institution, deren Sitz Gott im Himmel am nächsten ist. Das Bild des mütterlichen
Körpers etablierte Vorstellungen von einer deutschen Reichs-Nation als einem
umgrenzten Innenraum, die der Realität der frühneuzeitlichen Territorial- und
Herrschaftsverhältnisse in keiner Weise entsprachen. Es zog Grenzen der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, die unwandelbar erschienen, die das Austarieren
politischer Macht zwischen Kaiser und Reichsständen argumentativ stützten und
Botschaften sozialer Inklusion vermitteln konnten, die aber die Unvereinbarkeit
mit einem Außen umso schärfer markierten.
Das Bild der Mutter Germania brachte im 17. Jahrhundert das Interesse der
Fürsten am Reich als einer übergeordneten, ausgleichenden Institution zum Ausdruck. In einem anlässlich des Regensburger Reichstags 1653/54 veröffentlichten
Flugblatt zogen Parteigänger einer starken kaiserlichen Position die Figur einer
jugendlichen Germania vor. Germania sitzt im Schoß des als »Landes-Vater«
bezeichneten Kaisers Ferdinand III., der hier die Rolle elterlicher Autorität
übernimmt (Abb. 6).15 Germania bezeichnet die gehorsamen, helfenden Glieder des Reiches, von unten stützt sie die rechte Hand des Herrschers mit dem
Zepter, während der Reichsapfel, auf die Welt verweisend, schon eher in ihrer
Hand liegt und von Ferdinand schützend umfasst wird. Mit bauschigen Ärmeln,
13 Deß H. Römischen Reichs von GOTT eingesegnete Friedens-Copulation,1635, Kunstsammlungen
der Veste Coburg, Inv. Nr. XIII, 444, 96.
14 Vgl. ähnlich Johannes Burkhardt, »Auf dem Wege zu einer Bildkultur des Staatensystems.
Der Westfälische Frieden und die Druckmedien«, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München
1998, S. 81-114, hier S. 96.
15 Abraham Aubry nach Johann Toußin, Abbildung Vnsers heutigen Deutschlandes und der höchstgewündschten Vereinigung Des Christen Reichs Haupt mit seinen Gliedern, 1653/54, Hessische
Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Inv. Nr. Gü. 8045, fol. 92.
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Abb. 5: Deß H. Römischen Reichs von GOTT eingesegnete Friedens-Copulation,
illustriertes Flugblatt, 1635.
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Abb. 6: Abraham Aubry nach Johann Toußin, Abbildung Vnsers heutigen
Deutschlandes und der höchstgewündschten Vereinigung Des Christen Reichs Haupt
mit seinen Gliedern, illustriertes Flugblatt, 1653/54.
enger, spitz zulaufender Taille und einem tiefen Dekolleté tritt Germania in
hochmodischer Kleidung auf. Überdies thront sie in der Rolle der Abundantia
auf Früchten und Getreideähren, die Bauern herbeitragen, und zu ihren Füßen
ruht entspannt der an einen schläfrigen Löwen gelehnte Kriegsgott Mars. Im
Hintergrund, außerhalb des Thronsaales, sind die Kriege anderer Nationen,
der »Pohlen«, der »Holländer« und »Engländer« und Frankreichs zu sehen und
bilden den Kontrast zu dem üppigen und offenherzigen Lebensstil, den sich
das befriedete Deutschland leisten kann. Haupt und Glieder begegnen sich mit
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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Freundlichkeit und Liebe, erläutert das Gedicht, und dankbar küsst Germania
den Vater für den erlangten Frieden. Eingerahmt von machtvollen Beschützern,
dem Kaiser, den pyramidenförmig angeordneten Kurfürsten und weiteren Reichsständen, gedeiht die junge Germania prächtig. Es ist der Körper, der Weiblichkeit
bezeichnet und diese wiederum zu einem ›natürlichen‹ Zeichen männlicher
Herrschaft erklärt: Die Bildmitte ist durch den Schoß der Germania markiert,
und umgeben von Früchten und bauchigen Karaffen konnte sie durchaus als
erotischer Blickfang verstanden werden. Dagegen verschwinden die Körper der
männlichen Herrschafts- und Amtsträger unter Ornat und stoffreicher Kleidung.
Doch auch von der mythischen Figur des Mars, der mit nacktem Oberkörper zu
sehen ist, unterscheidet sich die Germania in diesem Blatt. Der weibliche Körper
vermittelt hier zwischen den Sphären der historisch-politischen Akteure und dem
Mythos, er zeigt die gewünschten Effekte politischen Handelns an; modisch
und begehrenswert, warb dieser Körper dafür, das Wunschbild Wohlstand und
dessen politische Bedingungen Realität werden zu lassen.
Der weibliche Körper als labile Grenze:
Moralische (Un-)Zuverlässigkeit und männliche Herrschaft
Das Flugblatt zum Regensburger Reichstag nimmt sich wie eine Antwort auf
einen früheren Auftritt der Germania in der Rolle der ›Frau Welt‹ aus. 1647,
kurz vor den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück, führte der evangelische Pastor und von Ferdinand III. preisgekrönte Dichter Johann Rist in
seinem Drama Das Friedewünschende Teutschland den tiefen Fall einer ungehorsamen Germania vor.16 Wie andere patriotische Autoren, Paul Fleming, Andreas
Gryphius oder Friedrich von Logau, interpretierte Rist den Dreißigjährigen
Krieg als eine Folge nationaler Uneinigkeit, die sich ihrerseits dem Vergessen
und dem Verfall nationaler Tugenden verdankt habe. Die Nation wurde als
politischer Ordnungsrahmen aufgewertet, ihr Inklusionsraum im Sinne einer
Leidens- und moralischen Gemeinschaft um alle Stände erweitert. Nationale
Selbstvergessenheit, Ungehorsam gegenüber männlicher Autorität, die Vergewaltigung durch Fremde als Strafe Gottes, Leid und schließlich die Restitution
einer männlich gebotenen Regierung – diesen Spannungsbogen ließ Rist die
hochmütige Alamode-Königin Deutschland durchlaufen. Vier alte germanische Helden, die an ihren Hof kommen, um den Zustand des gegenwärtigen
Deutschlands in Augenschein zu nehmen, lässt sie hinauswerfen, da die grob16 Johann Rist, »Das Friedewünschende Teutschland« (1649), in: ders., Sämtliche Werke, unter
Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hrsg. v. Eberhard Mannack, Bd. 2: Dramatische Dichtungen, Berlin, New York 1972.
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schlächtigen Altvorderen weder die Komplimentierkunst beherrschen noch die
französische Sprache verstehen. Die germanisch-›deutschen‹ Tugenden genügen
nicht mehr, um ihren Adel auszuweisen. Deutschland setzt sich über die vier
»Fastnachtsbutzen« hinweg und öffnet ihren Hof lieber auswärtigen Kavalieren,
die sie prompt mit Luxusgütern, mit spanischem und französischem Wein und
vergifteten Florentiner Handschuhen, verführen und bezwingen.17 Im Kampf
um ihre Körper-Ehre – ihr werden die Kette der Eintracht, das Zepter und die
Kleider entrissen – wird Deutschland zur kampfstarken Kriegerin. Das aus der
Germania des Tacitus bekannte Motiv der germanischen Kampfstärke ist hier
nur im Rahmen einer Gottesstrafe erzählbar: Im weiblichen Kampf kulminieren
männlicher Herrschaftsverlust und politische Unordnung.
Das Titelbild der Ausgabe von 1649 brachte die dramatischen Stationen auf den
Punkt (Abb. 7).18 Die Raumordnung macht die Überschreitung der nationalen
und der Geschlechtergrenzen sichtbar. Deutschland hat den weiblich konnotier-
Abb. 7: Titelkupfer zu Johann Rist, Das Friedewünschende Teutschland,
Hamburg 1649.
17 Ebd., S. 69.
18 Ebd., Titelkupfer.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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ten Schutzraum der Stadt verlassen und ist im Freien von männlichen Peinigern
mit phallischen Waffen umzingelt.19 Lange Haare und entblößte Brüste versetzen
Deutschland in die Rolle der Sünderin und Büßerin Maria Magdalena. Der
weibliche Körper ist erneut das Zentrum eines Kreises männlicher Figuren, nur
zeigt er hier das Negativ der geschützten Situation an, die das Regensburger Blatt
vermittelte, die Vergewaltigung. Das Thema des Dramas, national-moralische
Unbeherrschtheit als Ursache für politischen Herrschaftsverlust, visualisiert
das Titelbild in der entglittenen Kontrolle über einen sexualisierten weiblichen
Körper. Der geschlechterspezifisch organisierte Moraldiskurs der Nation betonte
die Männlichkeit der Normen, auf denen die Ausübung politischer Herrschaft
beruhen sollte. Das Idealbild politischer Ordnung beschworen dagegen die alten
Helden herauf mit ihrer Erinnerung an eine moralstarke Matrone Germania, die
in einer Kapelle auf Kriegsgerät thronte. Wie der männliche Kontrollverlust auf
weibliche Moralschwäche zurückgeführt wurde, diente eine asexuelle, statische
Weiblichkeit als Zeichen männlicher Herrschaft. »An mir als die Gestalt/ war
sonsten weibisch nichts«, ließ Paul Fleming in seinem Schreiben vertriebener Frau
Germanien an ihre Söhne (1631) die zur Bettlerin heruntergekommene Germania
über ihre glorreiche Vergangenheit als machtvolle Herrscherin klagen.20 Hier wie
im Drama Rists vertrat Germania nicht Herrschaft und die zu ihr befähigenden
Tugenden, sondern erinnerte ihr weiblicher Körper stets an deren Mangel, der
allein durch »Manheit« behoben werden konnte.21
Die Sexualisierung des weiblichen Kollektivkörpers als Deutungsfolie, auf
der männliche Herrschaftskonkurrenz und die Grenzziehung zwischen Eigenem
und Fremdem thematisiert wurden, war auch für die literarischen und bildlichen
Verarbeitungen des Arminius-Stoffes im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert
charakteristisch, in denen die Figuren der Germania und der Thusnelda, als
Gattin Hermanns die Vaterlandsliebe der Fürstinnen adressierend, verschmolzen.22 Hermann ersetzte den Kaiser als Bildpartner der Germania, und seine
19 Vgl. Sigrid Weigel, »›Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold‹. Zur Topographie
der Geschlechter in Gründungsmythen und Städtedarstellungen«, in: dies., Topographien der
Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 149-179.
20 Paul Fleming, »Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne oder die Churfürsten,
Fürsten und Stände in Deutschlande«, in: Johann Martin Lappenberg (Hg.), Paul Flemings
deutsche Gedichte, Bd. 1, Reprint Darmstadt 1965, S. 102-110.
21 Ebd., S. 103.
22 Zu vaterländischen Verhaltensidealen für adelige Frauen s. Cornelia Plume, Heroinen in der
Geschlechterordnung. Weiblichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die »Querelle des Femmes«, Stuttgart, Weimar 1996. Zur Teilnahme von Frauen am nationalen Diskurs
der Frühen Neuzeit Sigrid Westphal, »Frauen der Frühen Neuzeit und die deutsche Nation«,
in: Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt (Hgg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte
von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 363-385.
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Heldenrolle öffnete sich im 18. Jahrhundert bürgerlichen Wunschvorstellungen
vom aufgeklärten Herrscher. Die Mythenarbeit verschaffte der Nation ein historisches Narrativ, demzufolge die Einheit der Germanen durch die römische
Machtexpansion korrumpiert, ihre Freiheit durch die Fremdherrschaft der Römer
beendet worden war und beide erst mit der Vernichtung des Feindes wiederhergestellt wurden. Damit ließ sich die Erwartung der politischen Gestaltbarkeit
der Nation formulieren, jedoch so, dass der Auftrag an die Zukunft in einer
besseren Vergangenheit lag. Genau diesen beiden Enden der Nationalgeschichte verlieh der weibliche Körper der Germania-Thusnelda Gestalt. Er war dem
historisch-politischen Handeln der männlichen Helden ausgesetzt und zeigte
dessen Folgen an. Das der Zeitlichkeit unterliegende Handeln wurde im Bild
des weiblichen Kollektivkörpers moralisch bewertbar und erhielt dauerhafte
Sichtbarkeit. Fester Bestandteil der Mythenarbeit war schließlich der Feind:
Rom respektive Frankreich, dessen Expansionspolitik das Reich 1674 und 1689
zu Kriegserklärungen veranlasste und zu einer aktualisierenden Interpretation
des Arminius-Stoffes einlud. Die Gestaltung des nationalen Befreiungsmythos
übersetzte politische Konkurrenz und territoriales Ausgreifen in die Figur sexueller Begehrlichkeit, und entsprechend verkörperte Germania-Thusnelda eine
gefährdete Grenze zwischen Sexualität und Moral.
Eine richtungsweisende Fundgrube für die Hermannsepen und -dramen des
18. Jahrhunderts war der 1689/90 erschienene Roman Großmüthiger Feldherr
Arminius des Daniel Casper von Lohenstein.23 Die vielfältigen Erzählstränge des
umfangreichen, zweiteiligen Romans, in dem die Varusschlacht bereits im ersten
Teil erzählt wird, ordnete der Großneffe des Nürnberger Kupferstechers Joachim
von Sandrart, Johann Jacob, mit seinen beiden Titelkupfern zu einem Spannungsbogen, der im 18. Jahrhundert kanonisch wurde: auf germanische Zwietracht und
römische Herrschaft folgten die Einigung der Germanenfürsten und der Sieg
über die Römer (Abb. 8 und 9).24 Angezeigt wird der Verlauf durch die beiden
weiblichen Figuren. Deutlich ist im ersten Kupfer der weibliche Körper dem
männlich vertretenen Bereich des Handelns enthoben.25 Als Herrscherin über
das Reich der Keuschheit, angezeigt durch ein muschelförmiges Gewölbe, das
23 Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Leipzig 1689/90, Faksimiledruck, hrsg. u. eingel. von Elida Maria Szarota, 2 Bde. Bern, Frankfurt a. M. 1973. Zum Vaterlandsdiskurs im 18. Jahrhundert und den Bearbeitungen des Arminius-Stoffes von Ulrich
von Hutten über Lohenstein, Johann Elias Schlegel, Christoph Martin Wieland bis Friedrich
Gottlieb Klopstock siehe Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im
18. Jahrhundert, Hamburg 2000.
24 Lohenstein (wie Anm. 23), Titelkupfer Bd. 1: Johann Jacob von Sandrart, Arminius und Thusnelda, und ders., Titelkupfer Bd. 2: Eintracht läst hoffen.
25 Vgl. Detlef Hoffmann, »Arminius und Germania-Thusnelda. Zu einem ›annehmlichen Kupfer‹ von Johann Jacob von Sandrart«, in: Schade, Wagner u. Wenk (wie Anm. 2), S. 65-71.
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Abb. 8: Johann Jacob von Sandrart, Arminius und Thusnelda, Titelkupfer zu Daniel
Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Bd. 1, Leipzig 1689/90.
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Abb. 9: Johann Jacob von Sandrart, Eintracht läst hoffen, Titelkupfer zu Daniel
Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Bd. 2, Leipzig 1689/90.
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ihren Kopf wie eine Gloriole umgibt, thront Germania-Thusnelda nach hinten
in eine Nische gerückt über dem Geschehen. Sie besetzt die höchste Position und
einen Innenbereich, der durch zwei Halbkreise begrenzt wird, markiert durch die
beiden Stufen des Thronpodestes und durch die männlichen Figurenkonstellationen. Während im Vordergrund Arminius (rechts) und ein Germanenfürst im
Konflikt zu sehen sind, haben römische Soldaten diesen äußeren Kreis bereits
durchbrochen und rücken als ein zweiter, engerer Kreis der weiblichen Figur zu
Leibe. Ein Joch, die Verschleppung eines Kindes und erbeutete Kleider und Haare
bezeichnen das der Germania-Thusnelda drohende Schicksal. Der Bildaufbau
zeigt eine vertikale Ordnung, doch setzten die Kreise um die weibliche Figur,
und damit die Unterscheidung zwischen einem weiblich besetzten Innenraum
und dessen männlich umkämpften Grenzen, einen gleichwertigen Akzent. Die
Unterscheidung ist deutlich sexualisiert: Das Bildzentrum ist der Schoß des
weiblichen Körpers, vor den ein muskulöses Kind beschützend die Hand hält.
Die Figur nimmt die künftige Einigung der germanischen Fürsten und den
Sieg gegen die Römer vorweg, die das Titelbild des zweiten Romanteils zeigt
(Abb. 9)26: Germania steht geschützt im Mittelpunkt eines Kreises germanischer
Krieger, das Zerbrechen einer Fessel und das Hinwegschreiten über erbeutete
Waffen verkünden die Befreiung von der römischen Herrschaft. Wieder macht
die weibliche Figur das Ergebnis männlichen Handelns, diesmal in Eintracht,
sichtbar. Standen sich im ersten Titelkupfer männliche Kontrahenten gegenüber,
ist das Bild der Eintracht durch einen Verbund von Gleichen gekennzeichnet,
deren gemeinsamer Bezugspunkt die mit einer kraftvollen und ausladenden
Statur versehene Königin Germania ist. Alle männlichen Figuren treten in Geschichtskostümen auf, der Thron am rechten Bildrand bleibt leer. Arminius, dem
erbeutete römische Feldzeichen überreicht werden, tritt als Primus inter Pares
auf; die Figur von Haupt und Gliedern wird abgelöst durch eine Gemeinschaft
männlicher Krieger, die sich im gemeinsamen Gegenüber zum weiblichen Körper
der Nation konstituiert.
Der unsterbliche Körper der Natur und die Politik des Bruderbundes
Figuren der Hierarchie, der Autorität und des Gehorsams charakterisierten die
frühneuzeitlichen Darstellungen von Nation und politischer Ordnung. In den
Arminius-Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts wurden sie von den Motiven
Gefühl und Liebe abgelöst. In den Paarbildern von Hermann und Germania
übersetzte sich Hierarchie in eine horizontal organisierte, polare Differenz der
26 Lohenstein (wie Anm. 23), Titelkupfer Bd. 2: Johann Jacob von Sandrart, Eintracht läst hoffen.
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Geschlechter, ohne jedoch eine vertikale Asymmetrie aufzugeben. Ein Beispiel
gibt das von Anna Maria Werner gezeichnete Frontispiz zu dem Heldenepos
Hermann, oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto Freiherr von Schönaich, das Johann Christoph Gottsched mit einer Vorrede 1751 in erster Auflage
veröffentlichte (Abb. 10).27 Arminius/Hermann ist als galanter höfischer Held
Abb. 10: Johann Christoph Sysang nach Anna Maria Werner, Hermann löset,
nach dem Siege über die Römer, der bis dahin gefesselten Germania die Ketten ab,
Frontispiz zu Christoph Otto Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte
Deutschland, Leipzig 1753.
27 Johann Christoph Sysang nach Anna Maria Werner, Hermann löset, nach dem Siege über die
Römer, der bis dahin gefesselten Germania die Ketten ab, Frontispiz zu Christoph Otto Freiherr
von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, Leipzig 1753, Lippische Landesbibliothek Detmold, 02 A 725b.2.3. Literaturarchiv.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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dargestellt, der für sein Handeln, die Befreiung der Germania, von einer Victoria mit dem Lorbeer bekrönt wird. Germania dagegen sitzt barfüßig und in
ein dickes Fell gewickelt auf dem Erdboden, Wurzeln und Felsbrocken zu ihren
Füßen und die kleine Eiche am linken Bildrand weisen sie als ein Geschöpf der
Natur aus.28 Im Motiv der Liebe werden historisch-politisches Handeln und
Natur vereint: Die Figuren wenden sich einander empfindsam zu, Germania
blickt ergeben zu ihrem Retter auf, der ihre Hand von der Fessel befreit, sie
stützt und aufrichtet. Hermanns Kostüm und Körpersprache setzen Höflichkeit ins Bild. Auch in Schönaichs Epos zeichnet sich der Held zuerst durch die
Verinnerlichung nationaler Werte aus, es ist sein tugendhaftes deutsches Herz,
das seinen Harnisch von innen nach außen formt.29 Im Vergleich mit der von
Ernst Kantorowicz beschriebenen politisch-theologischen Figur der »zwei Körper
des Königs«, des unsterblich-politischen und des natürlich-sterblichen Körpers
eines Herrschers30, zeigt das Frontispiz eine Neuverteilung auf der Folie der
Geschlechterdichotomie. Die sich in Natur und Weiblichkeit manifestierende
Nation garantiert die überindividuelle und zeitlose Dimension des Politischen,
und diesem unsterblichen, aber vorpolitischen Körper tritt ein männlicher Akteur
entgegen, der zwar sterblich ist, sich aber durch sein Handeln für die Nation als
politisches Subjekt legitimiert.
Diese neuartige Codierung des Verhältnisses von Politik und transzendentem Ganzen zeigt sich im Wandel der Germania-Darstellungen um 1800. Seit
den 1770er Jahren gaben Autoren wie Johann Gottfried Herder oder Heinrich
von Kleist, während der Revolutions- und Befreiungskriege gegen Frankreich
auch weniger prominente Gelegenheitsdichter, der Germania die Gestalt eines
mütterlichen Naturraumes.31 Das Motiv der Nation als sakraler, naturhafter
und familialer Raum ersetzte nicht nur den fehlenden Rahmen einer staatlichen
Einheit, sondern erlaubte auch die Unterscheidung einer deutschen, evolutionären Nationsbildung vom revolutionären Modell Frankreich. Gegen Napoleon
mobilisierende Kriegslyrik porträtierte 1812 bis 1814 die deutsche Nation im Bild
einer dyadischen Beziehung zwischen Germania und einem ständeübergreifen-
28 Vgl. zu dieser Darstellung auch Monika Wagner, »Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographie um 1800«, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Volk
– Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 244-268.
29 Schönaich (wie Anm. 27), 9. Buch, S. 160.
30 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des
Mittelalters, München 1994² (Princeton 1957).
31 Johann Gottfried Herder, »An den Genius von Deutschland«, in: Herders Poetische Werke,
Bd. 5, hrsg. v. Carl Redlich, Berlin 1889, S. 329-332; Heinrich von Kleist, »Germania an ihre
Kinder. Eine Ode«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hrsg. v. Klaus
Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, S. 426-432.
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den Bund wehrhafter, ebenbürtiger Brüder.32 In dieser Konstellation ließ sich
der bürgerliche Wunsch nach Teilhabe an den Rechten und Pflichten nationaler
Souveränität ausdrücken, ohne dem französischen Beispiel der Beseitigung des
Monarchen zu folgen. Die Naturalisierung des Kollektivkörpers verlieh aber nicht
nur dem Konzept einer egalisierenden männlichen Sphäre politischen Handelns
Legitimität und die Macht der Unschuld, sondern sie legitimierte auch den
gewaltsamen Ausschluss von Feinden. Den Naturkörper der Nation als zeitlose
und bezwingende Macht präsentierte zum Beispiel Caspar David Friedrich in
seinem Gemälde Grabmale alter Helden, das 1812 auf der Berliner und 1814 auf
der Dresdener Akademieausstellung gezeigt wurde (Abb. 11).33 Sogartig zieht
ein Höhleneingang, in dem ein Sarkophag zu sehen ist, das Bild zur Mitte hin
zusammen. Für zwei winzige französische Soldaten am Höhleneingang scheint
es kein Entkommen vor der verschlingenden Kraft zu geben. Die Gewalt dieser
Natur steht außerhalb gesellschaftlicher Rechtssetzung, und zugleich sind in ihr
die Geschichte und die Zukunft der nationalen Helden verewigt: In die Erinnerungslandschaft der alten Helden ist ein leuchtender Obelisk hineingestellt,
der die künftigen Retter des Vaterlands ankündigt – aus der längst zur Natur
gewordenen nationalen Vergangenheit ragt die Ankündigung eines Totenkultes
für eine neue Generation nationaler Freiheitskrieger heraus.
Im nationalen und frühliberalen Diskurs des Bildungsbürgertums rückten
wehrhafte Männlichkeit und die Bereitschaft, die Nation mit der Waffe und dem
eigenen Leben zu verteidigen, zur Grundlage für die Forderung nach politischen
Partizipationsrechten auf. Frauen blieben aus dieser Vorbedingung der Politikfähigkeit, die auch für die Wahlrechtsdiskussion des Paulskirchenparlaments
1848 und bis zum Ende des deutschen Kaiserreiches galt, ausgeschlossen.34 Die
Symbolik hatte kräftig vorgearbeitet. Die Gestaltung des Weiblichen als übergreifender Raum männlicher Egalisierung, das in diesem Raum keinen Subjektstatus
besitzen kann, zeigt beispielsweise die Allegorie der Kybele, die der Dresdener
Porträtmaler Gerhard von Kügelgen um 1815 während der antinapoleonischen
Kriege als Teil einer Serie, neben den Allegorien der Tragödie und der Geschichtsschreibung, anfertigte (Abb. 12).35 Die antike Erdgöttin verbindet sich mit den
32 Zu literarischen und visuellen Germanien der Befreiungskriege s. Brandt (wie Anm. 5), S.
135-196.
33 Caspar David Friedrich, Grabmale alter Helden, 1812, Hamburg, Kunsthalle, Inv. Nr. 1048.
34 Ute Frevert, »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne,
München 1995; dies., »Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert«, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hgg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München
1996, S. 151-170; Karen Hagemann, »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär
und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002.
35 Gerhard von Kügelgen, Kybele, um 1815, Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. Nr.
Gm 96/29.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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Abb. 11: Caspar David Friedrich, Grabmale alter Helden, Öl auf Leinwand, 1812.
Figuren der Germania und einer Pietà. Sie hält eine Urne mit der Asche der für
sie Gefallenen im Arm. Die Urne trägt keine Namen, nur die Jahreszahlen 1812
bis 1814, und ist mit einem antikisierten, lorbeerbekränzten Helm verziert. Vor
der nationalen Natur, die durch das Eichenlaub und, den »Grabmalen« Caspar
David Friedrichs ähnlich, die Farben braun und grün angezeigt wird, sind die
gefallenen Nationalkrieger gleich, sie verschmelzen farblich mit dem weiblichen
Kollektivkörper. Germania als nationale Mutter Natur macht den unsterblichen
Körper der Nation ansichtig, dem ein neuer Kollektivakteur entstammt und für
den er sterben soll: Ein wehrhafter Bruderbund. Germania als Natur bleibt dem
Politischen äußerlich, umfasst und begründet es.
Als Nationalhelden in der Nachfolge Hermanns wurden anders als im 18.
Jahrhundert nicht mehr nur Fürsten und Monarchen adressiert, sondern bürgerliche Männer und Familienoberhäupter. Hermann und Thusnelda im Gemälde
von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1822), wieder in den Farben der Erde
und der Vegetation gestaltet, geben das Idealbild einer bürgerlich-nationalen
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Bettina Brandt
Abb. 12: Gerhard von Kügelgen, Kybele, Öl auf Leinwand, um 1815.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
Abb. 13: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Hermann und Thusnelda, Öl auf
Leinwand, 1822.
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94
Bettina Brandt
Geschlechterordnung (Abb. 13).36 Der wehrbereite, dem Eichenstamm im Hintergrund gleichende Hermann schützt mit herkulischem Arm die nicht zum
Kampf Fähigen, Kinder und einen alten Mann, und holt mit der Rechten zum
Schlag gegen einen imaginären Feind aus. Unter dem Schwert befindet sich Thusnelda, womit das Kampfinstrument auch die Bedeutungen des Richtschwertes
und der Entscheidungsgewalt erhält. An ihr Herz greifend, ist Thusnelda ganz
Gefühl. Zugleich mag sie ihren Bauch mit dem Umhang schützen. Die Geste
erinnert an die des Stillens und weist die biologische Reproduktion, die Sorge
für die Kontinuität der ethnischen Nation, als weibliche Aufgabe aus. Wie die
Germania in Anna Maria Werners Zeichnung für das Hermanns-Epos von
Schönaich blickt Thusnelda zu ihrem Helden auf. Das äußere Weltgeschehen
liest sie an seinem Gesicht ab, während Weitblick Hermann als politikfähigen
Akteur auszeichnet. Im Unterschied zu den Darstellungen des 18. Jahrhunderts
tritt mit diesem Hermann jedoch der männliche Körper in das Bildzentrum.
Weibliche Reproduktion und männliche Kampfkraft werden an den zwei Körpern der Nation als ›natürliche‹ Eigenschaften manifest. Das Germanenkostüm
Hermanns und die antikisierte Kleidung der Thusnelda ergänzen die Botschaft
naturhafter Kontinuität um die Dimension einer historischen ›Tiefe‹.
Damit lag das Gemälde ganz auf der Linie der modernen, wissenschaftsbasierten Begründung gesellschaftlicher Ordnung. Anthropologie, Medizin und
Philosophie erklärten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die physischen
Unterschiede von Männern und Frauen zu einer primären, quer zur sozialen
Hierarchie liegenden natürlichen Differenz, aus deren Autorität sich auch die
Ordnungen von Staat und Gesellschaft ableiten sollten. Die »Stimme der Natur«,
die aus »der verschiedenen Organisation und Function der Geschlechtstheile«
sprach, übersetzten liberale Theoretiker wie Carl Welcker problemlos in eine nach
zwei Geschlechtern aufgeteilte soziale Welt, die Frauen das Erhalten, Nähren
und Pflegen im häuslich-familiären »Inneren« und Männern den »Rechts- und
Waffenkampf«, intellektuelle Kraft und die aktive Gestaltung des »äußeren«
Lebens zuwies.37 Dass Frauen an der politischen Gestaltung des bürgerlichen
Gemeinwesens mitwirken wollten, schien aufgrund ihres »Geschlechtscharakters«
unnatürlich, unwahrscheinlich sogar, dass sie sich »dem unweiblichen Kampfe
mit Männern aufopferten«. Die Auffassung von Politik als Krieg schrieb den
Ausschluss von Frauen in einem simplen Satz fest: »Wer den Krieg zu beschließen
das Recht haben will, der muß ihn auch zu führen im Stande sein.«38
36 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Hermann und Thusnelda, 1822, Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Foto: Sven Adelaide.
37 Carl Welcker, »Geschlechterverhältnisse«, in: Carl von Rotteck u. Carl Welcker (Hgg.), Das
Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 5, Altona
1847, S. 654-679, hier S. 655 und S. 659-662.
38 Ebd., S. 667 f.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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Ausblick: ›Echte‹ Körper der Nation?
Die Darstellungen von Hermann und Germania-Thusnelda übersetzten die
ständisch-vertikale Gliederung des nationalen Kollektivkörpers in eine Differenz
zwischen weiblicher Bedürftigkeit und männlichem Erlösungshandeln. Die
emanzipatorische Aussage dieser Inszenierungen bestand in der Umdeutung der
Adelsnation zu einer Gemeinschaft männlicher Akteure, deren Homogenität
nicht mehr primär durch den sozialen Status, sondern über das geteilte Kriterium wehrhafter und moralgefestigter Männlichkeit definiert war. Die geteilte
männliche Differenz zu einem das Überindividuelle, Überzeitliche verkörpernden
Weiblichen war Voraussetzung für die Semantik männlicher Egalisierung und
politischer Partizipation. Zugleich blieb aber in den Bildern sichtbar, dass die
so konstituierten männlichen Subjekte des Rückbezuges auf das legitimierende
weibliche Ganze bedurften. Es wurde eine Nicht-Identität von Männlichkeit und
Nation sichtbar. Die Semantik der Nicht-Identität entfaltete in den Symbolkämpfen des Vormärz, der 48er Revolution und der kriegerischen Reichsgründungsphase eine politisch produktive Dynamik: Solange ein deutscher Nationalstaat
Zielgröße politischen Handelns war, befeuerte sie die bürgerlichen, liberalen
wie demokratischen Phantasien von Ermannung und mannhaftem Kampf für
das Ideal nationaler Einheit. In den Jahren nach der Reichsgründung von 1871,
auf dem Höhepunkt ihrer Prominenz und Allgegenwärtigkeit auf Krieger- und
Nationaldenkmälern, öffentlichen Bauten, Postkarten, Festspielbühnen und als
Werbeikone für Wein, Bier, Tabak, Schokolade oder Versicherungen wurde die
weibliche Verkörperung des männlich definierten Nationalstaates jedoch bald
zum Problem, das eine weitere Transformation des nationalen Bilderhaushaltes
einleitete.39
In einer komplexen, zunehmend medialen, konflikthaften und Demokratisierung einfordernden Realität sehnten sich sowohl Konservative wie Bismarck als
auch Liberale und nicht zuletzt Vertreter eines völkischen Nationalismus nach
einer männlichen Verkörperung der Nation. Die politischen Zugriffe auf die
Nationalfigur pluralisierten sich. Nicht nur übten Sozialdemokraten mit ihrem
Bild einer reinlichen und zum Frieden erziehenden »echten« Mutter Germania
Kritik an der in ihren Augen militant-vermännlichten Figur des Nationaldenkmals auf dem Niederwald, sondern erhob auch die bürgerliche Frauenbewegung Germania zu ihrer »Schirmherrin« und forderte in ihrem Namen die
Frauenemanzipation. »Ist eine deutsche Frau so hoch erhoben/ Geziemt es jeder
ihre Kraft erproben […] Jetzt ist es leichter Sieg zu prophezeien/ Wenn wir zu
ihrer Ehr uns selbst befreien«, schrieb Louise Otto, Gründerin und Vorsitzende
39 Dazu Brandt (wie Anm. 5), S. 313-343 und S. 357-360.
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Bettina Brandt
des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, 1883 anlässlich der Einweihung
des Niederwalddenkmals.40 Zwar bestätigten Sozialdemokraten wie auch die
Frauenbewegung mit ihren Germanien die binäre Geschlechterordnung, doch
war der Raum des Politischen so überzeugend als ein naturgemäß männlicher
Raum etabliert, dass sich Kritiker zunehmend an einem weiblichen Körperbild
des Politischen störten. Bismarck lehnte die Niederwald-Germania mit dem
Argument ab, ein »weibliches Wesen mit dem Schwert« sei etwas »Unnatürliches«, und der Berliner Kunstkritiker Ludwig Pietsch kommentierte in der
Vossischen Zeitung: »Ein Mädchen als Verkörperung männlicher Heldenkraft,
zäher Tapferkeit, ausdauernder Tüchtigkeit und zorniger Begeisterung – welch
ein Widerspruch in sich!«41 Für die kulturkritische Publizistik der Zeitschrift Der
Kunstwart wiederum stand die Germania seit den 1890er Jahren beispielhaft für
die ›byzantinische‹ Kunstpolitik Wilhelms II., für die theatrale Phrase, aber auch
für die kitschige Massenware der Denkmals- und nationalen Zubehör-Industrie;
mit ihnen waren Hof und kapitalistischer Markt gemeint als Kräfte, die in der
bürgerlichen Wahrnehmung die Gesellschaft zu zerreiben drohten. GermaniaFlachsperücken und Pappbrustpanzer als bestellbare Standardausstattung für
nationale Festspielinszenierungen erschienen als Ausdruck konventioneller
Erstarrung. Gefragt war das ›Echte‹, und dafür sollte die »Vollblutrasse« einer
am ›Volk‹ orientierten Kunst die Lösung bieten.42 Der weiblichen Verkörperung
der Nation fehle »Blut und Leben«, die Germania sei nurmehr ein »frostige[s]«
Zeichen, meinte auch der Berliner Germanist Gustav Roethe.43 Sie kollidierte
mit den zeitgenössischen Auffassungen und Wünschen nach einer authentischen
Darstellung des Politischen und der Nation. Wurde der weibliche Körper mit
Medialität und Massenhaftigkeit gleichgesetzt, schien der Körper des männlichen Helden Nation, Staat und Politik in sich zu vereinen. ›Echtheit‹ sollten
nun auch architektonische Monumente verbürgen, indem sie die Nation für
die realen Körper erlebbar machten. Auf ein solches Raumerleben war etwa das
1913 eingeweihte Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig ausgerichtet. Nicht die
Gründung des Nationalstaates wurde mit dem Denkmal erinnert, sondern eine
Klassen übergreifende »Erneuerung« des »nationalen Seins« proklamiert, deren
historischer Bezugspunkt die Mobilisierung der ›Volksnation‹ gegen Napoleon
40 Vgl. »Mutter Germania«, in: Der Wahre Jacob 5 (1888) Nr. 61, S. 486; Louise Otto, »Germanias
Standbild. Dem deutschen Frauentag in Düsseldorf gewidmet«, in: Neue Bahnen 18 (1883) Nr.
