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Der Körper des Kollektivs

2017, Vittorio Klostermann eBooks

Die Mitglieder des Beirats beraten die Redaktion bei der Auswahl der Beiträge, die im anonymisierten peer-review-Verfahren begutachtet werden. Themenhefte stehen in der Verantwortung der jeweiligen Herausgeber/innen. Beiträge in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache werden akzeptiert. Zu jedem Beitrag erscheint ein Abstract. Äußerungen in den Beiträgen dieser Zeitschrift stellen jeweils die Meinung des Verfassers dar. Mit der Annahme des Manuskripts zur Ver öffentlichung in den Zeitsprüngen räumt der Autor dem Verlag Vittorio Klostermann das zeitlich, räumlich und inhaltlich unbeschränkte Nutzungsrecht ein. Der Autor behält jedoch das Recht, nach Ablauf eines Jahres anderen Verlagen eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen.

Zeitsprünge Forschungen zur Frühen Neuzeit Band 21 (217) Heft 1/2 Der Körper des Kollektivs https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit Herausgegeben vom Stuttgart Research Centre for Text Studies und dem Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften Redaktion: Daniel Dornhofer, Sandra Richter, Albert Schirrmeister, Susanne Scholz, Claus Zittel Wissenschaftlicher Beirat: Susanna Burghartz, Renate Dürr, Moritz Epple, Klaus Herding, Oliver Huck, Wolfgang Neuber, Alessandro Nova, Klaus Reichert, Anselm Steiger, Johannes Süßmann, Anita Traninger Die Mitglieder des Beirats beraten die Redaktion bei der Auswahl der Beiträge, die im anonymisierten peer-review-Verfahren begutachtet werden. Themenhefte stehen in der Verantwortung der jeweiligen Herausgeber/innen. Beiträge in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache werden akzeptiert. Zu jedem Beitrag erscheint ein Abstract. Äußerungen in den Beiträgen dieser Zeitschrift stellen jeweils die Meinung des Verfassers dar. Mit der Annahme des Manuskripts zur Veröffentlichung in den Zeitsprüngen räumt der Autor dem Verlag Vittorio Klostermann das zeitlich, räumlich und inhaltlich unbeschränkte Nutzungsrecht ein. Der Autor behält jedoch das Recht, nach Ablauf eines Jahres anderen Verlagen eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Redaktionelle Zuschriften und Manuskripte: Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Anzeigen und Bezug: Verlag Vittorio Klostermann, Westerbachstr. 47, 89 Frankfurt am Main. Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich, je vier Hefte bilden einen Band. Der Bezugspreis für einen Band beträgt EUR 13, zuzüglich Porto. Doppelheft EUR 5. Kündigungen für das Folgejahr sind bis zum 31.1. an den Verlag zu richten. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 17 Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in gedruckter und elektronischer Form bedarf der Genehmigung des Verlages. Herstellung und Satz: Monika Beck (Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften) Druck: KM Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier ISO 7 ISSN 131-751 ISBN 78-3-5-71- https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der Körper des Kollektivs Figurationen des Politischen in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp Vittorio Klostermann · Frankfurt am Main https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Inhalt Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp Einleitung 1 Claudia Bruns Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen Neuzeit 9 Silke Förschler Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht. Jan van Kessels Erdteilallegorien (1664 – 1666) 44 Bettina Brandt »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«. Zur vormodernen Geschlechtercodierung der Nation in Bildern der »Germania« 71 Bettina Uppenkamp Insel der Hermaphroditen. Bildpolitik im Umkreis des Hofes von Heinrich III. von Frankreich 98 Veronica Biermann Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht. Christina von Schweden im Spiegel Gian Lorenzo Berninis 137 Ilaria Hoppe Der eine Körper Habsburgs. Zur Bildpolitik der Florentiner Regentschaft 164 Abstracts 189 Über die Autorinnen und Autoren 192 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Claudia Bruns, Sophia Kunze und Bettina Uppenkamp Einleitung Die Geschichte der Neuzeit ist geprägt von Auseinandersetzungen um die territoriale und politische Vormachtstellung innerhalb wie außerhalb Europas. Dabei handelt es sich um ein Europa, welches als politische Einheit imaginiert in dieser Zeit erstmals Form annimmt. Der vorliegende Sammelband widmet sich der Frage nach der visuellen Gestaltung und Repräsentation des Politischen, der bildlichen Formierung abstrakter Konzepte wie Territorium, Nation, Grenze und Herrschaft. Dabei geht es zentral um die Frage, wie und mit welchen visuellen Mitteln und Strategien das Verhältnis zwischen biologischem Individual- und symbolischem Kollektivkörper gestaltet wurde. Denn es ist nicht nur »alles Räumliche verkörpert«1, Räume werden auch oftmals in Bilder des menschlichen Körpers gefasst.2 Es gibt vielleicht kaum ein prägnanteres Beispiel für die Darstellung einer Figuration des Politischen in der Frühen Neuzeit als das Frontispiz für Thomas Hobbes’ Leviathan.3 Unter dem Eindruck des englischen Bürgerkriegs zwischen 1642 und 1649, dem Dreißigjährigen Krieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen in den nordamerikanischen Kolonien geschrieben, zählt der Text zu den Grundschriften moderner Staatstheorie. In der oberen Hälfte des horizontal geteilten Bildes, das dem Text voran steht, erhebt sich über dem Horizont einer weiten Landschaft aus dem Meer machtvoll das Ungetüm eines gekrönten Riesen, der seinen Schatten bis auf die im Vordergrund dargestellte befestigte Stadt wirft. In der rechten Hand ein erhobenes Schwert, in der linken einen Bischofsstab haltend, blickt dieser Riese denjenigen direkt an, der das Buch aufschlägt. Der auf den ersten Blick wie mit einem Schuppenpanzer bewehrt wirkende Ober1 Hartmut Böhme, »Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne«, in: Christina Lechtermann, Kirsten Wagner u. Horst Wenzel (Hgg.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 53-72, hier S. 55 ff. 2 Dabei hat sich die Geographie zwar vielfach mit der Semiotik von Karten befasst, diese jedoch selten in Zusammenhang mit Repräsentationen von Körpern gebracht. Valerie Traub, »Mapping the Global Body«, in: Peter Erickson u. Clark Hulse (Hgg.), Early Modern Visual Culture. Representation, Race, and Empire in Renaissance England (New Cultural Studies), Philadelphia 2000, S. 44-98, hier S. 87. 3 In seinen vielfältigen gedanklichen Dimension ausführlich analysiert wurde das Frontispiz zum Leviathan von Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651 – 2001, Berlin 2006. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2 Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp körper erweist sich als aus unzähligen kleinen Menschenfiguren dicht bei dicht zusammengesetzt, deren Körper und Blicke alle auf den Kopf des Riesen ausgerichtet sind. Es sind die Untertanen des Staatsungeheuers selbst, welche seinen Körper bilden, in dessen Form sie zugleich geordnet wie gefangen scheinen. Der Souverän ist ein per Gesellschaftsvertrag gebildeter Kollektivkörper, der die weltliche wie die kirchliche Macht in Händen hält. Am oberen Bildrand ist der Vers aus dem Buch Hiob eingefügt, welcher die immense Macht des Seeungeheuers Leviathan umschreibt: »Keine Macht auf Erden, die ihm zu vergleichen ist.«4 Der untere Teil des Frontispizes, der wie von schmalen Leisten gerahmt wirkt, zeigt im Zentrum das Trompe l’Œil eines am Bildrahmen aufgehängten schweren und fransengeschmückten Tuches, auf dem der Titel Leviathan of the Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiastical and Civil zu lesen ist, sowie der Name des Autors Thomas Hobbes of Malmesbury, darunter von einer Kartusche gerahmt Erscheinungsort und Jahr, London 1651. Flankiert wird dieser mittlere Teil links von Bildzeichen weltlicher Macht, Burg, Krone, Kanone, Schusswaffen und Feldzeichen, eine Schlacht, denen auf der rechten Seite solche der kirchlichen Macht korrespondieren. Dargestellt sind dort eine Kirche, eine Mitra, die Blitzzeichen der Exkommunikation, die Waffen der Logik, die gelehrte Disputation. Der alle Macht auf sich vereinende Souverän als Angst erzeugender Leviathan ist die Voraussetzung für die Bändigung des Wölfischen im Naturzustand. Dass der Körper als ästhetische Konstruktion den Raum des Politischen mitstrukturiert, lässt sich auch daran ablesen, dass »die Vorstellung vom kollektiven Körper und dessen fiktiver Person erfolgreich in operative Rechtsgrößen umgemünzt« wurde und Eingang in juridische Diskurse gefunden hat.5 Mit dem Siegeszug der weiblichen Nationalallegorie während der Französischen Revolution verbanden sich neue Formen des Ausschlusses von Frauen von politischer Teilhabe. Und auch in der gegenwärtigen Rhetorik der EU-Verordnungen wird immer wieder auf die Metapher der Nation als eigenständiges Subjekt zurückgegriffen. Die Vorstellung vom Kollektivkörper geht in ihrer Wirkung also über eine rein metaphorische Funktion hinaus, indem sie materielle, politische und institutionelle Effekte generiert. Der Kulturanthropologin Mary Douglas zufolge steuert »der Körper als soziales Gebilde die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird« und umgekehrt wird »in der (durch soziale Kategorien modifizierten) 4 Buch Hiob, 41, 14. Der Wortlaut im Lateinischen: »Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei …«. 5 Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel de Matala Mazza, »Vorwort«, in: dies. (Hgg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M., S. 9-14, hier S. 11. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Einleitung 3 physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest«.6 Zwischen sozialem und physischem Körper findet ein »ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien beider wechselseitig stärken«.7 »Durch das Bild des ›einen Körpers‹, der durch ›gemeinsame Blutbahnen‹ oder ein ›homogenes Nervensystem‹ zusammengehalten wird, erscheint der soziale Körper unteilbar« – so Christina von Braun.8 Seit Norbert Elias’ wegweisenden Untersuchungen über den sogenannten »Zivilisationsprozess« und die höfische Gesellschaft ist der Begriff der Figuration in der soziologisch und auch in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschichtsforschung als ein Begriff etabliert9, der es erlaubt, das Verhältnis zwischen bestimmten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen und den in sie eingebundenen Individuen als interdependente Dynamik zu begreifen. Soziale Figurationen, wie Elias sie versteht, sind keine starren Strukturen, die den Platz des Einzelnen determinieren würden, sondern ein bewegliches, wandelbares soziales Netzwerk von Beziehungen zwischen Akteurinnen und Akteuren, die gleichwohl Regulierungen unterliegen. »Das Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen.«10 Figurationen stellen sich also in der Interaktion performativ her. Das höfische Zeremoniell etwa, auch wenn seine Regeln verfestigt und kodifiziert sind, muss ausgeübt und erfüllt, muss verkörpert werden, um seinen Zweck zur Stabilisierung und Repräsentation der höfischen Hierarchie zu erfüllen, deren Spitze vom Körper des Königs, oder seltener dem der Königin, eingenommen wird. Dieser königliche Körper aber vereinigt in sich, folgt man der einflussreichen These von Ernst Kantorowicz11, zwei Körper, den menschlichen, leiblichen und sterblichen Körper mit dem unsterblichen Herrschaftskörper, dem nach jüngeren Revisionen der wegweisenden, vor allem staatspolitisch ausgerichteten Schrift Kantorowicz’ unter Berücksichtigung einer sakralen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen 6 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, ungekürzte Ausg. n. d. 2. Aufl., Frankfurt. a. M. 1986, S. 99. 7 Ebd. 8 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper«, in: dies., Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 291-435, hier S. 292. 9 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, 8. Auflage Frankfurt a. M. 1997 u. ders., Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 22. Auflage Frankfurt a. M. 1998. 10 Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 70. 11 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl. München 1994 (zuerst 1957). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 4 Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp Konzeption des Königtums als dritter Körper der heilige Körper hinzuzufügen ist.12 Die Aufgabe höfischer Kunst, vor allem des höfischen Porträts, ist es in der Regel die Verschmelzung genau dieser drei Aspekte im Bild des Herrschers oder der Herrscherin zur Anschauung zu bringen. Räumliche Ordnungen, Architekturen und Bilder sind auf vielfältige und differenzierte Art und Weise an der Herstellung und Bekräftigung gesellschaftlicher und politischer Figurationen beteiligt. Bilder sind jedoch nicht auf ihre Funktion zur Repräsentation und Stabilisierung von Herrschaft beizutragen beschränkt, sie haben unter Umständen auch das Potential, Herrschaft in Frage zu stellen und zu unterminieren. Die Metaphorik vom Kollektivkörper hat eine lange und vielfältige Geschichte.13 Sie weist in die Antike zurück; zahlreiche antike Soziallehren haben Verbindungen und Analogien zwischen der Körperlichkeit und sozialen oder staatlichen Formationen gezogen. In christlicher Vorstellung verbindet sich mit dem corpus christi die der civitas dei. Schon bei Paulus heißt es: »Wie nämlich der Leib nur einer ist, jedoch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber trotz ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus. Denn in einem Geiste sind auch wir alle zu einem Leib getauft worden.«14 Diese imaginäre Einheit des Kollektivs der Gläubigen stellte sich in der Kommunion her. Zur körperschaftlichen Doktrin wurde, wie Ernst Kantorowicz feststellt, die Kirche zu Beginn des 14. Jahrhunderts durch Papst Bonifatius VIII. erhoben, der die Glaubensverpflichtung aussprach, »an eine heilige Kirche, katholisch und auch apostolisch zu glauben […], die einen mystischen Leib darstellt, dessen Haupt Christus ist, und das Haupt Christi ist Gott.«15 Die Körpermetaphorik blieb auch im Mittelalter nicht dem Kollektiv der Gläubigen im mystischen Leib der Kirche vorbehalten, sondern politisierte sich seit karolingischer Zeit.16 »Die christliche Vorstellung von der Glaubensgemeinschaft als ›kollektivem Körper‹ sollte zunächst auf den Apparat der Kirche und dann auf den säkularen Staat übertragen werden […].«17 Der König kann nun als Kopf des »body politic« 12 Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009. 13 Zum Zusammenhang von individuellen Körpern zum Staatskörper vgl. Rainer Guldin, Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin, Würzburg 1999. Siehe auch Silvia Sasse und Stefanie Wenner (Hgg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002. 14 1 Korinther 12, 12. 15 Zitiert nach Kantorowicz (wie Anm. 11), S. 209. 16 Ebd. Kap. V, »Königtum und Verfassung. Corpus mysticum«, S. 208-282; Jacques Le Goff, »Head or Heart? The Political Use of Body Metaphors in the Middle Ages«, in: Michael Feher (Hg.), Fragments for a History of the Human Body, Teil III, New York 1989, S. 13-26. 17 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper und seine Säfte«, in: Sasse u. Wenner (wie Anm. 13), S. 103-115; siehe auch dies., »Der christliche Kollektivkörper und seine ›Sleeper‹«, in: Christina von Braun, Wilhelm Gräb u. Johannes Zachhuber (Hgg.), Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin, Münster 2007, S. 171-193. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Einleitung 5 erscheinen, wie es in einem Dekret Heinrichs VIII. von England aus dem Jahr 1542 formuliert wurde.18 Das symbolische Verhältnis zwischen Landesrepräsentation und Körpermetaphorik ist auf komplexe Weise mit den realen Körpern der Einzelnen verbunden.19 Schon im Mittelalter konnten symbolische Exklusionen mit physisch spürbaren Konsequenzen verbunden sein oder auf diese verweisen, kulminierend in Pogromen, aber auch in spezifischen geschlechtlichen, religiösen oder (proto-)rassistischen Machtverhältnissen, welche Körperwahrnehmung, -ausdruck und -gestaltung mitformierten.20 Ab dem 17. Jahrhundert verdichteten und intensivierten sich die Beziehungen zwischen Staat und Individuum zunehmend. Nicht zuletzt die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten wurde und wird durch Vorstellungen vom Kollektivkörper wesentlich mitgeprägt.21 »Die Spezifik des Kollektivkörpers«, so Silvia Sasse und Stefanie Wenner, »im Unterschied zur Masse oder Meute (Canetti, Deleuze) ist vor allem in der Korrelation von Ordnung und Transgression, von Regelhaftigkeit und -verstoß, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Zusammenhalts begründet. Es scheint im Kollektivkörper verdoppelt, was die Frage nach dem Körper selbst schon offen lässt: das Ineinander von gemeinschaftlich imaginärer und symbolischer Figurierung und körperlicher Teilhabe im Konflikt von Abgrenzung, Verbindung, Regulierung oder Exotopie.«22 Mit der organischen Metaphorik ziehen Vorstellungen von natürlicher Einheit und Ganzheit, wie solche von Krankheit und Verletzlichkeit und zieht vor allem auch die Kategorie Geschlecht, ziehen sexualisierte und vergeschlechtlichte Semantiken in den Diskurs des Politischen ein. Alle Beiträge in diesem Band gehen davon aus, dass Bilder als ihrerseits gestaltete Artefakte in politischen Figurationen diese nicht nur repräsentieren, sondern für ihre Herstellung eine aktive und formative Rolle spielen und ihnen für die Gestaltung konkreter historischer Imaginationen kollektiver Körper, der Gestaltung von Territorien, Nationen, Grenzen und Herrschaft eine brisante Macht zukommt, die dazu beiträgt, dass solche Imaginationen in historischen Realitäten Fuß fassen konnten. Gefragt wird vor allem danach, welche Rolle das Geschlecht als Gegenstand 18 Bredekamp (wie Anm. 3), S. 80, Anm. 166. 19 »Der medial bedingte Kollektivkörper prägt das Individuum bis in den Leib, die Psyche, die Gefühlswelt hinein.« von Braun (wie Anm. 17), S. 333. 20 Zum Verhältnis zwischen christlicher Transsubstantiationslehre und einem sich als körperliche Realisierung des nationalen wie rassistischen Imaginären begreifenden Kollektivkörpers vgl. ebd. 21 Mit Thomas Frank u. a. lassen sich folgende drei Dimensionen des Körperschaftsbegriffes unterscheiden: »[D]ie bildliche Selbstrepräsentation einer sozialen Gruppe, das Verhältnis der Einzelkörper zur Körperschaft und die Frage, wer das Gemeinwesen verkörpert«. Frank, Koschorke, Lüdemann u. Matla Mazza (wie Anm. 5) S. 12. 22 Sasse u. Wenner (wie Anm. 13), S. 11. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 6 Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp gestalterischer Strategien wie als ihr Medium darin spielte. Zur Debatte gestellt wird, wie und mit welchen Konsequenzen für Individuen und Kollektive sich visuell kommunizierte Geschlechterbilder auf Regime des Regierens auswirkten. Die Beiträge dieses Bandes sind auf zwei Problemfelder der Figurationen des Politischen in der Frühen Neuzeit konzentriert: Die Verhandlung und Bedeutung des Geschlechts in der visuellen Inszenierung des Herrschaftskörpers und die Imagination und Repräsentation des Kollektivkörpers in der, in der Regel als weiblich konzipierten, Allegorie. Im Zentrum des Beitrags von Claudia Bruns stehen anthropomorphe Europakarten an der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance. Europa nahm auf kartographischen Darstellungen der Frühen Neuzeit erstmals die Kontur einer Person an, sodass ein grundlegend neuer und eigenständiger Bildtypus entstand. Karten, die Europa nun in Form einer Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen zeigten, entwickelten neben den maßstäblichen Ptolemäuskarten rasch große Beliebtheit. In dieser neuartigen Visualisierung des Kontinents verbanden sich, so die These, geographische, geschlechtliche und ethnische Grenzziehungsprozesse paradigmatisch miteinander. Silke Förschler fragt in ihrer Untersuchung der zwischen 1664 und 1666 gemalten Erdteilallegorien Jan von Kessels danach, wie die bildliche Relation von Körpern, Dingen und Raum die Vorstellung von kollektiver Identität und Geschichte prägt und wie die Kategorie Geschlecht in Kessels komplexen Bildanordnungen und -kompilationen von Motiven aus religiösen wie naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, in deren Zentrum die Allegorien der vier Erdteile stehen, als Ordnungsstruktur wirkt. Der Aufsatz legt die Darstellungsvielfalt verschiedener Realitätsebenen im Bild dar, deren Bezüge das Ineinander kollektiver europäischer frühneuzeitlicher Ordnungen vor der Folie anderer Kontinente abbilden. Bettina Brandt untersucht die Politisierung von Darstellungen des weiblichen Körpers im Kontext der erstarkenden Nation am Beispiel der Germania. Dabei geht es ihr darum, den Bogen zu spannen von einer bereits in der Frühen Neuzeit mit Attributen wie Mütterlichkeit beladenen Germania hin zu ihrer Beanspruchung durch den deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert. Im Fokus ihrer Untersuchungen steht die Frage nach der Funktion der Germania in Hinblick auf die Bildung eines nationalen Kollektivkörpers im Spannungsfeld zwischen Moralisierung und Sexualisierung. Die Infragestellung von herrschaftlicher Macht durch sexualisierte Bilder steht im Zentrum des Beitrags von Bettina Uppenkamp, der sich mit der Bildpolitik im Umkreis des Hofes von Heinrich III. von Frankreich beschäftigt. Henri III. war wegen seines exzessiven Interesses an Kleidern und Schmuck, https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Einleitung 7 seinem effeminierten Habitus und einer, nach Auffassung seiner Gegner erotisch motivierten Günstlingspolitik, Zielscheibe zahlreicher Polemiken, die sich vor allem an seiner jenseits einer eindeutigen Evidenz ausgeübten Geschlechterperformanz entzündeten und in ihrer teilweise faszinierten Abscheu vor allem Aufschluss über die Grenzen liefern, die der König mit seinem manieristischen Gestaltungswillen überschritt. Der Beitrag nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem in der deutschsprachigen Forschung bisher wenig beachteten satirischem Text, der 1605 nach dem Tod Heinrich III. erschienen, unter dem Titel L’Isle des Hermaphrodites bekannt geworden ist. Veronica Biermann analysiert das Repräsentationsdilemma, welches der unbeherrschte Körper und das Geschlecht der Königen Christina von Schweden aufgeworfen haben. Christinas vivacité, ihre raumgreifende Motorik, lebhafte Mimik, ungezügelte Unruhe und überbordende Lebhaftigkeit waren notorisch, ein Habitus, mit dem sie kontinuierlich gegen das weibliche decorum verstieß. Ausgangpunkt der Analyse ist der von Gian Lorenzo Bernini für die Königin entworfene allegorische Spiegel, mit dem er ein Bild in dem Medium entworfen hat, welches im 17. Jahrhundert als einziges in der Lage war, auch Bewegung zu reflektieren. Ilaria Hoppes Beitrag zur visuellen Repräsentation in Zeremoniell und Bild am Hofe der Medici schließt kritisch an die Überlegungen Ernst Kantorowicz’ zu den zwei Körpern des Königs an und zeigt am Beispiel einer habsburgischen Regentin am Hofe der Medici zu Beginn des 17. Jahrhunderts wie dort ein weiblicher Herrschaftskörper inszeniert wurde. Ganz im Gegensatz zum englischen Könighaus und auch anders als in Frankreich ist in der Staatstheorie der Habsburger die Scheidung der Herrschaftskörper nie vollzogen worden. Seit dem Mittelalter begründete sich ihre Politik stets über den heiligen, von Gottes Gnaden eingesetzten Monarchen, genauso wie der Monarchin. Architektur, Bildkünste und Zeremoniell dienten dazu, dieses Konzept, das gerade auf die Einheit von Religion und Politik insistierte, medial durchzusetzen. Die Beiträge gehen zurück auf einen Workshop des Basisprojektes Gender und Gestaltung im Rahmen des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor, der im Mai 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattgefunden hat. Die Herausgeberinnen danken allen, die an dem Workshop und am Zustandekommen dieser Publikation mitgewirkt haben, sehr herzlich für die Überlassung ihrer Manuskripte vor allem den Autorinnen, namentlich aber auch Bettina Bock von Wülfingen für die Organisation und Abwicklung der Finanzierung aus den Mittels des Cluster und ein sehr herzlicher Dank geht an Monika Beck, die das Projekt für die Zeitsprünge mit großer Geduld betreut hat. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Claudia Bruns Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen Neuzeit Mit dem Ausgreifen auf die bis dahin unbekannten Teile der Erde und dem aufkommenden Humanismus veränderte sich das Verständnis von Europa grundlegend.1 Raum war nicht länger einer heilsgeschichtlich-zyklischen Zeitstruktur unterworfen. Vielmehr erlaubte das neue Raumverständnis der Renaissance eine stärker lineare und visuelle Konzeption von Bewegung und Zeit.2 Zugleich entstand ein neues Interesse an dem aus der Antike überlieferten Wissen. Die Verbreitung der ptolemäischen Werke im lateinischsprachigen Europa (nach der Eroberung Konstantinopels) verlieh den mathematischen Methoden der Kartographie, insbesondere denen der Projektion, einen enormen Aufschwung.3 Physisch-geographische Grenzen wurden nun mithilfe neuer Instrumente technisch vermessen.4 In Hafenstädten wie Antwerpen, Lissabon oder Genua wurden Ende des 15. Jahrhunderts erstmals Erdgloben gefertigt und professionell vermarktet.5 Auftrag- und Geldgeber der Kartographen, wie Karl V. (1500 – 1558), wollten ihre Macht gespiegelt sehen.6 Ab 1600 entwickelten sich darüber hinaus auch Atlanten und Karten zu weit verbreiteten Gebrauchsmedien mit hohen Auflagen.7 Von Anfang an verband sich das Interesse an neuen Techniken der Kartierung mit neuen Identitätskonstruktionen. Überhaupt gilt die Renaissance als entschei1 Peter Burke, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 2005 [engl. Original 1998], S. 49 f. 2 Yi-Fu Tuan, Segmented worlds and self. Group life and individual consciousness, Minneapolis 1982, S. 114-136; vgl. auch: Frank Lestringant, Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance, Bielefeld 2012, S. 8. 3 Die Entwicklung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts tat ihr übriges zur Verbreitung des neuen Wissens. 4 Wolfgang Schäffner, »Das Ei des Brunelleschi. Projekte, Fiktionen und die Erfindung Europas«, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München 2006, S. 43-58, hier S. 50. 5 Klaus A. Vogel, »›Plus ultra‹? Grenzbewusstsein und Raumwahrnehmung im Prozess der Rezeption der überseeischen Entdeckungen«, in: Guy P. Marchal (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jh.), Zürich 1996, S. 123-133, hier: S. 125. 6 Michael Wintle, »Renaissance maps and the construction of the idea of Europe«, in: Journal of Historical Geography 25, 2 (1999), S. 137-165, hier S. 138. 7 Die in Atlanten abgebildeten Ikonographien fanden somit hohe Verbreitung. Ebd., S. 153. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 10 Claudia Bruns dende Phase für die Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses.8 Weit über die Markierung von Eigentum hinaus verwies die kartographische Grenze immer direkter auf fest umgrenzte kollektive Identitäten. Die »Revolution der Raumwahrnehmung«9 spiegelte sich in den aufkommenden Separatkarten von Europa, die es im Mittelalter kaum gegeben hatte. Der Kontakt mit den kolonialen Anderen veränderte den Blick auf das Eigene und führte zu einer Repräsentation von Europa als einer stärker fixierten Einheit mit linearen Konturen. Europa nahm auf kartographischen Darstellungen der Frühen Neuzeit erstmals die Kontur einer Person an, sodass ein »grundlegend neuer und eigenständiger Bildtypus« entstand.10 Karten, die Europa nun in Form einer Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen zeigten, entwickelten neben den maßstäblichen Ptolemäuskarten rasch große Beliebtheit. Durch diesen Typus der anthropomorphen Europakarte wurde zwischen (kontinentalem) Landeskörper und menschlichem Körper eine enge metaphorische Verbindung hergestellt, die zugleich als Schnittstelle zwischen geographisch-territorialen Grenzziehungsprozessen einerseits und geschlechtlichen, religiösen oder (proto-)rassistischen Differenzkonstruktionen andererseits fungierte.11 Bis heute werden physisch-territoriale Räume im ›bildhaften Symbolsystem‹ der Karte12 zum einen als »Landeskörper« beschrieben, zum anderen repräsentieren Erdteilpersonifikationen nach wie vor bestimmte kollektive Räume allegorisch.13 Selbst in der gegenwärtigen Rhetorik der EU-Verordnungen wird 8 Vgl. John Hale, »The Renaissance Idea of Europe«, in: Soledad García (Hg.), European Identity and the Search for Legitimacy, New York; London 1993, S. 46-63. 9 Vogel (wie Anm. 5), S. 129. 10 Elke Anna Werner, »Triumphierende Europa – Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit«, in: Almut-Barbara Renger u. Roland Alexander Ißler (Hgg.), Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009, S. 241-260, hier: S. 242. 11 Die Geographie hat sich zwar vielfach mit der Semiotik von Karten befasst, diese jedoch selten in Zusammenhang mit Repräsentationen von Körpern gebracht. Valerie Traub, »Mapping the Global Body«, in: Peter Erickson u. Clark Hulse (Hgg.), Early Modern Visual Culture. Representation, Race, and Empire in Renaissance England, Philadelphia 2000, S. 44-98, hier S. 87. 12 Zu Karte und Diagramm als »Bildzeichensystemen« im Gegensatz zu Gemälden oder Fotographien als »Ikon(en)« oder »Bildzeichen« vgl.: Gyula Pápay, »Die Beziehung von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft und Semiotik«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 86-100, hier S. 90. 13 Das Bild-Zeichen selbst ist Grossklaus zufolge bereits dem raumzeitlichen Schema vergleichbar: als »eines Schauplatzes, einer Bühne, auf der Körper, Figuren und Objekte signifikant platziert werden«. Götz Grossklaus, »Bild als Zeichen. Der kultursemiotische Ansatz im Vergleich«, in: Andrew Hemingway u. Markus Buschhaus (Hgg.), Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft. Schwerpunkt: Bildwissenschaft und Visual Culture Studies in der Diskussion, Bd. 10, Göttingen 2008, S. 131-140, hier S. 138. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 11 immer wieder auf die Metapher vom Subjekt zur Beschreibung von politischen Kollektiven zurückgegriffen. Dabei wird der Körper nicht nur symbolisch hervorgebracht.14 Vielmehr ist er mit den ihm zugewiesenen Körpertechniken ein zentraler Ort gesellschaftlicher und politischer Praxis.15 Dass der Körper als ästhetische Konstruktion den Raum des Politischen mitstrukturiert, lässt sich auch daran ablesen, dass »die Vorstellung vom kollektiven Körper und dessen fiktiver Person erfolgreich in operative Rechtsgrößen umgemünzt« wurde und Eingang in juridische Diskurse gefunden hat.16 Der Kulturanthropologin Mary Douglas zufolge steuert »der Körper als soziales Gebilde die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird« und umgekehrt wird »in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest«.17 Zwischen symbolisch-sozialem und physischem Körper finde ein »ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien beider wechselseitig stärken«.18 So erscheint gerade »durch das Bild des ›einen Körpers‹, der durch ›gemeinsame Blutbahnen‹ oder ein ›homogenes Nervensystem‹ zusammengehalten wird, [...] der soziale Körper [als] unteilbar«, wie Christina von Braun bemerkt.19 Die Vorstellung vom Kollektivkörper geht in ihrer Wirkung also über eine rein metaphorische Funktion hinaus, indem sie materielle und institutionelle Effekte generiert.20 Im Folgenden soll der Typus der anthropomorphen Europakarte genauer untersucht und herausgearbeitet werden, wie sich am Beginn der Frühen 14 Philipp Sarasin, »›Mapping the body‹. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹«, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 100-121, hier S. 115. 15 Marcel Mauss, »Die Techniken des Körpers«, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1989, S. 199-220. 16 Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel de Matala Mazza, »Vorwort«, in: dies. (Hgg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-14, hier S. 11. 17 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, ungekürzte Ausg. n. d. 2. Aufl. v. 1973, Frankfurt a. M. 1986, S. 99. 18 Ebd. 19 Christina von Braun, »Der Kollektivkörper«, in: dies., Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 291-435, hier S. 292. 20 Mit Frank, Koschorke, Lüdemann u. a. lassen sich folgende drei Dimensionen des Körperschaftsbegriffes unterscheiden, »die bildliche Selbstrepräsentation einer sozialen Gruppe, das Verhältnis der Einzelkörper zur Körperschaft und die Frage, wer das Gemeinwesen verkörpert«. Frank et al. (wie Anm. 16), S. 12. Kathleen Biddick, »Genders, bodies, borders. Technologies of the visible«, in: Speculum 68 / 2 (1993), S. 389-418. Zum Begriff des mapping vgl. auch: Rosalyn Diprose u. Robyn Ferrell (Hgg.), Cartographies. Poststructuralism and the mapping of bodies and spaces, St. Leonards 1991; Sarasin (wie Anm. 14), S. 114 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 12 Claudia Bruns Neuzeit gerade in dieser Kartenform bestimmte neue Repräsentationen des Kollektivkörpers und seiner Grenzen mit Neuordnungen von (ethnisierten) Geschlechtergrenzen verbanden. Mit John Brian Harley lassen sich Karten als mit »Bedeutung aufgeladene Bilder« verstehen, welche als Teil der gesellschaftlich produzierten Wissensdiskurse und Imaginationen untrennbar mit Machtverhältnissen verbunden sind.21 Durch die Art ihrer Zeichen-, Symbol- und Farbwahl tragen sie in ihrer eigenen Bild- und Formsprache dazu bei, Weltwahrnehmung zu strukturieren und eine besondere Form von Evidenz zu erzeugen.22 Karten bringen zwar Bilder räumlicher Ordnung hervor, sind jedoch keineswegs mit objektiven Abbildungen der Welt zu verwechseln, da sie Elemente enthalten, die weder der sichtbaren Welt noch ihren mimetischen Repräsentationsformen entlehnt sind. Dabei ermöglichen auch die neu aufkommenden maßstäblichen Europakarten der Frühen Neuzeit keine objektiveren Zugänge zur Wirklichkeit als etwa mittelalterliche mappae mundi oder die anthropomorphen Europakarten. Selbst die Europakarten der Gegenwart produzieren Wahrheitseffekte, indem sie permanent daran arbeiten, die nationalen wie die äußeren Grenzen Europas als natürlich erscheinen zu lassen. So tragen kartographische Verfahren dazu bei, die europäische Außengrenze gen Afrika zu naturalisieren und zu einer überzeitlichen Gegebenheit zu erheben – etwa durch die symbolische Hervorhebung des Mittelmeers als natürlicher Grenze, die Einzeichnung durchgängiger Grenzlinien oder eine kontrastive Farbgebung zwischen flächig gegeneinander gesetzten Gebieten. Heute als selbstverständlich vorausgesetzte Grenzverläufe wurden jedoch erst allmählich hervorgebracht. So konnte Afrika in der Antike wie auch im Mittelalter durchaus noch als Teil Europas wie auch Asiens gedacht werden. Die Grenzziehungen zwischen den Kontinenten waren keineswegs eindeutig festgelegt und wurden auch bis in die Neuzeit hinein auf Karten nicht durch Linien markiert. Erst mit der kartographischen Darstellung Europas als kolonialer Königin zu Beginn der Frühen Neuzeit markierten die 21 John Brian Harley, »Maps, knowledege, and power«, in: Denis E. Cosgrove u. Stephen Daniels (Hgg.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design, and Use of Past Environments, Cambridge, New York 1988, S. 277-312, hier S. 277; John Brian Harley, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore, London 2001. Vgl. auch Lauren A. Benton, A Search for Sovereignty. Law and Geography in European Empires, 1400 – 1900, Cambridge 2010; Christof Dipper u. Ute Schneider (Hgg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006; Christian Jacob, The Sovereign Map. Theoretical Approaches in Cartography Throughout History, Chicago 2006; Wojciech Iwanczak, Die Kartenmacher. Nürnberg als Zentrum der Kartographie im Zeitalter der Renaissance. Darmstadt 2009 [2005]; Denis Wood, The Power of Maps, New York 1992. 22 Daher unterscheidet Gyula Pápay Karten und Diagramme als »Bildzeichensysteme« auch von Gemälden oder Fotographien als »Ikon(en)« oder »Bildzeichen«. Gyula Pápay, »Die Beziehung von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft und Semiotik«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 86-100, hier S. 90. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 13 linear gezeichneten Körpergrenzen der weiblichen Figur auch die geographischterritorialen Grenzen des Kollektivkörpers Europas – und zwar lange bevor man nationalstaatliche Grenzen linear einzuzeichnen begann. Wie der vorliegende Beitrag zeigt, beglaubigten und bestärkten sich Landesund Körpergrenzen wechselseitig vor allem über das Jungfräulichkeitsmotiv, das zwar die Uneinnehmbarkeit europäischer Grenzen und das gestiegene imperiale Selbstverständnis europäischer Herrscher symbolisierte, aber auch auf koloniale wie vergeschlechtlichte Unterwerfungspraktiken und die steigende (Repräsentations-)Macht des aufstrebenden Dritten Standes (der Abenteurer, Kolonisierer, Bildungsbürger und Kartographen) verwies. In der Europakarte in Form einer Königin spiegelte sich nicht nur europäische Überlegenheit gegenüber anderen Kontinenten, sondern auch der Versuch, sich ›des Weiblichen‹ wie ›des Wilden‹ gestaltend zu bemächtigen. Allein schon die Wahl von weiblichen (und nicht männlichen) allegorischen Figuren zur Darstellung der Kontinente war für die Zeitgenossen keineswegs selbstverständlich und verband sich, wie zu zeigen ist, mit einer neuen Relationsbestimmung zwischen räumlichen, ethnisch-religiösen und geschlechtlichen Grenzziehungsprozessen. I. Die anthropomorphe Europakarte in Frauengestalt Obwohl im Mittelalter wesentliche Grenzziehungen der antiken Geographie für die Kontinente übernommen wurden und auch der Name »Europa« zur Bezeichnung des Kontinents gelegentlich Verwendung fand, ersetzten spätestens ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. neue Erklärungs- und Herleitungsmodelle die antike Repräsentation des Kontinents. Biblische Figuren wie die drei Söhne Noahs23 – oder vereinzelt und in etwas geringerem Maße auch die Heiligen Drei Könige24 – entwickelten sich zu beliebten Personifikationen der Erdteile 23 In der Stiftsbibliothek von Sankt Gallen (Cod. Sang. 236) findet sich eine um 850 gezeichnete Karte mit der Beischrift: »So haben die Söhne Noahs die Erde nach der Sinflut geteilt« (Ecce sic diviserunt terram filii Noe post diluvium). Klaus Herbers, »Europa und seine Grenzen im Mittelalter«, in: ders. u. Nikolas Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich, Berlin 2007, S. 21-42, hier S. 22 f. Eine Bemerkung, die sich auf die Bibelstelle Genesis 9,27 bezieht, welche das Land der Verheißung dem Jüngsten, »Japhet« (oder »Jafeth«), zusprach. Dieser entwickelte sich allmählich zur allegorischen Repräsentation Europas. Rainer A. Müller, »Die Christenheit oder Europa – zum Europa-Begriff im Mittelalter«, in: Reinhard C. Meyer-Walser (Hg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, Grünwald 2009, S. 9-24, hier S. 11. 24 Michael J. Wintle, »The Magi«, in: ders., The Image of Europe. Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages, Cambridge 2009, S. 191-218; Erich Köllmann, Karl-August Wirth, Max Denzler, Art. »Erdteile«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (RDK) 25 Bde., Bd. 5 (1965), Sp. 1107-1202, hier: »Die drei Könige«: Sp. 1113-1132; Hugo Kehrer, Die Heiligen Drei Könige in Literatur und Kunst, Hildesheim, New York 1976 [1908]. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 14 Claudia Bruns und ließen den antiken Europa-Mythos, nach welchem der lusterfüllte Zeus in Gestalt eines Stiers die Prinzessin namens Europa vom phönizischen Strand aus nach Kreta entführte, wo sie drei Söhne gebar, bis zum Spätmittelalter in den Hintergrund treten.25 Dies entsprach dem Bedürfnis, die nunmehr als heidnisch abgelehnten antiken Götterwelten zurückzudrängen und christliche Erklärungsmodelle dagegen zu setzen. Besonders störte sich die christliche Morallehre an Zeus’ lustvoller Verführung der Europa, welche von den Zeitgenossen weniger als ein Zeichen siegreicher Eroberung und Fruchtbarkeit verstanden wurde, sondern vielmehr zum verabscheuungswürdigen Symbol für das »lüsterne Verhalten des obersten Gottes der Heiden« avancierte, das »regelmäßig als Beweis gegen seine Göttlichkeit« verwendet wurde.26 Auch Boccaccio charakterisierte die Jupiterfigur noch 1361 (bzw. 1375) in »De claris mulieribus« als »Gewaltmensch«, der eine »Unschuldige« »vergewaltigt« habe.27 In seinen Spekulationen über die Gründe für die Benennung des Kontinents nach ihrem Namen kam aber schon eine neue, für die Renaissance typische, positivere Bewertung der Europafigur und der Antike insgesamt zum Ausdruck.28 Bemerkenswert ist, dass Boccaccio nicht mehr ausschließlich auf die im Mittelalter so beliebte männliche Genealogie rekurrierte, sondern der Europafigur, abgesehen von ihrer Funktion als »Stammmutter«, auch einen Eigenwert zusprach. Hieß es doch, sie sei eine Frau »von besonderen Gaben«.29 Insgesamt lag er damit im Trend der wieder aufkommenden Rezeption des Motivs des Europa-Mythos, die zwischen Mitte des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts einsetzte.30 25 Vgl. Winfried Bühler, Europa. Ein Überblick über die Zeugnisse des Mythos in der antiken Literatur und Kunst, München 1968; Hans von Geisau, »Europe [I]«, in: Der kleine Pauly. Lexikon. Auf der Grundlage von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 1967, Sp. 446-448. 26 Almut-Barbara Renger, »Nachwort«, in: dies. (Hg.), Mythos Europa, Leipzig 2003, S. 222-244, hier: S. 226. 27 Giovanni Boccaccio, De claris mulieribus. Die großen Frauen [1361 oder 1375]. Lateinisch / deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Irene Erfen und Peter Schmitt, Stuttgart 1995, S. 39 f. 28 Ebd., S. 41. 29 Ebd. 30 Erster lateinischer Autor, der in der Zeit nach Isidor den Raub der Europa durch Jupiter kannte und von dieser auch den Namen des Bosporus herleitete sowie von den Söhnen Agenors, Cadmus und Phoinix, berichtete, war der bedeutende Geschichtsschreiber und Erzbischof Wilhelm von Tyrus (ca. 1130 – 1186), Kanzler des Königreichs Jerusalem. Er kam aus einer betuchten Familie, die Anfang des 12. Jahrhunderts aus Italien oder Frankreich nach Palästina ausgewandert war. Möglicherweise war ihm nicht zuletzt wegen seines Wohnorts in der alten, ehemals phönizischen Stadt Tyros der Europa-Mythos als lokale Überlieferung bekannt. Ihm folgte der englische Chronist und Benediktinermönch Ranulf Higden (ca. 1280 – 1364), der den Mythos im ersten Band seines »Polychronicon« aufgreift. Klaus Oschema, https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 15 Zu Beginn der Frühen Neuzeit kam es schließlich zu einem signifikanten Umschwung von den mittelalterlichen Repräsentationen der Kontinente als biblische Männerfiguren hin zu den aus der Antike bekannten Frauengestalten. Nun wurde nicht nur das Motiv der Europa aus dem antiken Mythos wieder aufgegriffen und positiver besetzt.31 Es setzte sich zugleich eine Neubewertung von Grenzziehungsprozessen durch, welche den Umschwung von der männlichen zur weiblichen Repräsentationsfigur des Kontinents beförderte. Europakarten in Form einer Königin wurden erstmals im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts dargestellt. Sie erschienen als Abbildungen im Rahmen von geographischen Universalgeschichten und Enzyklopädien, aber auch als einzelne Blätter gedruckt, wodurch sie leicht ein größeres Publikum erreichten. Eine der ersten Darstellungen dieser Art war die Zeichnung des Tirolers Johannes Putsch aus dem Jahr 1537. Er war ein Weggefährte von dem am spanischen Hof und in den Niederlanden erzogenen Habsburger Ferdinand I., der zunächst im Schatten seines Bruders Karl V. stand. Dieser hatte nicht nur Spanien 1516 zu den mächtigen habsburgischen Besitzungen hinzugewonnen und regierte es als König, sondern wurde 1520 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Ferdinand stieg ab 1526/27 zum König von Böhmen, Kroatien und Ungarn auf, wurde 1531 – noch zu Lebzeiten seines Bruders – zum römisch-deutschen König gewählt und folgte diesem von 1558 bis 1564 auf dem kaiserlichen Thron nach. (Abb. 1) Die von Christian Wechel in Paris gedruckte Europa-Imago Putschs war Ferdinand gewidmet, dessen Kaisernachfolge zu diesem Zeitpunkt bereits feststand.32 Insofern erstaunt es nicht, dass das gekrönte Haupt dieser Europa-Allegorie in Spanien lag, das Herz jedoch in Böhmen schlug, dessen König Ferdinand war. Der Reichsapfel wurde durch die Insel Sizilien verkörpert, welche Ferdinands Großvater (Ferdinand II.) ab 1479 als König regiert hatte. In der Figur der Königin versammelten sich die Länder Europas zu einem neuen Selbstbildnis in kartographischer Form: Europas Leib schloss alle kontinentalen europäischen Länder bis auf England, Irland, Norwegen und Schweden ein. Die kontinentale Direktverbindung zu Asien schrumpfte zusammen, was die stolze Alleinstellung des europäischen Kontinents nochmals hervorhob. In gewisser Weise kann man die kartographischen Zeichnungen von Opicinus de Canistris (1296 – ca. 1352) aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts als »Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation«, in: Heinz Durchardt (Hg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd. 2, München 2001, S. 191-235, hier S. 203 f.; Wilhelm von Tyrus, Chronicon, hg. v. R. B. C. Huygens, Turnhout 1986, 2,7 u. 13,1. 31 Wie die zahlreichen Ovid-Handschriften und Kommentare belegen, war die Rezeption antiker Mythen dennoch im Spätmittelalter ebenso beliebt wie umstritten. Oschema (wie Anm 30), S. 204. 32 Michael J. Wintle, The Image of Europe (wie Anm. 24), S. 247. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 16 Claudia Bruns Abb. 1: Johannes Putsch, »Europa prima pars terrae in forma virginis« [1537], erschienen in: Heinrich Bünting, Itinerarium sacrae scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift, 1592 [erstmals Helmstadt 1582] Vorläufer für die personifizierenden Kartenwerke des 16. Jahrhunderts ansehen – auch wenn diese keine direkten Nachahmer fanden und das Werk eines verschrobenen, wenn nicht psychotischen Einzelgängers blieben: Ihn selbst beflügelte die Auseinandersetzung mit seinem kranken Körper dazu, großformatige, symbolisch hoch aufgeladene und schwer zu dechiffrierende Bleistiftzeichnungen anzufertigen, auf denen die Kontinente erstmals anthropomorphisiert dargestellt waren (vgl. Abb. 2).33 Mal erschien Europa in seinen Zeichnungen als Frau, mal als Mann. Im Gegensatz zu den kartographischen Europa-Darstellungen des ausgehenden 16. 33 Die Zeichnungen werden heute in der Vatikanischen Bibliothek (Palatinus 1993 and Vaticanus 6435) aufbewahrt. Eine Sammlung von Faksimile-Abdrücken findet sich in: Richard G. Salomon (Hg.), Opicinus de Canistris. Weltbild und Bekenntnisse eines avignonesischen Klerikers des 14. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von A. Heimann und R. Krautheimer, Bd. 2, Wien 1936; Richard G. Salomon, »A Newly Discovered Manuscript of Opicinus de Canistris«, in: Journal of the Warburg and Cortauld Institutes 16 (1953), S. 45-57. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 17 Abb. 2: Opicinus de Canistris (14. Jhdt.): Figürliche Zeichnung des Mittelmeerraums [Afrika als Mann, Europa als Frau]; Bildquelle: Cod. Vat. Lat. 6435 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 18 Claudia Bruns Jahrhunderts war auf Opicinus’ Skizzen auch Afrika noch als eigenständige Person zu erkennen. Die Beziehung zwischen Europa und Afrika setzte er bisweilen als Verhältnis ins Bild, in welchem um Zu- und Abneigung, um Dominanz und Unterordnung, möglicherweise auch um Vergewaltigung und ihre Abwehr gerungen wurde (die afrikanische Figur wird mit phallisch ausgestrecktem Zeigefinger gezeigt, Abb. 2), womit er seinen dunklen Visionen Ausdruck verlieh und nicht zuletzt auf das konflikthafte Verhältnis zwischen Christentum und Islam über den Rückgriff auf sexualisierte Bilder anspielte. Im Gegensatz zu Opicinus’ wechselnden Zuordnungen der Geschlechter zu den Kontinenten sollte sich im 16. Jahrhundert die Darstellung Europas als Frau auf den anthropomorphen Karten durchsetzen, welche nun überwiegend allein gezeigt wurde. Wenige Jahre nach der Verbreitung von Putschs anthropomorpher Europakarte wurde Matthias Quads Kölner Kupferstich von Europa (vgl. Abb. 3) erstellt, der ein Jahr später in vereinfachter Form in Sebastian Münsters wegweisender Baseler »Kosmographie« (Cosmographia universalis) erschien (vgl. Abb. 4). Während Münster im Begleittext noch auf die biblische Abstammung der Söhne Noahs verweist, nach welcher Jafet nicht nur ein Teil Europas, sondern auch Afrika zugesprochen wurde34, bringt das kartographische Bild die Verbindung zu Afrika nicht mehr zum Ausdruck. Vielmehr werden die Differenzen zwischen den Kontinenten betont. Europa sei »ein trefflich fruchtbar landt« mit einer »natürlichen te[m]perierten lufft«, wodurch es sich von der »grosse[n] Hitz« Afrikas unterscheide.35 Die verschiedenen Flüsse unterstreichen die Körpermetaphorik der Figur, weil sie wie Adern eines menschlichen corpus den Landschaftskörper durchziehen.36 Statt Jerusalem ins Zentrum zu setzen – wie es die mittelalterlichen mappae mundi machten –, war nun Böhmen durch einen runden Waldsaum hervorgehoben und wurde etwas oberhalb des Nabels, mehr auf der Höhe des Herzens der Person platziert. Die Vorstellung vom Herzen als dem Sitz der Sinne und der Seele verbreitete sich mit der verstärkten Aristotelesrezeption ab dem 13. Jahrhundert, welche die Idee einer Hierarchie der verschiedenen Körperteile stützte, auch wenn sie von 34 Sebastian Münster, »Europa«, in: ders., Cosmographia. Beschreibung aller Länder, Basel 1545. 35 Wolfgang Schmale, »Europa – die weibliche Form«, in: L’homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 11 (2000), S. 211-233, hier S. 228. 36 Vgl. die Interpretation der kartographischen Zeichnungen, die zur Illustration von Michael Draytons (1563 – 1631) topographischem Gedicht »Poly-Olbion« über England und Schottland von William Hole erstellt wurden und Teile der Landschaft männlich und weiblich personifizieren: Kenneth Olwig, »Gendering the body landscape«, in: ders., Landscape, Nature, and the Body Politic. From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002, S. 126-128. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 19 Abb. 3: Matthias Quad, »Europae Descriptio«, Köln 1587, Kupferstich, Regensburg, Staatl. Bibliothek 2° Hist. Pol. 620 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 20 Claudia Bruns Abb. 4: Sebastian Münster: »Europa als Königin«, in: ders., Cosmographia universalis, Basel 1588 (1. Aufl. 1544/ 45) https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 21 einer komplizierten Debatte um den Vorrang zwischen Herz oder Kopf sowie zwischen Körper und Seele begleitet wurde.37 Die unteren Körperregionen der Europafigur bildeten die Grenze zu Asien, das somit abgewertet wurde. Über die Kombination von Körper- und Königinnenmetaphorik entstand im Medium geographischer Information der Eindruck einer harmonischen, starken und natürlichen Ganzheit, welche sich entweder auf Europa als Kontinent beziehen konnte oder – in propagandistischer Absicht – auf eine supranationale Macht innerhalb Europas.38 Entsprechend des einen (christlichen) Leibes mit den vielen Gliedern und wie rund sechzig Jahre später im Leviathan, der Staatstheorie von Thomas Hobbes aus dem Jahr 165139, die vielen Körper der Einzelnen ihren Willen an den Souverän abgeben und in dessen mächtiger Gestalt aufgehen, formen sich die Konturen der Kaiserin aus den zum Meer gelegenen Grenzen der europäischen Länder. Wie schon bei Putsch so bilden auch bei Quad und Münster Spanien und Portugal den Kopf Europas mit einer Krone, die das Band »Hispania« ziert. Schließlich war Spanien zu diesem Zeitpunkt die mächtigste aufstrebende Kolonialmacht Europas. Bei ihnen formen Gallien und die Alpen den Brustbereich, der rechte Arm wird durch Italien verkörpert, der linke durch »Saxonia«, der Rumpf von »Germania« und Ungarn, die unteren Extremitäten konturieren Griechenland, Bulgarien und Russland. Über das Zepter ist England eng mit Europa verbunden, ein Hinweis auf die Allianz zwischen Karl V. und Heinrich VIII., die in späteren Darstellungen angesichts der Spannungen zwischen beiden Mächten wieder unterbrochen wird.40 Das Herz der Königin Europa liegt auch hier jeweils in Böhmen. Die Gesichtszüge der holzgeschnittenen Europa wiesen aus Sicht der Zeitgenossen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Portrait Isabella von Portugals, der Gemahlin Karls V. auf, wie es auf Medaillen überliefert wurde.41 37 Michael Camille, »The Image and the Self. Unwriting Late Medieval Bodies«, in: Sarah Kay u. Miri Rubin (Hgg.), Framing Medieval Bodies, Manchester, New York 1994, S. 62-99, hier S. 70. 38 Wintle (wie Anm. 32), S. 249. 39 Für Bredekamp ist die Bildpanegyrik der englischen Königin Elisabeth, die im Folgenden im Zusammenhang mit den anthropomorphen Europakarten interpretiert wird, Vorbild für die Darstellung des »Staats-Riesen« im Frontispiz von Hobbes Leviathan, nicht jedoch die anthropomorphe Europakarte. Horst Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder (1651-2001), Berlin 2006 [1999], S. 76. 40 Wintle (wie Anm. 24), S. 249. 41 Insofern verweist die Darstellung auch auf politische Bestrebungen, die auf eine Erneuerung von Karls Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zielten. Franz Adrian Dreier, »Ein politischer Traum«, in: Barbara Mundt (Hg.), Die Verführung der Europa, Berlin 1988, S. 181-186, hier S. 185 f.; vgl. zur Diskussion der Hinweise auf Gesichtszüge der Infantin Isabella Clara Eugenia der Europa-Imago auch: Schmale (wie Anm. 35), S. 225. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 22 Claudia Bruns Derartige Europakarten in Frauengestalt fanden zahlreiche Nachahmer und verbreiteten sich bald im gesamten Heiligen Römischen Reich wie auch in Dänemark, Schweden und England42, was zu der Frage führt, warum in der Renaissance eine weibliche Figur mit derartigem Erfolg zur Personifikation des Kontinents aufsteigen und damit ihre männlichen Vorgänger nachhaltig ablösen konnte.43 Dabei diente die Figur Europa nicht nur der Begründung des kontinentalen Namens, sondern verlieh den Landesgrenzen auch die Kontur ihres Körpers. II. Der Wechsel zur weiblichen Repräsentation des Kontinents Anders als an der Wende zur Frühen Neuzeit hatte das christliche Mittelalter männliche Figuren zur Personifikation der Erdteile herangezogen. Während der antike Europa-Mythos eine Paargeschichte zwischen Zeus und Europa erzählte, in der es um Eroberung, sexuelle Vereinigung und die Zeugung leiblicher Nachkommen geht, standen im Mittelalter männliche Erdteilallegorien im Vordergrund: Allen voran die Söhne Noahs und später auch die Heiligen Drei Könige. Sie repräsentieren zwar ebenfalls genealogische Reihen, diese wurden jedoch nicht aus einem Paar, sondern von einem Stammvater abgeleitet. Die antike Figur der weiblichen Europa verschwand für Jahrhunderte aus der kulturellen Wahrnehmung. Wie konnte es zu Beginn der Frühen Neuzeit zu einem derartig fundamentalen Umschwung in der allegorischen Repräsentation der Kontinente hin zur weiblichen Repräsentation kommen? Es scheint auf der Hand zu liegen und wird zumeist zur Erklärung herangezogen, dass vor allem der Aufschwung der AntikeRezeption seit dem 13. Jahrhundert die Rezeption des Europa-Mythos beflügelte und dabei auch die Idee von Europa als weiblicher Figur wieder belebte. Bereits die Römer schufen hoheitsvolle Frauenfiguren mit landestypischen Attributen, um unterworfene Provinzen zu verkörpern.44 42 Ebd., S. 224. 43 Diese Frage nach der Bedeutung der weiblichen Europa-Imago ist in der Forschung von Wintle aufgeworfen und von Schmale weiter bearbeitet worden. Während erster die Frage vor allem mit dem neuen hegemonialen Selbstverständnis Europas als Folge von kolonialen Othering-Prozessen beantwortet und auf die Herrschaftseffekte der Königinnendarstellung eingeht, weist Schmale auf die Gleichzeitigkeit von machtvoller Repräsentation und der Konnotationen mit weiblicher Fremdheit hin. Was diese Ambivalenzen bedeuten und wie sich der Wechsel von männlichen zu weiblichen Repräsentationen erklären lässt, bleibt offen. Schmale (wie Anm. 35); Wintle (wie Anm. 6). 44 In die weibliche Personifikation schrieb sich bereits damals eine gewisse Ambivalenz ein: Zwar sollte sie Macht und Herrschaft der Römer demonstrieren, doch veranschaulichte sie die römische Hegemonie vor allem über die Analogie, die die Zeitgenossen zwischen unterworfe- https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 23 Doch nicht nur der Aufschwung der Antike-Rezeption spielte für Aufkommen und Verbreitung der Europakarten in Frauenform eine Rolle. Wichtig war auch, dass der Mensch mit seiner Leiblichkeit und seinem geschlechtlichen Körper in den Fokus der Aufmerksamkeit der Humanist/innen rückte. Erst dies ermöglichte es, sich auf Frauenfiguren als Repräsentantinnen des Landeskörpers zu beziehen. Im Laufe des 14. Jahrhunderts entwickelte sich der entblößte menschliche Leib zu einem Objekt der Betrachtung und metaphorischen Projektion.45 Menschliche Körper und Landeskörper wurden im selben historischen Moment zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Vermessung. Während erste anatomische Studien an Frauenkörpern vorgenommen wurden46, beflügelte die Annexion überseeischer Territorien die Herausbildung neuer topographischer Vermessungs- und Darstellungstechniken. Die dabei entwickelten und zum Einsatz kommenden technischen Instrumente richteten sich gleichermaßen auf menschliche wie auf territoriale Körper. Mit der veränderten Haltung zur Leiblichkeit ging auch ein unterschiedliches Verhältnis der Geschlechter zur Repräsentation von Grenze einher: Während männliche Figuren im Mittelalter eher für die Aufhebung von Grenzen standen oder mit der Fähigkeit ihrer Transzendenz assoziiert wurden, verkörperten Frauen eher Grenzziehungen und Begrenzungen. Die ihnen zugeschriebene Leiblichkeit reduzierte sie auf Signifikanten der Endlich- und Körperlichkeit, der irdischen Begrenztheit, auch wenn ihnen in unterschiedlicher Intensität die Fähigkeit zugesprochen wurde, eine Position der Liminalität, der Vermittlung und des Schwellenraums einzunehmen, der positiv (Maria) wie auch negativ (Eva) besetzt sein konnte. Die topographischen Verortungen von Frauenfiguren auf der Ebstorfer Weltkarte zeigen diese als liminale Wesen, die nicht nur in ihrer Möglichkeit zur Vollkommenheit zu gelangen, begrenzt waren, sondern oft in Grenz- und Übergangssituationen platziert wurden. Der Einsatz männlicher Allegorien war hingegen dadurch motiviert, dass den mittelalterlichen Zeitgenossen vor allem an einer Durchlässigkeit oder Aufhebung der Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits gelegen war, welche vorzugsweise vom Mann repräsentiert werden konnten. Die dem Weiblichen zugeordnete Leiblichkeit war zwar auch Teil zeitgenössischer Männlichkeitskonstruktionen, diese konnten jedoch darüber hinaus beide Teile der Zeugung, eros und logos, Materie und deren Transzendenz, civitas terrena und civitas Dei miteinander verbinden. nen »Barbaren« und unterworfenen Frauen zu ziehen wussten. Kaiser Hadrian ließ im 2. Jahrhundert zahlreiche seiner Münzen mit den weiblichen Sinnbildern der kolonisierten Gebiete in Afrika und Asien schmücken. Diesen Aspekt macht Wintle stark. Wintle (wie Anm. 6). 