20, S. 157, Hervorhebungen im Original.
41 Eduard von Lade, Erinnerungen aus meinem vielbewegten Leben, Wiesbaden 1901, S. 78; Vossische Zeitung Nr. 453 (28.9.1883), Hervorhebung im Original.
42 Ferdinand Avenarius, »Musterbuch-Kitsch«, in: Der Kunstwart 28 (1915), S. 174-177; »Bildende Künste«, in: ebd. 4(1890/91), S. 28.
43 Gustav Roethe, »Deutsches Heldentum (1906)«, in: ders., Deutsche Reden, Leipzig [1927], S. 3.
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»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«
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im Jahre 1813, und deren Sinnbild martialische Männlichkeit darstellte.44 Gerade
im Zeichen einer Hygiene und Sexualität des ›Volkes‹ steuernden, rassistischen
Biopolitik konnte jedoch auf die dem Weiblichen zugeschriebene Funktion
biologischer Reproduktion nicht verzichtet werden. Die von Franz Metzner
gestaltete, mehr als neun Meter hohe Sitzplastik der Volkskraft im Inneren des
Denkmals zeigt daher eine wuchtige Kriegerfigur, die sich von ihren männlichen
Pendantfiguren der Tapferkeit, Glaubensstärke und Opferbereitschaft nur durch
die Hinzufügung eines Schleiers und weiblicher Brüste unterscheidet, an denen
sich zwei Säuglinge nähren. Die politische Verfügung über weiblich konnotierte
Sexualität wurde auf ein männliches Körperbild übertragen – eine ambivalente
Figur, die nun auch den männlichen Körper der Amtstracht entkleidete und als
Subjekt der Bio-Politik sichtbar machte.
Abbildungsnachweise
Abb. 1: München, Bayerische Staatsbibliothek, Inv. Nr. Clm 4453, fol. 23r-24v.
Abb. 2 und 3: Wien, Albertina Museum, Inv. Nr. 25211
Abb. 4: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Inv. Nr. IH 101
Abb. 5: Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv. Nr. XIII, 444, 96
Abb. 6: Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Inv. Nr. Gü.
8045, fol. 92
Abb. 7: Johann Rist, Das Friedewünschende Teutschland (1649), in: ders., Sämtliche Werke, unter Mitw. v. Helga Mannack und Klaus Reichelt hrsg. v. Eberhard
Mannack, Bd. 2: Dramatische Dichtungen, Berlin, New York 1972
Abb. 8 und 9: Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius,
Leipzig 1689/90, Faksimiledruck, hrsg. u. eingel. von Elida Maria Szarota, 2 Bde.
Bern, Frankfurt a. M. 1973
Abb. 10: Christoph Otto Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte
Deutschland, Leipzig 1753, Lippische Landesbibliothek Detmold, 02 A 725b.2.3.
Abb. 11: Hamburg, Kunsthalle, Inv. Nr. 1048
Abb. 12: Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. Nr. Gm 96/29
Abb. 13: Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Foto:
Sven Adelaide
44 Alfred Spitzner, Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, das Ehrenmal seiner Befreiung und
nationalen Wiedergeburt, Leipzig 1913; Stefan-Ludwig Hoffmann, »Sakraler Monumentalismus
um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal«, in: Reinhart Koselleck u. Michael Jeismann
(Hgg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249-280.
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Bettina Uppenkamp
Insel der Hermaphroditen
Bildpolitik im Umkreis des Hofes von Heinrich III. von Frankreich
Die Figur des Hermaphroditen spielt in der Kultur des 16. Jahrhunderts in nahezu
allen Bereichen eine wichtige und zugleich widersprüchliche Rolle. Sie wurde
zu einem Gegenstand der Reflexion für die Natur- und Moralphilosophie, die
Alchemie und die Medizin, sie beschäftigte die Rechtsprechung. Dichter und
Künstler haben die unterschiedlichen Mythen immer wieder neu gestaltet und
ausgelegt, die sich mit dieser Figur verbinden und von denen die AristophanesRede über den Ursprung der Macht des Eros im Symposion Platons und Ovids
Erzählung vom Begehren der Wassernymphe Salmacis nach Verschmelzung
mit dem schönen Sohn des Hermes und der Aphrodite die bekanntesten und
wichtigsten sind.1 Während die platonische Geschichte von den primordialen
Doppelwesen, unter denen ein drittes, mann-weibliches Geschlecht war, von
einer ursprünglichen Einheit und Vollkommenheit auch der androgynoi ausgeht,
einer Vollständigkeit, deren Verlust durch die göttliche Strafe der Zweiteilung
in der heterosexuellen Vereinigung Heilung sucht, stellt sich bei Ovid die Metamorphose des Hermaphroditen durch die Vereinigung mit der Nymphe nicht
als Vollendung im anderen, sondern als Verlust von Männlichkeit dar, der mit
einem Fluch verbunden wird.2
Kathleen P. Long hat in einer glänzenden Studie den unterschiedlichen Dimensionen der Figur des Hermaphroditen in den philosophisch-spekulativen,
den hermetischen und künstlerischen, sich teilweise überlappenden und sich
gegenseitig beeinflussenden Diskursen der Renaissance in Europa und vor
1 Platon, Gastmahl, übers. u. eingel. v. K. Hildebrandt, Leipzig 1920, 189c-193b; Publius Ovidius
Naso, Metamorphosen, lateinisch / deutsch, übers. u. hrsg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart
1994, IV, 271-415.
2 »Sobald er also bemerkt hatte, dass ihn die klaren Wellen, in die er als Mann hinabgestiegen
war, zum Zwitter gemacht hatten und dass seine Glieder darin weibisch geworden waren,
streckte Hermaphroditus die Hände aus und sprach mit einer Stimme, die nicht mehr männlich war: ›Vater und Mutter, macht eurem Sohn, der nach euch beiden benannt ist, ein Geschenk: Jeder, der diese Quelle als Mann betritt, möge sie als Halbmann verlassen und, sobald
er die Wellen berührt, weibisch werden.‹ Beide Eltern ließen sich rühren, erfüllten den Wunsch
ihres zwitterhaften Sohnes und tränkten die Quelle mit einem Zaubermittel, das auf das Geschlecht wirkt.« Ovid (wie Anm. 1), IV, 380-388.
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Insel der Hermaphroditen
99
allem in Frankreich nachgespürt.3 Insbesondere im Bereich der künstlerischen
Fiktion dient die Figur des Hermaphroditen der teils spielerischen Herausforderung einer strikten heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und avanciert
zu einem ästhetischen Ideal, in dem die »Sehnsucht nach Vollkommenheit«4
in der Vereinigung des Gegensätzlichen ein Bild findet, das im Monströsen,
der Widernatur, der Missgeburt und dem Verbrecherischen sein Gegenbild
hat. »Einträchtige Zwietracht und zwieträchtige Eintracht« sind von Werner
Hofmann zu Strukturmerkmalen manieristischer Kunst erklärt worden, in der
Schönheit sich mit dem Ungeheuerlichen verschwistern kann.5 Der Kulturtheoretiker Gustav René Hocke hat in seinem berühmt gewordenen Buch über den
Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, den Hermaphroditen
als einen der »›vereinenden‹ Zentral-Mythen« der magischen Naturphilosophie
und der manieristischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts bezeichnet.6 Die
Geschichte der kulturellen Existenz des Hermaphroditen ist zugleich geprägt
von Verehrung und Verstoßung, die dem Schrecken der Übertretung folgt.7
Eng mit seiner geschlechtlichen Zweideutigkeit verbunden sind die Motive der
3 Kathleen P. Long, Hermaphrodites in Renaissance Europe, Aldershot 2006. Auch wenn Long
zum Teil auf Bilder von Hermaphroditen eingeht, etwa auf Illustrationen in medizinischen
Abhandlungen, bleibt der Bereich der bildenden Künste im engeren Sinne von ihr unberücksichtigt. Zu Bedeutung und Funktion des Hermaphroditen in der Alchemie vgl. auch Achim
Aurnhammer, »Zum Hermaphroditen in der Sinnbildkunst der Alchemisten«, in: Christoph
Meinel (Hg.), Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden
1986, S. 179-200; siehe auch ders., Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen
Literatur, Köln 1986; einen breit angelegten und daher im Einzelnen eher kursorischen Überblick über die Figur des Heramphroditen in der Kunst bietet Andrea Raehs, Zur Ikonographie
des Hermaphroditen. Begriff und Problem von Hermaphroditismus und Androgynie in der Kunst,
Frankfurt a. M. 1990; zum ästhetischen Ideal der Androgynie in der Kunst des 16. Jahrhunderts Karin Orchard, Annäherungen der Geschlechter, Münster, Hamburg 1992. Einen breiten
Überblick über den Umgang mit Hermaphroditen von der Antike bis hin zum Umgang mit
Intersexualität in der Gegenwart liefert die medizinische Dissertation von Erika Nussberger auf
der Grundlage medizinischer, juristischer und kulturgeschichtlicher Quellentexte. Vgl. Erika
Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute, Wien, Köln,
Weimar 2014.
4 »Sehnsucht nach Vollkommenheit« war der Titel einer 1986 ausgerichteten Ausstellung im
Neuen Berliner Kunstverein, der eine Pionierfunktion im Hinblick auf das Thema Androgynie
in der Kunst zugesprochen werden muss. Sehnsucht nach Vollkommenheit, Ausstellungskatalog
Neuer Berliner Kunstverein, hrsg. v. Ursula Prinz, Berlin 1986.
5 Werner Hofmann, »Einträchtige Zwietracht«, in: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, Ausstellungskatalog Wiener Festwochen, Wien 1987, S. 13-21, hier S. 19.
6 Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst,
Hamburg 1957, S. 202.
7 Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl, »Nachwort« zu Michel Foucault, Herculine Barbin. Über
Hermaphroditismus, hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1998, S. 215246, hier S. 219.
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Bettina Uppenkamp
Täuschung und der Travestie als Praktiken der Überschreitung und Verwirrung
der Geschlechterordnung, die nur entweder Männer oder Frauen anerkennen
möchte, ebenso wie sich hier der Verdacht der Sodomie, der Bougrerie und des
bisexuellen Exzesses anheftet. Dennoch: »Ritueller Geschlechtertausch und feudale Maskerade sind zwei Seiten eines kulturellen Vexierbildes, das die sexuelle
Zweideutigkeit transportiert, und noch die politische Symbolik hat – über das
Verdikt gegen die hermaphroditischen Wesen hinweg – von diesem Passieren
der Grenzen profitiert.«8 Im Feld des Politischen treffen die mit der Figur des
Hermaphroditen in der Frühen Neuzeit verbundenen Ambivalenzen aufeinander.
Der Hermaphrodit kann hier in seiner sexuellen Uneindeutigkeit, welche die
hierarchische Ordnung zweier Geschlechter in Frage stellt, zum Zeichen gravierender sozialer Unordnung werden; er kann aber als doppelgeschlechtliches
Wesen auch die Utopie der Vereinigung politischer Gegensätze und Befriedung
polarisierter politischer Verhältnisse verkörpern.9
Insel der Hermaphroditen: Ein Buch von 1605
Im Jahr 1605 erschien in Paris ein in der deutschsprachigen Geschlechterforschung
bisher wenig rezipiertes Buch, welches heute unter dem Titel L’Isle des Hermaphrodites bekannt ist.10 In der Form angelehnt an frühneuzeitliche Reiseberichte aus
der Neuen Welt11, erzählt hier ein literarisches Ich wie es nach abenteuerlichen
Jahren des Umherschweifens in fremden Weltgegenden schließlich auf dem Rückweg in die französische Heimat durch Schiffbruch auf eine phantastische Insel
8 Ebd. S. 220.
9 Siehe auch Long (wie Anm. 3), S. 2.
10 Das Buch wurde von Claude-Gilbert Dubois nach einem Exemplar der Erstausgabe in der
Pariser Nationalbibliothek, bezeichnet mit Lb 34 806, bei Droz neu herausgegeben und kritisch kommentiert. L’Isle des Hermaphrodites, hrsg. v. Claude-Gilbert Dubois, Genf 1996.
Der Text erfuhr mehrere Ausgaben zwischen 1605 und 1610 und im 18. Jahrhundert mehrere
Neuausgaben, gedacht als Ergänzung zu Pierre de L’Estoiles Journal de Henri III und kombiniert mit anderen Texten unter dem erweiterten Titel Descriptions de l’Isle des Hermaphrodites
nouvellement découverte. Contenant les Moeurs, les Coutumes & les Ordonances des Habitans de
cette Isle, comme aussi le Discours de Jacophile à Limne, avec quelques autres pieces curieuses. Pour
servir de Supplement au Journal de Henri III, Köln 1724 und Paris 1744. Zu den Ausgaben
vgl. Dubois, S. 43 f. Ein Exemplar der Ausgabe von 1724 ist elektronisch zugänglich unter:
https://books.google.fr/books?id=38o5AAAAcAAJ&printsec=frontcover&dq=Description+
de+l‘isle+des+hermaphrodites&hl=fr&ei=KESWTtyEBtGO0QGw_62OCA&sa=X&oi=b
ook_result&ct=result&resnum=1 (zuletzt aufgerufen 29. 10. 2016). Seitenangaben beziehen
sich auf diese leicht zugängliche Ausgabe.
11 Zu den literarischen Bezügen zur frühneuzeitlichen Reiseliteratur wie zur utopischen Literatur vgl. Dalia Harnik, L’Isle des Hermaphrodites de Thomas Artus. Les Mignons à la Cour d’Henri
III de Valois. Œuvre Baroque, Essen 2015, vor allem Kap. III, S. 151-178.
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Insel der Hermaphroditen
101
verschlagen wurde. Diese Insel, auf der der Erzähler und seine Begleiter gestrandet
sind, ist, wie sie feststellen, ein ohne jede Verankerung frei im Ozean flottierendes
Gebilde12, so fruchtbar und blühend, dass die Geretteten glauben, die Fabel von
den elysischen Feldern müsse doch wahr sein. Ein Gebäude, auf das sie nach ihrer
Anlandung auf der Suche nach etwas Essbarem stoßen, stellt sich ihnen in seiner
materiellen Pracht aus Marmor, Jaspis, Porphyr, Gold, verschiedenen Emaillen
und mit seinem skulpturalen Schmuck so staunenswert schön dar, dass ihnen
dieser Palast wie eine Illusion und nicht wie eine wirkliche Architektur erscheint,
denn ein Auge sei unzureichend, um solche Schönheit zu erfassen.13 Wie sich
dann schnell herausstellt sind die Havarierten auf einem Eiland gelandet, das als
Insel der Hermaphroditen bezeichnet wird und von menschlichen Wesen mit
uneindeutiger Geschlechtszugehörigkeit bewohnt und regiert wird, die hier ein
luxurierendes, hochgradig ritualisiertes, ebenso theatralisches wie epikureïsches
Reich errichtet haben und einem Kult der Venus, des Cupido und des Bacchus
huldigen. Instabilität und Zweideutigkeit charakterisieren nicht nur die Insel
und die Erscheinung ihrer hermaphroditischen Bewohner, sondern auch deren
Sprache, Verhalten und Umgebung. Dieses gilt in einem ganz wortwörtlichen
Sinne, wenn die Bewegungsart der »demi-femmes« von einer hin- und herwackelnden Eleganz ist, eine Fortbewegungsart, die dem Erzähler recht riskant, den
Hermaphroditen aber gegenüber natürlichen Gangarten in ästhetischer Hinsicht
weit überlegen erscheint.14 Es gilt aber auch drüber hinaus, wenn klare Grenzen
nicht nur im Hinblick auf die Geschlechtsidentität verschwimmen, sondern
sich auch der Unterschied zwischen Kunst und Natur aufzuheben scheint. Auf
dem Weg durch den labyrinthischen Palast, der ihn an zahlreichen Kunstwerken
erotischen Inhalts vorbei führt, vor allem Darstellungen von Metamorphosen
nach Ovid, in denen neben dem Gestalt- auch der Geschlechtswechsel eine
Rolle spielt, dringt der Erzähler schließlich in das ebenfalls üppig geschmückte
Schlafzimmer eines Hermaphroditen vor, den er zunächst für eine bemalte
Statue hält. »[…] aux milieu du lict on voyoit une statuë d’un homme a demy
hors du lict […] Le Visage étoit si blanc, si luisant & d’un rouge si éclatant,
qu’on voyoit bien qu’il y avoit plus d’artifice que de nature; ce qui me faisoit
aisément croire que ce n’étoit que peinture.«15 Mehr Kunstfertigkeit als Natur ist
die herausstechende Eigenartigkeit, mit der der Erzähler sich auf der Insel der
Hermaphroditen konfrontiert sieht, eine Kunstfertigkeit, welche alles überzieht
und zu durchdringen scheint, in einer Art und Weise, dass die Differenz von Sein
und Schein kollabiert – ein klaustrophobisches, manieristisches Zauberreich,
12
13
14
15
L’Isle (wie Anm. 10), S. 4 f.
Ebd., S. 5.
Ebd., S. 19.
Ebd., S. 21 f.
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Bettina Uppenkamp
in dem gerade nicht die Geschlechterdifferenz, sondern deren Irritation unaufhörlich aufgeführt und theatralisch inszeniert wird. Die Schilderungen, die der
Erzähler von den Räumlichkeiten, den An- und Umkleidezeremonien wie auch
den Mahlzeiten der Hermaphroditen liefert, oszillieren zwischen spektakulär und
lächerlich. Die Erkundung des Palastes, die über Gänge und durch Tapetentüren
in Schlafzimmer, Bildergalerien und Skulpturensäle, vorbei an Tapisserien führt,
endet schließlich in einem Raum, in welchem sich besonders reich geschmückte
Statuen befinden16, darunter solche von Nero und Sporus, einem Knaben, der
angeblich von Nero kastriert und in Frauenkleidern geehelicht wurde. Außerdem
findet sich in diesem Raum die Statue eines Hermaphroditen mit zwei Gesichtern, eines weiblich, eines männlich, und die Darstellung des spätrömischen
Kaisers Heliogabalus, der in der Geschichtsschreibung des Mittelalters und
der Frühen Neuzeit aufgrund seiner angeblichen sexuellen Ausschweifungen,
seinem Streben nach Androgynie und sogar nach Kastration zu einem Symbol
von Dekadenz und Despotie geworden war.17 Die Kastration des Heliogabalus
war dem Erzähler schon auf einer der Tapisserien begegnet, an denen vorbei er
in diesen letzten Raum gelangt ist, in dem er Einsicht in das Gesetzesbuch des
Hermaphroditenreiches nehmen kann. Kathleen P. Long bezeichnet die Figuren
des Hermaphroditen und des Heliogabalus als »the two extremes of hermaphroditism. Hermamproditus embodies both male and female characteristics, whereas
Heliogabalus, […] embodies neither.«18 – Zu viel Geschlecht auf der einen, zu
wenig auf der anderen Seite.
Hermaphroditische Gesetze
Während der erste Teil des Textes die Begegnung mit mehreren Hermaphroditen
schildert, gibt der zweite Teil in einem »Extraits des mêmes Loix«, einem Auszug
aus ihren Gesetzen, Einblick in die Glaubensgrundsätze (»Ordonnances sur le
fait de leur Religion«, »Articles de Foy des Hermaphrodites«) und zivilen und
militärischen Rechtsregelungen (»La Justice & les Officiers de cet Etat«, »La
16 Ebd. S. 28 f.
17 Heliogabalus oder Elagabal, wie der Kaiser posthum nach der syrischen Sonnengottheit genannt wurde, deren Kult er hatte in Rom als Staatsreligion einführen wollen, hieß eigentlich
Varius Avitus Bassaianus; als Kaiser nannte er sich Marcus Aurelius Antonius. Vor allem seine
Religionspolitik stieß auf erbitterten Widerstand in Rom, und nach seiner Ermordung wurde
Heliogabalus der damnatio memoriae anheim gegeben. Die Berichte über Orgien, Prostitution, Homo- und Transsexualität, welche sein Bild schon in der spätantiken Geschichtsschreibung bestimmen, müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Vgl. etwa Martijn Icks,
Elagabal. Leben und Vermächtnis von Roms Priesterkaiser, Darmstadt 2014.
18 Long (wie Anm. 3), S. 226.
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Insel der Hermaphroditen
103
Police de cet Etat«, »Les Loix Militaires de cet Etat«) ihres sonderbaren Reiches,
welches wie ein Vexierbild von Utopia, wie eine Anti-Utopie erscheint.19 Hier ist
vorgeschrieben, was anderenorts verboten ist, grundlegende, gesellschaftsstiftende
Normen und Tabus sind auf paradoxe und teils in sich widersprüchlicher Art
und Weise pervertiert, und ein Sitten- und Sprachkodex (»L’entregent de cet
Etat«) reglementiert Verhalten und Sprechen so, dass konventionelle Sinngehalte
verkehrt und ausgehöhlt werden.
Der erste Absatz in den Verordnungen über die Glaubensdinge lautet: »Les
Cérémonies de Bacchus, & de Cupidon & de Venus, soient ici continuellement
& religieusement observées, toute autre religion en soit bannie à perpétuité, si ce
n’est pour plus grand volupté. Toutesfois nous n’empêchons de s’accommoder
avec les autres Religions, pourvu que ce ne soit qu’en apparence, & non par
croyance.«20 Einerseits wird hier strenge Glaubensobservanz gegenüber den
genannten Göttern vorgeschrieben, andererseits aber im Namen größerer
Wollust die Lizenz gegeben, sich auch anderen Religionen zuzuwenden unter
der Voraussetzung, dass dieses nur zum Schein und nicht aus einem wirklichen
Glauben heraus geschehe. Die Vermehrung der Lüste und die Kultivierung der
Scheinheiligkeit und Heuchelei sind zwei Motive, die sich wie rote Fäden durch
das gesamte Gesetzeswerk ziehen. Weder Mord ist verboten noch Feigheit vor
dem Feind.21 Vater- Mutter- oder Brudermord werden nicht verfolgt22; Ehebruch
ist geboten, Eifersucht dagegen ein Verbrechen; erlaubt ist es dennoch, die Gattin
einzusperren, vorausgesetzt es bleibt ein Schlupfloch für den Liebhaber23; das
Inzesttabu ist außer Kraft gesetzt. »Pour le regard des incestes du pere avec la
fille, du frere avec la soeur, du gendre avec la belle mere & autres, que les fols
& mal avisés tiennent à si grand crime, nous voulons & entendons qu’on en
puisse user avec toute franchise & liberté, attendu que cela concerne & augmente d’autant plus les familles, si aucune consanguinité peut estre distinguée
parmy eux.«24 Die Auflösung verwandtschaftlicher Ordnungen und Bindungen
wird durch die Abschaffung der Wörter für Vater, Mutter, Bruder, Schwester,
Onkel, Neffe, Cousin usw. besiegelt. Die einzigen erlaubten Bezeichnungen
sollen Monsieur und Madame sein.25 Wenn sich in dieser Bestimmung die konventionelle Geschlechterdistinktion scheinbar wieder eingeschlichen hat, wird
19 Lise Leibacher-Ouvrard, »Decadent Dandies and Dystopian Gender-Bending. Artus Thomas’
L’Isle des hermaphrodites (1605)«, in: Utopian Studies 11, 1 (2000), S. 124-131, hier S. 125.
20 L’Isle (wie Anm. 10), S. 31.
21 Ebd. S. 41.
22 Ebd.
23 Ebd. S. 42 f.
24 Ebd. S. 44.
25 Ebd. S. 45.
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Bettina Uppenkamp
weiter unten deutlich, dass identitäre Kategorien im Land der Hermaphroditen
keine substantielle Entsprechung, keine Essenz haben »car en cette isle l’habit
fait le moine, & non pas au contraire.«26 Jeder aber darf Kleider nach seiner
Fantasie tragen, vorausgesetzt, sie sind prunkvoll und ähneln einer weiblichen
Aufmachung. Soziale Differenzen sollen sich hier ebenso wenig ausdrücken wie
geschlechtsspezifische, Amtsträger mit bestimmten Befugnissen sollen gerade
nicht zu identifizieren sein. Die hermaphroditische Kleiderordnung stellt also
auf den Kopf, was Kleiderordnungen und Luxusgesetze in der Frühen Neuzeit
leisten sollten, die Sichtbarkeit gesellschaftlicher Hierarchien differenziert nach
Geschlecht, Status, Stand und Amt.27 Auch die militärischen Ränge sind komplett
abgeschafft.28 Dass Inhaber von Befugnissen und Ämtern, gehören sie zur Polizei
oder zur Steueraufsicht, im Land der Hermaphroditen den gesetzlichen Auftrag
zur Bereicherung und zum Betrug haben, kann letztlich nicht mehr überraschen.29
Geschlecht als Verkleidung
Das Buch wird in seiner ersten gedruckten Ausgabe von 1605 mit einem Frontispiz
geschmückt (Abb. 1), welches mit leichten Variationen auch in weitere Ausgaben
aufgenommen wurde. Der Kupferstich zeigt in seinem zentralen Bildfeld eine
menschliche Figur vor einer sich in die Bildtiefe erstreckenden, hügeligen Landschaft, in der links im Mittelgrund mehrere zum Teil festungsartige Gebäude zu
erkennen sind. Die Figur, die dicht an den unteren Bildrand herangerückt ist
und nahezu die gesamte Höhe des Bildfeldes einnimmt, ist mit einer Kniebundhose und einer kurzen in der Taille gegürteten Jacke aus gestreiftem, offenbar
schimmerndem Stoff bekleidet, ein Kostüm, welches deutliche Ähnlichkeit mit
26 Ebd. S. 58.
27 Ein prägnantes Beispiel liefert die auf dem Augsburger Reichstag unter dem Vorsitz Kaiser
Karls V. verabschiedete Reichspolizeiordnung von 1530, die ausführlich auf die ständisch gestaffelte Kleiderordnung eingeht und unter Berücksichtigung von Schnitten, bis hin zur Reglementierung der zulässigen Anzahl von Falten, und Materialien detaillierte Vorgaben macht,
was wer und wann tragen darf. Die Normierung der Kleidung wird unter dem Absatz IX
folgendermaßen begründet: »Nachdem ehrlich und ziemlich und billich, daß sich ein jeder,
weß Würden oder Herkommen er sey, nach seinem Stand Ehren und Vermögen trage, damit
in jeglichem stand underschiedlich erkanntnus sein mög […]«. Einsehbar ist die Reichspolizeiordnung von 1530 unter https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Polizeiordnung_
von_Karl_V._1530 (zuletzt aufgerufen 29. 10. 2016). Der seit dem 16. Jahrhundert wachsenden
Bedeutung des höfischen Zeremoniells und damit der Kleidung als distinktem Bedeutungsträger entspricht eine Zunahme von Kleiderordnungen. Vgl. Philipp Zitzlsperger, Dürers Pelz
und das Recht im Bild. Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, S. 127 f.
28 L’Isle (wie Anm. 10), S. 81.
29 Ebd., S. 55 ff.
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Insel der Hermaphroditen
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Abb. 1: Frontispiz zu Thomas Artus (zugeschr.), L’Isle des Hermaphrodites nouvellement
descouverte, avec les moeurs, loix, coutumes et ordonnances des habitans d’icelle, 1605,
Kupferstich, Paris, Bibliothèque nationale, LB 34 806
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Bettina Uppenkamp
höfischer Männerkleidung um 1600 in Frankreich aufweist, wenngleich die
Weite der Beinkleider übertrieben scheint. Die auf Kniehöhe endenden Hosen
lassen Hüften und Oberschenkel voluminös gerundet wirken. Unter der Jacke,
mit einer zierlichen Knopfleiste versehen, zeichnen sich zart Brüste ab. Ein ausladender Spitzenkragen rahmt das bartlose Gesicht, eine Perlenkette ziert den
Hals, und die kunstvoll hoch aufgetürmte Frisur ist mit Blüten geschmückt.
Blumiger Schmuck befindet sich auch auf den Schuhen. Ihren rechten Arm hat
diese Figur seitlich auf die Hüfte gestemmt, die linke Hand ruht auf dem Griff
des Schwertes, mit dem sie gegürtet ist. Von der linken Schulter fällt ein langer
Umhang herab. Die auffällige Frisur, in der die Erscheinung gipfelt, ragt in ein
Schriftband hinein, in welchem zu lesen ist: »a tous accords« – mit allem einverstanden. In einem vom Hauptbild durch Rahmen abgesetzten Streifen steht
der Schriftzug »Les Hermaphrodites«. Zusammen wirken diese Schriftzüge in
ihrer Beziehung zu dem Bild wie ein emblematisches Motto und werden durch
eine subscriptio ergänzt. Unterhalb der figürlichen Darstellung rahmen Rollwerk
und Blattranken folgenden Vers:
Je ne suis masle ny femelle / Et si je suis bien en cervelle / Le quel des deux
je dois choisier / Mais qu’importe a qui on ressemble / Il vaut mieux les avoir
ensemble / On en reçoit double plaisir.30
Die von Michel Foucault in seiner Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Erinnerungen der Herculine Barbin aufgeworfene Frage: »Brauchen wir
wirklich ein wahres Geschlecht?« wird hier verneint, und zurückgewiesen wird
die ›an Starrsinn grenzende Beharrlichkeit‹, mit der Foucault zufolge die Gesellschaften des Abendlandes diese Frage bejaht haben.31 Zurückgewiesen wird
auch der Zwang jener vormodernen Gesetze, die zwar weniger die anatomische
Vermischung zweier Geschlechter verfolgten, als vielmehr die Betroffenen vor
die Wahl stellten, sich entweder für das eine oder das andere Geschlecht zu
entscheiden und ihre Rolle entsprechend einzunehmen, um klare Verhältnisse
herzustellen.32 Die Zurückweisung der Entscheidung erfolgt im Namen einer
Vermehrung der Lust.
30 »Ich bin weder männlich noch weiblich / Und wenn ich gut bei Verstand bin / Welches der
beiden soll ich wählen / aber was macht es aus, wem man ähnelt / Es ist besser sie gemeinsam
zu haben / Daraus empfängt man doppelte Lust.« (Übersetzung Bettina Uppenkamp).
31 Michel Foucault, Herculine Barbin. Über Hermaphroditismus, hrsg. v. Wolfgang Schäffner und
Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1998, S. 7. Foucault zeichnet in diesem Vorwort die Verschiebung
nach, die aus dem Hermaphroditen als juristischem und sozialen Problemfall im Verlauf des
18. Jahrhunderts einen Fall für die Ärzte macht, denen es als Experten jetzt obliegt, das eine
»wahre« Geschlecht festzustellen, welches sich hinter einer verwirrenden Anatomie verbirgt.
32 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis
Freud, Frankfurt a. M. 1992, S. 157.
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Insel der Hermaphroditen
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Während die weitaus meisten europäischen Darstellungen von Hermaphroditen im 16. Jahrhundert wie schon in der Antike die Hermaphroditen unbekleidet
zeigen, um die Zwittrigkeit des Körpers deutlich werden zu lassen – sei es im
Kontext von medizinischen Abhandlungen, hermetischen oder alchemistischen
Schriften oder aber in der Kunst, und unabhängig davon, ob diese Bilder die
Monstrosität oder aber im Gegenteil die Idealität der Zweigeschlechtlichkeit im
Sinne einer Harmonisierung des Gegensätzlichen herausstellen wollen – gibt
die Darstellung auf dem Frontispiz von der ›natürlichen‹ Beschaffenheit des
Körpers, von seiner Morphologie unter der Hülle seiner (Ver)Kleidung nichts
preis. Dieses korrespondiert mit der Schilderung der Hermaphroditen im Text.
Sie zielt kaum auf die körperlichen Merkmale, nicht auf die Sexualorgane oder
Fragen der Reproduktion, sondern vordringlich, wie auch Kathleen P. Long
betont33, auf die kulturellen Zeichen des Geschlechts, auf Kleidung, Gesten,
Sprache, den öffentlichen Habitus. Es ist vor allem die gestalterische Dimension
der Oberflächen, der Erscheinung, in der die Inselbewohner in aufwändigen
Prozeduren des Ankleidens, des Schminkens, Frisierens und Schmückens ihre
Körper als hermaphroditisch erscheinende Körper kunstvoll formen, und die
der Erzähler, der einer Art zeremoniellem Lever beiwohnt, in Ausführlichkeit
beschreibt.34 Dazu gehört zum Beispiel, dass auch das Aussehen der Gesichter
unter Schminke und Maske niemals zum Vorschein kommt und die Hände in
Handschuhen stecken. Das Bild, welches der Erzähler von den Hermaphroditen
zeichnet, ist das eines manieristischen Kunstwerkes, welches seine artifizielle
Raffinesse ebenso ausstellt, wie es die in seine kunstvolle Erscheinung investierte
Mühe – der Erzähler fühlt sich an Folterprozeduren erinnert – durch Könnerschaft in den Techniken des »self-fashioning« zu überspielen sucht.35
Blutige Tragödien in Frankreich
Als Motivation für seinen Aufbruch aus Frankreich in die Neue Welt gibt der
namenlos bleibende Erzähler der Isle des Hermaphrodites in seiner Einleitung den
Wunsch nach neuartigen Erlebnissen und den Überdruss an der Alten Welt an,
andererseits macht er die Angst geltend, in die blutigen Tragödien hineingezogen
33 Long (wie Anm. 3). Der Isle des Heramphrodites ist in ihrem Buch das 8. Kapitel gewidmet:
»Hermaphrodite Newly Discoverd: The Cultural Monsters of Early Modern France«, S. 215235, hier S. 216.
34 L’Isle (wie Anm. 10), S. 16 ff.
35 Der Begriff des »self-fashioning« wurde von Stephen Greenblatt geprägt: »[T]he power to
impose a shape upon oneself is an aspect of the more general power to control identity – that
of others at least as often as one’s own.« Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From
More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 1.
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Bettina Uppenkamp
zu werden, die auf Europas Bühne gegeben wurden36, ein deutlicher Verweis auf
die dramatischen politischen und konfessionellen, von kriegerischer Gewalt geprägten Verwerfungen, welche die Situation in Frankreich in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts gezeichnet haben. Frankreich wurde in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhundert von einer Reihe, konfessionell grundierter, blutiger Kriege
und Bürgerkriege erschüttert, in denen es der Krone nicht gelang, einen Ausgleich zwischen den Parteiungen herbeizuführen. Dieser historische Abschnitt,
den die Geschichtsschreibung als »Epoche der Religionskriege« in der Regel mit
dem Tod des Königs Heinrich II. von Valois im Jahr 1559 beginnen und mit dem
Edikt von Nantes im Jahr 1598 enden lässt37, ist durch nicht weniger als acht
bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den unter der Führung des
Hochadels militärisch aufgerüsteten Konfessionsparteien gekennzeichnet; zudem
wurde Frankreich von Pestepidemien und Hungersnöten heimgesucht, die von
der Bevölkerung zum Teil angstvoll als Zeichen göttlichen Zorns gedeutet wurden.38 Zu den traumatisierenden Höhepunkten der nicht nur militärisch organisierten, sondern progromartig ausgeübten Gewalt gehörte die sogenannte Pariser
Bluthochzeit in der Nacht auf den 24. August, der Bartholomäusnacht 1572, in
der in Paris ca. 3.000 Hugenotten niedergemetzelt wurden. Betroffen waren
von diesen Morden zum Teil hohe Adelige, die zu den Hochzeitsfeierlichkeiten
anlässlich der Verheiratung der katholischen Prinzessin Margarete von Valois mit
dem Protestanten Heinrich von Navarra angereist waren. Zum Auslöser war ein
Attentat auf den hugenottischen Admiral Caspard de Coligny geworden. Die gewalttätigen Ausschreitungen setzten sich auch in anderen Gegenden Frankreichs
noch an den folgenden Tagen fort und rissen den tiefen Graben zwischen den
Konfessionen wieder weit auf, der durch die Hochzeit gerade hätte überbrückt
werden sollen.39 Unschwer lassen sich die blutigen Tragödien, von denen in der
36 L’Isle (wie Anm. 10), S. 2.
37 Rainer Babel, »Kreuzzug, Martyrium, Bürgerkrieg. Kriegserfahrungen in den französischen
Religionskriegen«, in: Franz Brendle u. Anton Schindling (Hgg.), Religionskriege im Alten
Reich und in Alteuropa, Münster 2006, S. 107-117, hier S. 107.
38 Denis Crouzet, »Henri III ou le souverain des contraires«, in: Fêtes et crimes à la Renaissance.
La cour d’Henri III, Ausstellungskatalog Château royal de Blois 2010, hrsg. v. Pièrre-Gilles
Girault u. Mathieu Mercier, Paris 2010, S. 21-33, hier S. 23 f.
39 Bis heute lassen sich die genauen Ereignisse kaum entwirren und eindeutig ist auch die Verantwortung für das Massaker nicht geklärt. Wenn häufig Katharina de‘ Medici als die eigentlich Schuldige identifiziert wird, ist demgegenüber festzustellen, dass die Eskalation zwischen
den Glaubensparteien im Widerspruch zur Innen- und Außenpolitik der Königinmutter und
Karls IX. stand, die im Namen der französischen Staatsräson auf Unabhängigkeit von Vatikan
und Spanien bedacht und auf einen Ausgleich und die Koexistenz von Katholiken und Hugenotten in Frankreich gerichtet war. Es spricht einiges dafür, dass sich Karl IX. unter dem
Druck der radikal-katholischen Guise und Philipp II. zur Billigung der Gewalt gezwungen
sah, mit katastrophischen Folgen. Zur Bartholomäusnacht vgl. Denis Crouzet, La nuit de la
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Insel der Hermaphroditen
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Einleitung der Isle des Hermaphrodites die Rede ist, mit diesen Ereignissen in
Verbindung bringen. Die Einleitung liefert auch den terminus post quem für
die Abfassung des Textes, denn die Narration lautet, nach Jahren des rastlosen
Umherreisens habe die Nachricht vom Friedenschluss zwischen Frankreich und
Spanien im Frieden von Vervins die Sehnsucht bei seinem Reisegenossen und
ihm geweckt, die französische Heimat wieder zu sehen.40
»une Satyre ingenieuse«
Als die Isle des Hermaphrodites 1605 herauskam, erschien das Buch ohne den
Namen seines Verfassers und auch ohne den Titel, der erst auf eine spätere verlegerische Entscheidung zurückgeht. Heute wird es mehrheitlich einem gewissen
Thomas Artus, Sieur d’Embry, zugeschrieben, einem dem katholischen Lager in
Frankreich zuzurechnenden Schriftsteller und Übersetzer antiker philosophischer
Texte. Diese Zuschreibung beruht auf einer Notiz in den Journalen des Pierre de
L’Estoile am 11. April 1605, wo dieser über das Erscheinen des Buches berichtet.
Pierre de L’Estoile war als Jurist an der französischen Staatskanzlei tätig und
eng mit Pariser Kreisen des Parlaments und dem Hof sowohl unter Heinrich
III. Valois als auch noch unter dessen Nachfolger Heinrich IV. von Navarra
aus dem Haus Bourbon im Kontakt. Ab 1601 begann er mit der Niederschrift
seiner auf Tagebuchaufzeichnungen beruhenden Erinnerungsjournale über die
Regierungszeiten dieser beiden Monarchen. Wichtige politische wie zahlreiche
Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1999; Uwe Schultz, Henri IV. Machtmensch und Libertin, Berlin 2010, S. 35-49; eine knappe Zusammenfassung der Fakten, soweit
historisch geklärt, bei Martin Schieder, »Die göttliche Ordnung der Geschichte. Massaker
und Martyrium im Gemälde ›Die Barholomäusnacht‹ von François Dubois«, in: Uwe Fleckner (Hg.), Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, Berlin
2014, S. 127-140.
40 Der am 2. Mai 1598 geschlossene Frieden von Vervins beendete den nach dem Tod von Heinrich III. ausgebrochenen Krieg zwischen Frankreich und Spanien, mit dem Philipp II. seinen Anspruch auf den französischen Thron hatte durchsetzen wollen. Abgeleitet war dieser
Anspruch aus seiner Ehe mit Elisabeth von Valois, der Schwester des kinderlosen Heinrich
III., und der Weigerung, die Legintimation des bei seiner Krönung noch protestantischen
Nachfolgers auf dem französischen Thron Heinrich IV. anzuerkennen. Mit der Konversion Heinrich IV. zum Katholizismus im Jahr 1593 war dieser Kriegsbegründung der Boden
entzogen worden. Die Bezugnahme auf den Friedensschluss im Jahr 1598 legt nahe, dass die
Reisebeschreibung von der Insel der Hermaphroditen kurz danach geschrieben oder jedenfalls fertig gestellt wurde. Arthur Erwin Imhoff, Der Friede von Vervins 1598, Aarau 1966. Der
Vertragstext ist online zugänglich auf der Seite Europäische Friedensverträge der Vormoderne
auf der Seite des Leipniz-Institutes für europäische Geschichte, Mainz unter http://www.iegfriedensvertraege.de/treaty/1598%20V%202%20Friedensvertrag%20von%20Vervins/t-208-1de.html?h=1&comment=478 (letzter Zugriff 29. 10. 2016).
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Bettina Uppenkamp
alltägliche Begebenheiten und Beobachtungen wurden von ihm festgehalten,
und seine Aufzeichnungen stellen für die französische Geschichte in der Zeit der
Religionskriege eine der wichtigsten Quellen dar.41 L’Estoile nennt den Autor der
Ile des Hermaphrodites allerdings Artus Thomas, sodass dessen Identität mit dem
Sieur d’Embry nicht als zweifelsfrei gesichert gelten kann, es sich möglicherweise
sogar um ein Pseudonym handelt.42 Auch im Avis an den Leser in den Ausgaben
des 18. Jahrhunderts wird der Autor als Artus Thomas bezeichnet. Zugleich wird
hier deutlich formuliert, wofür man das Buch hielt, für eine geistreiche Kritik
an dem französischen König Heinrich III., »une Satyre ingenieuse, qui fait voir
les desordres de la Cour du Roy Henri III. Cette piece est fort recherchée de
tous les Curieux parcequ’on y trouve effectivement une Description enjouée des
minauderies & des manieres effeminées des Mignons de ce Roy.«43 Vermutet
wird hier (fälschlich), dass diese »heitere Beschreibung der Affektiertheiten und
der effeminierten Manieren der Mignons dieses Königs« bereits unter dessen
Regentschaft geschrieben, aber erst nachträglich veröffentlicht worden sei. Zudem wird die Anekdote erzählt, dass Heinrich IV. das Buch gelesen, es zwar für
dreist befunden, jedoch von einer Verfolgung des Autors abgesehen habe, denn
es sei nicht in Ordnung einen Mann mit Kummer zu überziehen, der nur die
Wahrheit gesagt habe. Das Vorwort endet dann mit einem Lob auf die Güte
Heinrichs IV.44
Tatsächlich liegt es nahe, die Insel der Hermaphroditen als phantastischsatirische Beschreibung des Hofes unter Heinrich III. zu lesen. Heinrich III.,
als vierter Sohn von insgesamt sechs Kindern Heinrichs II. von Valois und
Katharina de’ Medicis 1551 geboren, bestieg den französischen Thron 1575 nach
41 Pierre de L’Estoile, Registre-Journal du Règne de Henri III, hrsg. v. Madeleine Lazard u. Gilbert
Schrenck, 6 Bde., Genf 1992-2003. Siehe auch Florence Greffe u. José Lothe, La vie, les livres
et les lectures de Pierre de L’Estoile. Novelles Recherches, Paris 2004.
42 Die beiden Versionen – Thomas Artus und Artus Thomas – haben auch in der Sekundärliteratur für Verwirrung gesorgt. Zur Diskussion um Namen und Identität des Verfassers der
Isle des Heramphrodites vgl. Dubois (wie Anm. 10), S. 17, Long (wie Anm. 3), S. 215, Anm. 2
sowie Harnik (wie Anm. 11), S.26 ff. Sowohl Long als auch Harnik folgen der Konvention,
den Verfasser Thomas Artus zu nennen. Unentschieden in dieser Frage Gary Ferguson, Queer
(Re)Readings in the French Renaissance. Homosexuality, Gender, Culture, Ashgate 2008, S. 265.
Schon im 18. Jahrhundert wurde die Frage der Autorschaft kontrovers diskutiert. Carl Friedrich Flögel, der eine Geschichte der komischen Literatur geschrieben hat und das Buch als
eine lebhafte allegorische Satire bezeichnet, referiert die Meinung, Thomas Artus als pedantisch gelehrter Autor komme als Urheber nicht in Frage. Vgl. Carl Friedrich Flögel, Geschichte
der komischen Literatur, Liegnitz, Leipzig 1785, Bd. 2, S. 534 f.
43 L’Isle (wie Anm. 10), »Avis au Lecteur«, S. 2.
44 Ebd. S. 3.
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Insel der Hermaphroditen
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dem Tod seines Bruders Karl IX.45 Ein italienischer Gesandter am französischen
Hof beschrieb Heinrich III. folgendermaßen:
Sa façon de s’habiller et ses agissement prétencieux le font paraitre délicat et
efféminé, car en plus des riches habits qu’il porte, tout couverts de broderies
d’or, de pierreries et de perles du plus grand prix, il donne encore une extrême recherche à son linge et à l’arrangement de sa chevelure. Il a d’ordinaire
au cou un double collier d’ambre serti d’or qui flotte sur sa poitrine et répand
uns suave odeur. Mais ce qui plus que tout le reste, selon moi, lui fait perdre
beaucoup des sa dignité, c’est d’avoir les oreilles percées comme les femmes
[…].46
Pierre de L’Estoile weiß zu berichten, dass der König bei Turnieren gelegentlich
als Amazone verkleidet und in Frauenkleidern auftrat.47 Und über das Erscheinungsbild der sogenannten »mignons« des Königs, seiner engen Favoriten, hält
L’Estoile fest, dass sie ›unzüchtig geschminkt und aufgemacht‹ gewesen seien,
leurs cheveux onguets, frisés et refrisés par artifices, remontant par-dessus
leurs petits bonnets de velours, comme font les putains du bordeau, et leurs
fraises des chemises de toile d’atour empresées et longues de demi-pied, de
façon qu’à voir leur tête dessus leur fraise, il semblait que ce fut le chef de
saint Jean dans un plat; le reste de leurs habillements fait de même.48
Bei den Lieblingen Heinrichs III. handelte es sich in der Regel um Männer etwa
seines Alters, teils Kriegsgefährten aus der Zeit, als er noch vor seiner Inthronisation als Herzog von Anjou und erfolgreicher Führer der katholischen Partei
aktiv an den Religionskriegen teilgenommen hatte.49 Mit der Auswahl seiner
45 Als Karl IX. starb, befand Heinrich sich gerade in Polen, wo er auf Betreiben seiner Mutter
zum König gewählt worden war. Geradezu fluchtartig verließ er nach der Nachricht vom Tod
seines Bruders Polen, um sich über Venedig reisend zurück nach Frankreich zu begeben und
die französische Königswürde zu übernehmen. Die anlässlich des Besuches in Venedig und
der Reise Heinrichs durch Italien auf seiner Rückreise von Polen ausgerichteten Festlichkeiten
von den ephemeren Bauten, die für den Einzug des französischen Thronaspiranten in der
Lagunenstadt errichtet wurden, über die in Auftrag gegebenen Kompositionen bis hin zu den
bildlichen Reflexen, welche dieses Ereignis in unterschiedlichen Medien hinterlassen hat, sind
von Evelyn Korsch aufgearbeitet worden. Vgl. Evelyn Korsch, Bilder der Macht. Venezianische
Repräsentationsstrategien beim Staatsbesuch Heinrichs III. (1574), Berlin 2013.
46 Zit. nach Jacqueline Boucher, Société et mentalités autour de Henri III, 2 Bde, Lille, Paris 1981,
hier Bd. 1, S. 98 f.
47 L’Estoile (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 104.
48 Zit. nach Isabelle Haquet, L‘énigme Henri III. Ce que nous révèlent les images, Paris 2011, S. 22,
Anm. 6.
49 Das System der Günstlinge und Lieblinge des Königs, der favoris und der mignons, war keineswegs eine Erfindung Heinrichs III. Neu war auch nicht, dass die Thronfolge mit einem
Wechsel in diesen privilegierten Positionen bei Hof einherging und unter neuer Regierung
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Bettina Uppenkamp
engsten Vertrauten, die von ihm mit zahlreichen Kompetenzen, erheblichen
Gratifikationen und Privilegien ausgestattet wurden, insbesondere mit dem
Privileg eines bevorzugten Zugangs zum König, und mit denen er einen äußerst
engen und vertraulichen Umgang pflegte, versuchte Heinrich III. offensichtlich
den Einfluss der alten mächtigen Adelsfamilien bei Hofe zu beherrschen und sich
eine Entourage zu schaffen, die ihre Stellung weniger ihrer Herkunft als vielmehr
ganz persönlich dem König zu verdanken hatte.50 Zudem trachtete er danach,
diese engen persönlichen durch familiäre Bindungen zu festigen, indem er einige
seiner Favoriten mit Frauen aus der königlichen Verwandtschaft verheiratete.51
Nicht nur die ostentativ zur Schau gestellten Gunstbezeugungen für die
Mignons, auch die Ausgestaltung des höfischen Lebens, bei der dieser ›noblesse
de robe‹ nicht zuletzt die Rolle zukam, durch ihre luxuriöse Ausstaffierung den
Glanz des Hofes und des Königs in seinem Zentrum zu heben, verbunden mit
erheblichen Ausgaben für Kleidung und die zahlreichen höfischen Festveranstaltungen – um den Ansprüchen an ihr vom König kontrolliertes Erscheinungsbild
gerecht zu werden, stürzten sich die jungen Männer nicht selten in Schulden
– riefen zunehmend die Kritik an solcher Verschwendung in politisch äußerst
bedrängter Zeit, die weniger Festlichkeit als vielmehr politische und militärische Entschlossenheit erfordert hätte, auf den Plan.52 Während Reichtum und
Schönheit der königlichen Inszenierungen und Entourage, wie es Nicolas Le
Roux ausgedrückt hat53, als ein platonisch inspiriertes Bild göttlicher Perfektion,
und die ausgestellte »amitiée passionnée« als eine höhere Form der die höfische
Elite einigenden Kraft mit zeichenhaftem Charakter für ein unbedingtes Treueverhältnisses zwischen dem König und all seinen Untertanen intendiert und
imaginiert gewesen sein mögen, geriet dieses Modell im Lauf der Regierungszeit
Heinrichs III. in die Krise und als »un vray sarail de toute lubricité et paillardise,
un escole de Sodomie« in Verruf.54
50
51
52
53
54
nur wenige Günstlinge sich halten konnten. Schon die Thronübernahme Heinrichs II. war
mit einer Palastrevolution einhergegangen, in der die Clique, welche den inneren Zirkel der
Macht bestimmte, nahezu komplett ausgetauscht worden war. Vgl. Sigrid Ruby, Mit Macht
verbunden. Bilder der Favoritin im Frankreich der Renaissance, Freiburg 2010, S. 123 ff. Grundlegend zu den mignons Heinrichs II. und Heinrichs III. Nicolas Le Roux, La faveur du roi.
Mignons et et courtisans au temps des derniers Valois (vers 1547 – 1589), Seyssel 2001.
Vgl. Nicolas Le Roux, »Henri III et ses mignons: mythe et réalité«, in: Fêtes et crimes (wie
Anm. 38) , S. 37-43, hier S. 39 f.
Ebd., S. 41.
Vgl. Robert J. Knecht, Hero or Tyrant? Henry III, King of France, 1574 – 1589, Farnham 2014,
S. 210 ff.
Le Roux (wie Anm. 49), S. 38.
René de Lucinge, »Le Miroir des princes ou grands de la France et un bref discours des trois Estats
du Royaume avec les conjectures de ce que doibt estre de luy à l’advenir« (1586), in: AnnuaireBulletin de la société de l’histoire de France, hrsg. v. Alain Dufour 1954-1955, S. 95-186, hier S. 105.
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In den Augen seiner Gegner avancierte die vom König selbst und seinen
Vertrauten zur Schau gestellte sexuelle Ambiguität im Rahmen von exzessivem
Luxuskonsum bei angeblicher Vernachlässigung der Regierungspflichten zunehmend zum Kern einer lasterhaften Tyrannis, durch die nicht allein die Ordnung
der Geschlechter, sondern der Bestand des Königreiches Frankreich insgesamt
auf dem Spiel stand. Dass der König, seit 1575, unmittelbar nach seiner Krönung
mit Louise de Lorrain-Vaudémont verheiratet, ohne Kinder blieb und damit die
Kontinuität des Hauses Valois in Frage gestellt war, sowie auch die Tatsache, dass
er anders als sein Vater oder sein Großvater keine offizielle Mätresse hatte, schürten den Zweifel an seiner ›männlichen‹ Kompetenz zur Herrschaft. Vor allem das
Fehlen eines männlichen Nachkommen sollte zu einer ernsthaften Bedrohung
der ohnehin prekären Stabilität seiner Regierung werden, denn dadurch rückte
in den Bereich des Möglichen, was bis dahin undenkbar gewesen war, nämlich,
dass mit Heinrich von Navarra, dem Ehemann der Schwester Heinrichs III., dem
nach salischem Recht nun die Thronfolge zustand55, ein Protestant den französischen Thron erben würde – für die radikalen Katholiken in Frankreich, denen
der spanische König Philipp II. den Rücken stärkte, eine inakzeptable Aussicht.
Der enge Umgang des Königs mit seinen Favoriten sowie seine Vorliebe für
›effeminierte‹ Garderobe und Aufmachung befeuerten die immer heftiger werdende, oft sexuell-denunziatorisch eingefärbte Polemik, die aus dem katholischen
wie protestantischen Lager in die Welt gesetzt, in Form von Pamphleten und
teils bebilderten Flugschriften zirkulierte und eine diskursive und visuelle Gegenmacht zur offiziellen Inszenierung der Monarchie mittels Kunst, Architektur,
Theater, Festlichkeit und Zeremoniell sowie auch der ostentativen Einsetzung
und Ausübung religiöser Riten unter Heinrich III. darstellte. Kein König war
zuvor jemals mit einer vergleichbaren Flut von in Wort und Bild zirkulierenden
Anschuldigungen und Verunglimpfungen überzogen worden.56
Bildpolitik unter Heinrich III.
Aus kunstgeschichtlicher Sicht ist die Regierungszeit Heinrichs III. nach wie vor
wenig belichtet. Während die Kunstförderung und die französische Hofkultur
unter der Regentschaft seiner Vorgänger, vor allem seinem Großvater Franz
I., und mittlerweile auch die Jahre unter seinem Vater Heinrich II. relativ gut
erforscht sind und als glanzvolle Zeit der französischen Renaissance behandelt
55 Das salische Recht schloss Frauen von der Erbschaft und damit auch von der Erbschaft der
Krone aus.
56 Knecht (wie Anm. 52), S. xi.; Pierre-Gilles Girault u. Mathieu Mercier, »Un siècle d’or et de
sang«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S. 13-19, hier S. 14 f.
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werden57, galt die mit dem Tod Heinrich II. einsetzende Phase als eine Epoche
des künstlerischen Niedergangs und des Epigonentums. Anthony Blunt stellte in
seinem der französischen Kunst der Frühen Neuzeit gewidmeten Standartwerk
Art and Architecture in France 1500 to 1700 fest, dass die letzten vierzig Jahre des
16. Jahrhunderts in Frankreich die komplette Zerstörung all dessen gesehen haben, was unter François I. und Henri II. erreicht worden sei.58 Erst in jüngerer
Zeit wurde auch der Kunst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermehrt
Aufmerksamkeit geschenkt.59
Tatsächlich ist Heinrich III. weniger als seine Vorgänger als Auftraggeber großer künstlerischer Projekte oder Bauaufgaben aufgetreten. Offenbar hat er den
Medien Theater, Ballett, dem höfischen Fest und vor allem dem Hofzeremoniell
selbst gegenüber der Architektur, der Skulptur und der Malerei zur ästhetischen
Inszenierung seines Königtums den Vorzug gegeben.60 Es kommt hinzu, dass
es nach der von Heinrich III. angeordneten Ermordung der Brüder Guise im
Dezember 1588 – dies war die Rache des Königs dafür, dass der Herzog von Guise
ihn im Mai des selben Jahres als militärischer Führer der 1584 neu gegründeten
katholischen Liga gezwungen hatte, Paris zu verlassen61 – zu einem Bildersturm
kam, in dem öffentlich sichtbare mit Heinrich III. verknüpfte Bildwerke und
Darstellungen des Königs vernichtet worden sind. Bei dieser Gelegenheit wurden
auch die monumentalen Grabmale zerstört, welche Heinrich III. für seine ums
Leben gekommenen Mignons von Germain Pilon in der Kirche Saint Paul in
Paris hatte errichten lassen.62
Den Festinszenierungen bei Hofe, deren Choreographien gleichermaßen
darauf zielten, die Person des Königs zu exponieren wie ihn zum einigenden,
57 Hier ist nicht der Ort für eine umfängliche Bibliographie. Hingewiesen sei hier vor allem auf
jüngere Untersuchungen, welche Genderfragen mit berücksichtigen: Ruby (wie Anm. 49);
Christine Tauber, Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier, Konstanz 2006.
58 Anthony Blunt, Art and Architecture in France 1500 to 1700, 5. Aufl. New Haven, London
1999, S. 84. In der großen Publikation über den europäischen Manieris von Daniel Arasse u.
Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus 1520 – 1610, München 1997 kommen die
Regierungsjahre unter Heinrichrich III. mit keiner Silbe vor.
59 Vgl. Henri Zerner u. Marc Bayard (Hgg.), ¿Renaissance en France, renaissance française?,
Paris 2009; im hier zur Debatte stehenden Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit Fêtes
et crimes (wie Anm. 38) sowie vor allem Isabelle Haquet (wie Anm. 48), deren Buch vor allem
den Porträts und symbolischen Darstellungen des Königs gewidmet ist.
60 Pièrre-Gilles Girault u. Mathieu Mercie, »Introduction«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S.
12-19.
61 Zum Herzog von Guise vgl. Pièrre-Gilles Girault, »Scène de crime: sur les traces du duc de
Guise«, in: ebd., S. 63-71.
62 Haquet (wie Anm. 48), S. 17.
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Insel der Hermaphroditen
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alle Gegensätze harmonisierenden Fluchtpunkt der Hofgesellschaft zu machen,
korrespondierten nicht weniger spektakuläre und theatralische Inszenierungen
von frenetischer Frömmigkeit und Bußfertigkeit, etwa wenn der König, flankiert
von seinen Höflingen, seinen Körper in öffentlichen Prozessionen geißelte.63 »He
seems to have identified his own body with the body politic and believed that
its purification would bring about the moral reformation of his subjects.«64 Den
Augen seiner Kritiker erschienen diese Darbietungen nicht weniger tadelnswert
und ›unnatürlich‹ als die verschwenderischen Spektakel bei Hofe, der König und
seine Mignons als Heuchler.65 Der Politisierung des religiösen Rituals auf der
einen Seite entsprach auf der anderen die Sakralisierung der Königsherrschaft
in der festlichen Ordnung von Tanz und Zeremoniell. Festlichkeit, Prachtentfaltung und verschwenderischer Luxus entsprangen ebenso wie die theatralisch
ausagierte fromme Askese, so Denis Crouzet, einem politischen Konzept der
Vereinigung des Unvereinbaren.66 Für ein angemessenes historisches Verständnis
des eingeschränkt überlieferten Corpus von Kunstwerken aus der Regierungszeit
Heinrichs III. gilt, was Christiane Hille etwa auch für die Bilder des höfischen
Körpers in der englischen Hofkunst des frühen 17. Jahrhunderts postuliert hat67,
dass ihre Rolle im Kontext des Ensembles visueller und performativer Strategien
zu sehen ist, mittels derer die politischen Figurationen bei Hofe ausgestaltet
wurden.
Ein wichtiges Medium höfischer Selbstdarstellung ist das Porträt, welches
druckgrafisch vervielfältigt, auch über den engen Kreis des Hofes hinaus das jeweils beanspruchte Bild der Herrschaft zu prägen und zu kommunizieren vermag.
Die überlieferten Porträtdarstellungen Heinrich III. sind von Isabelle Haquet
in drei Phasen überschieden worden.68 Während die Bilder zu Beginn seiner
Herrschaft wesentlich dem schon unter seinen Vorgängern etablierten Typus für
höfische Porträts folgen und entsprechend vor allem Kontinuität zum Ausdruck
bringen (Abb. 2 u. 3) – sie zeigen den jugendlichen König im Dreiviertelprofil
in kostbarer Kleidung mit Halskrause aus Spitze, reichem Juwelenschmuck und
einem schräg auf dem Kopf sitzenden federgeschmückten Samtbarett – scheint
sich die Erscheinung Heinrichs III. in den 1578 und 1579 entstandenen Bildnissen
der tadelnden Beschreibung Pierre de L’Estoiles zu nähern. Neben dem reichen
63 Vgl. Knecht (wie Anm. 52), S. 215 ff. Der König zeigte sich nicht nur öffentlich bei Bußübungen, sondern zog sich auch zeitweise vom Regierungsgeschehen nicht weniger ostentativ zur
Meditation zurück. Darüber hinaus überstützte er Klöster und die Gründung von Bruderschaften.
64 Ebd.
65 L’Estoile (wie Anm. 41), Bd. 4, S. 79 ff.
66 Crouzet (wie Anm. 38), S. 25.
67 Vgl. Christine Hille, Visions of the Courtly Body, Berlin 2012, S. 30 ff.
68 Haquet (wie Anm. 48), S. 22.
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Abb. 2: Jean Decourt, Henri de
Valois, um 1572, Zeichnung, Grafit
und Rötel auf Papier, 33,3 x 22,8
cm, Paris, Bibliothèque nationale,
Est., Na 22
Abb. 3: Bernard Linousin (zugeschr.),
Porträt Heinrichs III., um 1575,
Email auf Kupfer, Metz, Musées de
Metz Métropole
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Schmuck, der farbigen Kleidung und dem aufwändigen Spitzenkragen fällt hier
vor allem die aufwändige hochaufgetürmte und von einer kostbaren Agraffe
bekrönte Frisur auf (Abb. 4). Ganz ähnliche Akzente setzen Porträtdarstellungen
seiner Mignons, wie das Miniaturporträt des Anne Duc de Joyeuse deutlich
werden lässt (Abb. 5). Auch hier thront der sorgsam frisierte Kopf auf einem
ausladenden Spitzenkragen, und ausgestellt ist die Perle, welche das linke Ohr
ziert und in ähnlicher Weise auch auf Bildnissen des Königs zu sehen ist.69 Die
Nähe zum König und enge Zugehörigkeit zum inneren Zirkel der Macht drückt
sich hier in der Assimilation an die äußere Erscheinung des Königs aus.
In den 1580er Jahren änderte sich die Selbstdarstellung des Königs im Brennglas der Image-Produktion seiner Hofkünstler, vor allem der Maler Jean Decourt
und Jean Rabel und der Kupferstecher Thomas de Leu und Léonard Gaultier,
welche für die Verbreitung dieses neuen und bis zum Tod des Königs gültigen
Bildmusters sorgten. Seine Porträts zeigen ihn nun nicht mehr in farbenprächtiger
Kleidung aus kostbaren Stoffen, mit ausladendem Spitzenkragen und Samtkappe.
Vielmehr gibt jetzt eine Decourt zugeschriebene Zeichnung die Blaupause für
die offiziellen Bildnisse des Königs ab, welche ihn in einem relativ schlichten
schwarzen Anzug mit, verglichen mit der früheren Spitzenpracht, bescheidenem
weißen Kragen und gerade auf dem Hinterkopf sitzenden ›polnischem‹ Barett
zeigen, an dem eine Agraffe mit einem einzelnen großen gefassten Diamanten
befestigt ist (Abb. 6 – 8). Die Haartracht scheint nunmehr gemäßigt. Zudem
trägt der König auf seinen Porträts jetzt ausnahmslos ein blaues Band mit dem
Stern des von ihm gegründeten Ordens vom Heiligen Geist.
Die Gründung dieses Ordens im Jahr 1578, die auch unter herrschaftstechnischen Gesichtspunkten wichtigste religiöse Stiftung unter Heinrich III., zielte
ebenfalls darauf, die Klientel des Königs seiner Gnade zu unterwerfen und
durch Schwur persönlich an sich zu binden. Eine Miniatur auf Velinpapier von
Guillaume Richardière zeigt die Aufnahmezeremonie eines Ordensritters durch
den König, eine Zeremonie welche im Augustiner-Konvent nahe dem Louvre
abgehalten wurde (Abb. 9). Vermutlich handelt es sich bei dieser Miniatur um die
Kopie eines großen, jedoch bei dem Bildersturm 1588 zerstörten Gemäldes von
Antoine Caron, welches in der Kirche der Augustiner aufgestellt die Bedeutung
des Ordens dauernd gegenwärtig halten sollte.70 Dargestellt ist Heinrich III.
69 Gerade diese Perlenohrringe, die auch vom König getragen wurden, waren dem oben zitierten italienischen Botschafter als ein besonders auffälliges Zeichen mangelnder Würde aufgestoßen, eine Wahrnehmung welche im Widerspruch zur beanspruchten Symbolik der Perle
stand, welche auf Reinheit und Perfektion verweisen sollte. Nicht erst Heinrich III. hatte
das Tragen eines Perlenohrrings auch für Männer bei Hof zur fast unvermeidlichen Mode
gemacht, bereits sein Bruder und Vorgänger auf dem Thron hatte angeblich das Tragen eines
Perlenohrrings zur Pflicht erklärt. Vgl. Haquet (wie Anm. 48), S. 85.
70 Zur Geschichte des Bildes und seines Vorbildes vgl. Haquet (wie Anm. 48), S. 184 ff.
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Abb. 4: Anonym nach Jean Decourt,
Porträt Heinrichs III., 17. Jahrhundert,
Öl auf Karton, 56 x 40 cm, Lyon,
Musée historique des Hospices civils.
Wortlaut der Inschrift: HENRICUS.
III. FRANCOR. REX / Henri de
Valoys III de ce nom par la grâce de
Dieu Roy de France et de Pologne
Abb. 5: Anonym, Porträt des Anne
duc de Joyeuse, Miniatur aus dem
Stundenbuch der Katharina de’
Medici, Paris, Bibliothèque nationale, ms. NAL 82, fol. 56
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Abb. 6: Étienne Dumonstier nach Jean Decourt, Porträt Heinrichs III., um 1586,
Grafit, Rötel und blaues Aquarell auf Papier, 34,2 x 23,1 cm, Paris, Bibliothèque
nationale, Na 22 rés., boîte 12, no 10
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Abb. 7: Étienne Dumonstier (zugeschr.), Porträt Heinrichs III., um 1579/80,
Öl auf Holz, 93 x 76 cm, Poznan, Muzeum Narodowe
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Abb. 8: Léonard Gaultier, Porträt Heinrichs III., 1580, Kupferstich, Bibliothèque
nationale, Reserve, fol. QB. 201 (9)
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Abb. 9: Guillaume Richardière, Aufnahme eines Ritters in den Orden des
Heiligen Geistes, vor 1587, Miniatur auf Velinpapier, 26, 1 x 19,4 cm,
Chantilly, Musée Condé, Ms. 408
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thronend und leicht über die ihn flankierenden und umgebenden Kardinäle,
Höflinge und Ordensoffiziere erhoben. Die hier zu seiner Rechten dargestellten
Höflinge tragen die von den Königsporträts bekannten schwarzen Anzüge und
diamantgeschmückten Kappen. Unter Heinrich III. kniet ein junger Mann,
der seine Hand zum Schwur auf eine ihm hingehaltene Bibel legt, während der
König die Ordenskette bereithält. Über Heinrich III. schwebt in einer goldenen
Aureole, die sich effektvoll von dem silbrigen Hintergrund abhebt, die Taube
des Heiligen Geistes. Einer der von dieser Aureole ausgehenden Strahlen trifft
direkt auf den Edelstein in der Agraffe, welche die Kopfbedeckung des Königs
schmückt. Thron und Raum erscheinen von einem leuchtend blauen, mit den
goldenen Lilien des französischen Königshauses gemusterten Stoff bedeckt.
Das Muster der nachtblauen Mäntel der Ordensritter zeigt die Flammen des
Heiligen Geistes.
Während zahlreiche Personen auf dem Bild aufgrund von Vergleichen mit
überlieferten Porträts und auch aufgrund von schriftlichen Quellen identifiziert
werden konnten, war dies für den Jüngling, dessen Aufnahmezeremonie dargestellt ist, bisher nicht möglich. Überzeugend scheint die von Haquet vorgetragene
These, dass es sich bei dieser Figur tatsächlich nicht um eine ganz bestimmte
Person handelt, sondern um einen anonymen Platzhalter als Projektionsfläche
für all diejenigen jungen Männer aus dem Umkreis des Königs, die sich eine
besondere Auszeichnung durch die Aufnahme in den exklusiven Orden erhofften.71 Es waren vor allem die Mignons, welche als Nicht-Kleriker aufgenommen
wurden. Auch das oben erwähnte Porträt des Anne de Joyeuse zeigt diesen mit
dem blauen Ordensband.
Bemerkenswert sind die Raumgestaltung und -staffelung in der Miniatur.
Zwar wird im unteren Bereich, wo der Initiant kniet, ein Fluchten in die Tiefe
angedeutet, und auch die Staffelung des Bildpersonals zeigt ein räumliches
Hintereinander an, wenngleich in einer an mittelalterliche Bilder erinnernden
gedrängten und teils isokephalischen Aufstellung. Der thronende König allerdings scheint von jeder perspektivischen Rationalität ausgenommen. Nicht im
Ansatz ist nachzuvollziehen, wie er auf seinem Thron sitzt, so als seien sein Körper
und seine Person den Gesetzen des physischen Raumes enthoben. Anders als
die anderen Personen im Bild scheint er auch weder an der durch Blicke und
Gesten angedeuteten innerbildlichen Kommunikation der Figuren untereinander
teilzunehmen noch ist ein Blickkontakt zu den Betrachtern des Bildes hergestellt
worden, während einige der anderen Porträtierten aus dem Bild heraus schauen.
Diese Sonderstellung des Königs, so scheint die Botschaft des Bildes, resultiert
aus seiner direkten Verbindung mit dem Heiligen Geist. Der König ist in die
71 Vgl. ebd., S. 194. Haquet gibt hier auch Auskunft über die identifizierten Persönlichkeiten auf
dem Bild.
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Position von Christus selbst eingerückt. Der Diamant, ein Edelstein, der schon
seit dem Mittelalter aufgrund seiner Klarheit und seiner unzerstörbaren Härte
symbolisch mit Christus identifiziert wurde72, symbolisiert auf den ab 1578
entstehenden Porträts Heinrichs III., auf denen ein solcher Stein sein Haupt
schmückt, die ewige Divinität seines Königtums.
Bildpolitik gegen Heinrich III.
Der offiziellen Bildproduktion unter Heinrich III., die zunehmend auf eine
Sakralisierung seiner königlichen Position gerichtet scheint, korrespondiert
unaufhörlich und mit den Jahren seiner Regierung in Zahl und polemischer
Schärfe sich steigernd, die Produktion von Text- und Bildpamphleten, die den
König der Unfähigkeit und der Lasterhaftigkeit bezichtigen, des ›Hochverrats,
der Arglist, des Sakrilegs, der Grausamkeit und Schändlichkeit‹, wie es in einem
1589 erschienen und im Ton besonders aggressiven Pamphlet heißt, welches das
›Leben und bemerkenswerte Tatsachen aus dem Leben‹ des Königs zum Besten
gibt.73 In dieser Schrift wird Heinrich III. als Atheist, als Hexer, Verräter, als
meineidig, grob und verdorben geschildert, als eine Person, die »das Leben eines
Caligula, eines Elagabal und eines Nero« führe, umgeben von hochmütigen und
überheblichen Mignons, die ihn in seinen Lastern bestätigten und zugleich die
Staatskassen leerten.74 Anonym erschienen, jedoch unter Vorbehalt dem radikalen katholischen Priester und Anhänger der katholischen Liga Jean Boucher
zugeschrieben, ist das Pamphlet mit insgesamt acht Holzschnitten illustriert,
welche die Verbrechen Heinrich III. anschaulich machen sollen.75 Zu den ungeheuerlichen Schandtaten, die ihm angelastet werden und auch bildlich dargestellt
sind, gehört beispielsweise die Vergewaltigung frommer Jungfrauen. Einer der
Holzschnitte zeigt eine vor einem Altar kniende junge Frau, nach der sich eine
übergroße Hand ausstreckt, an den stilisierten Lilien auf dem Ärmel als Hand
des Königs zu erkennen (Abb. 10). Weitere Verbrechen, die Heinrich III. in dieser
72 Wilhelm Lindemann (Hg.), Edelstein / Kunst. Renaissance bis heute. Gemstone / Art. Renaissance to the Present Day, Stuttgart 2016, S. 66 ff.