45 Camille (wie Anm. 37), S. 66. 46 Vgl. Jonathan Sawday, The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture, London, New York 1995; Hartmut Böhme, Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, Gießen 2012. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 24 Claudia Bruns D. h., durch den Einsatz männlicher Allegorien wurden die Geschlechtergrenzen und damit Grenzziehungen an sich weniger hervorgehoben als durch weibliche. Grenzziehungen hatten im Mittelalter den Beigeschmack des Sündhaften. Wenn also einerseits die Einheit der von Gott geschaffenen oikumene, andererseits deren Überwindung dargestellt werden sollte, eignete sich die männliche Figur besonders gut. Während dem Mittelalter mehr daran gelegen war, Grenzen zu überwinden und die Übergänge zum Raum des Transzendenten durch männliche Heiligenfiguren oder gar Christus selbst zu betonen, rückte die Renaissance den Menschen in seiner leiblichen Begrenztheit in den Vordergrund. Dies trug dazu bei, eine Wende zur allegorischen Darstellung Europas durch weibliche Figuren einzuleiten. Anders gesagt: Wo nicht mehr die Fähigkeit zur Transzendenz alles Irdischen, sondern das Irdische selbst und seine Vermessung in den Vordergrund traten, war die unterstellte symbolische Nähe von Frauenfiguren zur Leiblichkeit und irdischen Begrenztheit der Existenz kein Hinderungsgrund mehr für ihre Darstellung als Personifikationen des Kontinents. Die Funktion von Frauenfiguren, Grenzen zu repräsentieren, gewann durch das neue ebenso wissenschaftliche wie machtpolitische Interesse an Beobachtung, Vermessung und Grenzziehungen vielmehr an Gewicht. III. Die anthropomorphe Europakarte: Ambivalenzen weiblicher Machtrepräsentation Auf den ersten Blick war die Europaallegorie in Form einer Königin sicherlich auch für die Zeitgenossen eindrucksvoll. Sie scheint den Glanz und die Stärke des gesamten Kontinents oder eines europäischen Herrscherhauses zu symbolisieren. Und doch stellt sich gerade angesichts der eingeschränkten Regentschaftsrechte adeliger Frauen die Frage, inwiefern eine Frauenfigur einen politischen Körper repräsentieren konnte. Die Unterscheidung zwischen politischem und natürlichem Körper geht auf Ernst Kantorowicz zurück, der im Anschluss an englische Juristen des 16. Jahrhunderts grundlegend unterschied zwischen einem natürlichen, sterblichen (body natural) und dem ewigen, unsterblichen Körper des Königs (body politic). Der politische Körper galt den englischen Juristen als der umfassendere und weitere. Ihm wurden göttliche Kräfte zugesprochen.47 Der als schwach empfundene natürliche Körper konnte gar durch den politischen »hinweggezogen« und durch die Kraft der Königswürde »überwältigt« werden.48 Zugleich bot dieses Konzept die Möglichkeit, den König als natürlichen Körper 47 Zit. n. Ernst Hartwig Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1994 [1957], S. 32. 48 Ebd., S. 33. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 25 zu töten, ohne das Prinzip des ewigen Königtums zu gefährden – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr parlamentarischer Kontrolle gegenüber der Krone.49 Es fragt sich, ob die kartographisch mit Europa identifizierte Herrscherinnenfigur in der Wahrnehmung der Zeitgenossen dazu fähig war, den politischen und nicht nur den natürlichen Körper zu repräsentieren. Welche Grenzen waren Frauen(figuren) gesetzt, um politische Macht zu verkörpern? Um sich der historischen Bedeutung und zeitgenössischen Wahrnehmung der Karte zu nähern, soll sie im Kontext zeitgenössischer Diskurse und Bildproduktionen analysiert werden. Europas jungfräuliche Außengrenzen: Maria zwischen Königin, Jungfrau und Mutter In den anthropomorphen Karten wurde Europa nicht nur als Figur der antiken Mythologie dargestellt, sondern – im Anschluss an mittelalterliche allegorische Deutungen der Europafabel50 – mit Attributen der Marienfigur aus der christlichen Ikonographie verbunden. Seinen bildlichen Ausdruck fand die Marienassoziation etwa in der Präsentation als mütterliche Schirmherrin, deren Mantel sich über den Kontinent ausbreitet und diesen harmonisch eint; wurde doch die christliche Madonna ikonographisch oft mit Schirm- und Schutzmantel dargestellt, welcher im Laufe der Zeit zum königlichen Kleidungsstück umgedeutet wurde.51 49 Vgl. die Überlegungen von Regina Schulte, in: Regina Schulte, »Der Körper der Königin – konzeptionelle Annäherungen«, in: dies. (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt, Frankfurt a. M. 2002, S. 9-26, hier S. 13. 50 Diese hatte auch ihre Vorgeschichte in den christlich-allegorischen Deutungen des Europa-Mythos, nach welchen die Prinzessin Europa eine verirrte Seele sei, die durch Christus (in der Figur des Stier-Zeus’) zu Gott finde. So heißt es in der Auslegung der Europafabel durch den Kleriker Pierre Bersuire im Jahr 1342: »Diese Jungfrau Europa versinnbildlicht die Seele […] Jupiter ist der Sohn Gottes, der sich, um die Seele zu retten, in einen Stier verwandelte, was bedeutet, dass er körperliche Gestalt annahm.« Zit. n. Christiane Wiebel, »Mythos als Medium. Zur unterschiedlichen Deutbarkeit früher Europa-Darstellungen«, in: Siegfried Salzmann (Hg.), Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der Industriellen Revolution, Bremen 1988, S. 38-55, hier S. 39. Die Verbindung von antikem Europa-Mythos mit der christlichen Heilsgeschichte in den mittelalterlichen Ovid-Bearbeitungen ist eine der zentralen Referenzen für die Verflechtung antiker und christlicher Elemente, welche für die Selbstdeutung Europas zentral werden sollte. Roland Alexander Ißler, Metamorphosen des »Raubs der Europa«. Der Mythos in der französischen Lyrik vom frühen 14. bis zum späten 19. Jahrhundert, Bonn 2006, S. 20. 51 Bredekamp (wie Anm. 39), S. 81. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 26 Claudia Bruns Noch zentraler als die Anspielung auf Marias schützende Mütterlichkeit war für die Zeitgenossen die Zuschreibung von Virginität, die zugleich ihre Heiligkeit und Verbindung zum Göttlichen begründete. Durch die Inscriptio »Europa prima pars terrae in forma virginis«, die sich oberhalb der Karte vom protestantischen Pfarrer Heinrich Bünting von 1589 findet (Abb. 5), wurde Europas neu empfundene Vorrangstellung unter den Erdteilen explizit mit Marias Jungfräulichkeit in Verbindung gebracht.52 Das Ideal der Virginität verwies unmittelbar auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Körpergrenzen und im Rahmen der kartographischen Darstellung damit auch auf die der Landesgrenzen Europas. Dennoch führt es zu der Frage, inwiefern das Konzept der Jungfräulichkeit selbst zu einem Teil des Politischen wurde, indem es Königinnen über den natürlichen Körper hinaus zu einem politischen Körper verhelfen konnte. Während Ines Stahlmann die These vertritt, dass das Virginitätsideal Frauen seit der Spätantike die Möglichkeit bot, Affektkontrolle zu beweisen und damit eine eher Männern zugeschriebene Fähigkeit zu zeigen, die zu ihrer Aufwertung dienen konnte, betont Ingrid Kasten am Beispiel der Legendenliteratur, dass das Virginitätsideal »in der religiösen Ordnung des Mittelalters [...] einerseits als Modus der Kontrolle über das Leiblich-Weibliche und andererseits als Modus der Vergewisserung männlicher Omnipotenz« fungierte.53 Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen unterschiedlichen Positionen für die Deutung der frühneuzeitlichen anthropomorphen Europakarte? Das Beispiel der englischen Königin Elisabeth I. (1533 – 1603) aus dem Hause der Tudors vermag diesen Zusammenhang zu erhellen, weil sie sich selbst das Image einer Virgin Queen gab, das dazu beitrug, ihre Regentschaft zu stabilisieren. Um 1592, etwa zeitgleich zu den anthropomorphen Europadarstellungen, entstand das berühmte Ditchley-Portrait von Königin Elisabeth, das Marcus Gheeraerts dem Jüngeren zugeschrieben wird (vgl. Abb. 6). Das Ditchley-Portrait zeigt die Regentin in Ganzkörperdarstellung auf einem Weltglobus stehend, prachtvoll und aufwändig, in Jungfräulichkeit signalisierendem Weiß gekleidet. Ihr Körper ragt zu großen Teilen über die Erde hinaus in den Himmel, was ihre Verbindung zum Göttlichen nahe legt. Ihr breit ausladender Rock schwebt über dem nach dem Atlas von Saxton dargestellten Raum Englands, dessen Grafschaften in farbigen Flächen gegeneinander abgegrenzt werden. 52 Vgl. Schmale (wie Anm. 35), S. 222 f. 53 Ingrid Kasten, »Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers«, in: Ingrid Bennewitz u. Ingrid Kasten (Hgg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur, Münster 2002, S. 199-219, hier S. 204; Ines Stahlmann, »Jenseits der Weiblichkeit. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des frühchristlichen Askeseideals«, in: Christiane Eifert, Angelika Epple, Martina Kessel, Marlies Michaelis, Claudia Nowak, Katharina Schicke, Dorothea Weltecke (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1996, S. 51-75. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 27 Abb. 5: Heinrich Bünting, »Europa prima pars terrae informa virginis«, in: ders., Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift, Magdeburg 1589 [erstmals Helmstadt 1582], Holzschnitt, 27,5 x 36, Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek Wien Ihr Körper wird jedoch nicht – anders als auf den zeitgleich entstehenden anthropomorphen Europakarten – als mit dem Landeskörper identisch ausgestellt. Vielmehr weist sich das Herrscherinnenbildnis gerade nicht durch eine Gleichsetzung von Frauen- und Landeskörper aus, wie von Roy Strong nahe gelegt54, sondern demonstriert Elisabeths Erhabenheit über alles Irdische. Dieser Eindruck wird durch weitere Bild- und Textelemente unterstrichen: Das nur fragmentarisch erhaltene, auf einer Tafel rechts im Bildhintergrund zu lesende Sonett beginnt mit den Worten »The prince of light«: Ein Titel, mit dem Elisabeth offenbar auf das Selbstverständnis absoluter Könige zurück griff, galt doch die Sonne mit ihren Strahlen als männliches Symbol, dem man die 54 So heißt es bei Strong: »Queen, crown and island become one. Elizabeth is England, woman and kingdom are interchangeable.« Roy C. Strong, Gloriana. The Portraits of Queen Elizabeth I., London 1987, S. 136. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 28 Claudia Bruns Abb. 6: Marcus Gheeraerts d. J. (ca. 1592): Elisabeth I., »Ditchley« Portrait, Canvas, 241,3 x 152,4, 95 x 60; Bildquelle: National Portrait Gallery, London, Nr. 2561 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 29 Fähigkeit zusprach, durch Schattenwürfe und Umrissbildungen die weiblich konnotierte Materie gestalten, formen und hervorbringen zu können.55 Indem sich Elisabeth selbst mit der Sonne verglich, stattete sie sich mit einem männlichpolitischen Körper aus. Andererseits griff sie jedoch auch auf zeitgenössische Weiblichkeitsbilder zurück und nutzte diese in ihrem Sinne. So rief ihr weißer Madonnenmantel eine Nähe zur Jungfrau Maria auf, mit deren Namen sie sich auch offiziell schmückte. So war sie bekannt unter den Beinamen »The Virgin Queen«, »The Maiden Queen« oder »Gloriana«.56 Für Elisabeth I. lässt sich also eindrücklich zeigen, dass sie versuchte, sich als Herrscherin mit göttlichem, ewigem Körper auszustatten und das, was an ihren vergänglichen leiblichen Körper erinnerte, möglichst zu verbergen.57 Sie wusste »die zwei Seiten des königlichen Körpers unablässig gegeneinander auszuspielen«.58 Im Gegensatz zur Situation in England fielen die Möglichkeiten für adelige Frauen, eine Regentschaft zu übernehmen auf dem europäischen Festland gänzlich anders aus. Adelige Frauen waren in der Regel nicht als Thronfolgerinnen vorgesehen (Salische Gesetze). Sie durften lediglich stellvertretend einspringen, wenn der natürliche Körper des männlichen Königs noch zu jung, zu schwach, debil oder gebrechlich für die Regierung war.59 In dem Moment, in dem sie an der Seite des königlichen Regenten die Funktion der Ehefrau erfüllten, rückten sie in eine zwar noch immer machtvolle, aber letztlich untergeordnete Position. Die Betonung des königlichen Paares führte meist dazu, dass die Königin den 55 Vgl. grundlegend: Heide Wunder, »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. 56 Vgl. auch John N. King, »Queen Elizabeth I. Representations of the Virgin Queen«, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), S. 30-74. 57 »[...Z]wischen 1563 und 1596 vollzog sich in der Sprache der Gesetzgebung eine subtile Verschiebung von der naturgetreuen Repräsentation des Körpers der jungen Königin – die ›natürliche Repräsentation‹ ihrer ›Person, Gunst und Gnade‹ – hin zu einer idealisierten Darstellung des politischen Körpers der gealterten Königin – ›Ihrer Majestäts Person und Gesicht, diese schöne und großmütige Majestät, mit der Gott sie beschenkt hat‹. [...] Seit den frühen 1590er Jahren dominierte die von Roy Strong so genannte ›Maske der Jugend‹ als offiziell genehmigtes Muster ›Ihrer Majestäts Person und Antlitz‹ die Herstellung der königlichen Bildnisse. [...Typischerweise, C. B.] ruft dieses intime Bild [gemeint sind die Portrait-Miniaturen von Hillard von ca. 1600, C. B.] Elizabeths mystische Jungfräulichkeit auf, indem es sie als junge und strahlende Jungfrau mit entblößtem Busen und offenem, auf die Schultern fallendem Haar darstellt.« Louis Montrose, »Elizabeth hinter dem Spiegel. Die Ein-Bildung der zwei Körper der Königin«, in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin. (wie Anm. 49), S. 67-98, hier: S. 91. 58 Schulte (wie Anm. 49), S. 15. 59 Wunder (wie Anm. 55), S. 205 ff.; Heide Wunder, »Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit«, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 27-54. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 30 Claudia Bruns Part der Verkörperung des sterblichen leiblichen Körpers auf sich zog, während der Leib des Königs neben ihr umso göttlicher erschien.60 Wenn man von den Repräsentationsstrategien Königin Elisabeths auf das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten der kartographischen Europaallegorie schließt, vermochte die Europafigur für den Kontinent durchaus eine Form des übernatürlichen politischen Körpers zu repräsentieren, der über die Figur der Heiligen Jungfrau die natürliche Leiblichkeit der weiblichen Figur transzendieren konnte. Dem Virginitätsideal kam somit eine bedeutende Rolle für die Installation eines politisch machtvollen weiblichen Herrschaftskörpers zu.61 Als Jungfrau besaß die Landesrepräsentation gleichsam heilige Körpergrenzen, deren Unverletzlichkeit zunächst von ihr selbst verbürgt wurde. Mit ihrer sexuellen Unzugänglichkeit offenbarte sie eine Form der Kontrolle der eigenen Lust, welche Frauen in der Regel abgesprochen wurde. Damit bewies die Jungfrau einen höheren Grad an Selbstbeherrschung als andere Frauen. Diese genuin als männlich kodierte Eigenschaft befähigte sie im Selbstverständnis der Zeit in besonderer Weise zur Regierung über andere und zur Kontrolle der Grenzen. Nicht zufällig wurde den ebenso kriegerischen wie jungfräulichen Amazonen in Jehan de Mandevilles Reisebeschreibungen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts die Fähigkeit zu einer besonderen Grenzkontrollfunktion zugesprochen.62 Aus christlicher Perspektive verband sich mit der erotischen Enthaltsamkeit überdies eine besondere Nähe zu Gott, als dessen wahre und einzige Braut sich die Jungfrau verstand. Trotz dieser Möglichkeit, sich über Jungfräulichkeit aufzuwerten, schrieben sich in das Virginitätskonzept bestimmte Abwertungen ein. So lässt sich die Konstruktion einer jungfräulichen Europaallegorie symbolisch auch als männlicher Triumph über die Frau und ihre Sexualität lesen, indem diese keinem Mann der Eigen-, geschweige denn der Fremdgruppe zugänglich sein sollte. Als gemeinsamer Besitz aller europäischen Männer, auf den man symbolisch gemeinsam verzichtete, waren die Körpergrenzen der Jungfrau Europa auch für keinen fremden Mann zugänglich oder durchdringbar. Der gemeinsame Verzicht der europäischen Männer hält über die Gewährung und Gewährleistung der Unverletzlichkeit der jungfräulichen Körpergrenzen einen gewissen patriarcha60 Dies macht Regina Schulte etwa am Beispiel der Ehe Marie Antoinettes deutlich: »Sie, die Fremde, repräsentierte den maroden Körper des Königs des Ancien Régime, solange er als politischer Körper im eigenen Lande noch nicht aufgegeben sein sollte«. Schulte (wie Anm. 49), S. 17. 61 Vgl. Anm. 53. 62 [John Mandeville], The travels of Sir John Mandeville, übersetzt und eingeleitet durch Charles William Reuben Dutton Moseley, London, New York 2005 [1983], S. 165 f.; vgl. dazu: Claudia Bruns, Europas Grenzen seit der Antike: Karten – Körper – Kollektive (Kap. Das Geschlecht der Grenze), Köln u. a. (im Erscheinen). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 31 len Machtanspruch über den Körper der Frau wie auch über den Landeskörper aufrecht. Indem Frauen- und Landeskörper aufeinander verwiesen, war der weiblichen Allegorie geradezu ein Appell zum Grenzschutz inhärent, der auch zur militärischen Verteidigung des Landes mobilisieren konnte. Europas unverletzlicher Körper konnte so als Trophäe eines siegesgewissen Kontinents dienen, der seine Grenzen zu errichten und zu schützen vermochte – bezeichnenderweise zu dem historischen Moment, in dem die Länder der Neuen Welt hemmungslos von europäischen Männern »entjungfert« wurden, um in der Sprache der zeitgenössischen kolonialen Quellen zu bleiben. Als Braut Christi wurde die Europa-Imago besonders dort, wo ihre menschlichen Züge, z. B. als Isabella von Portugal oder Isabella Clara Eugenia, zu erkennen waren63, zur Braut des obersten Regenten Europas, der im aufkommenden Absolutismus damit in die Position Christi aufrückte. Die Profanisierung der religiösen Bedeutung der Heiligen Jungfrau ging einher mit einer Sakralisierung der weltlichen Macht europäischer Regenten oder ihrer Repräsentationen. Somit konnte die Marien-Europafigur – trotz ihrer heiligen Jungfräulichkeit – auch ins Weltliche zurückfallen und auf den irdischen Leib bezogen, als konkrete Frau inszeniert werden: Mit den Zügen der Gemahlin von Karl V. (oder Ferdinands) wird sie zu einer Frau mit natürlichem Leib, die innerhalb einer Paarkonstellation verankert ist. Im Bild der mächtigen Königin ist zugleich auch ihre Ohnmacht präsent. In der weiblichen Allegorie Europas spiegeln sich stolzer Triumph, die Möglichkeiten weiblicher Macht und doch auch eine männliche Hegemonie über das Weibliche. Diese wurde durch das Blickregime, das die Karte evozierte, verstärkt – entwickelte sich doch das Sehen zum privilegierten Medium neuen Erkenntnis- und Machtgewinns. Optik, Anatomie und Geometrie erlebten als Wissenschaften wie als Herrschaftstechniken einen rasanten Aufschwung. »Der Blick war«, wie Christina von Braun bemerkt, »nicht mehr das Tor zur Sünde, sondern er wurde zur definitorischen Macht über die Erscheinung des Anderen«.64 Auch das Geschlechterverhältnis wurde nun zunehmend als Blickverhältnis dargestellt. So nahm der Betrachter der Europa-Karte die Position des männlichen Blickes auf die sich ihm als Landeskörper darbietende Frau ein, welche auch mit der Ehegattin des Herrschers assoziiert wurde. Nicht zuletzt das Wissen um den antiken Mythenstoff legte eine Identifikation des Betrachters der Europa mit dem erobernden obersten Gott (Zeus) nahe. Zeus selbst wurde nicht mehr zu sehen gegeben. Der Körper des Königs rückte durch die Verschiebung der leib63 Zur Diskussion der möglichen Deutungen der Gesichtszüge der Europafigur und der damit verbundenen dynastischen Verbindungen: Schmale (wie Anm. 35), S. 225. 64 Christina von Braun, Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich 2001, S. 27. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 32 Claudia Bruns lichen Repräsentation auf die Frau umso eindrucksvoller in die übernatürlichunsterbliche, beobachtende und (die Natur) formende Subjektposition. Die Grenzen seiner Macht wurden symbolisch an ihren Körper delegiert. Ihre Repräsentation als Königin wertete die weibliche Europa-Imago auf, ihre Jungfräulichkeit konnte ihr das Prestige einer gewissen Selbst- und Lustbeherrschung verschaffen – innerhalb des Königspaares sah sie sich jedoch als (geraubte, vergewaltigte) Gattin abgewertet, wie auch ihre Assoziation mit dem fruchtbaren, paradiesischen Land eine gewisse Unterordnung unter das männliche Prinzip vermittelte. Europas inneres Paradies: Eva oder der weibliche Landschaftskörper Es zeigt sich, dass nicht nur Anspielungen auf Maria in ihrer Eigenschaft als keusche Jungfrau (virgo) für die Interpretation der Karte von Bedeutung waren. Vielmehr tauchen im selben Bild nun auch Anspielungen auf die biblische Eva auf. In den neuen Herrschaftsanspruch Europas65 spielten gleichermaßen Paradies-, Marien- und Fruchtbarkeitsassoziationen hinein.66 Der zuvor überwiegend negativ konnotierten Evafigur wurden nun durchaus positive Qualitäten zugeschrieben, die mit einer Aufwertung der Natur einhergingen. So spielten die Europakarten auf Eva als Repräsentantin des Paradieses vor allem durch die schön gestaltete Landschaft im Inneren des allegorischen Landeskörpers an. Die Karten zeigen etwa die Donau als »paradiesischen Mutterstrom«, womit die Fähigkeit der Europa-Imago zur Prokreation und Fruchtbarkeit betont wurde. Dennoch wurde das Landesinnere weniger als Wildheit denn als schöne, wohlgeordnete Natur dargestellt – unterschieden die Zeitgenossen doch zwischen wilder Natur, welche über die Bibel mit Assoziationen von Wüste verbunden wurde (Jesaja 51,3 u. 41,18-19; Jeremia 25,38) und der schön gestalteten Landschaft im Sinne eines »Garten Eden«. Während das Mittelalter die Göttin der Natur als heroische und aktive Figur allegorisierte, wurde diese während der Renaissance von dem männlichen Monarchen in der Rolle des schöpferischen Prinzips abgelöst und auf die Position eines passiven Landschaftskörpers zurückgeführt.67 »Das männliche Prinzip [...] kam durch die unsichtbare, himmlische Geometrie 65 Europa beschrieb sich nun als »ersten Erdteil«, was sich bis heute in der westlichen Kartographie der Welt sowie in der Rede von »Erster« und »Dritter Welt« spiegelt: »Europe came to be not simply an equal part of the world, but to dominate it, to reach out its powerful tentacles and control the globe. That Eurocentrism has been an essential feature of Western mapping of the world ever since […].« Wintle (wie Anm. 6), S. 139. 66 Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln u. a. 1993, S. 35; Schmale (wie Anm. 35), S. 225. 67 Kenneth Olwig (wie Anm. 36), S. 138 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 33 perspektivischer Linien zum Ausdruck, die die Szenerie penetrierten und ihr eine räumliche Form gaben«, so Kenneth R. Olwig.68 Die weiblich imaginierte europäische Landschaft trat hier somit als von göttlicher Hand Geformte wie auch der männlichen Formung Bedürftige, gleichsam ›Zivilisierte‹ hervor. Erst durch die Einwirkung des formenden Blicks, den Sonnenstrahlen gleich, sollte sie Gestalt annehmen können. So erscheint die Natur der Europaimago den männlich codierten Kräften gärtnerisch-zivilisierender Gestaltung und den Gesetzen von Ästhetik und Geometrie, von welcher man annahm, dass sie nicht nur Harmonie, sondern auch politische Ordnung herstelle69, unterworfen – und ist keineswegs ungebrochen als Figur königlicher Machtfülle oder Repräsentantin der Überlegenheit Europas zu verstehen, als die man sie auf den ersten Blick wahrnehmen würde.70 Mit der Gattinen- und Paradiesassoziation war eine Rückführung des Weiblichen auf das Natürliche verbunden, eine Reduktion auf den sterblichen Körper (body natural), der einer so figurierten Europa – als lustvoller Eva – die Regierungsfähigkeit absprach. Dürers Holzschnitt »Der Zeichner des liegenden Weibes« (ca. 1527) bringt die zeitgenössisch virulente – im wahrsten Sinne des Wortes formierende – Beobachterperspektive gegenüber der Frau in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck (vgl. Abb. 7). Die relativ kleine Illustration, die erstmals in einem Fachbuch über die »Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt« erschien und u. a. die Regeln der Zentralperspektive anschaulich werden lassen wollte, erreichte – nicht zuletzt wegen ihrer voyeuristischen Qualitäten – eine gewisse Berühmtheit (Abb. 7). Im Bild wird ein entblößter Frauenkörper und vor allem die nur mit einem Tuch lose bedeckte Scham der Frau aus einer gewissen Distanz heraus betrachtet und zentralperspektivisch vermessen. Ein offenbar zeichentechnisch versierter Mann fixiert den Körper, der ihm gegenüber auf demselben Tisch liegt, auf dem er seine Zeichnungen macht. Zwischen beiden befindet sich eine Abtrennung in Form eines Fensters mit rektangulärem Gitter, dem sogenannten Albertischen Fenster, durch das hindurch er auf den Frauenkörper sehen kann. Die optischen Gitter, die das Gesehene mit einem Rasterfeld überziehen und die Geräte dienten dazu, den perspektivisch gesehenen dreidimensionalen Raum auf die Fläche zu übertragen. Ein derart voyeuristischer Blick auf den Frauenkörper wäre ohne die Betonung wissenschaftlicher Distanz nicht darstellbar gewesen.71 In 68 Übersetzung durch C. B., Ebd., S. 134. 69 Ebd., S. 144. 70 So die Lesart Wintles: Wintle (wie Anm. 6), S. 137-65. 71 Christina von Braun konstatiert für die Renaissance eine Verschiebung von der Lust hin zur Schaulust. Silke Wenk und Sigrid Schade verweisen auf das Verschwinden des Mannes aus dem Bild. von Braun (wie Anm. 64), S. 216; Silke Wenk u. Sigrid Schade, »Inszenierungen https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 34 Claudia Bruns Abb. 7: Albrecht Dürer (ca. 1527): »Der Zeichner des liegenden Weibes«, in: ders., Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt (auch: Emotivität des Weibes), Holzschnitt, Buchillustration, 7,6 x 21,5 cm; Bildquelle: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett dem Moment, in dem die Kartographie die Längen- und Breitengrade vermaß, wurde auch der Frauenkörper gleichsam einer neuen Kartierung unterworfen. Erst die Alberti-Scheibe und die Rasterung des Sehfelds machten den »Blick in den Schoß der Frau ungefährlich«.72 Sie vermittelten den Anschein von Kontrolle und Beherrschung – nicht zuletzt des eigenen Begehrens. Die Frau wird hier noch einmal explizit unter die ›Auf-Sicht‹ des Mannes gestellt, in dessen Macht es liegt, ihre Körpergrenzen zu bewahren oder – mithilfe der neuen technischen Sehinstrumente, die mit seiner Selbstkontrolle auch seine Naturbeherrschung demonstrieren – zu durchbrechen. Und doch wird bei Dürer auch die männliche Blickperspektive selbst zum Thema gemacht, indem der Gelehrte in seiner Studier- und Experimentierstube als Blickender dargestellt wird, der seinerseits den Blicken des Betrachters/der Betrachterin ausgesetzt ist.73 Auf der anthropomorphen Europakarte werden hingegen die männlichen Blicke auf die Frau nicht selbst zu sehen gegeben, sondern vorausgesetzt. Doch nicht nur die Grenzen Europas, sondern auch die Grenzkonstruktionen der neu ›entdeckten‹ Kontinente wurden entlang der Jungfräulichkeitsmetaphorik diskursiviert und reguliert. Im selben Moment, in dem sich Europa allegorisch des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumod Bussmann, Renate Hof, Elisabeth Bronfen (Hgg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 340-408, hier: S. 383 f. Vgl. auch dazu: Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001. 72 Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien, 2 Bde., Bd. 1, Marburg 2010, S. 39. 73 Ebd. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 35 über die Figur der Jungfräulichkeit zu definieren begann, sollte das ›jungfräuliche Land‹ in der Fremde unterworfen und gebrochen werden. Betrachtet man die Europa-Allegorie im Kontext der kolonialen Diskurse, verschieben und erweitern sich die Dimensionen ihrer Bedeutung und die damit verbundenen Möglichkeiten zeitgenössischer Wahrnehmung. Die Jungfräulichkeit kolonialer Grenzen: Ambivalenzen der ›Eroberung‹ und das Weißwerden Europas Während für Europa zu schützende, undurchdringliche, mit Keuschheit assoziierte Grenzen errichtet wurden, durchbrachen europäische Conquistadores diese in Amerika bewusst. Mit der zu brechenden Jungfräulichkeit wurde gleichermaßen auf das Land angespielt, das mithilfe militärischer Gewalt und neuer Vermessungstechniken annektiert werden sollte, wie auch auf dessen gewaltsam zu erobernde Bewohner/innen. Viele Berichte aus der Neuen Welt beschrieben Massenvergewaltigungen der Bevölkerung durch die Kolonisierer.74 Die Ausübung sexualisierter Gewalt war üblich und entsprach keineswegs dem Bild der Selbstbeherrschung und Kontrolliertheit, das europäische Männer von sich entwarfen. Und doch wurde gerade die Abgrenzung von den vermeintlich ungezügelt lustvollen »Wilden« zu einem wichtigen Moment in der Herausbildung europäischer Identität und zivilisatorischer Überlegenheitsrhetorik. Die Abgrenzung vom gegnerischen Anderen über die vermeintlich bessere Behandlung von Frauen75 legitimierte im Motiv der ›zu rettenden Jungfrau‹ die Ausübung von Gewalt und diente als Ausweis eigener Zivilisiertheit. Die Bildproduktion aus dem kolonialen Kontext verspricht die zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen der kartographischen Europafigur weiter zu differenzieren und deren Funktion als ambivalente Gegenfigur zum ›Wilden‹ – wie auch ihre partielle Identität mit dem ›Fremden‹ – offen zu legen. Mit der berühmten Federzeichnung Jan van der Straets (ca. 1588), die die Ankunft des florentinischen Seefahrers und Nautikers Amerigo Vespuccis (ca. 1441 – 1512) in Amerika zeigt und welche als Kupferstich zirkulierte (Abb. 8), ist die Urszene der kolonialen Grenzüberschreitung, des ersten Kulturkontakts mit den Bewohner/ innen der Neuen Welt paradigmatisch als Begegnung der Geschlechter visualisiert worden. Auch hier wird das Bild einer jungen Frau vorgeführt, die einen Kontinent personifiziert, diesmal jedoch, im kolonialen Setting, ist sie entblößt, 74 Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a. M. 1985 [frz. Orig. 1982], S. 170 f. 75 Louis Montrose, »The Work of Gender in the Discourse of Discovery«, in: Representations 33 (1991), S. 1-41, hier S. 19 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 36 Claudia Bruns Abb. 8: Jan van der Straet, »America«, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um 1590, Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum was – im Gegensatz zur bekleideten Europa – ihre sexuelle Zugänglichkeit signalisiert. Wie in der Europadarstellung wird auch hier die Ambivalenz zwischen männlichem Grenzziehungs- und Grenzüberschreitungsbegehren verhandelt. In der Begegnung mit der ›fremden Frau‹ avanciert diesmal der Nautiker Vespucci zum allegorischen Repräsentanten Europas, der sich des fremden Territoriums wie der nackten Frau gleichermaßen zu bemächtigen versteht. In diesem Bemächtigungs- und Eroberungsprozess, dessen politische Legitimation dadurch verstärkt oder überhaupt erst gegeben ist, dass er in einem sexuellen Verzicht gipfelt, spielt das zur Schau gestellte Blickregime wie auch das Jungfräulichkeitsmotiv erneut eine zentrale Rolle. Doch hat Victoria Schmidt-Linsenhoff jüngst eine alternative Lesart vorgeschlagen.76 Das männliche Subjekt, das in vielen der Amerikaallegorien ähnlich wie in der anthropomorphen Europakarte nicht zu sehen gegeben wurde, sei hier selbst zum Gegenstand der Betrachtung geworden und mache den Blick 76 Schmidt-Linsenhoff (wie Anm. 72), Bd. 1, S. 32. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 37 des Entdeckers zum Thema. Der betrübte Blick auf das im Augenblick der Entdeckung wieder verlorene Paradies führe zu einer melancholischen Selbstreflexion des Verlusts, so Schmidt-Linsenhoff. Somit komme in van der Straets Bild nicht nur die Unterwerfung der Frau, sondern auch eine gewisse Trauer über die Kosten des Fortschritts und den Auszug der Lüste aus dem männlichen Körper zum Ausdruck. Es handele sich gar um eine Selbstproblematisierung der männlichen Moderne. Trotz des Reizes dieser Perspektive, die das Subversive im kolonialen Bild aufsucht, lässt sich nicht übersehen, dass auch die ausgestellte Melancholie des Eroberers zugleich genuiner Teil dessen war, was ihn ermächtigte: Seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und die damit verbundene Distanz zur Lust waren paradigmatische Elemente seiner Macht. Paradoxerweise war es gerade der Diskurs des sexuellen Verzichts, der die Eroberungen und territorialen Annexionen legitimierte. Der symbolisch zur Schau gestellte Respekt vor jungfräulichen Körpergrenzen avancierte zur Voraussetzung politisch legitimer Eroberung, territorialer Grenzüberschreitung und Ermächtigung. In diesem Kontext geriet auch die Melancholie zum integralen Teil der Hegemonieansprüche und fand nicht zuletzt einen Nachhall in Rudyard Kiplings berühmten Kolonial-Gedicht »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) (1899).77 Insofern muss auch der melancholische Verzicht Vespuccis im Kontext der Selbstinszenierung der Männlichkeit des aufstrebenden dritten Standes gelesen werden, welche nicht nur mit den kolonialen Praktiken im Einklang stand, sondern diesen legitimierend zuarbeitete. IV. Von der Repräsentation der Macht zur Macht der Repräsentation Die anthropomorphen Europakarten tauchten nicht zufällig in dem Moment auf, als es zu einem Bruch in der epistemischen Ordnung des Wissens kam. Dieser zeichnete sich durch eine neue Skepsis bezüglich einer (analogen) Abbildbarkeit der Welt aus, an der auch die kolonialen Prozesse ihren Anteil hatten. Denn, was an Eroberungen stattfinden konnte, musste durch Kulturtechniken vermittelt und in die Beherrschbarkeit durch abstrakte Regeln von Schrift und Gesetz wie auch durch Vermessung und kartographische Repräsentationen übersetzt werden. Dieser Prozess ging mit einer Aufwertung der Repräsentation und des Bildes ebenso einher, wie mit einer Ermächtigung der sich neu herausbildenden Gruppe von Händlern, Priestern, Seefahrern und Wissenschaftlern aus dem niedrigen Adel oder Bürgertum. 77 Rudyard Kipling, »The White Man’s Burden«, erstmals in: McClure’s Magazine 12 (1899). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 38 Claudia Bruns Mit der Möglichkeit, den abwesenden Souverän zu vertreten, entstand ein Freiraum nicht nur für extreme Willkür, sondern auch für neue Formen der Subjektivität.78 Zwar zielte das Vorgehen der Kolonisierer zunächst angestrengt darauf, die Macht der Repräsentation mit der Repräsentation der Macht in Übereinstimmung zu bringen – dennoch mischte sich immer »mehr Selbstvertretung in Stellvertretung«.79 Das sich somit als brüchig enthüllende Verhältnis zwischen Zeichen, Referent und Bedeutung schwächte langfristig die monarchische Autorität.80 Damit war einerseits der Nährboden für eine unheilige »Allianz von Ethnozentrismus und Repräsentation« im Sinne Spivaks geschaffen, in welcher Repräsentation zu einer Form von Aneignung gerät.81 Es zeigte sich aber auch, dass die »Repräsentation von Macht [...] durch die Macht der Repräsentation selbst herausgefordert werden« konnte und ein eigenes Widerstandspotential in sich barg (hier zunächst für eine bestimmte privilegierte Gruppe – in der Folge aber auch für die Kolonisierten selbst).82 Nicht zuletzt die Topographie der Karte als einer prominenten neuen Repräsentationsform souveräner Macht »sollte Besitztitel erhärten« und das Erkundete »dem Bild des Eroberers assimilieren«.83 Dadurch erhielten die kartographischen Repräsentationsformen, aber auch die handelnden Repräsentanten vor Ort, die Akteure kolonialer Gewalt, ein neues Gewicht und einen eigenständigen Handlungsraum – so besaß Kolumbus etwa den Titel des Vizekönigs –, und dennoch hatten letztere als Stellvertreter der Macht im Namen des Königs/ der Königin zu agieren. Sie besetzten einen Zwischenraum, der langfristig auch einen neuen politischen Repräsentationsraum eröffnete. In diesem Zwischenraum erfüllten die anthropomorphisierten Europa-Karten eine doppelte Funktion: Sie sollten die gestiegene Macht des europäischen Souveräns verkörpern und die Macht der neuen Akteure über die symbolischen Repräsentationsformen des Herrschers selbst zum Ausdruck bringen. Männer, die den Kontakt zwischen Europa und den Kolonien herstellten, wie Kolumbus, Vespucci und Raleigh, gewannen Macht über Formen der Repräsentation, die zwar den Souverän ehren sollten, in die sie aber auch ihre eigene Macht einzuschreiben begannen. Die Gelehrten in Europa griffen diese Möglichkeit auf 78 Robert Weimann, »Einleitung: Repräsentation und Alterität diesseits/ jenseits der Moderne«, in: ders. (Hg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt a. M. 1997, S. 7-43, hier S. 19. 79 Ebd., S. 20 u. 27. 80 Ebd., S. 29. 81 Gayatri C. Spivak, »Can the Subaltern Speak«, in: Cary Nelson u. Lawrence Grossbery (Hgg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, S. 271-313; Weimann (wie Anm. 78), S. 10. 82 Weimann (wie Anm. 78), S. 33. 83 Ebd., S. 10. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 39 und führten sie fort, sei es in der Absicht, dem Souverän einen ambivalenten Spiegel seiner Macht zu schenken, wie im Fall des Tirolers Johannes Putsch, sei es durch den Entwurf eines universellen, die Grenzen souveräner Macht transzendierenden Ordnungssystems, wie im Fall der Kartenmacher oder im Versuch, religiöse Belehrung mit dem Bild europäischer wie männlicher Souveränität zu verschmelzen. In diesem Prozess spielte die Artikulation von Selbstbeherrschung und sexuellem Verzicht, welche über das kartographisch inszenierte Jungfräulichkeitsmotiv der Europakarte vermittelt wurde, eine zentrale Rolle. Dieses gewann eine politische Funktion, indem es auf eine heimliche Leer-/ Schwachstelle der souveränen Machtrepräsentation verwies, den natürlichen Körper, dem der l’homme de science entsagte. In dem Maße, wie das Konzept der Jungfräulichkeit auf die Überwindung und Abtötung des natürlichen Körpers wie auch auf seine Abstraktion hindeutete, ließ sich dessen Betonung im Rahmen der Europakartographie durch bürgerlich-humanistische Kartenmacher als Chiffre einer stärkeren Kontrolle des Königs lesen und als Hervorhebung ständischer Partizipationswünsche, welche sich gerade im Blick auf den gemeinsam begehrten und durch den gemeinsamen Verzicht hervorgebrachten Frauenkörper konstituieren. Im Spiegel der jungfräulichen Europa-Imago sollte sich die Überwindung des Leiblichen wie die Teilhabe am politischen Körper, auch für die Vertreter des Dritten Standes, imaginativ realisieren. – Freud sollte später die Herausbildung von »höher zivilisierten« Gesellschaftsformen mit dem gemeinschaftlichen Mord am Urvater und dem anschließenden sexuellen Verzicht der Söhne auf die Frauen erklären, womit er die Formierung des exklusiv brüderlichen Zusammenschlusses zur Republik in gewisser Hinsicht treffend erfasste.84 In den Auseinandersetzungen zwischen den aufstrebenden »Söhnen« des Dritten Standes im Kampf gegen den absolutistischen Souverän wurde das Bild des Herrschers endgültig durch das einer weiblichen Allegorie ersetzt, während – oder gerade weil – reale Frauen ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten beraubt wurden. Sie sahen sich auf die Funktion reduziert, die imaginäre Ganzheitlichkeit sowie die höheren Werte und Tugenden des Kollektivs zu repräsentieren85, 84 Dieter Thomä, »Statt einer Einleitung: Stationen einer Geschichte der Vaterlosigkeit von 1700 bis heute«, in: ders. (Hg.), Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Berlin 2010, S. 11-64; vgl. auch: Claudia Bruns, »Kontroversen zwischen Freud, Blüher und Hirschfeld. Zur Pathologisierung und Rassisierung des effeminierten Homosexuellen«, in: Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hgg.), Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen. Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900, Bielefeld 2011, S. 161-183, bes. zu Freud S. 174-177. 85 Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln u. a. 1996, S. 76; vgl. auch Lynn Hunt, The familiy romance of the French Revolution, London 1992, S. 81 ff.: »The presence of the female figure in iconography was not, consequently, a sign of https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 40 Claudia Bruns denen sich das männliche Bürgertum nach dem Sturz des Monarchen nun verschrieb. Aus dem Ditchley-Portrait Elisabeths ging der Leviathan hervor86, in dessen Folge sich die visuelle Ordnung des Politischen aufspaltete in einen unsichtbaren, leiblosen männlich konnotierten Staat und die weibliche Allegorie der überpolitischen Ganzheit. Den frühneuzeitlichen anthropomorphen Europakarten in weiblicher Form kam in diesem Prozess eine Doppelrolle und Vermittlungsfunktion zwischen aufstrebender Bürgerschicht und monarchischer Dynastie zu. Das Bild des Herrscher-Körpers wurde dabei sukzessive durch weibliche Europa- und Nationalallegorien ersetzt, die vor allem von den aufstrebenden bürgerlichen Teilen des Dritten Standes ins Spiel gebracht worden waren. Die weibliche Allegorie erfüllte auf symbolischer Ebene eine Scharnierfunktion zwischen zwei rivalisierenden männlichen Gruppen und zwischen den sich mit diesen Gruppen herausbildenden neuen Repräsentationssystemen – eine Funktion, die als »traffic in women«87 (Gayle Rubin) beschrieben werden kann und hier zugleich die Medialität weiblicher Liminalität unterstreicht. Dabei erfuhr der Akt der Stellvertretung selbst eine Aufwertung und ließ bei aller bildlichen Repräsentation der Macht auch die Macht der Repräsentation samt ihrer Ambivalenzen und modernen Brechungen deutlich werden – und zwar gerade mithilfe des Geschlechterdiskurses im Moment seiner kolonialen Reformulierung. V. Resümee Während das Mittelalter männliche Personifikationen von Europa bevorzugte, kam es zu einem radikalen Umschwung in der Frühen Neuzeit, in der Europa nunmehr durch weibliche Figuren repräsentiert wurde. Die weibliche Form der Karte konnte dabei einerseits auf den Herrschaftsanspruch Europas oder einer besonders ausgreifenden Macht innerhalb Europas, andererseits aber auch auf die der Grenzziehung inhärenten Ambivalenzen selbst verweisen. So stand die Art der hier behandelten Kartographie für einen neuen, räumlich-visuellen und female influence in politics. As Marina Warner has argued for the nineteenth century, the representation of liberty as female worked on a paradoxical premise: women, who did not have the vote and would be ridiculed if they wore the cap of liberty in real life, were chosen to express the ideal of freedom because of their very distance from political liberty. Liberty was figured as female because women were not imagined as political actors.« (hier S. 82 f.); Joan B. Landes, Women in the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca 1988, bes. S. 139 ff. 86 Vgl. Anm. 32. 87 Gayle Rubin, »Der Frauentausch. Zur ›politischen Ökonomie‹ von Geschlecht«, in: Gabriele Dietze u. Sabine Hark (Hgg.), Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie, Königstein im Taunus 2006 [1975], S. 69-122. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 41 wissenschaftlichen Zugang zur Welt, der den Landeskörper als einen der Vermessung zu Unterwerfenden, zu Erforschenden bzw. als gestalteten (Paradies-) Garten präsentierte. In ihrer Identifikation mit dem Landeskörper ließ sich die Europa-Imago als eine Metapher für Naturhaftigkeit lesen, welche mithilfe des wissenschaftlichen Blicks und der Beobachtung erforscht und entschlüsselt, aber auch beherrscht werden sollte.88 Andererseits bildete sich die anthropomorphe Europakarte in Resonanz auf die Unterwerfung außereuropäischer Länder heraus. Der Kollektivkörper des neu ›entdeckten‹ Kontinents wurde ebenfalls als weiblich allegorisiert; diesmal jedoch weniger, um starke Außengrenzen zu repräsentieren, als vielmehr um die Durchbrechung fremder Landes- und Körpergrenzen zu befeuern und zu legitimieren. Kam doch der Figur des zu erobernden weiblichen Anderen im Kolonisierungsprozess eine wichtige naturalisierende Funktion zu, welche allerdings mit dem Selbstbeherrschungsdiskurs in Konflikt geriet. Schließlich verwies die Ambivalenz der anthropomorphen Karte in weiblicher Form zugleich auf die als männlich wahrgenommene Lust der Erkundung und Eroberung in wissenschaftlichem, geschlechtlichem und kolonialem Kontext, wie auch auf die notwendige Bezwingung und gezielte Kontrolle dieser Lust, welche seine Herrschaft über andere legitimierte. Als Symbol europäisch-zivilisatorisch aufgeklärter, »heller« Herrschaft und jungfräulicher (Selbst-)Beherrschtheit markierte die Europafigur der anthropomorphen Europakarten die Grenze zum »dunklen Wilden«, und doch stand sie gleichzeitig als geformter Landschaftskörper und weiblich identifizierte Andere des Mannes für den Vorgang ihrer eigenen Unterwerfung. Das Motiv der Jungfrau vermittelte zwischen beiden Polen. Damit besetzte die kartographische EuropaImago eine Position der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen: Sie war einerseits mächtige Regentin und herausragender abgegrenzter Landeskörper Europas, zugleich jedoch eine dem Souverän unterstellte Gattin, ein von männlicher Hand gestalteter Paradiesgarten, wie auch als heimische Jungfrau ein zu schützender und als jungfräulich-koloniales Land ein zu erobernder (Kollektiv-) Körper. Ihre Erfindung wies nicht zuletzt auf den homosozialen Brüderbund voraus, der sich ab der Französischen Revolution unter dem Mantel der weiblichen Allegorie zusammenfand und sich über den gemeinsamen Verzicht auf ›die Frau‹ kulminierend im Motiv der Selbstbeherrschung und über den Ausschluss realer Frauen von politischer Partizipation konsolidierte. 88 Territoriale Metaphern und topographische Ausdrücke, die Rede von Feldern, Regionen, Bereichen, Gebieten, Dominien usw., suggerieren auch in der Philosophie zugleich mit deren Abgrenzbarkeit ihre Beherrschbarkeit. Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkonzeption und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1995, S. 942. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 42 Claudia Bruns All diese Dimensionen scheinen in der anthropomorphen Repräsentation der Europakarte gleichermaßen auf und konnten je nach Situation aktualisiert werden. Die Ambivalenz zwischen mariengleicher Herrscherin und gewaltsam geraubter, sexuell eroberter Frau, zwischen Heiliger/ Maria/ Regentin und Hure/ Eva/ Wilde ist so in die kartographische und visuell-räumliche Wissensordnung der Zeit eingelassen. Ihre Uneindeutigkeit machte sie an der Schwelle zur Neuzeit zu einer modernen Figuration von Repräsentation und zur paradigmatischen Figur der Grenze. Mit der weiblichen Repräsentation Europas in der Europakarte lässt sich daran erinnern, dass sich Prozesse der gewaltsamen Aneignung des kolonialen Anderen selbst in der zentralsten und mächtigsten Referenzfigur europäischer Identität spiegeln und sich so auch in ihr die Ambivalenz eines Selbstentwurfs zeigt, der seine fundamentale Angewiesenheit auf Andere weder leugnen, noch abstreifen kann. In den Worten Butlers geht es somit darum, »die Formen aufzufinden, in denen die Identifizierung in das verwickelt ist, was sie ausschließt, und darum, den Linien dieser Verwicklung zu folgen um der Landkarte eines zukünftigen Gemeinwesens wegen, die sich dabei abzeichnen könnte«.89 89 Judith Butler, »Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt a. M. 1994, S. 101-138, hier S. 136. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Anthropomorphe Europakarten 43 Abbildungsnachweise Abb. 1: Johannes Putsch, Europa prima pars terrae in forma virginis [1537], erschienen in: Heinrich Bünting, Itinerarium sacrae scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift, 1592 [erstmals Helmstadt 1582] Abb. 2: Opicinus de Canistris, Figürliche Zeichnung des Mittelmeerraums [Afrika als Mann, Europa als Frau], 1337, Cod. Vat. Lat. 6435 Abb. 3: Matthias Quad, Europae Descriptio, Köln 1587, Kupferstich, Regensburg, Staatl. Bibliothek, 20 Hist. Pol. 620 Abb. 4: Sebastian Münster, Europa als Königin, in: ders., Cosmographia universalis, Basel 1588 (1. Aufl. 1544/45) Abb. 5: Heinrich Bünting, Europa prima pars terrae informa virginis, in: ders., Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist ein Reisebuch über die gantze heilige Schrift, Magdeburg 1589 [erstmals Helmstadt 1582], Holzschnitt, 27,5 x 36, Österreichische Nationalbibliothek Wien Abb. 6: Marcus Gheeraerts d. J., Elisabeth I. („Ditchley“ Portrait), ca. 1592, Öl auf Leinw., 241,3 x 152,4 cm, London, National Portrait Gallery, Inv.-Nr. 2561 Abb. 7: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, in: ders., Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt (auch: Emotivität des Weibes), 1538, Holzschnitt, 7,6 x 21,5 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett Abb. 8: Jan van der Straet, America, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um 1590, Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Silke Förschler Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht Jan van Kessels Erdteilallegorien (1664 – 1666) Als Gesamteindruck verwirrt die Bildordnung der vier Erdteilallegorien des Antwerpener Hofmalers Jan van Kessel.1 Jeweils ein großes Öl-auf-KupferGemälde ist von sechzehn kleineren umrahmt, jedes der Gemälde ist wiederum mit einem schwarzen Ebenholzrahmen versehen und mit einem Städtenamen in Goldbuchstaben beschriftet. Nähert man sich den Motiven wird die Einordnung dessen, was hier zu einem Bildgefüge geformt ist, allerdings nicht einfacher. Die Ebenen, die in die Bildfindung Eingang gefunden haben, lassen sich nicht mit einem Blick auseinander halten und für eine schlüssige Interpretation wieder zusammenfügen. So stehen weibliche und männliche Figuren auf den Hauptgemälden inmitten von Gegenständen und Naturalia; auf den jeweils um das zentrale Bild herum arrangierten kleineren Gemälden sind Stadtansichten und Tierdarstellungen zu sehen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese Bilderanordnung zu deuten. Der Fokus ist dabei auf Erscheinungen von »Natur« gerichtet. Mit seinen Rahmungen als ästhetischem Präsentationsverfahren bildet van Kessel eine Sehschule für den Umgang mit lokalen und exotischen Naturalia. Mit Hilfe der verschiedenen Rahmungen differenziert der Künstler in gleichem Maße unterschiedliche Orte von »Natur«, wie er sie auch räumlich vereinheitlicht. Die Allianzen mit weiblichen Erdteilallegorien sowie mit deren Attributen, die eindeutig der Sphäre des Kulturellen zugehörig sind, stabilisieren diese visuellen Praktiken der Naturaneignung. Die mit diesen Praktiken verbundenen Ökonomien des Sammelns werden im Kolonialismus der Folgezeit wesentlich.2 Mit den Allegorien in den zentralen Gemälden, mit ihren geschlechtlichen Markierungen und ihren Verweisen auf ethnische Identität erlangen die Darstellungen von Natur auf den Bildern Kessels körperliches Gewicht. 1 Meine erste Begegnung mit den Gemälden Jan van Kessels verdanke ich Dorothea CoŞkun, die 2004 unter dem Titel ›Theatrum Mundi‹. Die Kunst- und Wunderkammer als Bühne der Kolonialkultur am Beispiel Jan van Kessels Erdteilallegorien im Doktorandinnen-Kolloquium von Viktoria Schmidt-Linsenhoff an der Universität Trier ihre Analysen zu den Erdteilallegorien präsentierte. 2 Vgl. hierzu Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007; Bettina Dietz, »Mobile Objects: The Space of Shells in Eighteenth-Century France«, in: The British Journal for the History of Science 39.3 (2006), S. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 45 Jan van der Straets Bildprägung Die Repräsentation anderer Kontinente hat in dem um 1590 entstehenden Kupferstich des Seefahrers Amerigo Vespucci von Jan van der Straet einen wichtigen Vorläufer (Abb. 1). Auf ihm ist zu sehen, wie Vespucci mit den Insignien der westlichen Zivilisation gewappnet unbekanntes Land betritt. Sein Schiff mit vom Wind geblähten Segeln unmittelbar im Rücken, trifft er nach nur wenigen Schritten auf der terra incognita eine lediglich mit einer Schnur um die Hüfte, Wadenschmuck und einer Federhaube bekleidete Frau in einer akkurat geknüpften Hängematte. Der Entdecker trägt einen Gelehrtenmantel über Harnisch und Schwert, in der linken Hand hält er ein Astrolabium, das ihn leitet, in der rechten einen christlichen Kreuzstab mit aufgeblasener Standarte der katholischen Majestäten von Spanien. Mit einer ähnlichen Geste wie Eva, die im Paradies auf Geheiß der Schlange nach dem Apfel greift, ist die rechte Hand des weiblichen Aktes mit einer offenen Handhaltung Vespucci zugewandt. Die exotische Fauna und Flora, wie beispielsweise ein Ameisenbär mit Klauen im Vordergrund, Koniferen mit thujaähnlichen Zweigen, eine Pflanze, deren Zapfen an die einer Araucaria erinnern, sowie die Legende »America« weisen den weiblichen Akt indessen als Erdteil-Allegorie aus. Im Hintergrund der ungleichen Begegnung zwischen dem Ankömmling und der Einheimischen werden die Risiken und möglichen zukünftigen Geschehnisse der Neuen Welt sichtbar: eine kannibalische Mahlzeit verweist auf die gefahrenvolle Seite des schönen, sich erst einmal einladend gebenden, weiblich imaginierten Erdteils.3 Als Blatt 1 der druckgraphischen Folge von Jan van der Straet mit dem Titel Nova Reperta, die im Antwerpener Verlagshaus von Theodor und Philipp Galle erscheint, eröffnet der Kupferstich America eine Serie mit den technischen Errun- 363-382; Anke te Heesen: »From Natural History Investment to State Service: Collectors and Collections of the Berlin Society of Friends of Nature Research, c. 1800«, in: History of Science 42 (2004), S. 113-131; Staffan Müller-Wille, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné, Berlin 1999; Londa Schiebinger u. Claudia Swan (Hgg.), Colonial Botany: Science, Commerce and Politics in Early Modern World, Philadelphia 2005. 3 Stuart Hall hat darauf hingewiesen, dass gerade in den Berichten Vespuccis ausführlich auf die sexuelle Dimension der Entdeckung, Eroberung und der Beherrschung eingegangen wird. So hebt Vespucci die Naturnähe und die Schamlosigkeit der Einheimischen ebenso hervor wie die Schönheit und die Attraktivität der Frauen, die selbst nach der Schwangerschaft noch bestehen blieben. Vgl. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht« (1992), in: ders., Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 137-179, hier S. 161. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 46 Silke Förschler Abb. 1: Jan van der Straet, America, Blatt 1 aus der Folge Nova Reperta, um 1590, Kupferstich, 20,2 x 26,7 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum genschaften der Neuzeit.4 Weitere neue Entdeckungen wie der Magneteisenstein, das Schießpulver, der Buchdruck, die Brille sowie die Ölfarbe und die Handhabung von Seidenraupen sind auf den folgenden Blättern zu sehen. Dargestellt sind die Innovationen in szenischen Anordnungen, meist in Interieurs wie Werkstätten, Ateliers und Studierzimmern. Der prominent platzierte America-Stich führt vor Augen, welchen Stellenwert dem ›Entdecker und Benenner‹ (retector et denominator) Vespucci zukam. Diese exponierte Positionierung des Blattes und der Vergleich mit den alltagsnahen Innenansichten eines europäischen Lebens stellt die Bedeutung des weiblichen Aktes in seiner Stellvertreterfunktion für einen ganzen Kontinent in ein noch grelleres Licht. Den zur Allegorie geronnenen nackten weiblichen Körper gilt es wie den unbekannten Erdteil zu erforschen. Gleichzeitig zeigt der Stich auch die Wirkmächtigkeit des Bildmusters Akt für die 4 Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, »Jean de Léry hält sich die Augen zu, und Amerigo Vespucci erfindet America«, in: dies., Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert, Band 1, Marburg 2010. S. 28-46. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 47 allegorische Darstellung von Erdteilen. Hierarchien herzustellen und einzuziehen sowie eine vermeintlich klare Trennung herbeizuführen gelingt um 1600 über die Relation von Bekleidung und Nacktheit, von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie über die Konfrontation von Natur und Kultur. Der weibliche Körper avanciert zu einer Möglichkeit historische Ereignisse zu allegorisieren und sie als Teil einer abendländischen Teleologie zu interpretieren. Maike Christadler hat herausgearbeitet, auf welche Arten und Weisen der Stich van der Straets in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ikonischen Interpretations-Paradigma der Postcolonial Studies stilisiert wurde. Das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft, denn es wird deutlich, dass der Stich zwar häufig verwendet wird, das Verständnis für die spezifische Bildlichkeit jedoch nicht sehr umfassend ist.5 Hildegard Frübis stellt den Stich in einen größeren Zusammenhang von Umbruchssituationen in der Frühen Neuzeit. Der Akt, die Natur und der unbekannte Kontinent stellen gleichermaßen das Erobern, das Entdecken und die Inbesitznahme als zentrale Praktiken im kolonialen Diskurs aus.6 Einen weiteren Aspekt eröffnet Viktoria Schmidt-Linsenhoff für die Interpretation des Stiches. Für sie besteht der wesentliche Punkt der America-Bildprägung in der Sichtbarmachung des männlichen Entdeckerblicks. Im Unterschied zu den meisten Erdteilallegorien ist die männliche Besetzung der Blickposition Teil des Bildes und kann derart selbst betrachtet werden.7 Unter Verzicht auf das »europäische Privileg Blick« entstehe interkulturelle Kommunikation. SchmidtLinsenhoff macht dies an einem Holzschnitt deutlich, der im Reisebericht Histoire d’un voyage fait en la terre de Brésil von Jean de Léry aus dem Jahre 1578 zu finden ist. Er zeigt den französischen Kolonisator in der indigenen Hängematte. Wie die vor ihm hockende Tupinamba-Frau hält er sich die Hand vor die Augen. Auch wenn im Hintergrund ein als Akt stilisierter Tupinamba-Krieger seinen Pfeil schärft, wirkt die Geste des gemeinsamen Augenzuhaltens als Begegnung auf Augenhöhe.8 Der Holzschnitt lässt sich im Sinne Mary Louise Pratts als Darstellung einer »Contact Zone« verstehen. Als sozialer Raum an dem zwar Kulturen aufeinandertreffen, an dem es zu wechselseitigen Aneignungs- und Transferprozessen kommt, der jedoch durchzogen ist von Machtasymmetrien, wie beispielsweise Sklaverei und Kolonialismus.9 Die geschlossenen Augen lassen 5 Maike Christadler, »Giovanni Stradanos America-Allegorie als Ikone der Postcolonial Studies«, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Postkolonialismus. Jahrbuch der Guernica Gesellschaft, Bd. 4, Osnabrück 2002, S. 17-33. 6 Hildegard Frübis, Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995. 7 Schmidt-Linsenhoff (wie Anm. 4), S. 32. 8 Vgl. ebd., S. 28-29. 