73 Anonym, La Vie et faits notables de Henry de Valois. Tout au long, sans rien requerir, Où sont
contenues le trahisions, perfidies, sacrileges, cruautez et hontes de cest Hypocrite et Apostat …, o.
O. 1589, Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669.
74 Ebd.
75 Annie Duprat, »Les regalia au crible de la caricature du XVIe au XVIIIe siècle«, in: Bulletin
du Centre de recherche du château de Versailles, 2005. http://images.google.de/imgres?imgurl=
https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2Fdocannexe%2Fimage%2F296%2Fimg-3-small580.jpg&
imgrefurl=https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2F296&h=464&w=580&tbnid=XXVf (letzter
Zugriff 31. 10. 2016).
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Insel der Hermaphroditen
125
Abb. 10: Anonym, Vergewaltigung einer betenden Jungfrau durch Heinrich III.,
Holzschnitt in: Jean Boucher (zugeschr.), La Vie et faits notables de henry de Valois.
Tout au long, sans rien requerir, Où sont contenues les trahisions, perfidies, sacrileges.
Cruautez et hontes de cest Hypocrite et Apostat, o. O., 1589,
Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669
Schrift angelastet und verbildlicht werden, sind Häresie und Grausamkeit und
insbesondere auch der Mord an den Brüdern Guise, ein Ereignis, das vor allem
auf katholischer Seite den Hass auf den König entfesselte.
Der Holzschnitt, mit in dem das Pamphlet eröffnet, zeigt den König auf
seinem Thron sitzend und von einer Balustrade umgeben (Abb. 11). Eine solche
Schranke, die Heinrich III. in das höfische Zeremoniell einführte und mit deren
Hilfe er sich während der Mahlzeiten von der übrigen Hofgesellschaft abgrenzte, brüskierte die französischen Adeligen zutiefst, waren sie doch bis dahin an
eine auch haptische Zugänglichkeit des Königs bei Hof gewöhnt gewesen. Der
Großvater Heinrichs III., Franz I., musste sich gelegentlich mit einem Stock
gegen den Andrang derjenigen verteidigen, die sich ihm nähern wollten, oder
entzog sich diesem Druck durch Flucht aus seinem Schloss in Fontainebleau.76
Heinrich III. schockierte den Hofstaat damit, dass er sich nun bei den Mahlzeiten
mithilfe seiner Balustrade isolierte und zugleich exponierte. Diese Abschrankung
war keineswegs die einzige verstörende Neuerung, die er in das französische
76 Monique Chatenet, »Henri III et la cérémonial de la cour«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38),
S. 45-51, hier S. 46.
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Bettina Uppenkamp
Abb. 11: Anonym, Heinrich III. in seiner Barriere, Holzschnitt in: Jean Boucher
(zugeschr.), La Vie et faits notables de henry de Valois. Tout au long, sans rien requerir,
Où sont contenues les trahisions, perfidies, sacrileges. Cruautez et hontes de cest Hypocrite
et Apostat, o. O. 1589, Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669
Hofleben einführte. So akzeptierte er nicht mehr die unter seinen Vorgängern
übliche Anwesenheit seines Hofstaates und seines Rates beim Lever; ausgenommen davon waren nur seine engsten Favoriten, die darüber hinaus auch bei Tisch
eine Vorzugbehandlung genossen und für die in der Nähe zum König immer
gedeckt sein musste. Außer zu eng umgrenzten Zeiten durfte niemand mehr das
Wort an den König richten. Die Balustrade diente dazu, dieser Abgrenzung des
Königs von den anderen am Hof anwesenden Personen nicht nur symbolischen,
sondern auch materiellen Ausdruck zu verleihen.
Heinrich III. war der erste französische König, der während seiner Regierungszeit das Hofzeremoniell in mehreren Redaktionen ausformulieren ließ und teils
selbst ausformulierte und damit die komplizierten Regeln bei Hofe in einer auf
seine Person zugeschnittenen Weise fixierte, die bis dahin in Frankreich unbe-
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Insel der Hermaphroditen
127
kannt gewesen war. Das Zeremoniell unter seinem Großvater und seinem Vater
war noch ausschließlich mündlich und durch die sich ständig wiederholende
Ausübung tradiert worden. Mit der peniblen Festlegung des Zeremoniells, das
in seiner letzten Redaktion von 1585 den Tagesablauf bei Hofe bis ins Kleinste
regulierte, wurde die Idee der französischen Monarchie dahingehend umgeformt, dass ihre Würde und Größe sich nunmehr in der ausgedehnten Distanz
artikulierte, die zeremoniell zu überwinden war, um Zugang zum König zu
erlangen.77 Diese Distanz wurde auch räumlich inszeniert, wenn der Weg zum
königlichen Zimmer durch eine Enfilade von mehreren Räumen führte, deren
Ausstattung durch Tapisserien mit zunehmender Nähe zum königlichen Gemach
immer kostbarer wurde. Der Zugang war differenziert abgestuft; das ›Sanktuarium‹ des königlichen Zimmers selbst war nur für die Favoriten zu betreten.
Der Sinn dieser Reformierung des königlichen Hofes durch die Neuordnung
und detaillierte Festlegung des Hofzeremoniells mag nicht zuletzt darin gelegen
haben, das Verhalten und die Lebensführung derjenigen zu disziplinieren, die
sich in der nahen Umgebung des Königs aufhielten und so das Modell für eine
Erneuerung und Pazifizierung der Gesellschaft insgesamt zu liefern, wie Mark
Greengrass in seiner ideengeschichtlichen Untersuchung des politischen Denkens
in der Zeit der französischen Religionskriege vorgeschlagen hat.78 Gelungen
ist dies in den Augen seiner Zeitgenossen nicht; der König wurde weniger als
Reformer, denn als Zerstörer der Tradition wahrgenommen. In dem Pamphlet
dient die Darstellung des thronenden Königs in den Schranken einer Barriere
der Veranschaulichung seines als unerhört geltenden Stolzes, der ihn dem Hof
wie der Bevölkerung Frankreichs entfremdete. Heinrich III. hatte sich von einer
eher familiären und landesväterlichen Auffassung und Ausübung der Königsrolle, nach der der König unter den Adeligen nur erster unter seinesgleichen war,
entfernt. Es war vor allem diese Distanz, die mit ästhetischen Mitteln, durch
77 Ebd. S. 49 ff.
78 Vgl. Mark Greengrass, Governing Passions. Peace and Reform in the French Kingdom, 1576 –
1585, Oxford 2007, S. 13. Im Gegensatz zu einer Geschichtsschreibung, welche die eher problematischen und düsteren Seiten der Regentschaft Heinrich III. herausgekehrt hat oder aber
sein Scheitern an der Aufgabe, die religiösen und gesellschaftlichen Zwiste im Innern Frankreichs durch wirksame Reformen in den Griff zu bekommen, unterstreicht Greengrass die
Produktivität des intellektuellen Klimas unter dem letzten Valois, welches, wie er beschreibt,
eine Ideologie der Reform der politischen Verhältnisse im französischen Königreich hervorbrachte, deren Wirksamkeit zwar zunächst begrenzt aber in ihrer gedanklichen Substanz dann
doch über den Tod Heinrich III. hinaus bis ins 17. Jahrhundert hinein Effekte zeitigen und
weiter entwickelt werden sollte. Mit seinen Reformanstrengungen, so lautet Greengrass‘ Fazit, habe Heinrich III. zwar Hoffnungen und Erwartungen wecken können, seine konkreten
Erfolge blieben jedoch so begrenzt, dass diese Anstrengungen vor allem Enttäuschung produziert hatten. Ebd. S. 380.
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128
Bettina Uppenkamp
die Choreografie der Feste, des Zeremoniells, der räumlichen Neuordnung im
Louvre, die Ausschmückung dieser Räumlichkeiten wie auch durch die Bilder
des Königs selbst inszeniert wurde.
Umso provozierender musste der enge Umgang erscheinen, den der König
mit seinen Favoriten pflegte. Die Stigmatisierung der königlichen Sexualität
und der seiner Mignons, die Unterstellung, seine Günstlingspolitik sei erotisch
motiviert, die Denunziation der »effeminierten« Garderobe und Aufmachung
als sichtbare Zeichen einer zweifelhaften Männlichkeit erscheinen in den gegen
Heinrich III. gerichteten Polemiken nicht im Widerspruch zur heterosexuellen
Libertinage, sondern dienen der Amplifikation des Rollenverstoßes des sich gegen
seinen Auftrag versündigenden Herrschers. Text- und Bildinvektiven waren nicht
allein auf die Person des Königs gerichtet, auch seine engen Vertrauten wurden
verteufelt. So zeigt ein ebenfalls 1589 kursierendes Pamphlet, welches der Textform
nach als Beichte angelegt ist, den zum engen Kreis der Mignons gehörenden
Jean Valette de Nogaret als haarige Teufelsgestalt mit Brüsten, als dämonischen
Hermaphroditen (Abb. 12).79 Dass sich aus solchen Text- und Bildquellen im
historischen Abstand weder Aufschluss über die tatsächlich ausgeübten sexuellen Praktiken am Hof Heinrichs III. gewinnen lässt noch sich in ihrem Spiegel
Hinweise auf die sexuelle Orientierung oder gar Identität des Königs und seiner
Favoriten herauslesen lassen, liegt auf der Hand. Zu verstehen sind die sexuellen
Denunziationen als polemische Topoi in einer krisenhaft zugespitzten politischen
Situation, die auf die Desakralisierung der königlichen Autorität in der Person
Heinrichs III. abzielten und zu Waffen geschmiedet wurden, deren Schärfe aus
der Irritation zu gewinnen war, welche die Ausgestaltung der königlichen Rolle
und Erscheinung in der politischen Figuration des Hofes auslöste.80
79 Anonyme, La grande Diablereie de Jean Valette dit de Nogaret par la grâce du Roy duc d’èpernon,
grand animal de France et bourgeois d’Angoulesme sur son département de la court, o. O. 1589,
Paris, Musée du Petit Palais, Collection Dutuit no. 691. Vgl. auch Fêtes et crimes (wie Anm.
38), S. 115.
80 Die Frage, ob Heinrich III. und seine Mignons homosexuell waren steht hier nicht zur Debatte. In seiner Studie zur Homosexualität am Hof Heinrich III. vertritt Joseph Cady nachdrücklich den Standpunkt, es habe sich bei dem König und seinen Favoriten um homosexuelle Gemeinschaften und Peer-Groups gehandelt, und er verbindet seine Argumente mit
einer methodischen Kritik an jener Forschung, welche im Anschluss an Michel Foucault
Homosexualität als identitäre Kategorie für eine Erfindung des 19. Jahrhunderts hält, und,
so Cadys Vorwurf, damit die Verleugnung von Homosexualität in der historischen Rückprojektion verlängert und verfestigt. Vgl. Joseph Cady, »The ›Masculine Love‹ of the ›Princes of
Sodom‹. ›Practising the Art of Ganymede‹ at Henri III’s Court. The Homosexuality of Henri
III. and his Mignons in Pierre de L’Estoile’s Mémoires-Journaux«, in: Jacqueline Murray u.
Konrad Eisenbichler (Hgg.): Desire and Discipline. Sex and Sexuality in the Premodern West,
Toronto, Buffalo, London 1997, S. 123-154; siehe auch David M. Halperin, »Ein Wegweiser
zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer
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Insel der Hermaphroditen
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Abb. 12: Anonym, Holzschnitt in: Anonym, La grande Diablerie de Jean Valette dit
de Nogaret par la grâce du Roy duc d’Espernon, grand Animal de France et bourgeois
d#Angoulesme sur son département de la court, o. O. 1589, 15,8 x 10 cm, Paris, Musée du
Petit Palais, Collection Dutuit no 691
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Bettina Uppenkamp
Androgyne Panegyrik: Franz I. als Hermaphrodit
Als göttlich-hermaphroditisches Wesen ist hingegen Franz I., der Großvater
Heinrichs III., dargestellt worden (Abb. 13). Es handelt sich um eine Miniatur,
die den König, dessen Gesicht durch den Vergleich mit zeitnah entstandenen
Bildnissen eindeutig als sein Porträt zu erkennen ist81, als ein Kompositum aus
diversen Gottheiten und ihren Attributen bildet.82 Helm, Schwert und Armpanzer
gehören zum Kriegsgott Mars. Dem gepanzerten und erhobenen rechten Arm des
Mischwesens steht ein entblößter und gesenkter auf der anderen Seite gegenüber
und signalisiert so schon auf den ersten Blick, dass hier gegensätzliches in einer
Figur vereint wurde. Das Gorgonenhaupt auf der Brust verweist wie der große
Helm auf die Göttin der Weisheit Minerva, Köcher und Jagdhorn sind Attribute
der jungfräulichen Jagdgöttin Diana, die Pfeile lassen sich jedoch auch mit dem
Liebesgott verbinden. Der Caduceusstab, den die Figur einem Zepter gleich in
ihrer linken Hand hält, gibt den Hinweis auf Merkur, ebenso wie die Flügel,
welche an den nackten Füßen der Königsgestalt befestigt sind. Ambiguität in
geschlechtlicher Hinsicht artikuliert sich in dem Nebeneinander eines bärtigen
Gesichtes und einem Körper, der im Bereich von Bauch und Hüften zu scheinbar weiblichen Formen ausschwingt; deutlich zeichnet sich unter dem vage
antikisch anmutenden roten Gewand der Bauchnabel ab, wie auf zahlreichen
manieristischen Bildern üblich, wo Körper und Kleid mit einander verschmolzen
Denken. Queer Studies, Frankfurt a. M. 2003, S. 171-220. Halperin hält »Effimination« für eine
eigene sinnvolle historische Kategorie zur Abgrenzung bestimmter, von der heterosexuellen
Verhaltensnorm (nicht unbedingt sexueller Praxis) abweichender männlicher Verhaltensformen. Ebd. S. 181 ff.
81 Die wichtigsten Bildnisse von François I. stammen von seinem Hofmaler Jean Clouet und
dessen Sohn François Clouet, der zunächst mit dem Vater eng zusammenarbeitete und diesen
dann als Hofmaler beerbte. Zur Malerfamilie der Clouet und ihrer Stellung am französischen
Hof vgl. Alexandra Zvereva, Le cabinet des Clouet au château de Chantilly. Renaissance et portrait de cour en France, Paris 2011; Etienne Jollet, Jean et François Clouet, Paris 1997; François I.
par Clouet, Ausstellungskatalog Paris, Musée du Louvre, Paris 1996.
82 Unterschiedliche Künstler wurden als Urheber dieses kleinen Kupferstichs auf Pergament
auf Holz aufgezogen diskutiert. Ins Spiel gebracht wurden Niccolò dell‘ Abate, Nicoletto da
Modena und Nicolas Belin da Modena. Vgl. Norbert Schneider, Porträtmalerei. Hauptwerke
europäischer Bildniskunst 1420 – 1670, Köln 1999, S. 94. Nicolas Belin firmiert als Urheber bei
Daniel Arasse und Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus 1520 – 1610, München
1997, S. 427. In der jüngeren Forschung wurde dieses wiederum bezweifelt mit dem Hinweis
darauf, dass Nicolas Belin 1537 wegen seiner Verstrickung in eine Unterschlagungsaffaire den
französischen Hof in Richtung England verlassen hat. Vgl. Harald Wolter von dem Knesebeck, »Buchkultur im Spannungsfeld zwischen der Kurie unter Leo X. und dem Hof von
Franz I.«, in: Götz Rüdiger Tewes u. Michael Rohlmann (Hgg.): Der Medici-Papst Leo X. und
Frankreich. Politik, Kultur und Familiengeschäfte in der europäischen Renaissance, Tübingen
2002, S. 469-524, hier S. 498.
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Insel der Hermaphroditen
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Abb. 13: Nicolas Belin (?), Franz I. als Mischgottheit, 1545, Kupferstich auf Pergament
auf Holz geklebt, Paris, Bibliothèque nationale
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Bettina Uppenkamp
scheinen. Die Figur ist auf einen mit Beschlagwerk verzierten Sockel platziert,
der folgende panegyrische Inschrift trägt:
FRancoy en guerre est un Mars furieux / en paix Minerve & diane a la chasse
/ A bien parler Mercure copieux / A bien aymer vray Amour plein de grace
/ O france heureuse honore donc la face / De ton grand Roy qui surpasse
Nature / car l’honorant tu sers en mesme place / Minerve, Mars, Diane,
Amour, Mercure83
Ziel der sonderbaren, um 1545 datierten Bildfindung scheint es zu sein, die Fähigkeiten und Tugenden der Götter auf den königlichen Körper zu übertragen,
wo sie zum Idealbild eines kampfkräftigen, weisen, gütigen und tugendhaften
Herrschers kompiliert sind, der die Begrenztheit menschlicher Körperlichkeit
und die Beschränkungen menschlicher Fähigkeiten verlassen hat.84 Als hermaphroditisches Gottwesen verkörpert der König einer solchen Lesart zufolge ein
Maß an Vollkommenheit, welches die Natur übertrifft, wie der Text kundtut. Das
eindeutige Verständnis der Miniatur als Herrscherlob ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Raymond B. Waddington hat in ihr »not the self-sufficient
integration of the androgyne but the impotent neutrality of Hermaphroditus«
gesehen.85 Er rückt das Bild in den Kontext einer raffinierten höfischen Scherzkultur im Ton des Cortegiano von Baldassare Castiglione, in der auch Sottisen
gegenüber dem Herrscher erlaubt sein konnten.
Auffällig an der Darstellung Franz I. als einem göttlichen Mischwesen ist
der Mangel an ästhetischer Harmonisierung der Versatzstücke. Die Merkmale
göttlicher Herkunft sind nicht zu einer natürlich wirkenden Einheit verschmolzen, sondern wirken zusammen gesetzt. Weder die Größenverhältnisse scheinen
stimmig – insbesondere der Helm der Minerva scheint dem König zu groß zu
sein –, noch entspricht das Standmotiv einem ausgeglichenen Kontrapost. Dieses
Ausstellen der ›ästhetischen Nähte‹ im Zusammenhang mit der akkumulierenden
Beschreibung der im Widerstreit liegenden, durch die in den aufgerufenen Gottheiten repräsentierten Eigenschaften als visuelle Spur des rhetorischen Verfahrens
gibt möglicherweise einen Hinweis darauf, dass Zweifel an einer ausschließlich
83 »François ist im Krieg ein wütender Mars / im Frieden Minerva und Diana bei der Jagd / Ein
gut sprechender reichlicher Merkur / Ein viel liebender, wahrer Amor voller Gunst / O glückliches Frankreich, ehre daher dieses Gesicht / Deines großen Königs, der die Natur übertrifft
/ Denn ihn ehrend ehrst Du zugleich / Minerva, Mars, Diana, Amor, Merkur«. (Übersetzung
Bettina Uppenkamp).
84 In diesem Sinne argumentieren auch Arasse u. Tönnesmann (wie Anm. 80), S. 427. Siehe
auch Ruby (wie Anm. 49), S. 53 f.
85 Raymond B. Waddington, »The Bisexual Portrait of Francis I. Fontainebleau, Castiglione,
and the Tone of Courtly Mythology«, in: Jean Brink, Maryanne C. Horowitz u. André Béjin
(Hgg.): Playing with Gender. A Renaissance Pursuit, Urbana, Chicago 1991, S. 99-132.
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Insel der Hermaphroditen
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positiven Lesart im Sinne des Herrscherlobs angebracht sind. Doch selbst wenn
die Ambition das Kriegerische und die Weisheit, die Beredsamkeit, die Liebe und
die Keuschheit miteinander zu vereinen, hier einem subtilen Spott ausgesetzt
wurden und die Miniatur Kritik an der Herrschaft Franz I. im panegyrischen
Gewand dissimuliert, wird an diesem Beispiel deutlich, dass der Hermaphrodit
in der Kunst des Manierismus als Denkbild für eine die Gegensätze integrierende
Vollkommenheit tauglich war. In der gegen Heinrich III. gerichteten Polemik
kollabierte diese utopische Dimension der Heramphroditischen als Einheit des
Verschiedenen, und der Hermaphrodit mutierte zu einer Figur, in der sich die
Perversionen einer verhassten Herrschaft verdichten ließen.
Königsmord
Nach der von Heinrich III. veranlassten Ermordung der Brüder Heinrich und
Ludwig von Guise in Blois spitzte sich die militärische Lage in Frankreich zu und
der König schloss mit seinem Schwager Heinrich von Navarra eine militärische
Allianz gegen die Truppen der katholischen Liga und ließ Paris belagern. Für die
radikalen Katholiken war er nun endgültig zu einen »neuen Herodes« mutiert.86
Am 1. August des Jahres 1589 gelang es einem katholischen Fundamentalisten,
dem jungen Dominikanermönch Jaques Clément zum König vorzudringen
und ihn mit einem Messerstich in den Bauch lebensgefährlich zu verletzten.
Auf dem Sterbebett übertrug Heinrich III. seine Nachfolge an Heinrich von
Navarra. Seine Ermordung fand Claqueure in beiden konfessionellen Lagern.
Der Tod Heinrichs III. war das Ende für das Haus Valois; mit der Ausrufung
Heinrichs von Navarra zum neuen König durch die Hugenottenarmee wie durch
die sogenannten politiques, jene katholische Parteiung, der am Fortbestand der
französischen Monarchie mehr gelegen war als an einem endgültigen Triumph
des Katholizismus unter spanischer Vorherrschaft, beginnt in Frankreich die
Herrschaft der Bourbonen. Heinrich IV. trat in dem tief gespaltenen und unter
internationalem Druck stehenden Land ein schwieriges Erbe an, doch sollte
ihm letztlich gelingen, was seinem Vorgänger nicht geglückt war, eine neue
Integration der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, eine Befriedung der
Religionskriege, und mit dem Edikt von Nantes die Schaffung einer Grundlage für die leidlich freie Religionsausübung sowohl für Katholiken wie für
Protestanten in Frankreich.87 »Für den letztlichen Erfolg Heinrich IV. wurde
entscheidend, dass jene Kräfte die Oberhand gewannen, die einer Koexistenz
86 Crouzet (wie Anm. 66), S. 29.
87 Zum Edikt von Nantes und seinen Voraussetzungen vgl. Schultz (wie Anm. 39), S. 132 ff.
Siehe auch Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München 1991, S. 91.
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Bettina Uppenkamp
der Religionsparteien unter dem Dach der Monarchie und einem Patriotismus,
der über den Glaubensunterschieden stand, das Wort redeten – Kräfte, zu denen
nach der Konversion des Königs zum Katholizismus (1593) auch die gemäßigten
Katholiken und die politiques gehörten.«88 Die Vorstellung einer geeinten Nation unter einem sakrosanten Monarchen trat an die einer gemeinsamen, über
anderweitige soziale Differenzen hinweg einigende und einzige Religion. Der
konfessionelle Gegensatz wurde zu Gunsten eines nun höher bewerteten Ziels im
Namen eines französischen Patriotismus in seiner Bedeutung zurück gedrängt.89
Hatte in der künstlerischen Selbstinszenierung Heinrichs III. die Schaustellung
einer kriegerischen, virilen Männlichkeit so gut wie gar keine Rolle gespielt, ließ
Heinrich IV. sich als Kriegsgott Mars porträtieren (Abb. 14).
Schluss
Auch wenn sich die Figur, welche das Frontispiz der Isle des Hermaphrodites des
Thomas Artus schmückt, nicht als ein Porträt Heinrichs III. erkennen lässt – zu
vage sind die bartlosen Gesichtszüge gehalten –, lässt sich in dem Text vielfach
das Echo der höfischen Gepflogenheiten unter seiner Regentschaft und vor
allem das jener Polemiken vernehmen, die den König unter Berufung auf die
uneindeutige Ausübung seiner Geschlechterrolle verschrien haben. Der bei
Hof unter seiner Aufsicht sich entfaltende Glanz und Luxus der Garderoben
beim Fest und beim Maskenspiel klingt nach in den von Artus geschilderten
Ankleidezeremonien der Hermaphroditen ebenso wie die Inszenierung eines
sakralisierten Königtums in der Enfilade abgestufter räumlicher Zugänglichkeit
in dem labyrinthischen, reich ausgeschmückten Palast, den der Ich-Erzähler
durchwandert. Die im zweiten Teil des Buches ausführlich wiedergegebenen
Gesetzesvorschriften der Hermaphroditen scheinen nicht allein den Zwang des
Zeremoniells zu reflektieren, sondern etwa auch die von Heinrich III. veranlasste
Kompilation und Kodifizierung der bereits unter seinen Vorgängern erlassenen
Verordnungen durch Barnabé Brisson im 1587 publizierten Code Henri III.90 Die
hermaphroditischen Vorschriften zur Ausübung von Religion erinnern an die
88 Babel (wie Anm. 37), S. 107. Zu den politiques, die sich zum katholischen Glauben bekannten und z. B. der Regentschaft und Person Heinrichs III. kritisch gegenüber standen, aber
die Monarchie mit ihrer gemäßigten Haltung gegen die ultra-katholische Liga mit dem Ziel
unterstützten, die nationale Einheit Frankreichs über die Konfessionsgrenzen hinweg zu bewahren, gehörte auch der Chronist Pierre de L’Estoile.
89 Ebd. S. 113 ff.
90 Vgl. Crouzet (wie Anm. 66), S. 26; siehe auch Encyclopédie ou dictionaire raisonné des sciences,
des arts et des métiers, s. v. »Code Henri III« http://portail.atilf.fr/ (letzter Zugriff 31. 10. 2016).
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Abb. 14: Ambroise Dubois, Heinrich IV. als Mars, ca. 1605, Öl auf Leinw.,
186 x 135 cm, Pau, Musée du Château
dem König immer wieder vorgeworfene Hypokrisie in Glaubensdingen; ihre
Gesetze im Hinblick auf Familie und Sexualmoral lesen sich wie die literarisch
veredelte Resonanz der sexuell denunziatorischen Pamphlete, die gegen Heinrich
III. und seine Mignons in Umlauf gesetzt waren. Das freie Flottieren der Insel
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136
Bettina Uppenkamp
im Ozean schließlich lässt sich als Metapher für die fundamentale Unsicherheit
verstehen, welche Ende des 16. Jahrhunderts die politische und gesellschaftliche
Situation in Frankreich prägte. Traumverloren wirkt die Figur des Hermaphroditen in dem Kupferstich des Frontispizes, traumverloren vor allem im Vergleich
zu der präsenten Potenz, welche in der Darstellung Heinrichs IV. als Mars zur
Schau gestellt wird. Endgültig allerdings sollte der Traum einer in der Figur des
Hermaphroditen beschlossenen selbstgenügsamen Vollkommenheit auch als
Herrschaftsutopie nach dem Tod von Heinrich III. nicht ausgeträumt sein. Der
Enkel Heinrichs IV., der sogenannte Sonnenkönig Ludwig der XIV., sollte in der
2. Hälfte des 17. Jahrhunderts als androgyn kostümierter Balletttänzer die über
die Sterblichkeit hinausweisende Dualität des königlichen Körpers zelebrieren.91
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Bibliothèque nationale de France http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/
cb32076027k
Abb. 2: Isabelle Haquet, L‘énigme Henri III. Ce que nous révèlent les images,
Paris 2011, Taf. III
Abb. 3 – 7, 9, 11 u. 12: Fêtes et crimes à la Renaissance. La cour d’Henri III,
Ausstellungskatalog Château royal de Blois 2010, hrsg. von Pièrre-Gilles Girault
u. Mathieu Mercier, Paris 2010
Abb. 8: Bibliothèque national de France http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/
cb41500097p
Abb. 10: Annie Duprat, »Les regalia au crible de la caricature du XVIe au XVIIIe
siècle«, in: Bulletin du Centre de recherche du château de Versailles, 2005. http://
images.google.de/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2Fdocanne
xe%2Fimage%2F296%2Fimg-3-small580.jpg&imgrefurl=https%3A%2F%2Fcrcv.
revues.org%2F296&h=464&w=580&tbnid=XXVf
Abb. 13: Daniel Arasse u. Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus
1520 – 1610, München 1997, S. 430
Abb. 14: Alain Mérot, French Painting in the Seventeenth Century, New Haven,
London 1995, Abb. 197
91 Vgl. Mark Franko, »The King Cross-Dressed. Power and Force in Royal Ballets«, in: Sara E.
Melzer u. Kathryn Norberg (Hgg.), From the Royal to the Republican Body. Incorporating the
Political in Seventeenth- and Eighteenth-Century France, Berkeley 1998, S. 64-84.
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Veronica Biermann
Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
Christina von Schweden im Spiegel Gian Lorenzo Berninis
Königin Christina hat von Geburt an, Zeit ihres Lebens und noch weit über
ihren Tod hinaus für eine gewisse Verunsicherung gesorgt.1 Ihr königlicher Körper
und das Geschlecht dieses Körpers werfen bis auf den heutigen Tag Fragen auf.
An drei markanten Beispielen sei der Problemhorizont einleitend abgesteckt.
Beispiel eins: Anlässlich der großen Ausstellung des Europäischen Rates, die
1966 in Erinnerung an Königin Christina in Stockholm ausgerichtet wurde, war
im Jahr zuvor ihr Sarkophag in den Vatikanischen Grotten geöffnet worden.2
Ein Ziel der Exhumierung der im April 1689 in Rom verstorbenen, ehemaligen
Monarchin Schwedens war es, eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutierte und offenbar als dringend erklärungsbedürftig empfundene Unsicherheit
zu beseitigen. Als fraglich galt, ob Christina tatsächlich eine Geschlechtsfrau oder
nicht doch ein biologischer Zwitter gewesen war.3 Gesucht wurde nach Erklärungen für eine auffällige Prägung der Königin. Wie sie in ihrer Autobiografie
mitteilt, sei sie als Neugeborene zunächst für einen Jungen gehalten worden. Als
man den Fehler bemerkte, hätte ihre Tante sie dem Vater schweigend so überreicht, dass er sich von ihrem richtigen Geschlecht überzeugen konnte. Dieser
aber habe sie wie einen erstgeborenen Prinzen gefeiert und lachend bemerkt:
1 Im vorliegenden Aufsatz fasse ich Gedanken zusammen und bringe sie in einen neuen, argumentativen Zusammenhang, die ich bereits in einem Buch 2012 veröffentlicht habe: Veronica Biermann, Von der Kunst abzudanken. Die Repräsentationsstrategien Königin Christinas von
Schweden, Köln, Weimar, Wien 2012.
2 Vgl. Carl-Herman Hjortsjö, »The Opening of Queen Christina’s Sarcophagus in Rome«, in:
Magnus von Platen (Hg.), Queen Christina of Sweden. Documents and Studies (Analecta Reginensia 1), Stockholm 1966, S. 138-158.
3 Vgl. ebd., S. 154 f. Bereits Zeitgenossen hielten Christina für einen Hermaphroditen, so z. B.
Lieselotte von der Pfalz, die Gerüchte kolportiert, in: Hans F. Helmolt (Hg.), Elisabeth Charlottens Briefe an Karoline von Wales und Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Annaberg
1909, S. 67-68. Als Argument in der Forschungsliteratur diskutiert insbes. bei Erik Essen-Möller, Drottning Christina. En määniskostudie ur läkaresynpunkt, Lund 1937; Sven Stolpe, Königin
Christine von Schweden, Frankfurt a. M 1964, S. 59.
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Veronica Biermann
»Sie wird geschickt seyn; denn sie hat uns alle betrogen.«4 Diese von ihr selbst
kolportierte Anekdote kann für das lebenslange Verhalten Christinas stehen,
eine gewisse Unsicherheit über ihr Geschlecht und ihren Status verbreitet zu
haben und dementsprechend ambivalent wahrgenommen worden zu sein.5 Die
zahlreichen von ihren Zeitgenossen verfassten Beschreibungen stimmen in einem
Punkt so gut wie alle überein: Zeit ihres Lebens muss sie die Kleiderordnung
gebrochen haben, sie trug Männerschuhe und Männerhandschuhe, ein Wams
und ein Justaucorps sowie einen Männerhut. Keiner, der ihr leibhaftig begegnete
und sie beschrieb, hat je versäumt, auf die Details ihrer männlich kodierten
Kleidung hinzuweisen.6 Die Meisten erwähnen zudem ebenso einprägsame wie
sie befremdende körperliche Eigenschaften, einen raschen Gang, ihre bewegte
Mimik, ihre ausladende Gestik und ihr breitbeiniges Sitzen.7 Viele verweisen auf
die Unruhe, die sie offenbar stets verbreitet zu haben scheint, ihr lautes Reden,
ihr ungehemmtes Lachen, ihr Hin- und Hergehen und Auf- und Niedersetzen
– auch und gerade in Situationen, die wohl eher Ruhe und Stillstand erwarten
ließen.8 Einige vermuten, dass sie ein ausschweifendes Liebesleben führte und
nicht nur Männer, sondern auch Frauen begehrte.9 Diejenigen, die Zugang zu
ihr hatten und mit ihr sprechen konnten, berichten – nie ohne eine gewisse
Verwunderung – von einer aufmerksamen Zuhörerin, deren politischer, militärischer, naturwissenschaftlicher, musikalischer und künstlerischer Sachverstand
offenkundig als überragend und daher als ›männlich‹ wahrgenommen wurde.10
Zweifelsohne, die unverheiratet und kinderlos gebliebene Christina befremdete
mit ihrem als unschicklich empfundenen Aussehen und Verhalten ihre Zeitgenossen und bereitete damit ihnen wie späteren Interpreten gleichermaßen
Kopfzerbrechen. Die Untersuchungen von 1965 erbrachten, dass Schädel und
Knochenbau typische weibliche Merkmale aufwiesen und ihre Beckenmaße der
Geburt eines Kindes nicht im Wege gestanden haben würden.11 Aus anthropo4 »Das Leben der Königinn Christina, von ihr selbst beschrieben, mit einer Zuschrift an Gott«,
in: Johan Arckenholz (Hg.), Historische Merkwürdigkeiten die Königin Christina von Schweden
betreffend, Bd. 3, Leipzig, Amsterdam 1760, S. 19.
5 Vgl. hierzu ausführlich Biermann (wie Anm. 1), S. 248-261.
6 Vgl. ebd., S. 250 f.
7 Vgl. ebd., S. 251 f. Beispielhaft die Beschreibung des Grafen zur Lippe, in: Erich Kittel (Hg.),
Memoiren des Generals Graf Ferdinand Christian zur Lippe, Lemgo 1959, S. 52.
8 Vgl. ebd., S. 252. Beispielhaft die Beschreibung von Tomaso Raggi, in: Filippo Clementi, Il
carnevale romano nelle cronache contemporanee dalle origini al secolo XVII, Rom 1939, S. 550.
9 Vgl. ebd., S. 254 ff. Beispielhaft Christinas eigene, flirrenden Bemerkungen, in: Carl de Bildt
(Hg.), Christine de Suède et le cardinal Azzolino. Lettres inèdites (1666 – 1668), Paris 1899, S. 473.
10 Vgl. ebd., S. 258-261. Beispielhaft die Beschreibung des englischen Botschafters, in: Bulstrode
Whitelocke, A Journal of the Swedish Ambassy In The Years M.DC.LIII. And M.DC.LIV […],
London 1772, Bd. 1, S. 234 f.
11 Vgl. Hjortsjö (wie Anm. 2), S. 155.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
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logischer wie anatomischer Sicht kann demnach als empirisch erwiesen gelten,
dass der Körper Christinas demjenigen einer biologisch korrekt gebauten und
funktionsfähigen Frau entsprach. Jedoch, auf was für eine Frage gibt die Humanbiologie mit ihrer eindeutigen Geschlechtszuweisung eine Antwort? Ob
Christina trotz aller Auffälligkeiten dennoch eine ›richtige‹ Frau war? Eine solche
Frage mag dem historischen Problemhorizont der Moderne vom späten 19. bis
tief in das 20. Jahrhundert hinein entsprechen, mit dem Horizont der Königin
deckt er sich wohl eher nicht. Bezeichnenderweise konnte Christina, wenn sie
denn wollte, auch in den Kategorien ihrer Zeit ganz Frau sein. Eine anonym
verfasste, anekdotische Lebensbeschreibung kolportiert, dass sie anlässlich einer
päpstlichen Audienz Innozenz XI. milde stimmen wollte: »Sie ließ sich und
ihr Frauenzimmer in einer Weise einkleiden, die sie ›all’ innocenziana‹ nannte.
Es waren sehr lange, bis auf den Boden reichende Kleider, vorne geschlossen
und mit eng anliegenden Ärmeln, die die Hände bedeckten. Der Hals war so
eng umschlossen, dass man kaum noch das Gesicht sah.«12 Gefangen gesetzt in
einer Kleidung, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkte, trat sie, solchermaßen körperlich gebändigt, dem ›unschuldigen‹ Innozenz in aller Unschuld
›all’innocenziana‹ entgegen.13 Die unverkennbar ironische Stoßrichtung dieser
Kleiderwahl lässt zum einen das hohe, subversive Potential Christinas erkennen. Zum anderen belegt diese gezielte Inszenierung aber auch ihr ausgeprägtes
Bewusstsein der unterschiedlichen Rollenmodelle von Männern und Frauen
und ihrer divergierenden Gestaltungsrahmen. Darüber, dass sie diese mit ihrer
üblichen Kleiderwahl, ihrem Aussehen und Betragen beständig sprengte, war
sie sich im Klaren, ihre charakteristischen Eigenheiten konnte sie reflektieren
und genau einordnen: sie habe zu laut geflucht und zu oft und zu laut gelacht,
so wie sie auch einen allzu geschwinden Gang an den Tag gelegt habe.14 Jedoch
»[...] alle diese Fehler würden von geringer Erheblichkeit seyn, wenn sie sich
nicht an einem Frauenzimmer fänden. Mein Geschlecht macht, dass sie weniger
zu entschuldigen sind: gleichwie sie auch allen meinen guten Eigenschaften und
Gaben etwas von ihrem Werthe benehmen, weil sie von solcher Art sind, dass
sie sich dafür nicht schicken«.15 Königin Christina wusste demnach sehr genau
12 »Si fece vestire assieme con tutte le sue donne in una certa forma che ella chiamava all’Innocenziana, quest’erano vesti lunghe e si trascinavano sino a terra, chiuse davanti con maniche
strette che arrivavano sopra il pugno, et attorno al collo appena si vedeva il vezzo«, in: Jeanne
Bignami Odier, Giorgio Morelli (Hgg.), Istoria degli intrighi galanti della Regina Cristina di
Svezia […], Rom 1979, S. 183.
13 Zur Konstruktion des höfischen weiblichen Körpers vgl. Ingrid Bennewitz, Der Körper der
Dame. Zur Konstruktion von »Weiblichkeit« in der deutschen Literatur des Mittelalters, Braunschweig 1996 (Braunschweiger Universitätsreden, TU Braunschweig).
14 Arckenholtz (wie Anm. 4), S. 49 f .
15 Ebd., S. 50.
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Veronica Biermann
um ihre unschickliche Wirkung auf die Zeitgenossen. Deren Irritation scheint
für sie jedoch kein hinreichend wichtiger Grund gewesen zu sein, irgendetwas
an ihrem Aussehen oder Verhalten zu ändern. Die Kleiderordnung nicht befolgt und ihr Verhalten nicht zu demjenigen einer sich selbst kontrollierenden
Frau korrigiert zu haben sind Probleme, die ihre Zeitgenossen teilweise und die
bürgerliche Biographik maßgeblich beschäftigten – sie selbst hat sie schlicht
ignoriert und teilweise gezielt konterkariert. Werden mit der Identifizierung
eines eindeutigen Geschlechts demnach Königin Christina und ihr Körper
in ausreichendem Maße erfasst und eine Antwort auf ihre Uneindeutigkeiten
gegeben? Wohl kaum. Es ging nie und geht nicht darum, ob sie eine ›richtige‹
und damit eben ›nur‹ Frau war. Im geöffneten Grab wurde nach etwas gesucht,
das dort niemals hätte gefunden werden können und dort auch in Zukunft
niemals gefunden werden wird. Das Selbstverständnis Christinas speiste sich
nicht daraus, eine Frau zu sein, sondern eine Königin. Weshalb als Frage bleibt,
wo dann sonst nach Erklärungsmöglichkeiten für das Phänomen Christina und
ihren königlichen Körper, ihre schillernde Zweigeschlechtigkeit, ihre auffallende
Beweglichkeit und ihren beständigen Bruch mit dem, was als angemessen galt,
gesucht werden kann.
Beispiel zwei: Das Leben Königin Christinas war fürwahr reich bewegt.
Beschränkt man einen kurzen Überblick nur auf die wichtigsten, politischen
Ereignisse der ersten achtundzwanzig Jahre, sind davon unbedingt zu nennen:
ihre Königswerdung als Fünfjährige nach dem Tod des Vaters Gustav Adolf
1632; ihr Antritt der Eigenherrschaft als erbberechtigte Königin zum Zeitpunkt
ihrer Großjährigkeit im Dezember 1644; der maßgeblich von ihr forcierte Friedensschluss zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges im Oktober 1648; ihre
Herrscherweihe und Krönung im Oktober 1650, nachdem sie ihren Cousin Carl
Gustav von Pfalz-Zweibrücken über Jahre konsequent zu ihrem erbberechtigten
Nachfolger aufgebaut hatte und mit denen sie ihre Stabilisierungs- und Konsolidierungspolitik der schwedischen Monarchie zu einem buchstäblich krönenden
Abschluss brachte; ihre Abdankung im Juni 1654; sowie ihre Konversion zur
katholischen Konfession, die sie im Dezember 1654 in Brüssel insgeheim vollzog
und im November 1655 in Innsbruck öffentlich bestätigte.
Von diesen wichtigen, politischen Ereignissen schnitt die Abdankung am
tiefsten in das Leben der Königin ein. Sie kam, juristisch gesehen, ihrem Tode
gleich.16 In dem Augenblick, in dem Christina dem ererbten Thron entsagte
16 Zur Abdankung als »Herrschertod« vgl. Susan Richter, »Zeremonieller Schlusspunkt. Die
Abdankung als Herrschertod«, in: Susan Richter, Dirk Dirbach (Hgg.), Thronverzicht. Die
Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln, Weimar u. Wien 2010, S.
75-94. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an Kaiser Karl V., der gegenüber
Philip II. stets betonte, ihm die Herrschaft freiwillig übertragen zu haben und »zu Deinem
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
141
und auf die Ausübung ihrer Herrschaft verzichtete, gingen Herrschaftsgewalt
und Königswürde umstandslos auf ihren Nachfolger Carl Gustav über. Dem
Verständnis der Zeit entsprach dieser Vorgang dem Augenblick der charismatischen Herrschaftsübertragung, wie sie beim Tod eines regierenden Königs in
der Formel le roi est mort, vive le roi, ihren Ausdruck fand.17 Die juristische Basis
dieses Wechsels bildeten signierte und beglaubigte Verträge, das Abdankungsinstrument Christinas und der Zusicherungsvertrag Carl Gustavs.18 Deren zentrale
Inhalte wurden in einem zeremoniellen Akt der Reichsöffentlichkeit unmittelbar
vor Augen geführt und so sichtbar in ihr Recht gesetzt.19 Der actus abdicationis
war demnach eine performative Publikation: Im vollständigen Krönungsornat
zog Christina in den Reichssaal des Schlosses von Uppsala ein, nur noch in ein
weißes Gewand gekleidet verließ sie ihn wieder.20 Ein- und Auszug rahmten die
rituelle Kernhandlung der Abdankung, die re-signatio, die Rückgabe der Insignien
ihrer Herrschaft.21 Christina erstattete dem schwedischen Reich Krone, Zepter,
17
18
19
20
21
Vorteil gleichsam vor der Zeit sterbe«, in: Alfred Kohler (Hg.), Quellen zur Geschichte Karsl
V., Darmstadt 1990, S. 466 f.
Der Ausruf »Der König ist tot, es lebe der König« ist erstmals für die Begräbnisfeierlichkeiten
Franz I. bezeugt, die Auffassung allerdings, dass »das Hinscheiden des Königs [...] den rechtmäßigen Erben in den Ländern, in denen die Königswürde erblich war, unmittelbar zum König [machte]«, wohl älter, vgl. Marc Bloch, Die wundertätigen Könige [Les rois thaumaturges],
München 1998, S. 244. Auch Christina war nach dem Tod ihres Vaters Gustav Adolph in der
Schlacht bei Lützen 1632 in dieser Weise in ihrer Herrschaft bestätigt worden, vgl. Arckenholtz (wie Anm. 4), S. 27.
Vertragstexte auf deutsch bei Christian Steiff, Leben der weltberühmten Königin […], Leipzig
1705, S. 61.; Anders Anton von Stiernman, Alla Riksdagars och Mötens Besluth […], Stockholm 1729, Bd. 2, S. 1208-1217; S. 1224-1228.
Die ausführlichsten Darstellungen der Abdankung Christinas bei: Andreas Guldenblad, »Geschichte der Begebenheiten nach dem Tode des großen Gustav […]«, in: Arckenholtz (wie
Anm. 4), Bd. 3, S. 168-173; Johann Georg Schleder, Theatri Europaei sechster und letzter Theil,
das ist, Außführliche Beschreibung der Denckwürdigsten Geschichten, Frankfurt a. M. 1663, S.
638 f. Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale historico politicum oder historisch- und
politischer Schau-Platz aller Ceremonien, Leipzig 1719, Bd. 2, S. 813 f. Die bisher ausführlichsten
Analysen bei: Markus Bauer, »Das große Nein – Zum Zeremoniell der Resignation«, in: Jörg
Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hgg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und
Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 99-124, insbes. S. 113-121; Biermann (wie Anm. 1), S. 36-58.
Zum Zeremoniell als rechtsetzendem Publikationsakt, vgl. Bernhard Jussen, »Um 2005. Diskutieren über Könige im vormodernen Europa. Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die Macht des
Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. XIXXIV, hier S. XIV-XVII.
Zum Zeremoniell als ritualisierter, symbolischer Kommunikation vgl. Barbara StollbergRillinger, »Berichte und Kritik: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neuere Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit«, in: Zeitschrift für historische Forschung 27, 3 (2000), S. 389-405; Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und
Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, insbes. das Vorwort. Zum höfischen Zeremoniell
vgl. Jörg Jochen Berns, »Der nackte Monarch und die nackte Wahrheit. Auskünfte der deut-
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Veronica Biermann
Reichsapfel, Schlüssel und Krönungsmantel zurück. Ihre Resignation war unmissverständlich als eine Entkleidung gestaltet, die die Einkleidung während ihrer
Krönung ins Gegenteil verkehrte. Die symbolische Umkehrung veranschaulichte
den juristischen actus contrarius mit seinen faktischen Folgen, genau so wie sie
zur Königin gemacht worden war wurde dies nun wieder rückgängig gemacht,
die Herrschaftsgewalt kehrte sich um und lag bei ihrem Nachfolger.22
Allein, bei exaktem Hinsehen wird meines Erachtens erkennbar, dass ein
königliches Zeichen nicht zurückgegeben wurde, weil es nicht zurück gegeben,
sondern nur von Gott selbst zurück genommen werden konnte: Im Krönungsakt war Christina vom Bischof gesalbt, ihre Majestät dadurch von Gott selbst
geheiligt worden.23 Dass diese Einprägung des heiligen Geistes der Königin verblieb und die Salbung nicht restituiert wurde, scheint während der Resignation
auf subtile Weise wahrnehmbar gemacht worden zu sein. Drei unterschiedliche
Berichte beschreiben in dreifach verschiedener Weise eine offenbar auffällige
Situation während der Entkleidung Christinas.24 Ab einem bestimmten Moment
muss sie auf Hilfe gewartet und diese teilweise sogar winkend befohlen haben,
doch nichts geschah: Im ersten Fall treten erst nach dreimaliger Wiederholung
ihres Befehls, ihr die Krone vom Kopf zu nehmen, Umstehende hinzu, um ihr zu
helfen25; im zweiten Fall befielt sie dem Reichsdrosten Per Brahe mehrfach, ihr die
Krone abzunehmen, doch er weigert sich hinzuzutreten, so dass sie gezwungen
22
23
24
25
schen Zeitungs- und Zeremoniellschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum
Verhältnis von Hof und Öffentlichkeit«, in: Daphnis 11 (1982), S. 315-349, insbes. S. 333-349
und ders., »Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze
in typologischer Absicht«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 34 (1984), S. 295-311.
Zum Zeremoniell als Zeichensystem und Darstellungsmedium der repraesentatio maiestatis
vgl. insbes. Monika Schlechte (Hg.), Nachwort zur Edition Julius Bernhard v. Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren, Leipzig 1989, S. 3-53.
Der Grundsatz stammt aus dem kanonischen wie römischen Vertragsrecht: »nihil tam naturale est quam eo genere quicque dissolvere, quo colligatum est – nichts ist natürlicher, als
dass man eine Sache auf dieselbe Weise wieder auflösen kann, auf die man sie auch zustande
gebracht hat«, Digesten, L, t.17, l. 35, in: Paul Krueger u. Theodor Mommsen (Hgg.), Corpus
iuris civilis, Bd. 1: Institutiones et Digesta, Berlin 1877, S. 869. Zur rituellen Inversion als symbolischem Verfahren der Reversibilität vgl. Barbara Babcock, »Introduction«, in: dies. (Hg.),
The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society, Ithaca, London 1978.
Vgl. Schleder (wie Anm. 19), Bd. 6, S. 1180; zur Bedeutung königlicher Salbungen vgl. Bloch
(wie Anm. 17); zur Herrscherweihe vgl. Reinhard Elze, »Herrscherweihe«, in: Lexikon für
Theologie und Kirche, s. v., zu protestantischen Salbungen vgl. Hans Liermann, »Untersuchungen zum Sakralrecht des protestantischen Herrschers«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 30 (1941), S. 311-383.
Vgl. Whitelocke (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 259; Per Brahe, »Merkwürdigkeiten des brahischen
Geschlechts«, in: Arckenholtz (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 430, Anm. * [sic!]; Galeazzo Gualdo
Priorato, Historia della Sacra Real Maestà di Christina Alessandre Regina di Svetia, Modena
1656, S. 15.
Vgl. Whitelocke (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 259.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
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ist, sie sich selbst vom Kopf zu nehmen26; und im dritten Fall wartet sie darauf,
dass ihr Umstehende dabei helfen, den Krönungsmantel von den Schultern
zu ziehen, was jedoch nicht geschieht, so dass sie ihn sich selbst abnimmt und
lachend zu Boden wirft.27
Diese Berichte sind anekdotisch verfasst, ihre Autoren sind subjektiv, sie
widersprechen einander und sie sind unpräzise, das, was sie schreiben ist daher
auslegungsfähig und -bedürftig.28 Doch so verschieden ihr jeweiliger Blickwinkel und ihre Interessen auch gewesen sein mögen, eines haben sie gemeinsam:
sie alle scheinen auf einen auffälligen Moment des Zögerns zu reagieren, die
resignierende Königin befielt und wartet, doch niemand gehorcht. Es ist recht
offensichtlich, dass der Handlungsfluss während der Resignation ins Stocken
geraten sein muss. Eine Merkwürdigkeit, die wahrgenommen wurde, die jedoch
ohne eine offizielle Erklärung geblieben zu sein scheint, weshalb sie von den
Autoren nach Belieben für ihren jeweiligen Zweck interpretiert werden kann.
Für uns wird über ihre Erzählungen so erkennbar, dass im Moment der Resignation dem Befehl Christinas offenbar ein höherrangiger Befehl entgegenstand.
Die Umstehenden scheuen davor zurück, zu ihr zu treten und ihm Folge zu
leisten. Vermutlich, weil sie sich ansonsten einem Anderem gegenüber schuldig
gemacht haben würden. Dieses Andere und unbedingt Gehorsamspflichtige
kann nur höherranging und daher Gott und eines seiner Gebote gewesen sein,
beispielsweise das alttestamentarische nolite tangere Cristos meos – tastet meine
Gesalbten nicht an.29 In beredtem Schweigen wäre auf diese Weise klar gemacht
worden, dass die gesalbte Majestät Königin Christinas unangetastet und beschützt
blieb.30 In diesem einen Punkt kam es zu keinerlei Veränderungen und dies
kenntlich zu machen war von aller größter Wichtigkeit, denn im Unterschied
zu ihrer reversiblen Herrschaft war ihre Herrscherweihe irreversibel, sie hatte
weiterhin Bestand und dauerte über den juristischen bis zum natürlichen Tod
der Königin.31 Trotz Abdankung behielt Christina zeitlebens Rang und Titel einer
Königin, trotz Resignation behauptete sie ihre Würde einer Heiligen Majestät.32
26
27
28
29
30
Vgl. Brahe (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 430.
Vgl. Priorato (wie Anm. 24), S. 15.
Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 48-51.
Ps. 104, 15. Vgl. ebd., S. 51 f.
Zu den medialen Vorzügen des Rituals vgl. Niklas Luhmann, »Geheimnis, Zeit und Ewigkeit«, in: ders. u. Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, S. 101-137.
31 Das problematische Verhältnis von reversibler Herrschaft zu irreversibler Weihe ist deutlich
an forcierten Abdankungen (Depositionen) nachzuweisen, vgl. Frank Rexroth, »Tyrannen
und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten
Mittelalter«, in: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 27-53; ders., »Um 1399. Wie man einen
König absetzte«, in: Bernhard Jussen (Hg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom
Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 241-254. Vgl. hier w. u.
32 Darin ist sie Karl V. unmittelbar vergleichbar, vgl. Richter (wie Anm. 16), S. 86.
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Veronica Biermann
Dass Königin Christina – fast – unverändert diejenige blieb, die sie vorher
gewesen war, fand im weiteren zeremoniellen Verlauf eine sichtbare Bestätigung. Ihrer Resignation schlossen sich noch der Austausch von Komplimenten
und diverse Reden auf den Treppenstufen des Thronpodiums an. Danach trat
Christina jedoch nicht endgültig von der letzten Stufe. Vielmehr geleiteten sich
ehemalige Königin und neuer König gegenseitig auf das Podium zurück, wo sie
ihren Nachfolger auf die Insignien hinwies, während er sie dazu aufforderte, sich
wieder auf den Thron zu setzen, was sie jedoch ablehnte.33 Für alle sichtbar, kehrte
Christina im Zeremoniell an die Schwelle des schwedischen Throns zurück. Dort
allerdings stand sie nun bar ihrer Insignien und nur noch in ein weißes Gewand
gekleidet. Der Autor einer der wichtigsten Zeitungen ihrer Zeit – des Theatrum
Europaeum – vermittelt seinen Lesern diesen Moment, indem er schreibt, sie habe
dort »wie eine sonst gemeine dame« gestanden.34 Ein offenkundig mehr als nur
problematischer Vergleich, entblößt die lapidare Formulierung Christina doch
ihres weiterhin bestehenden Königtums und ihrer Majestät und damit genau
dessen, was sie sich vertraglich hatte zusichern lassen und was in der Resignation
als Geheimnis zugleich offengelegt und beschützt worden war. Der Vergleich
reduziert sie auf das, was auch im Grab der Königin gefunden wurde: eine Frau,
›nur‹ eine Frau. Erst solchermaßen schärft sich der Kontrast, der zwischen den
verschiedenen Kategorien einer unangetasteten und unantastbaren Heiligen
Majestät und einer »sonst gemeine(n) dame« liegt. Erkennbar werden so die
Komplexität des Körpers der Königin und seines Geschlechts ebenso wie die
Probleme, vor denen Christina stand. Beide Kategorien bildeten gewichtige Faktoren, die sie in ihrer Repräsentation zu reflektieren und zu gestalten hatte, und
die Frage stellt sich, wie sie ihre Repräsentationsschwierigkeiten anging und löste.
Beispiel drei: Das Leben Christinas vollendete sich nicht mit ihrer Abdankung
1654 und auch nicht mit ihrer Konversion 1655, es ging weiter. Im Dezember
1655 zog sie in einem triumphalen Adventus in Rom ein, wo Papst Alexander
VII. Chigi dieser kostbaren katholischen Trophäe einen fulminanten Empfang
bereitete. Rom wurde der Ort, an dem sie – mit Unterbrechungen – ihr weiteres
Leben bis zum Tod im April 1689 verbrachte. Ab 1662 bezog sie hier zunächst
temporär, ab 1668 dann kontinuierlich ihren Wohnsitz im Palazzo Riario an
der Lungara, der für sie seit 1659 angemietet und zu einer königlichen Residenz
umgebaut worden war.35 Zu den frühesten und zugleich kostbarsten Ausstattungsstücken ihres öffentlich zugänglichen Paradeappartements gehörte ein
allegorischer Spiegel, der von Gian Lorenzo Bernini für Christina entworfen und
in ihrem wichtigsten Sammlungsraum, dem »großen Gemach« bzw. der »stanza
33 Vgl. Schleder (wie Anm. 19), Bd. 7, S. 639; vgl. Lünig (wie Anm. 19), S. 814.
34 Ebd.
35 Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 83-87 mit weiterführender Literatur.
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dei quadri«, angebracht wurde.36 Berninis Entwurf hat sich in einer prächtigen
Präsentationszeichnung in den königlichen Sammlungen von Windsor Castle
erhalten.37 (Abb. 1) Ausgeführt wurde er 1662 in einer leicht veränderten Fassung
durch Ercole Ferrata.38 Fast zwei Meter hoch und einen Meter breit war er außergewöhnlich groß, die Spiegelfläche setzte sich aus insgesamt acht Einzelscheiben
zusammen, der Rahmen und sein Beiwerk bestanden aus vergoldetem Stuck.39
Konzipiert war der Spiegel als eine Allegorie, deren Sinngehalt sich in dem
Moment vervollständigte, in dem Christina den Raum betrat und sich in ihm
betrachtete: Eine knapp lebensgroße Stuckfigur, die den bärtigen Gott der Zeit
darstellte, hinterfing den Spiegel. Mit weit aufgespannten Flügeln und geneigtem Oberkörper beugte er sich leicht über den Rahmen, um mit festem Griff
ein reich gefaltetes Tuch zu raffen, das andernfalls die Spiegelflächen verdeckt
haben würde. So jedoch enthüllte er dem Blick Christinas ihr Spiegelbild. Erst
ihr im Spiegel sichtbar werdender Körper und ihr Gesicht füllten die Leerstelle,
wie sie in den Zeichnungen stehen gelassen ist und wie sie im Raum ohne ihre
Gegenwart ebenfalls bestand. Ihr – bekleideter – Körper ergänzte den fehlenden
Teil des allegorischen Erzählzusammenhangs: der Gott der Zeit enthüllt die
nackte Wahrheit.40
36 Vgl. ebd., S. 146 f.; S. 212 ff.; Zum Gesamtzusammenhang vgl. Veronica Biermann, »Die
Königin und ihr Künstler: Christina von Schweden und Gian Lorenzo Bernini im ›Großen
Gemach‹ des Palazzo Riario in Rom«, in: Eckhard Leuschner u. Iris Wenderholm (Hgg.),
Frauen und Päpste. Zur Konstruktion von Weiblichkeit in Kunst und Urbanistik des römischen
Seicento, Berlin 2016, S. 21-48.
37 Zuschreibung an Bernini erstmals durch Heinrich Brauer u. Rudolf Wittkower, Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini, Berlin 1931, S. 151; sie ist unbestritten, zuletzt publiziert in:
Sebastian Schütze u. Jeannette Stoschek (Hgg.), Bernini. Erfinder des barocken Rom (Museum
der bildenden Künste Leipzig), 2014, Kat.-Nr. 141.
38 Vgl. Tomaso Montanari, »Bernini e Cristina di Svezia. Alle origini della storiografia berniniana«, in: Alessandro Angelici (Hg.), Gian Lorenzo Bernini e i Chigi tra Roma e Siena, Siena
1998, S. 373. Das Aussehen des tatsächlich ausgeführten Spiegels hat sich in einer Zeichnung
überliefert, vgl. Rudolf Wittkower, Gian Lorenzo Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque,
London 1997 (1955), S. 262.
39 »Una statua che rappresenta il tempo di creta tutta indorata grande, quale tiene in mano un
specchio con panneggiature di creta simile indorato, sopra d° specchio, che scopre la verità,
et il d° specchio è in otto pezzi et è alto in tutto palmi otto e largo palmi sette, quale statua e
specchio stanno attaccati al Muro«, in: Inventario della eredità della Regina Cristina di Svezia,
ASR, A. C. 917, S. 535; vgl. auch Nicodemus Tessin, Traictè dela decoration interieur 1717 (Nicodemus the Younger, Sources, Works, Collections), hrsg. v. Patricia Waddy, Stockholm 2002,
S. 257; zum Spiegel vgl. Jennifer Montagu, Roman Baroque Sculpture. The Industry of Art, New
Haven, London 1988, S. 119.
40 Zum Spiegelbild Christinas als allegorischem Porträt vgl. Carl Nordenfalk, »Realism and Idealism in the Roman Portraits of Queen Christina of Sweden«, in: Studies in Renaissance and
Baroque Art presented to Anthony Blunt, London, New York 1967, S. 127; Matthias Winner,
»Veritas«, in: Anna Coliva u. Sebastian Schütze (Hgg.), Bernini scultore. La nascita del barocco
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146
Veronica Biermann
Abb. 1: Gian Lorenzo Bernini, Entwurfszeichnung für den Allegorischen Spiegel im
»großen Gemach« des Palazzo Riario, ca. 1662, Royal Collection, Windsor Castle.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
147
Anders als im Reichssaal zu Uppsala 1654, in welchem sie ihrer königlichen
Insignien entkleidet in symbolischer Nacktheit vor der Reichsöffentlichkeit stand,
war sie im Spiegel des großen Gemachs ihres römischen Palastes in allegorischer
Nacktheit sichtbar. Nach ihrer Resignation konnte der Autor des Theatrum Europaeum sie mit einer »sonst gemeine(n) dame« vergleichen und sie so auf das
reduzieren, was sie strikt zu vermeiden suchte, nämlich einfach nur eine Frau
zu sein. Berninis Spiegel wirkt dagegen wie ein Gegenprogramm, denn in seiner
Allegorie enthüllt der Gott der Zeit nicht einfach nur das Spiegelbild einer Frau,
sondern dasjenige der nackten Wahrheit. Was aber war die ›nackte Wahrheit‹
Königin Christinas, was wurde in und vor diesem Spiegel reflektiert? Mit großer
Wahrscheinlichkeit kontemplierte sie das, was üblicherweise mit der nackten
Wahrheit eines Spiegelbildes verbunden wird und wurde: die Veränderungen
ihres weiblichen Körpers und somit die Vergänglichkeit ihres Menschseins. Als
Vanitas verstanden rückte auch ihr Spiegelbild sie in die Nähe dessen, was der
Autor des Theatrum Europaeum auf dem Thronpodium gesehen und in ihrem
Grab schlussendlich gefunden wurde – eine sterbliche Frau. Doch ebenso wahrscheinlich eröffnete ihr der Blick in diesen spezifischen Spiegel und auf ihre –
allegorische – Nacktheit noch eine ganz andere Bildebene und die Bestätigung
einer ganz anderen Wahrheit: die unveränderliche und unvergängliche ›Physis
mit Metaphysik‹ ihres königlichen Körpers.41 Der Körper der Königin und ihre
heilige Majestät besaßen einen unsterblichen Anteil, diesen im Grab zu suchen
bedeutet vergebliche Liebesmüh.
Wie die drei Beispiele des geöffneten Grabes, der Rückgabe der Insignien und
des Blicks in den Spiegel zeigen, werfen Körper und Geschlecht der Königin
Fragen auf, die zentral sind für ein besseres Verständnis Christinas von Schweden. Wie die drei Beispiele ebenfalls zeigen, ist es gar nicht so einfach, diese
Fragen überhaupt zu formulieren, geschweige denn, plausible Antworten zu
finden. Glücklicherweise existiert jedoch eine Möglichkeit der Annäherung an
Antworten. Der Weg führt über ein Medaillenproträt, das Massimiliano Soldani
in Casa Borghese, Rom 1998, S. 295-309, insbes. S. 299; Montanari (wie Anm. 38), S. 374;
ders., »La maschera e il vuoto. Sui ritratti romani di Cristina di Svezia«, in: Anne-Lise Desmas
(Hg.), Les portraits du pouvoir, Rom 2003, S. 96 f.; Lilian H. Zirpolo, »Christina of Sweden’s
patronage of Bernini: the mirror of truth revealed by time«, in: Woman’s art journal 26 (2005),
S. 38-43. Zur Ikonographiegeschichte der nackten Wahrheit vgl. Hans Kauffmann, Giovanni
Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 203-218.
41 Ich variiere eine Formulierung von Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (The
King’s Two Bodies). Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 62.
Er beschreibt dort den tragischen Bedeutungsgehalt der demise des Königs, d. h. der Trennung des body politic von body natural am Beispiel von Shakespeares Richard II., welcher nach
seiner Deposition nur noch Mensch sei, mit einer »Physis, der nun jede Metaphysik fehlt«;
vgl. hier w. u.
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148
Veronica Biermann
Benzi für Christina in Rom entworfen hat und das in einem Text von ihr selbst
erläutert worden ist. (Abb. 2)
Abb. 2: Massimiliano Soldani Benzi, Porträtmedaille Königin Christinas, 1681, Avers,
British Museum, London, © Trustees of the British Museum.
Soldani, den der Großherzog von Toskana 1678 zu Ausbildungszwecken nach
Rom geschickt hatte, und der 1681 für vier Monate in die Dienste Christinas trat,
schuf für sie das Averso einer vierteiligen Medaillenserie mit ihrem Brustbild im
Profil.42 In ein antikisierendes Gewand gekleidet ist ihr großflächiges Gesicht
falten- und alterslos wiedergegeben, auf die Betonung unmittelbar eingängiger
›Männlichkeit‹ wurde in diesem Porträt verzichtet.43
42 Vgl. Carl De Bildt, Les Médailles romaines de Christine de Suède, Rom 1908, S. 77-119; Klaus
Lankheit, Florentinische Barockplastik. Die Kunst am Hofe der letzten Medici 1670 – 1743, München 1962, S. 110-123; Benedetta Ballico, Le medaglie del Soldani per Cristina di Svezia, Florenz
1983; Tomaso Montanari, »Bellori and Christina of Sweden«, in: Janis Bell u. Thomas Willette
(Hgg.): Art History in the Age of Bellori. Scholarship and Cultural Politics in Seventeenth-Century Rome, Cambridge 2002, S. 110-115; Biermann (wie Anm. 1), S. 268-287.
43 Dies im Unterschied zu so gut wie allen literarischen und einigen gemalten Porträts, wie
beispielsweise von Sebastien Bourdon und Wolfgang Heimbach.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
149
Im Stockholmer Reichsarchiv hat sich zu diesem Porträt eine explication in
sechsfacher Ausfertigung mit eigenhändigen Korrekturvorschlägen Christinas
erhalten – eine ungewöhnlich ausführliche Sehanleitung, die zur Publikation
vorgesehen war und die meines Erachtens einen der wichtigsten Zugangsschlüssel
zu ihrem Selbstverständnis liefert.44 Worauf werden in diesem Text auf welche
Weise die Betonungen gelegt? Vom ersten Satz an wird als zentrales Problem die
Undarstellbarkeit »ihrer Majestät« benannt: die Medaille bilde sie im Profil ab,
doch seien ihre Züge und ihre Art von der Kunst – und, wie Christina in mehreren Kommentaren präzisiert, von den größten Meistern der Kunst – nahezu
unnachahmlich. Selbst der berühmte Bernini – und seine Berühmtheit wird
im Text explizit betont –, selbst »le fameux Bernin« habe ein Gelingen nicht
versprechen können.45 Die angeführten Gründe für dieses möglich erscheinende, künstlerische Scheitern muten vertraut an, decken sie sich doch mit jenen
charakteristischen Merkmalen, die in so vielen Beschreibungen Christinas,
einschließlich ihrer Autobiografie, immer wieder begegnen: Ihre vivacité und
extreme impatience, ihre Lebhaftigkeit und ihre Ungeduld. Wie es im Text heißt,
sei es ihr nie gelungen, sich und ihren Körper zu beherrschen, ausgerechnet ihr,
die sich doch in allen Dingen immer absolut zu bezähmen vermochte. Der einzige Anlass, den sie daher je zur Klage gegeben habe, sei der, dass deswegen der
Öffentlichkeit das Vergnügen entgangen sei, sie als das dargestellt zu sehen, was
sie ist – telle qu’elle est.46 Auf den Punkt gebracht: es gibt keine Darstellung von
44 Explication des 4 dernièrs médailles de Christine Auguste, Reine de Suède. Sechs Manuskriptfassungen in unterschiedlichen Redaktionsstadien haben sich erhalten, SRA, AA, K432, unpaginiert. Vgl. a. de Bildt (wie Anm. 42), S. 98-119; Tomaso Montanari (wie Anm. 42), Appendix
3. 2, S. 118-122.
45 »La figure principal est le profil de sa Majesté, dont la phisionomie et l’air son presque inimitables à l’art. Le fameux Bernin en fut si persuadé qu’il n’osa se promettre d’y réussir,
craignant la trop grande vivacité et l’extrême impatience de la Reine, se trouvant déjà dans un
âge trop avancé pour un si grand ouvrage.«, Montanari (wie Anm. 42), S. 118. Alternative in
Fassung I: »Sa phisionomie est exprimé en partie, son air héroïque et magnanime, qui sont inimitables a tous les maistres de l’art: ce que le fameux Bernin même avoua, n’ayant jamais osé
l’entreprendre de crainte d’éschouer dans une telle entrepris: l’impatience de sa Majesté et son
extrême vivacité la rendent presque impossible a un homme d’un âge si avancé, ce qu’il a dit
souvent luy même en se plaignant de son malheur sur ce sujet.« Fassung III: »Tous les maistres
de l’art confessent que sa phisionomie et son air sont inimitables, ce que le fameux Bernin
même avoua ingénuement, n’ayant jamais osé l’entreprendre craignant trop qui l’extrême
vivacité et l’impatience de sa majesté ne le fist éschouer en une si grande entreprise.« Ebd., S.
327, Anm. 79.
46 »Elle qui a un si absolu pouvoir en toutes les autres choses sur elle même n’a jamais pu fixer
son impatience, et c’est le seul sujet de plainte qu’elle a donné au public qui est prive par là du
plaisir de la voir représenté telle qu’elle est.« Ebd.
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150
Veronica Biermann
ihr, als das, was sie ist bzw. wie sie ist, denn ihre notorische Unbeherrschtheit
macht sie unnachahmlich, selbst einem Bernini.
Man kann die Aussagen dieses Textes wortwörtlich nehmen und sie glauben.
Die Frage stellt sich allerdings, ob dies auch tatsächlich so gewollt wird und man
dies also sollte. Denn – so überzeugend der Hinweis auf Christinas körperliche
Beweglichkeit auch ist und so sehr man ihr zutraut, sogar als Künstlermodell
ihr Ungestüm nicht diszipliniert zu haben; mit dem Hinweis auf den »berühmten Bernini« und dessen Eingeständnis, diese Königin in ständiger Bewegung
letztlich nicht darstellen zu können, nimmt die Argumentation eine doch recht
bemerkenswerte Wendung. Berühmt war Bernini schließlich dafür, exakt diese
größte aller Schwierigkeiten meistern zu können – das bewegteste Vorbild im unbewegtesten Material darzustellen.47 Erst kunsthistorisches Fachwissen ermöglicht
es uns zu erkennen, dass die Autoren an dieser Stelle ihres Textes ein raffiniertes
Spiel treiben. Spätestens mit dieser einen Formulierung zwingen sie bewanderte
Leser dazu, die Glaubwürdigkeit des von ihnen Gesagten auf den Prüfstand stellen
zu müssen. Die leise Irritation ist eine literarische Technik, auf indirekte Weise
durchblicken zu lassen, worauf ihre Argumentation eigentlich zielt.
Es ist offenkundig, dass die Autoren der explication sehr eingehende Kenntnisse
der Porträtpraxis Gianlorenzo Berninis gehabt haben. Sein Sohn Domenico hat
sie in der Vita seines Vaters prägnant beschrieben – und Christina kannte nicht
nur Bernini selbst, sondern auch diese Vita sehr genau:
Bernini hatte beim Porträtieren in Stein oder in der Zeichnung eine vom
allgemeinen recht abweichende Angewohnheit. Er wollte nie, dass derjenige,
den es zu porträtieren galt, still dasaß. Vielmehr wollte er, dass er sich so
wie immer ganz natürlich bewege und spreche. Denn nur auf diese Weise,
so sagte er, könne er dessen Schönheit ganz erkennen und ihn so erfassen,
wie er sei – contrafare com’ gli era. Und er versicherte, dass, wenn jemand in
Wirklichkeit ganz unbeweglich und still dastünde, sich selbst nie so ähnlich
sei, als wenn er sich bewegte. Denn die Bewegung offenbare alle Eigenschaften, die ganz die seinen seien und von niemand anderem sonst und es seien
47 Bernini war berühmt dafür, mit seiner Kunst der Definition der difficoltà, wie sie Galileo
Galilei in seinem Brief vom 26. Juni 1612 an den Maler Cigoli definiert hatte, zu entsprechen: »[...] quanto più i mezzi, co’ quali si imita, son lontani dalle cose da imitarsi, tanto
più l’imitazione è meravigliosa.« Einen guten Einblick in die kunsttheoretischen Aspekte bei
Bernini geben die Arbeiten Rudolf Preimesbergers. Vgl. ders., »Themes from art theory in
the early works of Bernini«, in: Gianlorenzo Bernini, New Aspects of his Art and Thought,
University Park 1985, S. 1-18; ders., »Berninis Cappella Cornaro. Eine Bild-Wort-Synthese des
siebzehnten Jahrhunderts? Zu Irving Lavins Bernini-Buch«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte
2 (1986), S. 190-219, hier insbes. S. 193-198.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
151
eben diese Eigenschaften, die dem Abbild seine Ähnlichkeit (zum Vorbild)
gäben.48
Vor dem Hintergrund dieser Informationen beginnt sich abzuzeichnen, was die
Autoren der explication begreifbar machen wollen: Wenn Berninis spezifische
Porträtpraxis darin gründete, seine Vorbilder dazu anzuhalten, sich ganz natürlich
zu bewegen, um so ein treffenderes Abbild von ihnen schaffen zu können, dann
hätte Christina gar nicht stillgestellt werden dürfen. Ganz im Gegenteil, gerade
ihre unbezähmbare Lebendigkeit und Ungeduld würde ein ihr ähnliches Porträt
durch Bernini befördert haben. Nur so hätte er ihre individuellen Eigenschaften
erfassen und sie so abbilden können, wie sie war bzw. als das, was sie war –
com’egli era in Berninis, telle quelle est in Christinas Sprachgebrauch. Wozu die
ganze Geheimniskrämerei? Welche Erkenntnis sollen wir als Leser durch diese
rhetorische Technik der argumentativen Umkehrung gewinnen? Die Folgerung
scheint klar: da mit sehr gut fundierten Gründen auszuschließen ist, dass der
unbeherrschte Körper der Königin und dessen natürliche Bewegungen dem berühmten Bernini künstlerische Grenzen zogen, können es auch keine natürlichen
Bewegungen dieses Körpers gewesen sein. Es muss sich um eine andere Art von
Bewegung und daher auch um eine andere Art von Grenze handeln. Was für
Bewegungen und Grenzen kommen in Frage? Möglicherweise ›übernatürliche‹
Bewegungen und daher majestätische Grenzen? Das allerdings wären delikate
Aspekte, würdig genug, um sie mit Geheimnis zu umgeben.
Die Analyse lässt zwei Aspekte an Kontur gewinnen: Dieser Text verhandelt
kein künstlerisches Darstellungsproblem, es geht den Autoren nicht um die
mimetische Schwierigkeit, vom bewegten Vorbild der Königin ein lebensnahes,
ein naturgetreues, ›natürliches‹ Abbild zu schaffen. Und: dieser Text begreift
die Bewegungen des Körpers der Königin, Christinas berühmt-berüchtigte
vivacité und impatience, nicht als natürlich, ergo geht es den Autoren auch
nicht um den ›natürlichen‹ Körper der Königin. Worum aber geht es dann?
Diese Frage klären die Autoren der explication in der ihnen eigenen, komplexen
Argumentationsführung am Beispiel des Medaillenproträts. Auch zu diesem
wissen sie Bemerkenswertes mitzuteilen: Soldanis Profilporträt Christinas sei
herausragendes Beispiel für ein besonders gut gelungenes Porträt der Königin,
eines der ihr ähnlichsten – le plus resemblant –, das je von ihr gemacht werden
48 Domenico Bernini, Vita del Cavalier Giovanni Lorenzo Bernini, Rom 1713, (Nachdruck, München 1988), S. 133 f. Auch wenn mittlerweile klar ist, dass der Biograf der Vita Berninis, Filippo Baldinucci, die Notizen der Familie, sprich die Vita Domenico Berninis, wohl eher nicht
aus den Händen Christinas erhielt, um seinen Text schreiben zu können, bleibt dennoch
anzunehmen, dass sie diesen Text kannte, in dessen Publikation sie eingebunden war, vgl.
Montanari (wie Anm. 38), S. 410-425.
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152
Veronica Biermann
konnte.49 Und nicht nur, dass Soldani gelungen zu sein scheint, was zuvor noch
als unmögliches Unterfangen beschrieben worden ist, er hat dies wunderbarer
Weise auch vermocht, obwohl ihm die Königin nicht einen einzigen Moment
zugestand, um sie anzuschauen.50 Als Leser sehen wir uns zum wiederholten
Male mit einer interessanten Wendung konfrontiert, denn wie hat der Künstler
das beste, ja sogar das ihr ähnlichste Porträt schaffen können, wenn er sie nicht
ein einziges Mal zu Gesicht bekam? Die argumentative Technik der Autoren
ist nunmehr vertraut, bestätigt wird, was wir schon wissen: die Ähnlichkeit
von Vorbild zu Abbild, von der Königin im Leben zu ihrem Profilbildnis in
der Medaille, berührt nicht die üblichen Darstellungsprobleme künstlerischer
Mimesis, sie bewegt sich auf einer anderen Ebene.
Welche weiteren Ebenen kommen in Frage? Wie sie schreiben, sehen wir
Christina in Soldanis Medaille als Gott Apoll repräsentiert.51 Mit einem Körper,
der eine Kraft und Gesundheit aufweise, wie sie ihm vom Himmel gegeben
worden seien, um all’ die ihm auferlegten Sorgen und Arbeiten bewältigen
zu können und den auch die Ruhe und Freuden eines beschaulichen Lebens
nicht haben schwächen und verweichlichen können.52 Im Anbetracht solcher
Erklärungen könnte man meinen, die Autoren bewegten sich in vertrauten
Gefilden, sie thematisierten zwar nicht das Feld realistischer, wohl aber dasjenige idealer Darstellungen.53 Das Porträt weist erkennbar die Züge Christinas
auf, dass sie und ihr tatsächliches Aussehen dennoch divergierten, sie sich als
Fünfundfünfzigjährige sehr wohl verändert und ihr Körper im Alter ein wenig
weicher und fülliger geworden war, scheint ein offenes Geheimnis gewesen zu
sein. Zeitgenossen jedenfalls spotten, Soldani habe ihrer Majestät einen langen
Hals gegeben und sie dadurch verschönert, wo doch ihr Hals in Wirklichkeit
kurz sei.54 Diesen Kritikern ist Soldanis Medaille ein Idealbild der Königin, mit
dem er ihr schmeichelt.
49 Das wird in einer der von Christina redigierten Fassungen ausdrücklich betont: »La figure
principal est un profil de la Reine le plus resemblant qu’on a pû faire d’elle. [...] Cepandant
celuy qui l’a fait n’a pas mal réussi et celle médaille est peut estre un des meilleurs portraits
qu’on aye encore veu de la Reine.« Montanari (wie Anm. 42), S. 327, Anm. 79.
50 »Et ce qu’il y a de plus admirable il l’a fait sans que la Reine luy ait donné un moment pour
la regarder.« Ebd., S. 118.
51 »Mais si Apollon fut autre fois représenté sous ces diverses figures et noms, on peut s’assurer
que c’est luy qu’elle représente mieux que nul autre.« Ebd.
52 »Vous y voyez un corps qui marque cette vigueur et santé que le Ciel luy a donnés, si capable
de soustenir tous les soins et les travaux, que le repos et les délices d’une vie tranquille n’ont
jamais afaiblis ou amolis.« Ebd.
53 So Lankheit (wie Anm. 42), S. 118; Ballico (wie Anm. 42), S. 9.
54 »Ha dato nel genio di Sua Maestà, perché li ha fatto il collo lungo e l’ha rimbellita assai, e il
collo della Maestà Sua è corto.«, Lankheit (wie Anm. 42), Dok. 169; Ballico (wie Anm. 42),
S. 8.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
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Sie scheinen sich mit ihrer Lesart jedoch zu täuschen. Denn dankenswerterweise sorgen die Autoren der explication an diesem einen Punkt mit ihren
Erklärungen tatsächlich – fast – eindeutig für Klarheit: Soldani habe bewusst
darauf verzichtet, Christina in ihren üblichen Männerkleidern darzustellen, um
sie vor den Vorurteilen derjenigen zu schützen, die diejenigen, die die Kleiderordnung brächen, lächerlich machten.55 Stattdessen gebe er sie in antikisierender
Kleidung und lorbeerbekränzt wieder, derart schön gewandet könne man sie
für eine Göttin halten oder für einen Apoll in den Gewandungen verschiedener
Göttinnen. Tatsächlich jedoch repräsentiere nur der Gott Apoll sie am besten und
niemand anderes, denn – und jetzt kommt die entscheidende Begründung: »Les
dieux n’ont point de sexe, ils ne viellisent pas, leur vigueur ne diminue jamais.
C’est un continuel printemps que leur vie, et les années ne leur apportent que
de beaux jours. C’est sur ce pied que vous la voiez dans un éstat si jeune et si
florissant.«56
Dort, wo die explication explizit wird, lässt sich nun auch erkennen: Soldani
zeigt uns in seinem Medaillenporträt eine Christina, deren Körper – bis auf die
Kleidung – der Königin so ähnlich wiedergegeben ist, wie einem Künstler nur
irgend möglich. Sie ist demnach ganz und gar lebensnah dargestellt, allerdings
nicht mit ihrem natürlichen Körper, sondern mit einem Körper, der geschlechtslos, alterslos, mit nie versagenden Kräften gesegnet und von ewiger Jugend ist.
Alle diese Eigenschaften charakterisieren üblicherweise den politischen Körper
des Königs bzw. der Königin.57
Mit einigem Erstaunen muss an diesem Punkt daher zur Kenntnis genommen werden, dass die Autoren der explication die Porträtmedaille Christinas
auf eine Weise erklären, die unverkennbar auf das Modell der zwei Körper des
Königs rekurriert. Und dies, obwohl doch spätestens seit der Exekution Karls
I. im Januar 1649 die Teilbarkeit der zwei Körper des Königs exemplarisch vor
Augen geführt, das Modell der Einheit von body natural und body politics im
Körper des Königs daher obsolet geworden war. Die juristische Fiktion der zwei
Körper der Königin war Christina und ihrem Umfeld nicht unbekannt, spielte
jedoch nur selten eine Rolle.58 Außerdem war sie keine Amtsträgerin mehr, sie
55 »La simplicité et la négligence de son habillement marquent le mépris que elle fait de toutes
ces bagatelles qui sont les plus serieuses et grandes occupations de son sexe. On l’a habillée à
l’héroique pour éviter le préjudice que le temps aporte aux habits, qu’il rend ridicules aussi
tost qu’il les change. Mais que de grandes choses sont renfermés dans ces deux mots: ›Christina Regina‹, qui font connoistre l’heroine que cette médaille représente.« Montanari (wie
Anm. 42), S. 118 f.
56 Ebd.
57 Vgl. Kantorowicz (wie Anm. 41), S. 31-46.
58 Für Beispiele vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 289 f.
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Veronica Biermann
musste in ihren Porträts nicht mehr in ihrer Herrschaftsgewalt dargestellt werden. Dennoch scheint genau dieses Modell den Autoren bei ihren komplexen
Erklärungsversuchen vor Augen gestanden zu haben. Warum?
Die Anstrengungen der Autoren gelten dem Versuch, deutlich zu machen,
dass sie nicht die Lebendigkeit und Beweglichkeit eines natürlichen, sondern
eines übernatürlichen Körpers verhandeln. Die im Bild angestrebte Ähnlichkeit
stellt die Künstler daher auch nicht vor ein künstlerisches Abbildungsproblem,
sondern konfrontiert sie mit einer königlichen Repräsentationsschwierigkeit.59
Die vivacité und impatience Christinas, ihre Unbeherrschtheit ebenso wie ihre
männliche Kleidung waren und sind allen bekannt, die Autoren können damit
rechnen, dass sie als lebensnahe und untrennbar mit der Königin verbundene
Charakteristika erkannt werden. Doch gemeint waren sie offenbar – in Text, Bild
und Leben – als Vergegenwärtigungen einer übernatürlichen Präsenz. Christinas
natürlicher Körper verkörperte sie. Um diesen Kontrast zwischen natürlichem
und übernatürlichem Körper zu schärfen, greifen die Autoren auf das Modell
der zwei Körper zurück. Das Geheimnis, mit dem sie im Text die Informationen
zum Körper der Königin systematisch umgeben, lässt die Leser jedoch erahnen,
dass sie nicht den ohnehin problematischen Amtskörper der Königin meinen,
sondern offenbar die Physis Königin Christinas mit ihren metaphysischen
Anteilen, sozusagen die ›Meta-physis‹ ihrer heiligen Majestät. Im Zentrum der
Überlegungen Königin Christinas hätte somit der von Kantorowicz so sträflich
vernachlässigte und von Kristin Marek in die Diskussion eingeführte ›dritte
Körper‹ der Königin gestanden.60 Es ist dieser, der den berühmten Bernini in
seine Schranken weist.
Aus diesem Grunde kann von der explication der Porträtmedaille Soldanis
auch wieder vor den allegorischen Spiegel Berninis im römischen Palazzo Riario
Königin Christinas zurückgekehrt werden61: Der Gott der Zeit raffte dort den
Vorhang vor einem Spiegel und damit vor einem Darstellungsmedium, das zu
seiner Zeit als einziges in der Lage war auch Bewegungen abzubilden. Wenn
59 Zum problematischen Verhältnis von königlichem Vorbild zu seinem Abbild als Repräsentationsschwierigkeit vgl. Louis Marin, Das Porträt des Königs, Berlin 2005, insbes. S. 15-27;
vgl. Stefan Germer, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im
Frankreich von Louis XIV., München 1997, S. 219-225.
60 Vgl. Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009.
Marek argumentiert am Beispiel der Effigies, die nach dem Tod der Könige deren dritten,
›heiligen Körper‹ darstellten und die in der historischen Wahrnehmung, – gerade in Ernst
Kantorowicz fundamentalem Werk zu den zwei Körpern der Könige – nicht in den Blick
genommen wurden; in eine ähnliche Richtung zielt meine Kritik, Biermann (wie Anm. 1), S.
240-244.
61 Einen Bezug zwischen explication und Berninis Spiegel vermutete erstmals Montanari (wie
Anm. 40), S. 97. Seiner Interpretation, Bernini habe so das Problem des unvorteilhaften Aussehens der Königin gelöst, wird hier nicht gefolgt.
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
155
nun die allseits bemerkte und in so gut wie allen Quellen bestätigte vivacité
und impatience Christinas eine körperliche Einschreibung war, die den heiligen
Körper der Königin und dessen metaphysische Qualität meinte; und wenn dieser
es war, der den Künstlern üblicherweise ihre darstellerischen Grenzen aufwies;
dann scheint Bernini bereits 1662 eine ingeniöse Lösung für Christinas Repräsentationsproblem gefunden zu haben. Sein Spiegel bot ihr ein zwar flüchtiges,
doch unanfechtbar präzises Bildnis ihres Körpers und ihres Selbstverständnisses,
so, wie sie war – telle qu’elle est: Mit der Physis einer Frau ebenso wie mit der
›Meta-physis‹ ihrer Majestät. Dies scheint die ›nackte Wahrheit‹ Königin Christinas gewesen zu sein.
Vieles von dem, was an Königin Christina irritierte, manifestierte sich zwar
an und in ihrem natürlichen Körper, war aber der metaphysischen Qualität ihres
übernatürlichen Körpers geschuldet. So merkwürdig dies erscheinen mag, und
so erstaunlich es ist, dass sie ihrem königlichen Sakralcharakter offenbar sehr viel
Aufmerksamkeit schenkte, so neugierig macht ein solcher Befund, weshalb statt
des unergiebigen Blicks in ihr geöffnetes Grab noch einmal in den Reichssaal
von Uppsala 1654 geschaut werden soll. Drei Facetten des Körpers der Königin
können von dort ein letztes Mal kurz in den Blick genommen werden und
abschließend helfen, die Perspektive auf Christina von Schweden zu justieren.
Facette eins: An Weihnachten 1655 war in Rom eine Königin empfangen
worden, von der Papst und Stadt zu wissen meinten, sie habe abgedankt um
konvertieren zu können.62 Doch Christina enttäuschte Alexander VII. Anders als
erwartet worden zu sein scheint, folgte ihren radikalen Entscheidungen auf den
Thron zu verzichten um den Glauben wechseln zu können keine vergleichbar
radikale Glaubenspraxis. Weder fiel Christina ihren römischen Zeitgenossen
durch übergroße Frömmigkeit auf, noch durch Kirchen- und Kapellenstiftungen,
geschweige denn, dass sie in ein Kloster ging oder aber in die Rekatholisierungsprojekte der Nordischen Länder eingebunden werden konnte.63 Eine bemerkenswerte Diskrepanz, die selbst die historische Fachforschung dazu verleitet
hat, sie als extremen Wankelmut einer unbeherrschten Frau zu interpretieren.64
Ganz abgesehen davon, dass eine derartige Sichtweise mit ihrem Chauvinismus
nicht wirklich zu überzeugen vermag, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob
die Annahme, Christina habe abdanken müssen, um konvertieren zu können,
überhaupt stimmt. Meines Erachtens spricht sehr viel mehr dafür, dass sie
abdanken wollte und deshalb konvertieren musste. Warum hätte sie abdanken
wollen? Was war ihr Problem?
62 Sforza Pallavicino, Della Vita di Alessandro VII. Libri cinque, Prato 1839, Bd. 1, S. 344.
63 Vgl. Oskar Garstein, Rome and the Counter-Reformation in Scandinavia. The Age of Gustavus
Adolphus and Queen Christina of Sweden 1622 – 1656 (Studies in the History of Christian
Thought), Leiden u. a. 1992, S. 766-770.
64 Ebd., S. 772.
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Veronica Biermann
Wie alle erbberechtigten Königinnen der Frühen Neuzeit, die aus eigenem
Recht regierten, sah sich auch die schwedische Christina in einem unlösbaren
Konflikt: der Kollision von Staats- und Naturrecht in ihrer Person. Als Königin
war sie ein Souverän, im Sinne Jean Bodins ein princeps legibus solutus und als
solche niemandem außer Gott Rechenschaft schuldig und ihm alleine Untertan.65
Als verheiratete Frau wäre sie gegenüber einem Gatten rechenschaftspflichtig und
ihm Untertan geworden, »von dem Recht des Ehemannes über seine Frau« betitelt
Hugo Grotius seinen naturrechtlich fundierten Eheparagraphen.66 Aus dieser
Konstellation erwuchsen der Königin, der Dynastie der Wasa und damit auch
der schwedischen Monarchie gewaltige Probleme: Als unverheiratete Königin war
es ihr unmöglich dem Reich einen Thronfolger durch eine Geburt zu schenken.
Einen Anspruch auf ihr dynastisches Erbe konnten daher die Nachkommen
Johanns III. Wasa erheben, die als polnische Könige Katholiken waren und für
das lutherisch orthodoxe Schweden eine Ernst zu nehmende, konfessionelle
Bedrohung darstellten. Die mächtige schwedische Nobilität verfolgte zudem
eigene Interessen, die nicht dem Erhalt der Erbmonarchie, sondern einer Wahlmonarchie galten.67 Bei jeder sich bietenden Gelegenheit ließ sie im Reichsrat
durchblicken, die Erbansprüche eines von Christina installierten Nachfolgers
nach ihrem Tod nicht anerkennen zu wollen.68 Wie löste sie diese Probleme?
Wollte Christina die Dynastie und damit die Erbfolge der schwedischen
Monarchie erhalten, musste ihre Nachfolgefrage gelöst werden. Mit großem Geschick baute sie ihren Cousin Carl Gustav systematisch zu ihrem erbberechtigten
Nachfolger auf, ein Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch nahm und den sie
mit ihrer Krönung und Herrscherweihe zu einem ersten Ende brachte.69 Was
jedoch gefehlt zu haben scheint, war eine Legitimierung dieser Nachfolge, die
so fraglos anzuerkennen war, dass selbst der Hochadel sich ihr kampflos beugen
musste. Eine Abdankung bot dieses Maximum an Sicherheit. Ihre Kernhandlung, die Resignation, ersetzte, wie bereits weiter oben gesagt, den natürlichen
Tod der Königin und das Begräbniszeremoniell, sie war ein Schwellenritual,
65 So seit der Definition durch Jean Bodin, vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in
der neueren Geschichte, in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 1, München 1957, S. 67.
66 Vgl. Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und
Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700 – 1914, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 421.
67 Vgl. Curt Weibull, Christina of Sweden, Göteborg 1966.
68 Vgl. ebd., S. 33. Christina im Reichsrat 1649: »Heirathe ich den Herzog Karl, so würdet ihr
seine Kinder ohnfehlbar als Kronerben ansehen: sterbe ich aber, so will ich meine beiden
Ohren verwetten, daß er niemals zum Throne gelanget«, Arckenholtz (wie Anm. 4), Bd. 1, S.
170; Sverin Bergh (Hg.), Svenska Riksrådets Protokoll, Stockholm 1912, Bd. 13, 1649, S. 346.
69 Vgl. Wilhelm Heinrich Grauert, Christina, Königin von Schweden und ihr Hof, Bonn 1842,
Bd. 1, S. 289-302; Weibull (wie Anm. 67), S. 9-50; Garstein (wie Anm. 63), S. 560 f.; Biermann (wie Anm. 1), S. 21-26
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
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während dem sich die Herrschaft Christinas charismatisch auf ihren Nachfolger
übertrug.70 Carl X. Gustav war recht buchstäblich eine Kreatur der Königin, er
verdankte ihr nicht einfach nur eine besondere Karriere; als König entspross er
der Abdankung als einem gemeinsamen Schöpfungsakt von Gott und Christina:
Carolus Gustavus a Deo et Cristina Rex, wie er seinen Krönungsmedaillen einprägen ließ.71 Königin Christina scheint diese unhintergehbare Absicherung der
Herrschaft ihres Nachfolgers und damit die Konsolidierung und Stabilisierung
der schwedischen Monarchie tatsächlich wichtig genug gewesen zu sein, um
sich gegen ihre absolute Eigenherrschaft und für die Abdankung zu Gunsten
der Erbmonarchie zu entscheiden.72
Aus der Abdankung erwuchs Christina für ihre eigene Person jedoch ebenfalls
ein gewaltiges Problem. Im Zentrum der Resignation, die ein Schwellenritual war,
stand der Körper der Königin.73 An dessen öffentlicher Entkleidung wurde der
actus contrarius ihrer Herrschaftsrückgabe nicht einfach nur visualisiert, sondern
der tatsächliche Wechsel der Herrschaft als neues Recht sichtbar in Kraft gesetzt.
Doch der Reversibilität der Herrschaft stand die Irreversibilität der königlichen
Weihe entgegen. Der Körper der Königin war während der Krönung vom Bischof
Lenäus gesalbt worden und vieles deutet darauf hin, dass auf die Gegenwart eben
dieser Gesalbten des Herren während der Rückgabe der königlichen Insignien in
beredtem Schweigen verwiesen wurde. Warum? Wahrscheinlich musste dies geschehen, um trotz und wegen der äußersten Geheimhaltung dennoch offenlegen
zu können, dass im Ritual unangetastet und geschützt blieb, was durch dieses
Ritual zugleich gefährdet war. Wie umstürzend die Veränderungen auch immer
waren, die mit dem Herrschaftswechsel eintraten, die Heiligkeit ihrer Majestät
musste trotz der Wandlungsmacht des Rituals unverändert und unverwandelt andauern. Sie gründete bei Christina aber in einer altargebundenen, protestantisch
lutherischen Salbung. Und dieses Faktum lässt meines Erachtens relativ genau
erkennen, wovor Christina sich wohl fürchtete: vor ihrer Profanierung. Mit der
contagio geht die vollkommene Privation des heiligen Wesens einher, Sakralität
70 Vgl. hier w. o.; Zum königlichen Begräbniszeremoniell als Schwellenritual vgl. Ralph E. Giesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, Genf 1960.
71 Vgl. Christina Queen of Sweden. A personality of European Civilisation, Stockholm 1966, Nr.
519-522.
72 Absolute Gewissheit über die Gründe Christinas lässt sich nicht erzielen, doch sollten die
innenpolitischen Argumente, die sie immer auch angeführt hat, nicht als nachrangig außer
Betracht gelassen werden, vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 21-25 mit weiteren Quellen.
73 Veränderungen erfordern in Ritualen körperliche Präsenz: »The physical act alone accomplished the transition. This demand for bodily involvement characterized all rites of passage,
indeed all rituals in traditional Europe«, so Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe,
Cambridge 1997, S. 31.
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Veronica Biermann
wird durch Entweihung zerstört.74 Erst durch den im Ritual betriebenen Schutz
vor Berührung rückt ins Bewusstsein, dass die Sakralität der Majestät unantastbar,
die Herrscherweihe der Königin irreversibel und die Salbung Christinas andauernd waren. Unantastbarkeit, Irreversibilität und Dauer sind allerdings Aspekte,
die die lutherische Auslegungslehre der Weihen und Sakramente weniger gut
bzw. gar nicht zu garantieren vermag, während sie durch die katholische Lehre,
die an den character indelebilis ihrer Sakramente und Weihen glaubt, deutlich
besser abgesichert erscheinen.75 Die Konversion zum katholischen Glauben
könnte demnach der Preis gewesen sein, den die lutherisch gesalbte Christina
zu zahlen bereit war, um ihre Heilige Majestät davor zu bewahren, entweiht zu
werden und um sie und sich in ihrer Würde zu behaupten.76
Facette zwei: Die Resignation Königin Christinas war ein Ritual, in welchem
sie ihren Körper Wirkkräften aussetzte, die möglicherweise schwerer zu bändigen
waren, als sie angenommen haben mag. Es wird nicht von ungefähr geschehen
sein, dass der Autor des Theatrum Europaeum sie, nachdem sie ihre Insignien
abgelegt hatte und nur noch in ein weißes Kleid gewandet auf dem Thronpodium
stand, mit einer »sonst gemeinen Dame« vergleichen konnte. Vielleicht ahnte er,
wie bewusst oder unbewusst auch immer, dass nur schwer zu schützen war, was da
im Reichssaal von Uppsala der starken Wandlungsgewalt eines Rituals ausgesetzt
wurde und wie fragil die Position Königin Christinas tatsächlich geworden war.
Wie hoch Christinas Gefährdung durch und nach der Resignation war, erweist
sich an vielleicht unvermuteten Ort. Die Wahrnehmung Christinas wird bis auf
den heutigen Tag zu nicht geringen Teilen durch Texte mitbestimmt, die nach
ihrer Abdankung und Konversion in europaweit kursierenden Pamphleten pub74 Giorgio Agamben, »Lob der Profanierung«, in: Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 7091, hier S. 71.
75 Am Beispiel priesterlicher Degradationsverfahren der katholischen Kirche kann die Unterscheidung zwischen dem unauslöschlichen Charakter der sakramentalen Weihe und dem Verbot der Amtsausübung am einfachsten gezeigt werden: »[...] weder die Weihe noch die mit
ihr gegebenen Gewalten [können] aufgehoben werden, weder durch die kirchliche Autorität
noch durch den Geweihten selbst. Beim Ausscheiden aus dem Klerikerstand unterbindet die
kirchliche Autorität jedoch die erlaubte Ausübung der Weihegewalt«: Gerhard Fahrnberger,
»§ 23 Das Ausscheiden aus dem Klerikerstand«, in: Joseph Listl u. Heribert Schmitz (Hgg.),
Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1999 (2. Auflage), S. 283 f. Ordinierte
Pfarrer der evangelischen Kirche sind nicht geweiht, das Problem von Amt und Weihe stellt
sich nicht, vgl. Evangelisches Kirchenlexikon, hrsg. v. Erwin Fahlbusch, Berlin 2003, Bd. 3/8
›Ordination‹ u. Bd. 3/9 ›Priester, Priesteramt, Priestertum‹, insbes. S. 1323 u. S. 1326-1327; vgl.
auch character indelebilis, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hier Anm. 23.
76 In einer Randbemerkung bei Guldenblad (wie Anm. 19) wird Christina explizit: »[…] die niemanden, Außer Gott, über sich erkannte. Sie behielte sich vollkommen die unumschränkte
Gewalt und die Unabhängigkeit, worinn Gott sie hatte gebohren werden lassen, vor, und sie
wird dieselbe bis an den Tod unverletzt erhalten.« Ebd., S. 169, Anm. *** [sic!].
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Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht
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liziert wurden. In der Brieve Relation de la Vie de Christine de Suede von 1655 wird
auf über fünfzig Seiten in immer neuen Varianten der sittliche Verfall Königin
Christinas nachgezeichnet: sei sie zu Beginn ihrer Regierung noch eine fromme,
gerechte und tugendhafte Prinzessin gewesen, hätten sie später ihre französischen
Berater – insbesondere der Arzt Bordelot – zu einem nachlässigen Leben verführt.
Nach deren Ankunft bei Hofe habe Christinas Niedergang eingesetzt, nicht nur
unklug (imprudente) sei sie geworden, sondern auch unkeusch (impudente), ohne
Glauben, Gnade, Tugend.77 Der anonyme Autor der berüchtigten Copie d‘une
Lettre escritte de Bruxelles à la Haye, die ebenfalls ab 1655 und dann durch ihr
ganzes Leben hindurch an den Höfen Europas zirkulierte, feilt mit kaum noch
zu übertreffender Akribie an seiner Darstellung der stetigen sittlichen Verwahrlosung dieser Königin ohne Thron.78 Mit ihrem kurzen Rock, dem Justeaucorps,
ihrem Männerhut, Männerkragen und ihrer schwarzen Perücke mache sie sich
zum Äffchen der Kompanie – in Verkleidung zur Belustigung.79 Ihre Antikenlektüre habe sie vollends verdorben: keine spräche mit mehr Kenntnis von der
Sodomie als sie, sie habe Recht gehabt der schwedischen Krone zu entsagen,
da ihre Einwohner zu grob für die Feinheit fleischlicher Gelüste seien, sie aber
solle sich in Sodom zur Königin krönen lassen.80 In Hamburg habe sie sich in
eine Jüdin verliebt, diese öffentlich in ihren Wagen eingeladen und wohl auch
mit ihr geschlafen, die Damenwelt habe Schwierigkeiten, ihre Töchter vor ihr zu
77 Brieve Relation de la Vie de Christine de Suède, Jusque à la demission de sa Couronne, et son arrivement à Bruxelles, 1655. Als L’Adieu des Francois à Lá Suede abgedruckt in: Histoire de la Vie de
la Reyne Christine de Suede, Stockholm 1777, S. 59-104, z. B. S. 61, 63 u. S. 67. Die Histoire de
la Vie ist eine späte Sammlung der wichtigsten Pamphlete gegen Königin Christina. Eine Liste
der gegen Christina gerichteten Pamphlete bei Susanna Åkerman, Queen Christina of Sweden
and her Circle. The Transformation of a Seventeenth-Century Philosophical Libertine, Leiden u.
a. 1991, S. 310-315.
78 Copie d’une Lettre escritte de Bruxelles à la Haye, touchant la Reyne de Suede, abgedruckt in:
Histoire de la Vie de la Reyne Christine de Suede, Stockholm 1777, S. 38-58.
79 »La maniere dont elle est habillèe, n’est pas moins extraordinaire, que celle de sa personne;
Cay pour se distinguer de celles de ce sexe, elle porte des juppes fort courtes, avec un just au
corps, un chapeau, un colet d’homme, ou un mouchoir qu’elle noüe comme un Cavalier qui
va en party, & quand elle met une cravate, comme les Dames ont accoustumé de porter, elle
ne laisse pas de fermer la chemisse jusques au menton, & de porter un petit colet d’Homme
avec de manchettes telles que nous les protons, en sorte que la voyant marcher avec sa peruque
noire, sa juppe courte, sa gorge fermée, & son espaule elevé, on diroit que c’est un singe,
quel’on c’est ainsi deguisé pour divertir la Compagnie.«, ebd., S. 40 f. Christina scheint diesen
Text gekannt zu haben, auf ihn könnten sich die Erklärungen in der explication beziehen.
80 »Elle parle de la sodomie avec plus d›effronterie, que si elle en avoit fait leçon dans la Colisée
à Rome: & tous les Italiens qui l›entendent sur ce chapitre là, dicent qu›elle à eu raison de
quitter la Couronne de Suede, où les habitans sont trop grossiers pour chercher & gouter
toutes les delicatesses de la chair, & qu›il faut qu›elle aille se faire couronner dans sodome.«
Ebd., S. 42.
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Veronica Biermann
schützen, und Madame de Cueva sei ihr recht häufig unter die Hände geraten,
es gelte als sicher, dass sie Christina als Prostituierte gedient habe.81
Immer schon interessierte die Frage, ob und was an diesen scharfen Anwürfen
historisch belegbare Lebensrealität Christinas war; interessant ist es aber auch
danach zu fragen, worauf diese Pamphlete eigentlich zielten. Es fällt auf, dass sich
die Angriffe in diesen Texten genau gegen diejenigen Charakteristika richten,
die an ihr immer allen auffielen und irritierten, von denen jedoch die Autoren
der explication – wie zu zeigen war – eine überraschende Erklärung anzubieten
hatten. Sind daher Gründe denkbar, die noch über eine politisch motivierte
Diffamierung hinausgehen könnten?82
Um eine neue mögliche Lesart dieser Pamphlete hinzuzugewinnen lohnt es
sich, der freiwilligen Resignation Christinas die unfreiwilligen Depositionen
gestürzter Könige vergleichend zur Seite zu stellen.83 Frank Rexroth hat am
Beispiel erzwungener Abdankungen des Hoch- und Spätmittelalters als wiederkehrendes Phänomen ausmachen können, dass parallel zu den offiziellen
Absetzungszeremonien so gut wie immer eine inoffizielle Pampheltliteratur
entstanden zu sein scheint.84 Offensichtlich reichte es nicht aus, das erzwungene
Ende einer Königsherrschaft in einem öffentlich vorgeführten, zumeist symbolischen, Entkleidungszeremoniell zu visualisieren und ins Recht zu setzen. Das
Sakrale im Profanen scheint gravierende Probleme aufgeworfen zu haben, der
unauflösliche Konflikt zwischen der juristisch begründeten Reversibilität von Königsherrschaft und der königlich behaupteten Irreversibilität der Weihe benötigte
wohl einer zusätzlichen, subversiver agierenden Begründung.85 Hierzu bedienten
sich die verschiedenen Autoren der vielen Pamphlete immer wiederkehrender,
topischer Argumente.86 Fast alle Depositionen begleiten Pamphlete, in denen
die Negativkarriere des königlichen Protagonisten skizziert wird und immer
sind es abschüssige Wege des Niedergangs, an deren Anfang hoffnungsfrohe
81 »[...] elle devint amoureuse d›une Juifve, qu›elle menoit publiquement dans son carosse, &
qu›elle faisoit coucher quelques fois avec elle. Car elle est une des plus ribaudes triballes dont
on ait jamais ouy parler. Et pendant qu›elle a fait icy son residence, on luy a veu mettre la main
sous la juppe des femmes, & leur prendre les cas reservez ordinairement aux maris, de sorte
que les dames avoient peine à se refoudre de mener leur filles chez elle: Madam de Cueva,
dont je vous parleray dans la suitte de cette lettre, luy a souvent passé par les mains, & l›on
tient pour certain, qu›elle luy a servi de succube.« Ebd., S. 44 f.
82 Grauert (wie Anm. 69), Bd. II, S. 70-76; Garstein (wie Anm. 63), S. 537 f.
83 Zum Begriff »Deposition« vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Wiederstandsrecht im frühen
Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Darmstadt 1954.
84 Vgl. Rexroth (wie Anm. 31). Zur Pamphletliteratur insbes. Rexroth 2004, S. 49 f. Vgl. auch
Biermann (wie Anm. 1), S. 244-248.
85 Vgl. ebd.(2004), S. 43 f. u. ebd. (2005), S. 244. Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 236-244.
86 Vgl. Rexroth 2004 (wie Anm. 31), S. 49-50.
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junge Könige stehen, die am Ende ihres sittlichen Verfalls einen männlichen
Günstling begehren.87
Das Verfahren mutet vertraut an, eine vergleichbare, mit topischen Versatzstücken operierende Konstruktion ihrer Vita begegnet auch in den Pamphleten
nach Christinas Abdankung und Konversion. Doch im Unterschied zu den
deponierten Königen war ihre Resignation ganz und gar freiwillig erfolgt. In
ihrem Fall stand ihre Weihe nicht zur Disposition und es gab auch nicht die
Notwendigkeit, einen Zwang zu legitimieren. Dennoch entstand eine überraschend ähnliche Literatur. Wieso? Wie konnte es dazu kommen?
Die resignierte Christina verband nichts mit den deponierten Königen, bis
auf eines: Sie waren alle gesalbte ›Heilige Majestäten‹, ihnen allen eignete ein
sakraler Charakter. Auch einem unfreiwillig abdankenden König wie Richard
II. beispielsweise, konnte nicht genommen werden, was ihm von Gott gegeben
worden war.88 Weshalb zumindest als Frage formuliert werden kann, ob diesen
Pamphleten mit ihrer ungehemmten Boshaftigkeit womöglich die Aufgabe zufiel,
alle diese Gesalbten des Herren – die unfreiwillig ebenso wie die freiwillig auf
ihre Herrschaft verzichtenden – in dem einen Punkt zu berühren, der ihnen
gemeinsam heilig war. Statt einer körperlichen Berührung scheinen topisch
argumentierende Texte – wenn man so will: ein Sprachritual – das Instrumentarium geliefert zu haben, mit dem eine Majestät entweiht und so abschließend,
endgültig und überaus dauerhaft zerstört werden konnte und vielleicht sogar
zerstört werden musste. Womöglich galt es, Unerträgliches zu kompensieren, das
mit der Veränderung durch Depositionen wie Resignationen eintrat; vielleicht
musste Sicherheit über die Entweihung erzwungen werden, da das Ritual in diesem Punkt eine Unsicherheit offen ließ; vielleicht durfte eine ›Heilige Majestät‹
nicht Teil profanen Alltags werden. Auch Königin Christina nicht.
Facette drei: Das große Vorbild Königin Christinas, Kaiser Karl V., zog sich
nach seiner freiwilligen Abdankung in ein Kloster zurück, vermutlich auch,
um sich und seine Majestät der profanen Welt zu entziehen. Königin Christina
wählte einen davon sehr verschiedenen Weg, sie blieb in der Welt und setzte sich
deren Gefährdungen aus. Allerdings kam ihr als abgedankter Königin in dieser
Welt ein überaus spezifischer, ein singulärer Status zu. Und um diese Facette
in den Blick zu bekommen, sei ein letztes Mal in den Reichssaal 1654 geschaut.
87 Die von der Heiligen Brigitta von Schweden verfassten Revelationes Extravagantes beispielsweise bildeten die Basis für eine chronique scandaleuse, die die Negativvita des deponierten
schwedischen Königs Magnus Erikson lieferte, vgl. ebd.
88 Richard II. versuchte seinen Gesprächspartnern im Tower klar zu machen, dass er seine Salbung nicht revozieren könne, und als ihm sein Gegenüber erklärte, dass sein Thronverzicht
unumstößlich sei, da »lächelte Richard wie jemand, der ohnehin nicht damit gerechnet hatte,
verstanden zu werden. Er wechselte das Gesprächsthema.« Ebd., S. 52.
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Von den Geschehnissen dort haben sich zwei ausführliche Beschreibungen
erhalten, die auch von den zeremoniellen Teilen berichten, die sich dem Resignationsritual anschlossen.89 Ohne hier noch näher auf diese Texte eingehen zu
können, sei abschließend auf eine Gemeinsamkeit verwiesen: beide Autoren
berichten, dass Christina sich nach der Resignation langsam vom Thronpodium
begab, sich nach und nach vom Ort des Rituals entfernte. Ihre Abschiedsrede hielt
sie auf der zweiten Stufe des Thronpodiums, die Abschiedsgrüße der Standesvertreter nahm sie vom letzten Treppenabsatz entgegen.90 Beide Autoren berichten
aber auch, dass sie danach wieder auf das Thronpodium zurückkehrte. Im Bericht
des Theatrum Ceremoniale fordert Carl Gustav die ehemalige Regentin dazu auf,
sich doch wieder auf den Thron zu setzen, was sie jedoch ablehnt91; im Bericht
des Theatrum Europaeum greift Christina Carl Gustav bei der Hand und führt
ihn zum Thron.92 Wie immer nur unausgesprochen und daher nur schemenhaft erkennbar, kann dennoch begriffen werden, dass Christina zum Ende des
Zeremoniells wieder in die unmittelbare Nähe des Thrones zurückkehrte, zum
Ort des Rituals. Wo aber war dort ihr Platz? Sie gehörte nicht mehr der Sphäre
königlicher Herrschaft an, die sie ja aufgegeben hatte. Schon gar nicht gehörte
sie zur Sphäre der höfischen Gesellschaft, sie war keine ›gemeine Dame‹, eine
Eingliederung in das höfische Frauenzimmer kam nicht in Frage. Ihr Ort lag auf
der Schwelle des Rituals und der verschiedenen Sphären, nur im Zwischenreich
der Liminalität war sie weder Herrscherin, noch Untertanin, nur auf dem limen
konnte sie in ihrer Majestät unangetastet überleben.
Königin Christina in ihrer Kleidung und habituell akzentuierten ›Männlichkeit‹, in ihrer Lebendigkeit und Lebhaftigkeit, in ihrem Ungestüm und ihrer
Hemmungslosigkeit, in ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit und in ihrer
sexuellen Ambiguität – Deutungshilfen für diese Phänomene kann die Medizin
nicht anbieten. Eventuell die Ethnologie, denn Victor Turner hat bereits vor
vielen Jahrzehnten darauf verwiesen, dass eine rituelle Verortung in Liminalität
mit unterschiedlichen Formen der Ambiguität einherzugehen scheint, zu denen
die Technik, eine ambivalente Geschlechtlichkeit symbolisch zu betonen, gehört.93 Wider die Eindeutigkeit, so hat Antke Engel ihr Buch über Sexualität und
Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation betitelt, das 2002 erschienen
ist und zu den Standardwerken der Queerstudies zählt. Auch diese helfen das
89 Lünig (wie Anm. 19), S. 814; Schleder (wie Anm. 19), S. 639.
90 Vgl. Lünig (wie Anm. 19), S. 814.
91 Ebd.
92 Vgl. Schleder (wie Anm. 19), S. 639.
93 Victor W. Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M., New York 1989;
ders.: »Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage«, in, ders., The Forest of
Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca 1967, S. 93-11, bes. S. 98 f.
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Phänomen Christina zu beschreiben, sie liefern Werkzeuge, um die Paradoxien
Christinas, die Irritationen und Uneindeutigkeiten, als Techniken der Desintegration erkennen zu können.94 Christina war widerständig und überlegen, sie
stand außerhalb von Norm und Ordnung, sie war queer. Allerdings als ein Kind
ihrer Zeit, als Königin galt das Interesse ihrer queeren Politik gewiss nicht der
klassenlosen Gesellschaft, wohl aber der Exklusivität ihres Andersseins: Keines
Menschen Untertan. Unbeherrscht.
94 Vgl. Antke Engel, Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik
der Repräsentation, Frankfurt, New York 2002.
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Ilaria Hoppe
Der eine Körper Habsburgs
Zur Bildpolitik der Florentiner Regentschaft
Kaum eine Untersuchung zum herrscherlichen Körper in der Frühen Neuzeit
kommt ohne die Referenz auf die grundlegende Studie von Ernst Kantorowicz
Die zwei Körper des Königs aus.1 Dort zeigt er die Differenz zwischen dem leiblichen und dem politischen Körper des Königs auf, der einerseits eine sterbliche
Hülle hinterließ, andererseits an die transtemporal gedachte Funktion seines
Amtes gebunden war. Die Effigies des verstorbenen Königs während des Begräbniszeremoniells sollte folglich das Überdauern des politischen Herrschaftskörpers
symbolisieren. Der Ansatz von Kantorowicz war so erfolgreich, dass er auf alle
europäischen Dynastien der Frühen Neuzeit, mehr noch auf das monarchische
System im Allgemeinen ausgedehnt worden ist. Kristin Marek erweiterte sein vor
allem staatsrechtlich ausgelegtes Konzept um die Kategorie des ›heiligen Körpers‹,
der sinnvoll die mittelalterlich-christliche Vorstellung sakraler Königsherrschaft
zum Ausdruck bringt.2 Regina Schulte gibt in der Einführung zu dem von ihr
herausgegebenen Band Der Körper der Königin außerdem zu bedenken, dass
Kantorowicz seine Studie am Beispiel des englischen Königshauses entwickelte.
Dort stand die Säkularisierung eines zuvor theologischen Begriffs am Beginn
eines neuen Verständnisses der Monarchie, allerdings erst im 16. Jahrhundert,
also genau in dem Moment als Elisabeth I. als Frau den Thron von England
bestieg.3 Dennoch blieben in diesem Ideal – so Schulte – politischer und natürlicher Körper miteinander verwoben. Daher kam dem Bildnis für beide
Geschlechter eine besonders relevante politische Funktion zu, war es doch in der
Lage, die Überblendung dieser Ebenen visuell zu vermitteln. Die Verwendung
der (männlichen) Effigies im englischen Königsbegräbnis verwies jedoch ganz
eindeutig auf die Notwendigkeit, eine Differenz zwischen Körper und Amt zu
kompensieren. In der Staatstheorie der Habsburger wiederum ist die Trennung
der Herrschaftskörper so nie vollzogen worden. Seit dem Mittelalter begrün1 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl. München 1994 (zuerst 1957).
2 Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009.
3 Regina Schulte, »Der Körper der Königin – konzeptionelle Annäherungen«, in: dies. (Hg.),
Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500, Frankfurt a. M.
2002, S. 11-23.
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dete sich ihre Politik stets über den heiligen, von Gottes Gnaden eingesetzten
Monarchen, genauso wie der Monarchin. Ihre Riten kennen daher auch keine
Effigies, sondern die getrennte Bestattung von Körper, Herz und Eingeweiden.4
Diese Tradition rekurriert auf die Sakralisierung des Herrschaftskörpers, da die
sterblichen Überreste wie Reliquien von Heiligen bestattet und entsprechend
verehrt werden können. Trotz der physischen Aufteilung wurde leiblicher, politischer und heiliger Körper als eine machtvolle Einheit gedacht, die sich pars pro
toto genauso manifestieren konnte wie überall dort, wo der Herrschaftskörper zu
Lebzeiten in Erscheinung trat. Bildkünste und Zeremoniell waren aufgerufen,
dieses Konzept medial durchzusetzen. Mit welchen Mitteln dieses Verständnis
mystischer Herrschaft auch legitimatorisch zum Einsatz kommen konnte, zeigt
das Beispiel von Maria Magdalena von Österreich, Großherzogin der Toskana
zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
Zur historischen Situation
Als der Großherzog der Toskana Cosimo II. de’ Medici 1621 nach langer Krankheit starb, hinterließ er einen minderjährigen Thronfolger, den man sogleich als
Ferdinando II. akklamierte. Von dieser Situation künden die erst 1626 entstandenen Gemälde von Justus Sustermans, welche die ungewöhnliche Situation in
der Toskana illustrieren, denn der junge Thronerbe sitzt zwischen seiner Mutter
Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich und seiner Großmutter, der
mächtigen Großherzogin Christina von Lothringen (Abb. 1).5 Beiden Frauen war
gemeinsam mit einem vierköpfigen Florentiner Rat die Regentschaft übertragen
worden. Der Florentiner Senat schwor formal nur dem Thronfolger die Treue,
doch zeigt das Bild die Inszenierung eines dreiteiligen Herrschaftskörpers, dem
zugleich gehuldigt wurde. Tatsächlich hatte man dem elfjährigen Ferdinando
die Staatsgewalt übertragen, doch führten bis zu seiner Volljährigkeit 1628 die
beiden Frauen aktiv die Regierungsgeschäfte.6 Dabei übernahm vor allem seine
4 Armin Dietz, Ewige Herzen. Kleine Kulturgeschichte der Herzbestattungen, München 1998, S.
89-103; s. a. Friedrich B. Polleroß, »La gravure et la diffusion de la mort des habsbourg, XVIe
– XVIIIe siècle«, in: Julius A. Chrościcki, Mark Hengerer u. Gérard Sabatier (Hgg.), Le deuil,
la mémoire, la politique, Versailles 2015, S. 77-96.
5 Caterina Caneva u. Muriel Vervat (Hgg.), Il giuramento del senato fiorentino a Ferdinando II de’
Medici. Una grande opera del Suttermans restaurata, Florenz 2002; Ilaria Hoppe, Die Räume der
Regentin. Die Villa Poggio Imperiale zu Florenz, Berlin 2012, S. 30 f.
6 Siehe dazu mit Bibliographie Estella Galasso Calderara, La Granduchessa Maria Maddalena
d’Austria. Un’amazzone tedesca nella Firenze medicea del ‘600, Genua 1985, S. 93; Suzanne G.
Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court. Music and the circulation of power, Chicago,
London 2009, S. 193, Anm. 9; Hoppe (wie Anm. 5), S. 27-34.
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Abb. 1: Justus Sustermans, Obedienzeid der Senatoren von Florenz für
Ferdinando II. de’ Medici, vor 1626, Florenz, Uffizien
Mutter eine entscheidende Rolle in der Repräsentation der Regentschaft, so zum
Beispiel auf dem großformatigen Staatsporträt, das sie als Witwe zeigt (Abb. 2).7
Das große Rubinkreuz an ihrer Kette betont dabei ihren christlichen Glauben;
das Stundenglas auf dem Tisch verdeutlicht das nur temporale Verständnis ihres
Herrschaftsauftrages. Durch die Anlage einer persönlichen Residenz schuf sich
Maria Magdalena von Österreich darüber hinaus einen Raum, in dem sie als
Regentin agieren konnte.
7 Hoppe (wie Anm. 5), S. 29 f.
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Abb. 2: Justus Sustermanns, Maria Magdalena von Österreich im Witwenhabit, 1621,
Florenz, Villa di Poggio a Caiano
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Die Villa Poggio Imperiale
Die Lage von Poggio Imperiale deutete bereits darauf hin, dass die Villa nicht
bloß ein Ort der Muße war, sondern auch einen politischen Handlungsraum
darstellte. Durch den Zukauf von Gütern grenzte der Besitz unmittelbar an
die Boboli-Gärten und damit an die Hauptresidenz der Medici in Florenz,
den Palazzo Pitti.8 Die angekauften Grundstücke dienten dem Hofarchitekten
Giulio Parigi außerdem dazu, eine monumentale, heute noch erhaltene steil
ansteigende Anfahrt anzulegen, die sich im rechten Winkel zum großen Viale
der Boboli-Gärten befindet. Die Residenzen wurden also durch diese Achsen
symbolisch miteinander in Beziehung gesetzt. Gleich am Fuße des Hügels inszenierte ein Skulpturenensemble den Eingang zum Reich Maria Magdalenas
mit dem kaiserlichen Doppeladler und dem Allianz-Wappen der Häuser Medici
und Habsburg.9 Das mal mehr oder weniger subtile Spiel mit den Verweisen
auf die beiden Dynastien setzte sich in der Gestaltung der neuen Fassade fort
sowie mit der Namensgebung. Die Illustration von Alfonso Parigi, dem Sohn
des Hofarchitekten Giulio, zum Libretto der Theaterinszenierung La liberazione di Ruggiero dall’isola di Alcina von 1625, stellt für die Rekonstruktion des
damaligen Zustands der Fassade die grundlegende Quelle dar (Abb. 3).10 Der
eher unscheinbare Villenbau aus dem 15. Jahrhundert war in eine moderne, frühbarocke Anlage mit Ehrenhof und Belvedere verwandelt worden. Die schlichte
Gestaltung der Fassade mit Bändern an Kanten und Maueröffnungen steht in
der Tradition des mediceischen Villenbaus und wies das Gebäude weithin als zu
ihrem Besitz gehörig aus. Das monumentale Wappenschild mit Inschrift über
dem Portal verdeutlichte gleichwohl, wer die Besitzerin des Hauses war: Einerseits
durch die erneute Verwendung eines Doppelwappens und andererseits durch die
überlieferte Inschrift, die den Villentopos mit einer Widmung verband:
8 Zur Geschichte der Villa s. mit Bibliographie ebd., S. 35-55.
9 Siehe dazu ausführlich Ilaria Hoppe, »Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum«, in: Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon u. Kristina Steyer (Hgg.), Räume der Macht. Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der
Frühen Neuzeit, Bielefeld 2013, S. 65-90.
10 Ilaria Hoppe, »Die Räume der Regentin und der Ort der Inszenierung: Die Villa Poggio Imperiale unter Maria Magdalena von Österreich«, in: Christine Fischer (Hg.), La liberazione di
Ruggiero dall’isola d’Alcina. Räume und Inszenierung in Francesca Caccinis Ballettoper (Florenz,
1625), Zürich 2015, S. 67-88.
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Abb. 3: Alfonso Parigi, Pferdeballett vor Poggio Imperiale, 1625, Kupferstich, Florenz,
Gabinetto Disegni e Stampe Uffizi
Die kaiserliche Villa, die von den erhabenen Österreichern ihren Namen
erhielt, möge auf ewig den zukünftigen Großherzoginnen Etruriens dem
Otium und dem Vergnügen dienen.11
Nach Vollendung der Umbauarbeiten 1624 hatte die Regentin die ehemalige Villa
Baroncelli durch ein unanfechtbares Edikt in Poggio Imperiale – also kaiserlicher Sitz – umbenannt, womit ein weiterer Verweis auf ihre Abkunft gegeben
war.12 Maria Magdalena stammte zwar von der in Graz ansässigen Nebenlinie
der Habsburger ab, diese stellten jedoch seit 1619 mit ihrem Bruder Ferdinand
II. den Kaiser. Somit gab es eine unmittelbare Beziehung zum Kaiserhaus und
die imperiale Ikonographie gehörte zu den wichtigen Elementen der Selbstdarstellung der Erzherzogin.
11 »VILLA IMPERIALIS AB AUSTRIACIS / AUGUSTIS NOMEN CONSECUTA / FUTURAE MAGNAE DUCES ETRURIAE / VESTRO OCIO DELICIISQUE / AETERNUM
INSERVIAT«; Hoppe (wie Anm. 5), S. 44.
12 Ebd., S. 38.
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Funktion und Dekoration der Räume der Regentin
Die Auswertung der Hofchronik und des Inventars der Villa von 1625 ermöglichte es, die Innenräume und ihre dekorative Ausstattung zu rekonstruieren
und sie mit ihren ursprünglichen Funktionen in Verbindung zu bringen.13 Im
Innenhof (Abb. 4, Nr. 1) gibt das Inventar neben Gemälden antike Büsten römischer Kaiser und Kaiserinnen auf Sockeln mit dem Habsburg-Wappen an.14
Diese Reihe setzte sich sowohl im Saal im Erdgeschoss fort (Abb. 4, Nr. 3), als
auch in der Galerie, die den Innenhof im Obergeschoss säumte.15 Zur Rechten
des Innenhofes schloss sich das Appartement Maria Magdalenas und ihres Sohnes Ferdinando an, wobei diesem nur ein Vorzimmer und ein Schlafgemach
zugedacht worden waren (Abb. 4, Nr. 14 und 15).16 Repräsentativen Charakter
erhielten seine Räume insbesondere durch die Fresken in den Lünetten, die eine
Equipe Florentiner Maler ausgeführt hatte und die sich bis heute in situ befinden.
Sie zeigen Heldentaten Habsburger Kaiser, also der männlichen Vorfahren der
Mutter des jungen Herzogs. Die genealogische Abfolge beginnt chronologisch
im ehemaligen Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 14) mit dem Fresko von Matteo Rosselli, das den Gründungsmythos der Habsburger Dynastie zeigt: Die Legende
von Rudolf und dem Priester (Abb. 5). Außerdem dargestellt sind der Treueid der
Barone für Rudolf I. und Taten Kaiser Maximilians I. Im ehemaligen Vorzimmer
des jungen Großherzogs (Abb. 4, Nr. 15) sind zwei Lünetten den Siegen Kaiser
Karls V. gegen die Türken gewidmet (Belagerung vor Wien 1529, Eroberung von
Tunis); zwei weitere Darstellungen zeigen ›Ruhmestaten‹ von Kaiser Ferdinand
II., also dem Bruder der Regentin und gleichnamigen Onkel ihres Sohnes Ferdinando II. Diese Fresken thematisieren jeweils aktuelle politische Geschehen
und zwar die Schlacht am Weißen Berg bei Prag von 1620 und die Vertreibung der
Protestanten aus Innerösterreich 1596 im Zuge der erzwungenen Rekatholisierung
des Landes durch Erzherzog Ferdinand.
Die Abfolge Habsburger Kaiser bildete unter Verwendung für die italienische
Kunstgeschichte absolut singulärer Themen einen dynastisch-genealogischen
Fürstenspiegel für den jungen Großherzog und Thronfolger, allerdings nicht
wie sonst üblich im Rekurs auf sein agnatisches Geschlecht, sondern auf das
13 Florenz, Archivio di Stato di Firenze (ASF), Miscellanea Medicea (MM) 11, Cesare Tinghi,
Diario di Ferdinando I G[ran] D[uca] di Toscana scritto da Cesare Tinghi suo ajutante di camera, III. Guardaroba Mediceo (GM) 479, 17.3.1625 (1624 stile fiorentino), Inventario Originale
Debit[ori] e Credit[ori] della Villa Imperiale. Das Inventar ist vollständig publiziert in Hoppe
(wie Anm. 5), S. 290-330.
14 Ebd., S. 57.
15 Ebd., S. 58 f.
16 Hoppe (wie Anm. 5), S. 65, 169-189.
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Abb. 4: Rekonstruktion des Erdgeschosses von Poggio Imperiale nach dem Inventar
von 1625
den Medici an dynastischem Rang weitaus überlegene Haus seiner Mutter. Die
Fresken vermitteln durch Schlachtenszenen, armae und ignudi in den seitlichen
Kartuschen ein dezidiert männliches Herrscherbild, bei gleichzeitiger Betonung
ihrer Verdienste für den ›wahren‹ katholischen Glauben und gegen alle Andersgläubigen wie Protestanten und Muslime. Schließlich wird die Begründung
der Kaiserdynastie auf eine Heilslegende zurückgeführt, so dass die Abkunft
der Habsburger als zusätzlich sakralisiert erscheint. Die Situierung der Szene
von Rudolf I. und dem Priester ist für dieselbe Zeit ebenso im Schlafgemach von
König Philipp IV. von Spanien im Alacazàr in Madrid dokumentiert, dort als
Gemälde von Peter Paul Rubens.17 Die Ikonographie zielte auf die Vermittlung
17 Ilaria Hoppe, »Engendering Pietas Austriaca: The Villa Poggio Imperiale in Florence under
Maria Maddalena of Austria«, in: Herbert Karner, Ingrid Ciulisová u. Bernardo García García
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Abb. 5: Matteo Rosselli, 1624, Rudolf I. und der Priester, Florenz, Villa Poggio
Imperiale, ehemaliges Schlafgemach von Ferdinando II.
einer gottgeweihten Kontinuität der Habsburger-Dynastie. In der schriftlichen
Überlieferung diente die Episode als Exempel des durch Monarchie und Religion vereinten Staatswesens und fundierte das Konzept der Pietas austriaca,
einer dynastisch gebundenen Heilslehre.18 Die Darstellung der Szene innerhalb
repräsentativer Schlafgemächer zeigt außerdem, dass nicht nur an die Frauen des
Hauses, sondern auch an die männlichen Mitglieder der Dynastie der Anspruch
an Kontinuität und damit Reproduktion gestellt wurde.
(Hgg.), The Habsburgs and their Courts in Europe, 1400 – 1700: Between Cosmopolitism and
Regionalism, Österreichische Akademie der Wissenschaften, KU Leuven 2014 [http://www.
courtresidences.eu/index.php/publications/e-Publications/] Zugriff 22.11.2016.
18 Hoppe (wie Anm. 5), S. 182-188; s. a. Werner Telesko, »The Pietas Austriaca. A political myth?
On the Instrumentalisation of Piety towards the Cross at the Viennese Court in the Seventeenth Century«, in: Karner et al. (wie Anm. 17).
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Alle übrigen Räume in diesem Flügel der Villa Poggio Imperiale waren
der Regentin zugeeignet. Saal, Vorzimmer und Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 3,
4, 13) bilden mit dem Freskenprogramm der Berühmten Frauen ein Pendant
zur Ausstattung der Räume ihres Sohnes.19 Im Saal (Abb. 4, Nr. 3) führen sie
die lange und vorbildliche Tradition christlicher Herrscherinnen im Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation vor Augen: Neben Mathilde von Tuszien,
ideelle Vorgängerin Maria Magdalenas als Regentin der Toskana, erscheinen die
beiden ersten christlichen Regentinnen Ost- und Westroms Galla Placidia und
Pulcheria in den Lünetten. Mit Ausnahme der hl. Katherina von Alexandrien,
die als Exemplum für die kirchliche Lehre und umstrittene apostolische Tätigkeit
von Frauen figuriert20, sind alle übrigen im Saal dargestellten Heldinnen auf
den realen oder konstruierten Stammbaum der Habsburger zurückzuführen.
Bekannt ist dies allgemein für die hl. Isabella von Portugal, Isabella die Katholische, Konstanze von Aragon oder die hl. Kaiserin Kunigunde, letztere flankiert
von Putten mit Rüstungen, welche auf die Legende des Bindenschildes des
Hauses Habsburg anspielen (Abb. 6). Meine Recherchen ergaben zudem, dass
die unter Kaiser Maximilian I. verfasste Sammelvita von Jakob Mennel über die
Berühmten Frauen der Habsburger mit Chlothilde »als ain grossmuter der fürsten
von habspurg«21 beginnt, so dass nun auch das Auftreten der ersten christlichen
Königin Frankreichs in der Heldinnengalerie von Poggio Imperiale zu erklären
ist. Neben der historischen Herleitung der positiven Auswirkungen von Frauen
bzw. Habsburgerinnen an der Macht, betont die Auswahl zudem ihre Frömmigkeit und wundertätigen Gaben. Maria Magdalena hatte sich selbst für die
Kanonisation der Isabella von Portugal eingesetzt22, um eine weitere Heilige in
der eigenen Ahnenreihe anzuführen, denn sie steigerten grundsätzlich das Prestige
der Dynastie im Sinne des Gottegnadentums. In Poggio Imperiale zeigten sich
die ausgewählten Frauen als Vollstreckerinnen des göttlichen Heilplans, der sie
wiederum zum Herrschen prädestinierte.
Neben den erwähnten Kaiser- und Kaiserinnenbüsten mit dem HabsburgWappen ergänzten vier großformatige Gemälde mit Heldinnen der Antike
ursprünglich die Ausstattung des Saales. Sie bildeten eine eigenständige Gruppe
innerhalb des nach heilsgeschichtlichen Epochen unterteilten monumentalen
Programms.23 Sie zeigen vorbildliche Regentinnen, wie Artemisia und Semiramis,
19 Hoppe (wie Anm. 5), S. 95-168.
20 Ebd., S. 112-114.
21 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Biblioteca Palatina Vindobonensi, Cod. 3077***,
Jacobus Mennel sive Manlius, De claris mulierbus domus Habsburgicae liber germanicus,
Augsburg 1518, fol. 1v, 4r−4v.
22 Hoppe (wie Anm. 5), S. 108 f.
23 Ebd., S. 95-102.
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Abb. 6: Benedetto Veli, hl. Kunigunde, 1623/24, Fresko, Saal von Poggio Imperiale
sowie historische Frauenfiguren, die sich zum Wohle der Staatsraison geopfert
hatten, wie Lukrezia24 (Abb. 7) und Sophonisbe. Zur bis heute erhaltenen Freskendekoration der Decke im Saal gehören Kaiser- und Großherzogskrone sowie eine
Herrschaftsallegorie mit den Attributen kaiserlicher und päpstlicher Gewalt.25
Die hier dargestellte Verbindung profaner und sakraler Macht vereint im Ideal
von Gottesgnadentum und Universalmonarchie stellte sich als für das gesamte
Programm bestimmend heraus. Das Motiv der Berühmten Frauen und Männer
wurde in Poggio Imperiale sowohl mit der von den Habsburgern in Anspruch
genommenen Translatio imperii verknüpft, das heißt mit der Vorstellung der
Weiterführung des römischen Kaiserreiches, als auch mit der Pietas Austriaca,
der topischen Sakralisierung der Dynastie. So setzt sich auch das Programm
im Appartement der Regentin mit Motiven fort, die Religion und Herrschaft
24 Ilaria Hoppe, »Tod der Lucrezia«, in: Francesca de Luca (Hg.), Österreichische Erzherzoginnen
am Hof der Medici, Ausstellungskatalog Schlossmuseum Linz 2016, Linz 2016, S. 168-169.
25 Hoppe (wie Anm. 5), S. 118-124.
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Abb. 7: Francesco Rustici, Tod der Lucrezia, vor 1623/25, Florenz, Uffizien
miteinander verbinden (Abb. 4, Nr. 13). In ihrem ehemaligen Vorzimmer sind
es Heldinnen des Alten Testamentes, die als Gottesstreiterinnen für ihr Volk
eintraten, wie etwa Judith, Jael und Esther oder, durch göttliche Vorsehung
unterstützt, die legitime Nachfolge sicherten, wie Rebecca oder die Tochter des
Pharao.26 Mit dem Verweis auf den Alten Bund entspricht diese Ikonographie
der auch durch das Zeremoniell nachweislichen transitorischen Funktion des
Vorzimmers zwischen Saal und Schlafgemach der Regentin. In typologischer
Steigerung folgen dort die Darstellungen jungfräulicher Märtyrerinnen des
Frühchristentums (Abb. 4, Nr. 4). Einzige Ausnahme stellt hier die hl. Helena
dar, ebenfalls eine von den Habsburgern vereinnahmte Fürstin und Mutter des
ersten christlichen Kaisers Konstantin des Großen (Abb. 8). Die Ikonographie
des heiligen Kreuzes verknüpft sich hier mit dem Modell der jungfräulichen
Märtyrerinnen und verwies auf die familiengebundene, besondere Bedeutung
des Kreuzes für die Habsburger, der dynastisch formulierten Fiducem in Crucem
Christi.27 Durch das Auffinden einer angeblichen Kreuzesreliquie noch zu Lebzeiten ihres Gemahls hatte die Regentin dieses Konzept wiederum für Florenz an
26 Ebd., S. 124-146.
27 Siehe dazu ausführlich Telesko (wie Anm. 18).
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Abb. 8: Domenico Pugliani, Hl. Helena, 1623/24, ehemaliges Schlafgemach der
Regentin, Poggio Imperiale
ihre Person gebunden und durch die Stiftung eines aufwendigen Reliquiars mitsamt Kapelle im Wallfahrtsort Impruneta nachhaltigen Ausdruck verliehen.28 In
ihrem Nachlass befand sich eine Kreuzreliquie und ein monumentales Reliquiar
in Form eines Kruzifixes ist in der Kapelle in Poggio Imperiale dokumentiert.29
Das Einfügen einer Darstellung der hl. Kaiserin in ihrem Schlafgemach verwies
zudem auf die Kaiserinnen-Reihe im Saal, so dass programmatisch und räumlich
ein immerwährender heilsgeschichtlicher Zyklus hergestellt war.
Bislang waren die Dekorationen in den Räumen von Mutter und Sohn immer getrennt voneinander, ohne Berücksichtigung der Raumfunktionen sowie
der Relevanz von Poggio Imperiale als Residenz während der Regentschaft
betrachtet worden. Aber erst durch die Zusammenschau und die Rückbindung
auch der weiblichen Figuren an den Stammbaum der Hausherrin wird die Verbindung zur männlichen Genealogie deutlich, die ebenfalls die hohe Abkunft
28 Ilaria Hoppe, »Maria Maddalena d’Austria e il culto delle reliquie alla corte dei Medici. Scambi di modelli dinastici ed ecclesiastici«, in: Christina Strunck (Hg.), Medici Women as Cultural
Mediators (1533 – 1743), Cinisello Balsamo 2011, S. 227-251.
29 Ebd. und Riccardo Gennaioli, »Antonio Susini«, in: de Luca (wie Anm. 24), S. 176 f.
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Maria Magdalenas in Szene setzte und zugleich für ihren Sohn beanspruchte.
Im Unterschied zu den dynastisch-genealogischen Zyklen der Medici wird die
Anciennität der Linie, ihre Sakralisierung mittels Heiliger im Stammbaum sowie
der beständige Einsatz für den katholischen Glauben betont. Die Medici suchten eher durch die Darstellung des durch Tugend erworbenen Adels und arma
et litterae-Motiven ihren geringen dynastischen Rang zu kompensieren. Zum
Andenken an ihren verstorbenen Gemahl hatte Maria Magdalena eine solches
Medici-Programm in einer Galerie mit Zugang zum Garten ausführen lassen.
An deren gewölbter Decke – daher ihr Name Volticina – sind diplomatische
und militärische Erfolge von Großherzog Cosimo II. zu sehen (Abb. 4, Nr. 7).30
Wie in einer antiken Ruhmeshalle gehörten acht in Nischen eingestellte Statuen
zur Dekoration dieses Raumes, ferner eine Fülle von Kunstgegenständen. Der
antikisierende Charakter setzte sich in dem kleinen angrenzenden Innenhof mit
Grotte fort (Abb. 4, Nr. 8), wo ebenfalls antike Stücke ausgestellt waren. Zum
ebenerdigen Appartement der Regentin und ihres Sohnes gehörte weiterhin
eine Kapelle mit Geheimausgang (Abb. 4, Nr. 9). Für diese ist die Tafel von
Jacopo Ligozzi Der hl. Franziskus empfängt das Christuskind dokumentiert.31 Die
dahinter liegenden kleineren Räumlichkeiten waren einer intimeren Nutzung
vorbehalten. Die Treppe führte ins Obergeschoss, durch das Mezzanin, wo sich
das ebenfalls im Inventar erwähnte »geheime Zimmerchen« der Regentin befand.
Der gegenüberliegende Flügel (Abb. 4, Nr. 19-28) war den Gästen vorbehalten,
der dortige Saal vornehmlich mit Portraits der Familie Maria Magdalenas geschmückt. Im zweiten Obergeschoss entsprach die Raumdisposition derjenigen
im Erdgeschoss. Eine weitere Galerie, die sogenannte Galleria del Giro, mit
Kaiserbüsten und Herrscherportraits der Medici und der Habsburger säumte
den Innenhof. Diesem schlossen sich wie im Erdgeschoss eine Suite für Mutter
und Sohn an sowie auf der gegenüberliegenden Seite ein Appartement für die
Mitregentin und Schwiegermutter Maria Magdalenas, Großherzogin Christina
von Lothringen. Im dritten Geschoss hatten die Geschwister des Thronfolgers
ihre Zimmer sowie weitere Mitglieder der Entourage.
Die Sammlung
Neben der Gestaltung der Räume durch die bis heute gut erhaltenen Fresken,
kam der Kunstsammlung eine äußerst bedeutende Funktion zu. Das Inventar
gibt Auskunft über die ungeheure Fülle der Gegenstände insbesondere im Erd30 Hoppe (wie Anm. 5), S. 189-205.
31 Ebd., S. 64.
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geschoß der Villa.32 Die Regentin hatte dafür sowohl ganze Bildserien aus den
mediceischen Sammlungen nach Poggio Imperiale überführen lassen, als auch in
großen Stil mittels Agenten angekauft sowie selbst Kunstwerke in Auftrag gegeben. Neben einer Fülle von Gemälden ganz unterschiedlicher Sujets, weisen die
in einem Kabinett vorhandenen über 70 Kleinbronzen, darunter wohl auch eine
von Michelangelo, sie überdies als engagierte Kunst-Sammlerin aus.33 Schließlich
prägten die Ausstattung Antiken oder Antikenkopien sowie die Malereien auf
Edelstein als genuin Florentiner Kunstform. Insofern demonstrierte die Sammlung gerade nicht, den Maria Magdalena aufgrund ihrer Bigotterie unterstellten
Bruch mit der mediceischen Kultur, sondern vielmehr deren Weiterführung,
allerdings zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung.
Einen deutlichen Schwerpunkt erhielt die Sammlung durch die über das ganze
Haus verteilten Darstellungen ihrer Namenspatronin, der hl. Maria Magdalena,
die wie ein Verweissystem den Herrschaftsraum der Erzherzogin markierten.
Noch posthum stellte man 1632 ein mit Marmorintarsien ausgekleidetes Oratorium fertig, dessen Lünettenzyklus von der Hand Francesco Curradis die
Vita der hl. Maria Magdalena zeigt.34 Sie selbst hatte sich als büßende Eremitin
vom Hofmaler Justus Sustermans darstellen lassen, ein Gemälde, das sehr wahrscheinlich im Obergeschoss inmitten der dynastischen Portraitgalerie hing, und
zwar genau an der Stelle, an der die Bildnisse der Habsburger und der Medici
aufeinandertrafen (Abb. 9).35 Der dunkle Bildhintergrund lässt auf die Grotte
schließen, in der sich die Heilige zur Kontemplation der Legende nach zurückgezogen hatte. Zu ihrer Rechten sind ihre Attribute und Askesewerkzeuge zu
sehen. Sie selbst trägt die Haare gelöst und eine am Ärmel eingerissene Kutte.
Die Hände sind zum Gebet erhoben und ihr tränenverschleierter Blick richtet
sich am Betrachter vorbei in die Ferne, so als ob sie eine durch Erleuchtung
erlangten Vision schaue. Dieser körperliche und innerliche Rückzug wurde in
Poggio Imperiale allerdings einer höfischen Öffentlichkeit ausgestellt, als sakrales
Identifikationsportrait, in dem sich Herrschafts- und Heiligenbild überblendeten.
Hier wird die Zwiesprache der Regentin mit Gott betont, ihre völlige Hingabe
an das religiöse Ideal der vita contemplativa. Gleich zu Beginn ihrer Regent32 Für eine zusammenfassende Darstellung ebd., S. 57-76.
33 Eike Schmidt, Das Elfenbein der Medici. Bildhauerarbeiten für den Florentiner Hof von Giovanni Antonio Gualterio, dem Furienmeister, Leonhard Kern, Johann Balthasar Stockamer, Melchior
Barthel, Lorenz Rues, Francis van Bossuit, Balthasar Griessmann und Balthasar Permoser, München 2012, S. 45-91.
34 Hoppe (wie Anm. 5), S. 61 f.
35 Im Inventar heißt es: »Un’Quadro in tela (…) entrovi dipinto, una Santa Maria Maddalena
nel diserto.« ASF, GM 479, fol. 27v, so auch in den späteren Inventaren benannt; Hoppe (wie
Anm. 5), S. 66 f; Lisa Goldenberg Stoppato, »Justus Sustermans«, in: de Luca (wie Anm. 24),
S. 159-161.
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Der eine Körper Habsburgs
Abb. 9: Justus Sustermans, Maria Magdalena von Österreich als Hl. Maria
Magdalena, vor 1625, Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina
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Ilaria Hoppe
schaft hatte die Erzherzogin die Inszenierung eines Dialoges zwischen Martha
und Maria Magdalena in Auftrag gegeben; als Bildthema war dieses Sujet auch
als Altarbild von Allessandro Allori in der Kapelle im Obergeschoß, also direkt
neben der Galerie, präsent.36 Maria Magdalena hatte sich gemäß der auch vom
Tridentinum befürworteten intercessio sanctorum zu einer heiligen Fürbitterin
stilisieren lassen, als unmittelbare Verbindung zwischen den Untertanen und
Gott. Situierung und Thema verdeutlichen das Selbstverständnis von Maria
Magdalena von Österreich als ›heiliger Fürstin‹, das ostentativ zur Schau gestellt
wurde und so auch einen politischen Zweck erfüllen konnte.37 Die Sakralisierung
ihres Körpers, die hier ihren unmittelbar bildlichen Ausdruck gefunden hatte,
legitimierte ihre durchaus nicht unumstrittene Herrschaft mit dem Verweis auf
Frömmigkeit und göttliche Berufung. Das Identifikationsportrait überblendete
die gewünschten Andachtspraktiken von Herrscher- und Heiligenbild, zumal
die Verehrung der hl. Maria Magdalena während der katholischen Reform ihren
Höhepunkt erreichte und sich in Florenz auch mit dem lokalen Kult der hl.
Maria Maddalena de’ Pazzi verknüpfen ließ.38
Das Zeremoniell in der Villa Poggio Imperiale
Die Regentin hatte also weder Kosten noch Mühen gescheut, sich eine Villa
suburbana einzurichten, die mit vergleichbaren zeitgenössischen Anlagen der
Medici konkurrieren konnte. Poggio Imperiale diente ihr, der Entourage und
Gästen zum ländlichen Vergnügen, ganz so wie es die Widmung verhieß: Man
lud Bauernmädchen der Umgebung zum Tanz, veranstaltete Jagdausflüge und
Bankette.39 Kleinere Gesellschaften unterhielt man mit Kammermusik oder durch
Darbietungen der Prinzen und Prinzessinnen. Überliefert sind auch mehrfach
Führungen durch das Haus. Die erwähnte Operninszenierung gehörte zu den
größeren Veranstaltungen, für die man die gesamte Villa einem höfischen Publikum öffnete. Dazu zählten auch religiöse Feiern, wie das Fronleichnamsfest
36 Hoppe (wie Anm. 5), S. 68.
37 Für das Modell der ›Heiligen Fürstin‹ im Sinne der katholischen Reform s. Xenia v. Tippelskirch: »›Zum Exempel eines gottseligen Wandels gantz lustig zu lesen‹. Anmerkungen zur
Vita der Marie von Portugal, Fürstin zu Parma und Piacenza (1538 – 1577)«, in: Peter Burschel
u. Anne Conrad (Hgg.), Vorbild – Inbild – Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2003, S. 83-119; Zum ›Heiligen Fürsten‹ nach Adriano
Prosperi s. Marcello Fantoni, »Il ›Principe santo‹. Clero regolare e modelli di sovranità nella
Toscana tardo medicea«, in: Flavio Rurale (Hg.), I religiosi a Corte. Teologia, politica e diplomazia in antico regime, Rom 1998, S. 229-248.
38 Siehe hierzu mit Bibliographie Hoppe (wie Anm. 5), S. 25-26, 74-76.
39 Ebd., S. 77-93.
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Der eine Körper Habsburgs
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von 1625.40 Zu diesem Anlass hatte man die Fassade des Palastes mit Tapisserien,
Gemälden und Festons geschmückt. Am Eingang standen Brunnen, aus denen
eisgekühlter Rotwein floss. Im Innenhof war ein Altar mit Baldachin aufgebaut,
den goldene Gefäße, Kandelaber und Blumen schmückten. In feierlicher Prozession trug man den Baldachin schließlich in eine unweit gelegene Kirche, wo
man der Messe beiwohnte. Solche Praktiken durchdringen den vermeintlich
profanen Raum einer villa suburbana und machten ihn zu einem geheiligten Ort.
Nicht nur der Herrschaftskörper und seine Repräsentation wurden sakralisiert,
sondern durch Kunst- und Kultgegenstände sowie das religiöse Ritual auch der
Handlungsraum der Regentin.
Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass wichtige gesellschaftliche
Ereignisse – seien sie nun profaner oder sakraler Art – in den Jahren der Regentschaft in Poggio Imperiale stattfanden. Der Palazzo Pitti blieb zwar offiziell die
Hauptresidenz für den bereits formal bestätigten Großherzog Ferdinando II.,
doch verstand es die Regentin, die Aufmerksamkeit des Hofes und seiner Gäste
durch verschiedenste Aktivitäten auf ihre Villa suburbana zu lenken, die so die
Funktion einer Residenz übernommen hatte. Deutlich wird diese Konstellation
bei den in der Hofchronik festgehaltenen Empfängen hochgestellter Diplomaten,
etwa dem Gesandten des französischen Hofes im Mai 1624. Dieser wurde am
Tag seiner Ankunft zuerst im Palazzo Pitti von Ferdinando II. empfangen. Am
nächsten Tag fuhr man gemeinsam im Sechsspänner nach Poggio Imperiale. Dort
wurde der Gast zuerst in sein Quartier geführt und von den männlichen Mitgliedern des Hofes begrüßt. Danach geleitete man ihn in den Saal (Abb. 4, Nr. 3),
wo der junge Großherzog ihn erneut, in der Mitte des Saales stehend, empfing.
Die Damen des Hofes warteten im Vorzimmer (Abb. 4, Nr. 13). Nachdem die
Männer dort eingetreten waren, erhob sich Christina von Lothringen und ging
drei Schritte auf den Gesandten zu und man tauschte Briefe aus. Danach setzte
man sich zur Konversation. Bei einem anderen Anlass wurde der Diplomat von
Maria Magdalena in ihrem Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 4) empfangen und durch
den Saal wieder hinaus geleitet.41
Das Zeremoniell fand also vornehmlich in den drei freskierten Repräsentationsräumen der Regentin im Erdgeschoss statt. Die so im Kreis abzuschreitende
Bewegung korrelierte mit dem dortigen Programm der Berühmten Frauen,
womit jenem eine besondere Relevanz zukam. Programme mit heilsgeschichtlicher Epocheneinteilung münden stets in einen Ausblick auf ein ›Goldenes
Zeitalter‹, das in Poggio Imperiale durch die Männer und Frauen des Hauses
Habsburg seine Erfüllung gefunden hatte. Damit verbunden war außerdem
40 ASF, MM 11, fol. 48r.
41 ASF, MdP 6080, fol. 45r-45v; Hoppe (wie Anm. 5), S. 85 f.
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Ilaria Hoppe
die Deutung des goldenen Zeitalters aus der IV. Ekloge Vergils: Die Cumäische
Sybille prophezeit den Anbruch eines neuen und zugleich letzten Zeitalters, eines
von Saturn beherrschten Reiches in dem die virgo und ein neues vom Himmel
ausgesandtes Geschlecht erscheinen.42 Mit der Geburt eines Knaben sollte das
eiserne Zeitalter überwunden und eine unter dem Zeichen des Sonnengottes
Apoll stehende gens aurea begründet werden. Sobald er »die ruhmvollen Taten der Helden und seines Vaters Verdienste erkenne und den Umfang seiner
Leistungen würdige« 43, erblühe die Natur und keine Kriege noch Arbeit wären
mehr notwendig. Übertragen auf den Zyklus im Palast der Regentin bedeutet
dies, dass die Abfolge der Zeitalter mit den Taten der Fürstinnen im Saal ihren
Höhepunkt fand. Die weibliche christliche Herrschaft steht im Zentrum des
gesamten Konzeptes und wird als Ideal präsentiert, in dem weltliche und geistliche
Macht – natürlich beides in der Hand der Habsburger – im Kampf gegen die
›Feinde‹ des Christentums friedlich vereint sind. Die dichterische Vision Vergils,
nach der das goldene Zeitalter in der Geburt eines Knaben als Begründer einer
gens aurea mündet, bietet sich demnach auch als Metapher für das Programm in
Poggio Imperiale an, da die Regentin die in den Lünetten visualisierte Tradition
idealer weiblicher Herrschaft weiterführte, dessen Erbe ein Knabe antreten sollte,
ihr Sohn Ferdinando II. Mit diesem würde sich schließlich das Heilsversprechen
erfüllen und durch die Abkunft Maria Magdalenas von den Habsburgern sich
auch die Dynastie der Medici erneuern. Die Fülle der weiblichen Exempla diente
also nicht nur der historischen Begründung und Legitimation einer weiblichen
Herrschaft, sondern auch der Darstellung ihres transitorischen Charakters, welche
die gewünschte Ordnung nicht grundlegend in Frage stellte. Insofern standen
sich Handlungs- und Bildraum nicht widersprüchlich gegenüber, sondern
ergänzten sich. Allerdings waren die Räume Ferdinandos entgegen der sonst
üblichen Geschlechtertopographie bei Hof in das Frauengemach integriert und
durch die Darstellung der Habsburger Kaisergalerie auch thematisch mit den
Räumen der Mutter verbunden.
Die fragile politische Situation hatte also eine ambivalente Raumdisposition
und ein kompliziertes Zeremoniell hervor gebracht, die den Zugang gleich zu
mehreren Potentaten zu regulieren hatten. Eine wahre Nähe zum Herrschaftskörper wurde aber laut Hofchronik nur für Maria Magdalena inszeniert und
42 »Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; / magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. / iam
redit et virgo, redeunt saturnia regna; / iam nova progenies caelo dimittitur alto. / tu modo
nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / caste fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.«; Vergil, Hirtengedichte, lateinisch und deutsch, hrsg. v. Heinrich
Naumann, München 1969, S. 86.
43 Zitiert nach: Vergil. Werke in einem Band. Kleine Gedichte, Hirstengedichte, Lied vom Landbau,
Lied vom Helden Aeneas, hrsg. v. Dietrich Ebener, Berlin, Weimar 1983, S. 35.
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Der eine Körper Habsburgs
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zwar in ihrem Schlafgemach.44 Nach modernem Verständnis ist dies der Raum
größter Privatheit, am Hofe Ludwigs XIV. wurde es zum öffentlichen Ort einer
Inszenierung. In Florenz stellte sich meiner Meinung nach hingegen eine dritte
Variante ein, die sich wahrscheinlich durch das spanische Hofzeremoniell der
Habsburger vermittelt hatte. Die Regentin empfing nicht nur ihre Familie sondern auch Diplomaten und Künstler und Künstlerinnen im Prunkbett, allerdings
nur wenn sie krank war – und dies scheint der entscheidende Unterschied etwa
zum französischen Hof zu sein. Zum Beispiel wird in der Chronik ausführlich ein
Aderlass beschrieben, unmittelbar davor und danach verschiedene Besuche, unter
anderem von der Mitregentin Großherzogin Christina von Lothringen.45 Diese
überreichte ein wertvolles Geschenk an Maria Magdalena: Einen schwarz-gold
lackierten Kabinettschrank mit einem dazugehörigen Aufsatz. Dabei handelte
es sich sehr wahrscheinlich um den später identifizierten und immer noch in
Florenz erhaltenen Intarsien-Schrank, den ein Calvarienberg-Motiv ziert (Abb.
10).46 Nach dem Essen, das sie wohl ebenfalls im Bett verzehrt hatte, kam die
Hofmusikerin Francesca Caccini und musizierte gemeinsam mit den Prinzen
und Prinzessinnen.
Da Maria Magdalena eine äußerst ambitionierte Sammlerin von Reliquien
war, gehe ich davon aus, dass der Schrank für die Aufbewahrung religiöser
Schätze diente. Unmittelbar neben dem Bett soll sich eine Marienkrönung auf
Silber befunden haben, inmitten von emaillierten und mit Edelsteinen besetzten
Verzierungen. Weiterhin verzeichnet das Inventar Gemälde mit religiösen Sujets,
wie die Darstellung des heiligen Hieronymus, die mystische Vermählung der
heiligen Katherina von Siena, eine Auferstehung Christi venezianischer Provenienz sowie eine Madonna mit Jesus und dem Johannesknaben von Puligo.47
Und auch die Namenspatronin der Regentin – die hl. Maria Magdalena – hatte
sinnfällig Eingang in ihr Schlafgemach gefunden: Als Andachtsbild auf ihrer
persönlichen Kniebank, das man Leonardo da Vinci zuschrieb, sowie auf einem
großformatigen Gemälde, das den Tod oder die Ekstase der Heiligen zeigt (Abb.
11).48 Das Liegemotiv des Körpers der Heiligen wird hier mit einer transzendenten
Erfahrung verbunden, in der die Heilige alles Weltliche hinter sich gelassen hat.
Die Forschungen von Magdalena Sánchez für den spanischen Hof der
Schwester der Florentiner Regentin, der Königin Margarethe von Österreich,
44 Vgl. Ilaria Hoppe, »Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am
Beispiel Florenz«, in: Irene Nierhaus u. Kathrin Heinz (Hgg.), Matratze / Matrize. Möblierung
von Subjekt und Gesellschaft, Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 389-410.
45 ASF, MM 11, fol. 41 v-42 r.
46 Annamaria Giusti, Opificio delle Pietre Dure di Firenze. Guida al Museo, Venedig 1995, S. 40 f.
47 Hoppe (wie Anm. 5), S. 59 f.
48 Alice E. Sanger, Art, Gender and Religious Devotion in Grand Ducal Tuscany, Farnham 2014,
S. 124.
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Ilaria Hoppe
Abb. 10: Prager Manufaktur, Kabinettschrank mit Edelsteininatrsien, Anfang 17. Jh.,
Florenz, Opifico delle pietre dure
Abb. 11: Rutilio Manetti, hl. Maria Magdalena, vor 1625, Florenz, Uffizien
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haben gezeigt, wie Krankheit auch ganz gezielt als Strategie eingesetzt wurde,
etwa um zeremoniellen Pflichten auszuweichen oder die Aufmerksamkeit des
Herrschers auf sich zu ziehen.49 Der weibliche kranke Körper wurde also nicht
versteckt, sondern ganz im Gegenteil ausgestellt; ein Bild, das sich männliche
Herrscher wohl nicht zu Nutze machen konnten, waren sie doch zur Repräsentation von Stärke verpflichtet. Gerade im Fall des kränklichen Cosimo II. de’
Medici prägte seine Gebrechlichkeit bis heute die negative Wahrnehmung seiner
Regierungszeit. Im Schlafgemach Maria Magdalenas thematisieren hingegen auch
die Fresken das Leiden weiblicher Körper. Die dargestellten unterschiedlichen
Martern der Märtyrerinnen bedingten geradezu ihre Christoformitas, die sowohl
vorbildlich für die Regentin waren, als auch die Ähnlichkeit zwischen heiligem
und herrscherlichem Körper betonten. Zusammengefasst wird das theologische
Konzept durch das Deckenfresko mit der Allegorie des Neuen Bundes, die in
einer Hand den Kelch als Zeichen für das katholische Glaubensbekenntnis
und die Transsubstantiation hält, mit der anderen in den Himmel zeigt, als
Verweis auf Christus und seine Erlösung. Die Darstellung der Auffindung des
Kreuzes durch die hl. Helena erlaubte die Anbindung der Inkarnationslehre
an die Dynastie der Habsburger und ihr Konzept der Pietas austriaca (Abb. 8).
Diese unauflösliche Verquickung von Religion und Politik, die unter Karl V.
als Monarchia universalis aktualisiert worden war, bedingte auch in den neueren
katholischen Staatstheorien die beständige Zwiesprache des Souveräns mit Gott.
Dieses vorbildliche Verhältnis sollte sich dann wiederum in dem des Souveräns mit seinen Untertanen spiegeln. Insofern kamen dem Herrscher und der
Herrscherin eine Vorbildfunktion zu.50 Im Fall einer weiblichen Regentschaft
geriet durch das Fehlen einer männlichen Autorität dieses Konzept in die Krise,
besonders augenfällig in einem Schlafgemach, dessen eigentliche Bestimmung
ja in der Reproduktion und Absicherung der dynastischen Nachfolge lag. In
Poggio Imperiale konnten die ausgewählten Exempla der jungfräulichen Märtyrerinnen diese Leerstelle füllen, da sie sich als entsexualisierte Heiligkeits- und
Weiblichkeitsmodelle für die Regentin-Witwe anboten, die wiederum, in ihrem
Bett liegend, wie diese Heiligen zu verehren war.
Zeremoniell und Raum visualisierten in Poggio Imperiale also das schwierige
Gefüge dieser nicht unumstrittenen Regentschaft. Beide Instrumente bestätigten
jeweils geschlechtsspezifisch die Stellung des Thronfolgers, aber immer zugleich
auch die der Regentin. Die Legitimation dieser Konstellation vermittelte sich
über Maria Magdalena von Österreich und ihrem Selbstverständnis als ›heili49 Magdalena S. Sánchez, The Empress, the Queen and the Nun. Women and Power at the Court of
Philip III of Spain, Baltimore, London 1998, insb. S. 156-171.
50 Siehe dazu ausführlich Hoppe (wie Anm. 5), S. 403.
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Ilaria Hoppe
ger Fürstin‹. Durch sie war es möglich, das Kaiserhaus als imperial-antike wie
christlich-heilige Genealogie auch für Ferdinando II. zu instrumentalisieren
und die Dynastie der Medici insgesamt zu erhöhen. Im Ganzen waren diese
Bemühungen davon gekennzeichnet, den natürlichen Körper soweit es eben
nur ging, zu transzendieren und einen einheitlichen sakralen Herrschaftskörper
zu konstruieren.
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Christina Strunck (Hg.), Die Frauen des Hauses Medici. Politik, Mäzenatentum, Rollenbilder (1512 – 1743), Petersberg 2011, S. 86
Abb. 2: Alinari
Abb. 3: Soprintendenza per i beni ambientali e architettonici, Gabinetto fotografico, Palazzo Pitti, Florenz
Abb. 4: Ilaria und Henning Hoppe
Abb. 5: Elisa Acanfora: »Maria Maddalena d’Austria, donna di governo e virtuosa
delle arti«, in: Mina Gregori (Hg.): Fasto di corte. La Decorazione murale nelle
residenze dei Medici e dei Lorena, 4 Bde., Florenz 2005-2007, Bd. 1, S. 131-187,
Tafel XCIV
Abb. 6: Acanfora (wie Abb. 5), Tafel LXXXVII
Abb. 7: Gianni Papi (Hg.), Caravaggio e caravaggeschi a Firenze, Ausstellungskatalog Florenz 2010, Mailand 2010, S. 250
Abb. 8: Ilaria Hoppe
Abb. 9: Cristina Giannini (Hg.), Stanze segrete raccolte per caso. I medici Santi
– Gli arredi celati, Ausstellungskatalog Palazzo Medici-Riccardi Florenz 2003,
Città di Castello 2004 (Cultura e Memoria, 29), Abb. 23
Abb. 10: Annamaria Giusti, Opificio delle Pietre Dure di Firenze. Guida al Museo,
Venedig 1995, S. 40 f.
Abb. 11: Evelina Borea (Hg.), Caravaggio e Caravaggeschi nelle Gallerie di Firenze,
Ausstellungskatalog Palazzo Pitti Florenz 1970, Florenz 1970, Kat.-Nr. 34
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Abstracts
Claudia Bruns
Anthropomorphic Maps of Europe at the Cusp of the Early Modern Age
Claudia Bruns’ contribution focuses on anthropomorphic maps of Europe made
during the shift from the Middle Ages to the Renaissance. In this pivotal moment
at the cusp of the Early Modern Age Europe began to assume a cartographic form
as a figurative representation of a person, such that a fully new and unique type
of image emerged. Maps featuring Europe as a woman with imperial attributes
quickly became popular, alongside Ptolemaic, scaled maps. Bruns argues that
these new visualizations of Europe exemplify how geographic, gender and ethnic
boundaries were negotiated in newly interconnected ways.
Silke Förschler
Framing as Scaling of Nature and Gender. Jan van Kessel’s Allegories of the
Continents (1664 – 1666)
The article deals with the framing and scaling of nature and gender in Jan
van Kessels painted allegories of the four continents (1664 – 1666). These are
composed of one large painting with a female allegory surrounded by sixteen
smaller paintings showing cityscapes, landscapes and animals. The particular
arrangement of one big painting surrounded by sixteen small paintings raises
questions about the relation of the female allegories and the structuring of
nature. The female allegories representing the continents create hierarchies
between Europe and the other continents. This article focuses on the relation
of Europe and America. European conceptions and theories of Natural History
are transferred to the New Continent. Silke Förschler sets out to explain how
the different representations of nature in Kessel’s paintings are interconnected
with different aesthetic notions and classification systems of nature. The essay
further discusses the connection between gendered and ethnical bodies and the
apparent scaling of the natural world.
Bettina Brandt
»An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«. Gendering the Nation in
Early Modern Images of »Germania«
Whether the body stands as a model for collective boundaries, or whether real
bodies are subject to and performing collective norms and power, the relation
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Abstracts
between bodies and collectives is of political relevance. The category of gender
plays a significant role here: The ›nature‹ of biological differences becoming
›evident‹ in male and female bodies was and still is a powerful instrument for
the legitimization of socio-political inequalities and the naturalization of contingent order. This contribution investigates the entangled concepts of nation,
gender and politics from the Early Modern to the Modern Period, taking the
female personification of Germany as an example. Paradoxically it was the antidemocratic and racist understanding of the nation in the Wilhelminian period
that was in particular need of the female body’s symbolic potential.
Bettina Uppenkamp
Island of the Hermaphrodites. Picture Politics at the Court of
Henry III of France
Bettina Uppenkamp’s contribution focuses on the challenge of princely power
through sexualized images in the vicinity of the royal court of the last Valois
king Henry III of France. The article’s starting point is a satirical text, which
was published in 1605 after the death of Henry III. It is known under the title
L’Isle des Hermaphrodites and has hitherto received little attention by German
scholars. The reign of Henry III was marked by the crisis of the French religious
wars during the second half of the sixteenth century. Henry III became the
target of numerous written and illustrated polemics and sexual denunciations,
which were instigated by the king’s ambiguous gender performance. From the
perspective of his adversaries, Henry’s excessive interest in precious garments
and his policy of favoritism privileging young men of the lower nobility were
motivated by homoerotic desire. But the polemics also partly show a fascination
with the flagrancies they aim to denounce. They thus shed light on the borders
violated by the king’s mannerist will to shape his own (gender) role and reshape
the court manners and ceremonials.
Veronica Biermann
The Queen’s Inordinate Body and its Sex. Christina of Sweden and
Gian Lorenzo Bernini’s Mirror
Known for her notorious impatience, her constitutional impetuousness, and her
vivacity, Queen Christina constantly broke with dress codes as well as with all
other conventions considered appropriate for women and queens at the time.
This already led her contemporaries to express doubts regarding her female sex.
In the 1960s, Christina was disinterred and her mummified corpse underwent
minute inspection. Since then, the queen’s body has been empirically proven to
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Abstracts
191
belong to a woman. And yet, there are good reasons to doubt that the answer
to the question about the queen’s sex can be adequately answered by virtue of
taking a closer look at the open tomb. An alternative proposal is to consider
a portrait medal by Massimiliano Soldani Benzi – for which variously revised
viewing instructions in Christina’s own hand have survived – as well as the famous allegorical mirror Gian Lorenzo Bernini designed for her Rome apartment.
These two objects enable us to pursue the issue from a different vantage point.
The Swedish monarch was faced with considerable problems following her abdication and public resignation in 1654. She attempted to master the challenges
through her personal representation. Although from then on it was possible to
compare her with an »otherwise ordinary lady«, she still remained an untouched
and untouchable »Holy Majesty«. This article attempts to bring to light and
hence to make visible the queen’s holy, third body and thereby make Christina’s
self-understanding and her strategies for representation comprehensible in all
their complexity.
Ilaria Hoppe
Habsburg’s one Body and the Visual Politics of the Regency
in 17th Century Florence
Hardly any investigation on the body as representation of rule in the early modern
period comes without the reference to the basic study of Ernst Kantorowicz The
King’s Two Bodies. There he discerned the difference between the corporeal and
the political body of the king, who, on the one hand, left a mortal shell, on the
other hand was tied to the transtemporal function of his office. Kantorowicz’s
approach has been so successful that it was adopted for all European dynasties,
even more to the monarchic system in general. However, in the state theory of the
Habsburg dynasty, the separation of the ruler’s body has never been conceived.
Since the Middle Ages, their policies have always been based on the divine right
to rule by God’s grace. In spite of the supposed division, the physical, political,
and sacred body of Habsburg rule was conceived as a powerful unity, and it was
the task of the arts to implement and communicate this concept visually. The example of the patronage of Mary Magdalen of Austria, Grand Duchess of Tuscany
at the beginning of the 17th century, gives a vivid survey of this understanding
of mystic rule and shows how it could serve even to legitimate a female regency.
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Über die Autorinnen
Veronica Biermann hat Kunstgeschichte, Geschichte und Klassische Archäologie
an den Universitäten Mainz, München und Berlin studiert. 1995 wurde sie an
der TU Berlin mit einer architekturtheoretischen Arbeit über das ornamentum
in Leon Battista Albertis Traktat de re aedifcatoria promoviert. Anschließend
war sie MPG-Forschungsstipendiatin an der Bibliotheca Hertziana in Rom,
wissenschaftliche Mitarbeiterin des Census an der Humboldt-Universität zu
Berlin und wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der
TU München. 2008 erfolgte die Habilitation an der TU München mit einer
Arbeit über Königin Christina von Schweden und ihre römischen Repräsentationsstrategien. Seit 2009 ist sie Privatdozentin der TU Berlin. Sie war Vertretungsprofessorin an der HU Berlin und der Universität Leipzig bis 2016. Seit
dem Wintersemester 2016/17 vertritt sie die Professur für die Geschichte des
Designs und der Architektur an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in
Halle. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Architektur
und ihrer Theorie vom 15. bis zum 21. Jahrhundert und in der gattungs- und
medienübergreifenden Geschichte des römischen Barocks.
Bettina Brandt ist wissenschaftliche Geschäftsführerin der Schule für Historische Forschung an der Universität Bielefeld. Von 2001 bis 2007 war sie Geschäftsführerin des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 584 Das Politische als
Kommunikationsraum in der Geschichte. Nach dem Studium der Germanistik
und Geschichte an der Universität Konstanz wurde sie 2005 an der Fakultät für
Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld
mit einer Studie über die Germania-Personifikation in Neuzeit und Moderne
promoviert. Die Dissertation erschien 2010 bei Vandenhoeck & Ruprecht in
Göttingen unter dem Titel Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von
Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Ihre Forschungsinteressen liegen
in der historischen Nationalismusforschung, der Geschlechtergeschichte, der
politischen Kultur der Moderne und der historischen Bildwissenschaft. In diesem
Zusammenhang hat sie mehrere Aufsätze veröffentlicht, zuletzt: »Judith Butler
in Verteidigung der Palästinenser – ›Demanding the Impossible‹«, in: Ingrid
Gilcher-Holtey (Hg.), Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20.
und 21. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 199-212.
Claudia Bruns ist Professorin für Historische Anthropologie und Geschlechtergeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu
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Über die Autorinnen
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Berlin; von 2011 – 2013 war sie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs Geschlecht
als Wissenskategorie, zuvor u. a. Juniorprofessorin für Neuere und Neueste vergleichende Europäische Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim und
Postdoktorandin des Trierer Graduiertenkollegs Identität und Differenz. 2002
war sie Preisträgerin des Frauenförderpreises der Universität Hamburg. Ihre
Forschungsschwerpunkte liegen in der Europäischen Kulturgeschichte des Politischen und der Geschichte von Europas Grenz- und Raumkonstruktionen,
außerdem der Sexualitäts-, Körper- und Männlichkeitsgeschichte sowie bei
Arbeiten zur filmischen Erinnerung an den Holocaust. Publikationen: Karten,
Körper, Kollektive. Europas Grenzdiskurse (Böhlau 2016); Politik des Eros. Der
Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur. 1880 – 1934, Köln u. a.
2008; »Welchen der Steine du hebst« – Zur Filmischen Erinnerung an den Holocaust, hrsg. zus. mit A. Dardan u. A. Dietrich, Berlin 2012; »Antisemitism and
Colonial Racism. Transnational and Interdiscursive Intersectionality«, in: Wulf
D. Hund, Christian Koller u. Moshe Zimmermann (Hgg.), Racisms Made in
Germany, (Racism Analysis | Yearbook 2), Berlin 2011, S. 99-121; Ethnizität und
Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, hrsg.
v. Graduiertenkolleg Identität und Differenz, Köln u. a. 2005.
Silke Förschler, Dr. phil., ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im LOEWEForschungsschwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft an der Universität Kassel.
Derzeit arbeitet sie an einer kunsthistorischen Habilitation mit dem Titel Bilder
naturgeschichtlicher Ästhetik: Spuren zwischen Leben und Tod. Gemeinsam mit
Anne Mariss Herausgabe des Sammelbandes Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Wien, Köln, Weimar 2017.
Ilaria Hoppe hat seit September 2016 den Lehrstuhl am Institut für Kunst in
gegenwärtigen Kontexten und Medien der Katholischen Privat-Universität Linz
inne. Zuvor hat sie am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der HumboldtUniversität zu Berlin die Lehrstühle für Frühe Neuzeit und Moderne vertreten.
Von 2005 bis 2015 war sie dort als Assistentin mit einem regelmäßigen Lehrangebot für den Studiengang Gender-Studies tätig. Ihr Studium der Kunstgeschichte,
Italianistik und Philosophie absolvierte sie in Düsseldorf und an der TU Berlin,
wo sie 2004 promoviert wurde. Ihre Dissertation Die Räume der Regentin: Die
Villa Poggio Imperiale zu Florenz ist 2012 im Reimer Verlag erschienen. Seit 2007
beschäftigt sie sich mit Urban Art und gegenwärtigen Diskursen der Urbanität.
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Frühen Neuzeit und der Gegenwart,
Gender Studies sowie der Verknüpfung von Raum- und Bildtheorie. Letzte
Publikation: »Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung
am Beispiel Florenz«, in: Irene Nierhaus u. Kathrin Heinz (Hgg.), Matratze /
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Über die Autorinnen
Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft, Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 389-410 (= wohnen +/- ausstellen, 3).
Sophia Kunze ist Stipendiatin des Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung.
Ein interdisziplinäres Labor« der Humboldt-Universität zu Berlin und erarbeitet
in diesem Rahmen ihre Dissertationsschrift zum Thema »Frauen mit Vollbart«
(Arbeitstitel). Von 2014 – 2015 war sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Teilprojekt Gender & Gestaltung tätig. Sie hat in Hamburg Kunstgeschichte
und Geschichte studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Gender Studies und Medizingeschichte. Letzte Publikation: Dark Rooms – Räume
der Unsichtbarkeit, hrsg. zusammen mit Marietta Kesting, Berlin 2016; »Typus
oder Porträt – Authentizität bei Riberas bärtiger Frau«, in: Uwe Fleckner u.
Titia Hensel (Hgg.), Hermeneutik des Gesichts, Berlin 2016 (= Schriften des
Warburgkollegs, Bd. 4).
Bettina Uppenkamp ist seit 2013 Professorin für allgemeine Kunstgeschichte an der
Hochschule für Bildende Kunst Dresden. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenz-Cluster »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres
Labor«, hatte Vertretungs- und Gastprofessuren an der Humboldt-Universität
zu Berlin, der Universität Hamburg und der Hochschule für bildende Kunst in
Hamburg. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Philosophie wurde sie 1997 an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zu Judith
und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock promoviert, erschienen
im Reimer-Verlag Berlin 2004. Forschungsschwerpunkte liegen bei der Kunst
der Frühen Neuzeit und der Gegenwartskunst sowie bei der Geschichte und
Theorie der Geschlechterordnungen in der visuellen Kultur. Letzte Publikation:
»Kunst und Kunstgeschichte«, in: Stefan Horlacher, Bettina Jansen u. Wieland
Schwanebeck (Hgg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart
2016, S. 256-269.
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