9 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes, Travel Writing and Transculturation, London 1992, S. 6 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 48 Silke Förschler sich so eher als eine nachahmende Kontaktaufnahme lesen, als kleine Irritation eingeübter europäischer Sehgewohnheiten. Eine Aufweichung hierarchischer Blickprivilegien und eine Schwächung bestehender Machtpositionen gehen damit nicht einher. Weltaneignungen Für meine Überlegungen zu den rund hundert Jahre später entstehenden Erdteilallegorien Jan van Kessels sind die auf dem Stich van der Straets eingeführten Beziehungen von geschlechtlich markierten Körpern, von männlicher und weiblicher Positionierung, von Verhaltensweisen sowie von Dingen der Natur und Dingen der Kultur in gleichem Maße grundlegend. Jedoch verlaufen die Aneignungen auf den Gemälden van Kessels anders. Dinge der Natur, also Tiere und Pflanzen, werden nun explizit unter Aspekten der Wissens- und Erkenntnisvermittlung angeordnet. Sie sind damit als Teil der Welterfassung ausgestellt. Die Relation aus Rahmungen und Bildsetzungen ist als dominierendes Verfahren der Motivordnung eine wirkmächtige Form, die jedoch insofern zu Dissonanzen mit dem Inhalt führt, als dass sie irritierend widerstreitende Repräsentationsformen der Kunst und der Naturgeschichte gleichberechtigt ins Bild setzt. Es handelt sich bei den Erdteilallegorien van Kessels um einen seltenen Moment einer Gleichzeitigkeit verschiedener Idealvorstellungen von Naturrepräsentation. Im Sinne Michel Foucaults können sowohl Elemente einer sinnlichen Fülle in der Ästhetik der Natur als auch das Bemühen ausgemacht werden, den Gegenstand von seiner eigenen Ästhetik zu befreien.10 Mit der semantischen Fülle von Geschlechterallegorie, Stillleben, Stadtansichten, Kunst- und Naturalienkammer sowie naturhistorischen Darstellungsweisen in van Kessels Erdteilallegorien geschieht die Skalierung11 einer kolonialen Welt auf eine in der Malerei so umfassende Art und Weise wie nur möglich. Die gewählte Kombination von nicht kohärenten Darstellungsmodi in einem zusammenhängenden Gefüge lässt sich 10 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt am Main 1971, S. 176-179. 11 Der Begriff der Skalierung bietet den Vorteil, anhand von Größenverhältnissen die soziale und kulturelle Gemachtheit von Ordnungen einzelner Orte und Differenzen verschiedener Orte in der Frühen Neuzeit zum Ausdruck bringen zu können. Skalierungen im Bild nachzugehen bedeutet nicht lediglich Perspektiven von Räumlichkeit im Bild auszumachen oder die angeordneten Allegorien und Naturalia nach ihrer Position im Bild zu bewerten. Vielmehr geht es darum, Effekte von Natur-Skalierungen im Bild zu beschreiben und interne Differenzen von Naturvorstellungen auszumachen. Wesentlich sind dabei auch die Grenzziehungen zu anderen bildlichen Skalierungen sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Naturverständnis aus der eingezogenen Größenordnung. Vgl. hierzu Neil Smith, »Contours of a Spatialized Politics«, in: Social Text 33 (1992), S. 54-81, hier S. 66. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 49 nicht in das dominante Narrativ zur Allegorie einordnen, das besagt, dass die Körperlichkeit der Allegorie jede noch so große Kluft zwischen Form und Inhalt überbrücken kann.12 Trotzdem bringen die Körper der dargestellten Figuren eine unmittelbare Präsenz in die diffuse Raumordnung und markieren Differenzen in den kollektiven Vorstellungswelten. Europa und America auf Cesare Ripas Sinnbildern Die Erdteil-Gemälde entstehen zwischen 1664 und 1666 und befinden sich heute in der Alten Pinakothek in München, sie umfassen insgesamt 68 Einzelkompositionen, gruppiert um die Hauptgemälde Europa, Asien, Afrika und Amerika (Abb. 2 und 3).13 Im Zentrum dieser Gemälde stehen Allegorien, deren Bedeutungsapparat in einer Mischform von Innen- und Außenraum-Ansichten dargeboten wird.14 Die Mitteltafel, die jeweils auf dem Rahmen den Namen der wichtigsten Stadt des Kontinents trägt, ist umgeben von 16 kleinen Tafeln mit Silhouetten bedeutender Städte, die wiederum auf den einzelnen Rahmen benannt sind. Im Vordergrund befinden sich landestypische Tiere15 – Vierbeiner, 12 Vgl. Cornelia Logemann, Miriam Oesterreich u. Julia Rüthemann (Hgg.), Körper-Ästhetiken. Allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip, Bielefeld 2013; Manuel de Vega (Hg.), Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition, Oxford 2008; Insa Härtel u. Sigrid Schade (Hg.), Körper und Repräsentation, Opladen 2002; Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln, Weimar, Wien 1996; Sigrid Schade, Monika Wagner u. Sigrid Weigel (Hgg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln 1994. 13 Klaus Ertz u. Christa Nitze-Ertz, Jan van Kessel. Kritische Kataloge der Gemälde (Flämische Maler im Umkreis der Großen Meiser, Bd. 8), Lingen 2012, S. 162 f. argumentieren, dass die vier Bilder nicht nacheinander, so ist die Europa auf 1664 datiert und die Amerika auf 1666, sondern zeitgleich entstanden sind, denn einige Rückseiten tragen flüchtige Pinselzeichnungen von Tieren, die sich auch auf den Schauseiten befinden, jedoch nicht für die entsprechende Vorderseite, sondern für andere Täfelchen, häufig auch für solche der anderen Kontinente. Einige Städte sind falschen Kontinenten zugeordnet (zu Asien: Athen, Angola, Kap der Guten Hoffnung; zu Afrika: Kap St. Augustin in Brasilien). Die Bilder befinden sich noch in ihren originalen schwarzen Ebenholzrahmen, eine spätere Vergoldung wurde 1966 entfernt. Jede Kupfertafel ist für sich gerahmt und trägt vorn auf der oberen Leiste den jeweiligen Städtenamen in, wie es scheint, gleicher Handschrift wie die Beschriftung auf der Rückseite. Zu den Funktionen und Formen der Verso Tierzeichnungen vgl. Nadia Baadj, »Sketches of Simians and Savages on the Versos of Jan van Kessel’s Copper Plates«, in: Boletin del Museo del Prado, XXX, 48 (2012), S. 72-83. 14 Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 40. 15 Als formalen Vorläufer lässt sich Joris Hoefnagels Cadiz-Ansicht von 1575/82 nennen. Auch hier liegen im Vordergrund Muscheln. Weitere Vorläufers sind die Ende des 16. Jahrhunderts entstandenen und auch im 17. Jahrhundert verbreiteten Kupferstiche von Adriaen Collaert, die ebenfalls Erdteilallegorien in Verbindung mit Tieren vor einem Landschaftsgrund zeigen, von denen Van Kessel einige kopiert hat. Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz, ebd. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 50 Silke Förschler Abb. 2 und 2a (unten): Jan van Kessel, Vier Erdteile, Europa, 1664 – 1666, Öl auf Kupfer, Mitteltafel 48,5 x 67,5 cm, Außentafeln jeweils ca. 14,5 x 21 cm, München, Alte Pinakothek; unten: Ausschnitt https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht Abb. 3 und 3a (unten): Jan van Kessel, Vier Erdteile, America, 1664 – 1666, Öl auf Kupfer, Mitteltafel 48,5 x 67,5 cm, Außentafeln jeweils ca. 14,5 x 21 cm, München, Alte Pinakothek; unten: Ausschnitt https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 51 52 Silke Förschler Vögel, Fische. Die vier bis dahin bekannten Erdteile gehören zu den beliebtesten Motiven für Bilderzyklen im 16. und 17. Jahrhundert und waren häufig Bestandteil dekorativer Raumprogramme. In der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts waren sie als graphische Folgen verbreitet. Europa leitet stets den Zyklus ein und wird – meist mit Krone, Globus oder Reichsapfel ausgestattet – als der wichtigste Kontinent hervorgehoben. Ripa publiziert um 1600 seine Iconologia, ab der dritten Auflage 1603 mit illustrierenden Holzschnitten. Es handelt sich dabei um ein alphabetisch geordnetes Kompendium abendländischer Bildlektionen mit Personifikationen sowie mit strikten Gestaltungsanweisungen für die Umsetzungen von abstrakten Begriffen.16 Der Aufbau der Darstellungen erfolgt nach einem Muster, eine menschliche Figur wird im Zentrum dargestellt: unbekleidet oder bekleidet, mit Gegenständen, Pflanzen oder Tieren, eher passiv oder recht aktiv. Die Iconologia enthält nach Ripa Sinnbilder für Dinge, die man nicht sehen, sondern nur wissen kann.17 Die Begriffsbilder beschäftigen sich gleichermaßen mit Handlungen, Gewohnheiten und Eigenschaften sowie Wertvorstellungen. Aus der Verbindung von menschlichen Figuren, ihren Ausdrucksmöglichkeiten und Gegenständen, die äquivalent zu den Begriffsdefinitionen sind und so zu Attributen werden können, entsteht ein Sinnbild. Die Disposition der Figur setzt die Komposition einer Haltung, einzelner Gesten und der Kleidung voraus, außerdem sollen Farbe, Fülle und Alter auf den darzustellenden Begriff abgestimmt werden.18 Ripas Ziel besteht darin, die Betrachtenden des Bildes zum Nachdenken darüber zu bringen, warum der Begriff gerade auf diese Weise dargestellt wurde.19 Bei den geografischen Stichwörtern werden die vier Erdteile und die Provinzen Italiens illustriert, sie bilden eine einheitliche Gruppe, Europa unterscheidet sich allerdings deutlich von den anderen. Sie ist als Herrscherin im Königsgewand und mit Krone zu sehen, der Tempietto auf ihrer rechten Handfläche steht für die Religion. Einheitlich werden die übrigen Erdteile durch einen charakteristischen Bewohner und ein bezeichnendes Tier dargestellt (Abb. 4 und 5). Die wenig bekleidete America trägt einen Federschmuck auf dem Kopf und hat Pfeil und Bogen in der Hand, 16 Vgl. Miriam Oesterreich u. Julia Rüthemann, »Einleitung«, in: Logeman u. a. (wie Anm. 12), S. 35. 17 »Una diuersa cosa da qualla, che si vede con l’occhio.« Erste Seite des Vorworts der »Iconologia«, n. p. 18 Ebd., dritte und vierte Seite. 19 »E mi par cosa da osseruarsi il sottoscrivere i nomi ... perche senza l cognitione del nome non si può penetrare alla cognitione della cosa significata, se non sono Imagini triuiali ...« Ebd., achte Seite. Vgl. hierzu Gerlind Werner, Ripa’s Iconologia. Quellen – Methode – Ziele, Utrecht 1977, S. 7-15 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 53 Abb. 4: Cesare Ripa, Europa, Iconologia, Ausgabe Padua 1618 zwischen ihren Füßen liegt ein von einem Pfeil durchbohrter Menschenkopf, hinter ihr ist ein Ligur platziert.20 20 Die Holzschnitte der anderen Allegorien zeigen folgende Zuordnungen: Asia trägt ein juwelengeschmücktes Kleid mit einem Kamel, Africa als kaum bekleidete, dunkelhäutige Figur mit Korallenschmuck, wird von einem Löwen, einer Schlange, einem Skorpion begleitet und trägt einen Elefantenkopf auf dem Haupt. Nur Africa wird visuell die Ehre zuteil, mit antiken Attributen ausgestattet zu sein, das Füllhorn mit Getreide ist schon auf antiken Medaillen zu sehen. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 54 Silke Förschler Abb. 5: Cesare Ripa, America, Iconologia, Ausgabe Padua 1618 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 55 Topologien der Erdteilallegorien Anordnungen der männlichen und weiblichen Figurationen, der Dinge und der Tiere im Bild(raum) können als Ausdruck einer topologischen Relation21 verstanden werden, die Aussagen über die Topografie von Erdteilen im 17. Jahrhundert formulieren. Wie in der Iconologia von Ripa angelegt, zeichnen sich die weiblichen Personifikationen der Erdteile van Kessels dadurch aus, dass sie Abstraktes anhand ihrer körperlichen Präsenz erfahrbar machen. Miriam Österreich und Julia Rüthmann bezeichnen in ihrer Einleitung des Bandes Körperästhetiken allegorische Körper als signifikante Zeichen, die über kodifizierte Verweissysteme an bestimmte Bedeutungen gebunden sind, gerade ohne dass Bildform und Inhalt über äußere Ähnlichkeit korrespondieren müssen. Das Allegorische soll in der Lage sein, über die reine Zeichenebene Semantiken miteinander so zu verbinden, dass die Verbindung selbst unsichtbar wird. Wie Silke Wenk dargelegt hat, wird mit dem Bild nicht nur auf ein Abstraktum, sondern mit dem weiblichen Köper auch stets auf das Signifikat Weiblichkeit selbst verwiesen und lässt so nicht nur Rückschlüsse auf die gesellschaftlich anerkannte Konzeption von Weiblichkeit zu, sondern formt diese auch immer wieder mit.22 Van Kessels Erdteilkammern Van Kessel stellt auf den Mitteltafeln eine weibliche Personifikation jeweils mit männlichem Begleiter dar. Ihre Attribute entsprechen weitgehend den graphischen Vorbildern sowie auch den Beschreibungen Ripas. Jedoch erweitert Kessel die von Ripa eingeführte Konzeption der Personifikation durch die unterschied- 21 Der Begriff der Topologie wird geleitet von den Ansätzen der topografischen und topologischen Beschreibung, die Sigrid Weigel und Stephan Günzel in die Debatte um den Spatial Turn eingebracht haben. Mit der Betonung des »Grafischen« in der Topografie stellt Weigel die Lesbarkeit kultureller Zeichen für die Konstruktion von Raum sowie Zuschreibungsprozesse an Raumkonstellationen in den Fokus. Günzel ergänzt die topografischen Fragestellungen um topologische Aspekte. Für den Autor zeichnen sich diese dadurch aus, dass eine topologische Beschreibung Verhältnisse fasst, die auch unter veränderten Bedingungen gleich bleiben. Im Vordergrund stehen bei Günzel die Relationen von Körpern und Objekten zum Raum und die Frage nach der Art dieser Beziehung. Sigrid Weigel, »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetic. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), Heft 2, S. 151-165; Stephan Günzel, »Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döring u. Tristan Thielmann (Hgg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 219-237. 22 Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln 1996, S. 6-7. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 56 Silke Förschler lichen Raumordnungen im Bild und die verschiedenen Darstellungsweisen der Dinge. Die umgebenden phantastischen Räume sind nach Art einer Kunst- und Wunderkammer mit kostbarem Kunsthandwerk, mit wissenschaftlichen Geräten und exotischen Naturalien gefüllt; zudem gibt es Landschaften und Stadtansichten.23 Ebenso vielfältig sind die Darstellungsweisen von Bildern unterschiedlicher Genres, von Materialien, von Architektur, Skulptur, Zeichnung und Malerei. Doch welche Register werden im Detail in den Erdteilallegorien Europa und America aufgerufen? Welche Dinge werden gezeigt und wie lässt sich die Relation zwischen Rahmungen, Gender und Naturalia beschreiben? Europa Der Rahmen der Mitteltafel Europa trägt die Inschrift »ROMA«, womit die Allegorie in der Hauptstadt der Christenheit verortet ist. Zudem fällt der Blick durch den Bogen links auf die Engelsburg, das Mausoleum des römischen Kaisers Hadrian und Schutzburg der Päpste; davor ist die Statue des Herkules Farnese als weiterer Hinweis auf die römische Antike zu erkennen.24 Der Verkörperung des Erdteils Europa, einer gekrönten Frauengestalt in einem Brokatkleid und hermelingeschmückter Bluse, wird von einem Putto ein Füllhorn gereicht.25 In unmittelbarer Nähe zu ihr sind Insignien päpstlicher Macht auf einem Tisch ausgebreitet, die Tiara, die Schlüssel Petri und eine Bulle Papst Alexanders VII. Am Tisch lehnen Degen, Papstkreuz und eine Hellebarde. Macht und Herrschaft der Europa sind über Dinge zum Ausdruck gebracht, deren Gebrauchszusammenhang eindeutig männlich codiert ist. Teil dieses Bedeutungsgefüges ist auch das Porträt von Alexander VII. Neben dem christlich religiösen Kontext wird über die Darstellung von Dingen auch die Verbindung zu den Künsten und einem alltäglichen Lebenszusammenhang eröffnet: Im Vordergrund liegen Palette, Malstock und Flöte aufgereiht inmitten von Gegenständen des erlese23 Als Vorläufer im Œuvre van Kassels sind die 40 Städtelandschaften von 1643 – 1644 zu nennen. Sie befinden sich heute im Museo del Prado, Madrid. Sie sind jeweils einzeln gerahmt, ergeben aber gemeinsam ebenfalls ein Gesamtbild. Außerdem folgen die sich heute in Washington in der Sammlung Paul Mellon befindlichen Insekten und Kriechtiere aus dem Jahre 1658 der Gruppierung von 16 kleineren Bildern um ein Mittelbild. 24 München, Alte Pinakothek, Europa 1664, Mitteltafel Öl auf Kupfer 48,4 x 67,1 cm, signiert auf dem Bild im Bild unten halbrechts in Form von Raupen: jan van kesse FECIT 1664. Sechszehn Öl auf Kupfer-Tafeln mit Stadtansichten, die ca. 14,5 x 21 cm groß sind um die Mitteltafel gruppiert. Alle Darstellungen sind oben auf dem Rahmen benannt, die 16 Stadtansichten tragen unten auf den Rahmen zusätzliche Nummern von 1-16. 25 Ich beziehe mich hier auf die detaillierte Auflistung von Ertz u. Nietze-Ertz (wie Anm. 13), S. 163 f. aller gezeigten Gegenstände und Bildelemente. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 57 nen Zeitvertreibs: Trinkgefäße, Spielbrett, Würfel, Ballspiel, Flöte. Daneben liegen eine Geldbörse mit verstreuten Münzen und eine Kostenaufstellung in einer Schatulle. Zu dieser Dingwelt gehört auch die Sanduhr auf dem Tisch, auf der eine Muschel mit Seifenblasen liegt. In der rechten Ecke sind Waffen, Rüstungen, Trommeln und eine Fahne zu sehen. Als Verweise auf Militär und Kriegsführung sind auch sie einem rein männlich codierten Handlungszusammenhang zuzurechnen. In den Wandnischen des Raumes stehen Skulpturen gekrönter Frauen mit Zepter und Schilden. Diese Personifikationen europäischer Königreiche26 sind anders als die Europa in Stein geschlagen und so im Bild als Teil der Architektur kenntlich gemacht, die den Bildraum fasst, und nicht als lebendig und handelnd imaginiert. Wesentlich für die Konstruktion des Kontinents Europa als kulturell einheitlichem Ort sind jedoch nicht nur die Dinge, die sich zweifelsfrei und unmittelbar kulturellen Gebrauchszusammenhängen zuordnen lassen, sondern auch die Dinge der Natur, deren Ästhetik auf unterschiedliche Weisen durchgespielt wird. So befindet sich im Zentrum des Gemäldes eine männliche Figur, die Europa ein Bild mit Insekten und Schmetterlingen präsentiert, ein weiteres mit Schmetterlingen steht auf dem Boden, daneben ein Blumenstrauß. Halb verborgen unter einem schützenden Vorhang steht links im Vordergrund ein Gemälde mit Insekten und drei Alraunwurzeln.27 An den Wänden über dem Gesims sind vier Bilder mit Wassertieren angebracht. Auf dem Himmelsglobus sind vor allem exotische Tiere zu erkennen, davor lehnt ein Buch mit Insekten und Schmetterlingen, das mit »Pelegrins sont qui dans ces villes pour leur bourdon chercent coquilles« betitelt ist. Der Oberschnitt des prominent im Vordergrund stehenden Buches macht den Autorennamen Plinius lesbar, ein Verweis auf dessen Historia Naturalis (entstanden 77 n. Chr.). Plinius bietet dort eine Übersicht über den Wissensstand seiner Zeit in sämtlichen Bereichen der Naturwissenschaft, aber auch der bildenden Kunst. Die Ordnung der Historia naturalis spielt in der Naturgeschichte und Naturphilosophie bis ins späte 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle und ihr universaler Erklärungsanspruch ist als Dispositiv der Europa-Allegorie zu verstehen. 26 Die zweite Skulptur von rechts verweist mit dem Lilienschild auf Frankreich. Die weibliche Figur links vom Kamin ist mit dem Reichsapfel ausgestattet und vertritt das Heilige Römische Reich. Das Kamingebälk schmückt in der Mitte eine Kartusche mit einer Inschrift (Apell / Ellu. Edu.), eine weitere Kartusche befindet sich im Kamin unter zwei schnäbelnden Tauben (VAN VIER EN VOR. / AL EVEN SCHOU / ANNO / 1665). 27 Mandragora ist ein Alraun in menschenähnlicher Gestalt, dem vielfache Eigenschaften zugewiesen werden und der eigentlich einem längst überwundenen Aberglauben zuzurechnen ist. Seine Darstellung ist fast unter einem Tuch verborgen, damit ist auf seine Zuordnung zu einer Welt im Halbdunkeln verwiesen. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 58 Silke Förschler Naturgeschichte giert nach dem Besonderen. Der unbegreiflichen Vielfältigkeit alles Lebendigen auf die Schliche zu kommen, bedeutet den Zweck der Naturgeschichte zu erkennen. Das hierbei angewandte Vorgehen ist weder wahllos noch zufällig, ging es doch darum, den göttlichen Plan in der Fülle zu entdecken.28 Dass dieser gegeben ist und im Einzelnen und Besonderen erkannt werden kann, ist die Grundannahme der Naturgeschichte. Auch van Kessels Bildanordnung der Tiere repräsentiert in besonderem Maße die Vielgestaltigkeit des Lebens. Im Hauptgemälde finden sich detaillierte Studien unterschiedlicher Schmetterlinge. Sowohl in Rahmen gesetzt, als auch auf einer aufgeschlagenen Buchseite zur weiteren Betrachtung präsentiert, beweisen die Insekten ein fein beobachtendes Auge. Wie van Kessels Gesamtensemble deutlich macht, sind Relationen zwischen Tieren und Räumen dabei wirkmächtige Kräfte, um Ordnungsmuster im Umgang mit der belebten Natur zu finden, auszubilden und zu etablieren. Lebendigkeit im Bild darstellbar zu machen erfolgt in der Frühen Neuzeit mit dem Ideal der Mimesis und mit Bezügen zu tierlicher Morphologie.29 Das sich auf den zur Europa-Allegorie gehörenden Gemälden ergebende Oszillationsspektrum von tierlicher Ästhetik und bildlichem Eigensinn ist nicht ohne die Skalierungen sowohl der Bilder untereinander als auch der Bilder im Bild möglich.Wesentlich ist der Gegensatz von lebendigen und toten Tieren. Sind die rahmenden Ansichten geprägt durch tierliche Bewegungen, wie den Vogelflug, einen sich aufrichtenden Bären und den stumm an Land liegenden Fischen, finden sich im Hauptgemälde sowohl flatternde Schmetterlinge als auch konservierte. Letztere sind mit gespreizten Flügeln auf die Bildflächen gereiht. Die konstituierende Bedingung für die Etablierung einer Naturvorstellung in der Frühen Neuzeit ist die Verbindung von Darstellungen einzelner Lebewesen 28 Ludwig Trepl, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1987, S. 45-47 führt die Basisidee der Naturgeschichte aus: Jede Tier- und Pflanzenart hatte ihre eigene kausale wie finale Selbständigkeit, die lebende Natur unterlag einer Vielzahl von Sonderbestimmungen. Diese galt es gegenüber der Experimentalphysik zu verteidigen, die nach allgemeinen Gesetzen strebte und damit nach einer Reduktion von Natur, die gleichermaßen befreiend wie entfremdet war. Im Traditionszusammenhang der Naturgeschichte sieht Trepl die theoretisch unterfütterten Gebiete der Verhaltensforschung, der Evolutionsbiologie und der Ökologie. 29 Holger Simon, Die Morphologie des Bildes. Eine kunsthistorische Methode zur Kunstkommunikation, Weimar 2012 entwickelt eine ›Morphologie des Bildes‹, die Perspektive, Rahmung, Farbgebung und Größe sowie Motive, Symbole und Bildinschriften umschließt. Formen bilden ikonische Strukturen, die derart Bildprogramme strukturieren. Für den historischen Verlauf sind zudem Wandlungen von Formen und Medien interessant. Vgl. insbesondere S. 95 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 59 und Raumordnungen.30 Mit seiner Wahl unterschiedlicher Bildräume macht van Kessel drei Naturinterpretationen gleichzeitig gegenwärtig. Die Stadtansichten, die jeweils einem Ort zugeordnet sind und diesem wiederum eine tierlichen Szene, bilden das Rahmenwerk für die Erdteilallegorie. Sie zeigen ein spezifisches Tierwissen der Zeit und bezeugen den historischen Zustand der Stadtsilhouetten. Beispielsweise ist Lissabon durch Kraken mit überdimensional langen Fangarmen gekennzeichnet, durch Krebse und Fische im Bildvordergrund, deren Körperspannung Vitalität zum Ausdruck bringt, obwohl sich alle Wassertiere auf dem trockenen Land befinden. Im Mittelgrund wird ein weiteres Merkmal sichtbar: Der Tajo, auf dem reger Schiffsverkehr herrscht. Damit ist Lissabon als wichtiger Ausgangspunkt für die Entdeckungsreisen kenntlich gemacht, die ab 1499 zu den Kolonien Portugals in Asien und Südamerika führten.31 Frans Snyders Hahnenkampf im Vordergrund bestimmt die Ansicht Londons. Die Perspektive ist von einem imaginären Hochplateau im Süden aus auf die mächtigste Stadt der damaligen Zeit gerichtet. Hinter den südlichen Vorstädten bildet die Themse den Bildmittelgrund. Rechts ist der Tower auszumachen, die Tower Bridge ist bebaut. Westminster Cathedral ist links zu erkennen. Diese detaillierte Ortsansicht, deren Vorlage nicht bekannt ist, verweist auf van Kessels Interesse an topografischen Merkmalen. Im Vordergrund der mit zeithistorischen Charakteristika bestückten Stadtsilhouetten – so ist beispielsweise auf dem Gemälde von Köln der aus einem Ost- und Westteil bestehende Torso des Doms auszumachen, die Ansicht von Paris zeigt die Doppeltürme von Notre Dame auf der Île de la Cité – stehen ausnahmslos Tierszenen und Tierpräsentationen. Ihr Variantenreichtum und ihre Detailkenntnis, seien sie von Vorlagen übernommen oder aus eigener Anschauung gewonnen, zeigen das Interesse und Bemühen eine adäquate Form für die belebte Welt in all ihren Erscheinungen zu finden. Die Hauptbildebene macht sowohl die naturhistorische Praktik der Schmetterlingszeichnung, als auch ihre Ordnung nach morphologischen Kriterien sowie ihre lebensechte Darstellung auf einem Bild im Bild deutlich. Mit diesen Verschachtelungen stellt van Kessel das Ineinandergreifen von künstlerischen 30 Naturvorstellungen von Abhängigkeit zu Raumvorstellungen zu verstehen, bedeutet auch, dass Natur immer nur als verschränkt mit Kultur zu begreifen ist. Fredric Jamesons Verständnis von Kultur als »increasingly dominated by space and spatial logic«, lässt sich auch auf die generelle Vorstellung von Natur als homogen und einheitlich übertragen. Um frühneuzeitlichen Konzeptionen von Natur auf die Spur zu kommen bieten sich räumliche Ordnungsvorstellungen der scala naturae, des Sammelns und Ausstellens in Kunst- und Naturalienkammern sowie in Menagerien an. Frederic Jameson, »Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism«, in: New Left Review 146 (1984), S. 71-89, hier S. 71. 31 Die zeitgenössische Ansicht Lissabons von Süden nach Norden ist eine Quelle für das Aussehen der Stadt vor der Zerstörung durch das Erdbeben 1755. Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 167. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 60 Silke Förschler und naturhistorischen Darstellungsweisen von Natur aus. Gemeinsam ist ihnen eine exponierende Ästhetik. Manche Tiere werden gerahmt, andere lebendig ins Bild gesetzt, wiederum andere in einem möglichen Habitat imaginiert. Diese Skalierung macht die Tiere zu Sammlungsobjekten, zu einem Ausweis künstlerischer Kenntnisse über Exotisches oder zum Attribut fremder Orte. Durch die so geschaffenen Größenverhältnis wird »Natur« hierarchisiert. Räumliche Ensembles in denen Naturalia, Artificialia und Scientifica ineinandergreifen, werden gerne als Paradebeispiel für eine frühneuzeitliche Raumordnung der Kunst- und Naturalienkammer interpretiert, deren Faszinationskraft darin begründet liegt, einen gegebenen Zustand aller Dinge auf ein Mal und die Dinge selbst in all ihrer Gegenwärtigkeit beschreiben zu können. Der hier kondensierte Formenreichtum der Kunstkammerstücke wird häufig als Assoziationsraum der Dinge aus den drei Ordnungen und gleichzeitig als verlorengegangene Kombinationskunst verstanden.32 Eine Unterscheidung von Charakteristika der Naturgeschichte und der Kunst- und Naturalienkammer nimmt Horst Bredekamp vor.33 Ausgehend von dem von Plinius dem Älteren geprägten Begriff der Naturgeschichte (naturalis historia), der sich nicht auf die Entwicklung der Objekte und Arten bezieht, sondern auf die Beschreibung eines gegebenen Zustandes, differenziert Bredekamp das gegenwartsverhaftete Konzept der Naturgeschichte von den klassifizierenden Beschreibungen im Raum. Er kommt zu dem Ergebnis, dass klassifizierendes Beschreiben in der Frühen Neuzeit auf den Erfahrungen beruht, die sich auf visuellem Gebiet seit mehr als zweihundert Jahren in den Sammlungen der Kunstkammer ergeben hatten.34 Ganz allgemein wird der Naturgeschichte häufig der Vorwurf einer Wahl- und Theorielosigkeit gemacht, ihre spezifische Art zu Sammeln als ein Anhäufen ohne eine näher bestimmbare Selektion verstanden.35 Mit Blick auf van Kessels Erdteilallegorien lässt sich eine Überschneidung zwischen den Verfahrensweisen der Naturgeschichte, wie sie beispielsweise in dem aufgeklappten Buch Plinius’ zur Geltung kommt und den Präsentationsformen einer Kunst- und Naturalienkammer finden, nämlich die Notwendigkeit, die Dinge zu ästhetisieren. Dies erfolgt durch Rahmungen, durch Setzungen vor einen Hintergrund sowie durch unterschiedliche mediale Verortungen. 32 Vgl. Stefan Laube, »Gegen die Schubladisierung der Welt. Die Kunsthochschule Giebichenstein in Halle an der Saale wird 100 – und gewinnt der alten Wunderkammer neue Seiten ab«, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Juli 2015, Nr. 150, S. 10. 33 Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. 34 Ebd., S. 16. 35 Trepl (wie Anm. 28), S. 43-44. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 61 Einer frühneuzeitlichen Raumvorstellung von Natur nachzugehen, wie sie beispielsweise in van Kessels Europa zu finden ist, ist vor dem Hintergrund der Verzeitlichung von Natur in der Moderne von besonderer Bedeutung.36 Aufkommende Historisierungsbestrebungen werden in den Schilderungen des Wandels von der Naturgeschichte zu den modernen Lebenswissenschaften gemeinhin als »Bewältigung des Erfahrungsdrucks«37 verstanden. Es ist davon auszugehen, dass der Relation zwischen Naturalia und dem sie umgebenden Raum, sei es im Stillleben, in Kunstkammerstücken oder in Allegorien, eine größere Bedeutung zukommt, als wir dies aus unserer »Gegenwartsbefangenheit«38 heraus beschreiben würden. Dabei sind die räumlichen Relationen nicht monokausal und in eine Richtung zu interpretieren. Stattdessen kann festgestellt werden, dass bestimmte Präsentationstechniken, wie beispielsweise die gereihten Schmetterlinge im Rahmen mit bestimmten Darstellungsweisen naturhistorischer Wissensvermittlung korrespondieren wie die aufgeschlagene Buchseite zeigt. Und auch in die andere Richtung ist der Einfluss der Darstellungsweisen auf dem Papier und der Leinwand auf den Raum auszumachen. So finden sich lebende Insekten auf dem Fußboden der Kunst- und Wunderkammer. Wesentlich für die Konzeption einer Ordnung der Naturgeschichte ist das Vorgehen, verschiedene Räume ineinander zu setzen. Stellt man dieses Verfahren in einen größeren Rahmen, so stellt es sich als Effekt der europäischen Expansionen und Reisetätigkeiten um 1700 in alle Himmelsrichtungen und der dadurch entstehenden und wachsenden Sammlungen von Kunst und Naturalien dar.39 Zentral für die Gemälde van Kessels sind bei allen Auseinandersetzungen mit räumlichen Ordnungen die Allegorien. Wie Monika Wagner für das 19. Jahrhundert festgestellt hat, findet hier eine vermehrte »Integration von Personifikationen in genrehaften Szenen« statt.40 Im Unterschied dazu lässt sich am 36 Michel Focuault, »Question on Geography«, in: Colin Gordon (Hg.), Power/ Knowledge: Selected Interviews and Other Writings 1972 – 1977, New York 1980, S. 63-77, hier S. 70 beschreibt Raum als »das tote, das fixierte, das nicht dialektische, das unbewegliche. Zeit war im Gegensatz dazu Reichtum, Fertilität, Leben, Dialektik.« Und auch Karl Marx, Grundrisse (1973), S. 524, 539 macht in der zunehmenden Durchsetzung des Kapitalismus eine »Vernichtung des Raumes durch die Zeit« aus. 37 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, München 1976, S. 18. 38 Hermann Lübbe, »Begriffsgeschichte und Begriffsnormierung«, in: Gunter Scholtz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, S. 31-41, hier S. 41. 39 Vgl. hierzu Pratik Chakrabarti, »Sloane’s Travels. A colonial History of Gentlemanly Science«, in: Alison Walker, Arthur Macgregor u. Michael Hunter (Hgg.), From Books to Bezoars. Sir Hans Sloane and his Collection, London 2012, S. 71-79. 40 Monika Wagner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Von der Cornelius-Schule zur Malerei der Wilhelminischen Ära, Tübingen 1989, S. 25. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 62 Silke Förschler Beispiel van Kessels für das 17. Jahrhundert der Versuch einer Einbettung der Personifikationen in ein Ordnungsgefüge der Dinge ausmachen. Ihre Gerinnung zur Allegorie erfolgt bei van Kessel über die Verortung der Europa innerhalb von Dingbedeutsamkeiten eines religiös aufgeladenen Gebrauchszusammenhangs sowie eines wissenschaftlichen und eines lebensweltlichen. Und wenn van Kessel für seine Darstellungen von Naturalia Bilder anderer Künstler als Vorlagen nutzt, interessiert ihn vor allem auch die Diversität von Seinszuständen. Tote und lebendige Tiere werden differenziert, die Trägermedien für ihre Darstellung werden variiert: Die Tiere erscheinen inmitten eines Rahmens, auf Papier oder als Bildelement des zentralen Bildraums.41 America Im Vergleich mit dem Europabildensemble ist der Bildraum der America-Allegorie weniger strukturiert und die dargestellten Figuren sind kaum bekleidet.42 Das Hauptgemälde trägt auf dem Rahmen den Ortsnamen »Parajba en Brasil«. Die Personifikation America sitzt mit einer Begleitung in der linken vorderen Ecke auf dem Boden; neben ihr sind zwei Kinder zu sehen. Die verschiedenen Hautfarben der Figuren sind ein Verweis auf die Vorstellung von Brasilien als multiethnisch.43 Im Vergleich zu den anderen drei Allegorien sind kaum Dinge aus dem Kulturkontext Amerikas gezeigt. Die Gefäße im Vordergrund, die Waffen und die Samurairüstung sind asiatischen Ursprungs.44 Eine wichtige Grundlage für van Kessels Darstellung bilden die Veröffentlichungen von Teilnehmern der Brasilienunternehmung Maurits’ von Oranien in den Jahren 1637 – 1644. So ist der vierbeinige Fisch Guaperna im Vordergrund Pisos’ Historia naturalis Brasiliae von 1658 entnommen, ebenso die beiden Ameisenbären und der bärtige Affe auf dem Gefäß mit Goldmünzen. Dieses Buch bot auch die Vorlage für die Tapuya-Indianer in den Wandfeldern links und rechts vor der Tür, die Piso seinerseits nach Gemälden Albert Eckhouts kopiert hatte. Eckhout gehörte zum 41 Darüber hinaus bediente er sich für die Darstellung der Tiere diverser graphischer oder gemalter Vorlagen. Die Veduten beruhen vielfach auf Braun/ Hogenbergs Städtebuch Civitates Orbis Terrarum. 36 der kleinen Tafeln wiederholen die 40 Kupfertafeln umfassende, 1660 datierte Serie van Kessels im Prado. Die Erdteile müssen sehr beliebt gewesen sein, da es zum einen mehrere Serien gegeben hat und De Brie berichtet, dass van Kessel einen außerordentlich hohen Preis von 4.000 Gulden für seine Serie erzielte. 42 München, Alte Pinakothek, Amerika 1666, Mitteltafel Kupfer, 48,6 x 67,8 cm, signiert unten rechts: Jan van Kessel Fecit Anno 1666. 43 Vgl. hierzu Denise Daum, Albert Eckhouts »gemalte Kolonie«: Bild- und Wissensproduktion über Niederländisch-Brasilien um 1640, Marburg 2009. 44 Vgl. Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 183. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 63 Gefolge Maurits’ von Oranien in Brasilien und hatte die Bewohnerinnen und Bewohner in Typenportraits festgehalten, ebenso einzelne Tiere und Pflanzen in Gemälden und Zeichnungen.45 Eine andere Quelle ist Jan Linschotens Itinerario aus den Jahren 1579 – 1592, dem die Szene auf dem untersten rechten Wandbild entnommen ist: Die Verbrennung eines toten Brahmanen und seiner lebenden Witwe. Die Kannibalenszene darüber malt van Kessel in Anlehnung an Theodor de Brijs America.46 Weist sich van Kessel damit als Kenner des zeitgenössischen Bildrepertoires zu unbekannten Welten, fremden Kulturen und wundersamen Sitten aus, sind die Insektenbilder, wie auf dem Hauptgemälde der Europa, als Zeugnisse seiner Kenntnis einer ästhetisierten Wissenschaftlichkeit prominent platziert, die in Europa höchstes Ansehen genießt. Naturhistorische Bilder mit Insekten sind in der Frühen Neuzeit ein Ausweis empirisch genauer Beobachtung. Gleichwohl lässt sich in den naturhistorischen Überblickswerken des 17. Jahrhunderts keine einheitliche Darstellungsweise ausmachen. Mit Hilfe verschiedener Anordnungen und Ansichten unterschiedlicher Insekten soll deren schwer ins Bild zu bringende Lebendigkeit zwar auf einen Blick einleuchten; wie dies erfolgt ist jedoch keinesfalls festgelegt. Die ersten Protokolle und Publikationen der Royal Society of Science und der Académie des Sciences, die europaweit rezipiert werden, machen deutlich, wie nah künstlerische und wissenschaftliche Bildprägungen einander sind. Das Anliegen der nationalen Wissenschaftsakademien in London und Paris, gegründet 1662 sowie 1666, ist es, die gewonnenen Erkenntnisse zu fixieren und zu verbreiten.47 Besonders herausfordernd, so die zeitgenössische Meinung, ist die genaue Abbildung von exotischen Tieren. Anhand der exakten Darstellung von Tieren aus fernen Ländern zeigt sich, so die Annahme, wahre Wissenschaftlichkeit. In der Wiedergabe ihres Äußeren, das den europäischen Betrachtenden fremd ist, muss genauso viel Sorgfalt angewandt werden wie bei der Veranschaulichung von anatomischen Sachverhalten. Beides ist gleichermaßen unbekannt und soll detailgenau vermittelt werden. Indem van Kessel also die ästhetisch-wissenschaftlichen Rahmungen von Insekten und die Präsentation einzelner Fischtypen auf dem Boden in das Hauptgemälde integriert, stellt er eine zentrale Praktik kolonialer Weltaneignung 45 Vgl. zu den kolonialen Mustern und Narrativen in Albert Eckhouts Brasilienbilder Daum (wie Anm. 43), sowie Virginia Spenlé, »›Savagery‹ and ›Civilization‹: Dutch Brazil in the Kunst- und Wunderkammer«, in: Journal of Historians of Netherlandish Art 3:2 (2011), S. 1-19. 46 Diese Bezüge haben auch Ertz u. Nitze-Ertz (wie Anm. 13), S. 183 dargestellt. 47 »Ce que nos Memoires sont de plus considerable, extace témoignage irreprochable d’une verité certaine & reconnuë.« Claude Perrault, »Preface«, in: Memoires pour servir a l’histoire naturelle des animaux, Paris 1676. »Das was an unseren Ergebnissen am beachtlichsten ist, ist die unzweifelhafte Evidenz einer sicheren und anerkannten Wahrheit.« (Übersetzung Silke Förschler). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 64 Silke Förschler aus. Die Verflechtung empirisch erworbener Ansichten mit dem zu exotischen Tieren bereits in naturhistorischen Druckwerken bestehenden Bilderschatz ist ein beliebtes Verfahren in der Frühen Neuzeit. Auch auf den rahmenden Stadtansichten ist dieses Verfahren auszumachen. So ist beispielsweise auf dem mit »Domingo« überschriebenen Gemälde eine Giraffe aus André Thevets Cosmographie universelle aus dem Jahre 1575 zu finden, eine andere Giraffe ist Conrad Gesners Historia Animalum von 1551 entnommen. Das Panorama von Havanna lässt im Vordergrund sowohl Rubens’ Jagd auf Nilpferd und Krokodil erkennen, als auch Gesners Krokodil. Svetlana Alpers hat in ihrer Kunst der Beschreibung dargelegt, dass in van Kessels America eine dreifache Vereinnahmung durch die »dünkelhafte«, europäische Kultur erfolgt.48 Alpers erkennt in van Kessels Zitat der einfühlsamen Portraits Eckhouts wenig Wertschätzung; ihrer Meinung nach geht jedes Eindenken in die Andersartigkeit in der europäischen Bildform der Allegorie verloren. Außerdem erkennt Alpers in der Figur des brasilianischen Indianers dessen Umgestaltung in einen David Michelangelos. Die dominanteste Inbesitznahme sieht Alpers in der Darbietungsform der America inmitten der Sammlung einer fürstlichen Kunstkammer.49 Zu Alpers Auflistung von Formen übergriffiger Aneignungen ist die einer ästhetisierenden Wissenschaftlichkeit der Naturalia hinzuzufügen. In der Art und Weise ihrer Rahmungen, ihrer Präsentation und Medialisierung erfolgt eine Skalierung der Welt. In ihrer allegorisierten Vergeschlechtlichung wird diese Skalierung als Ordnung naturalisiert. In Anlehnung an Foucaults Analyse des Gemäldes Las Meninas von Velázquez aus dem Jahr 1656 lassen sich die Erdteilallegorien van Kessels in ein anderes Licht stellen.50 Foucault erkennt in den Hoffräulein eine »essentielle Leere«, die er darauf zurückführt, dass die Bildkonzeption die Episteme des Menschen noch nicht fassen kann. Diese unbesetzte Stelle verweise auf den Raum der Betrachtenden und verbinde diesen mit dem Bildraum der selbst »klassische Repräsentationsinstrumente« einsetze. Ist die Repräsentation von Las Meninas also noch in der »klassischen Repräsentation« verhaftet, erkennt Foucault darin dennoch ein Metabild, da seine Bildlinien den Herrscher als Modell, die Betrachtenden sowie den Autor an einen »idealen Punkt« außerhalb des Bildes verlagern.51 Der wesentliche Unterschied zwischen Jan van Kessels Erdteilallegorien und van der Straets Vespucci-Stich besteht darin, dass um 1700 bereits ein weitaus grö48 Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, S. 281. 49 Ebd. 50 Für den Hinweis auf den Vergleich zwischen Velasquez und van Kessel danke ich Jörn Steigerwald auf dem Arbeitstreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung im Oktober 2015. 51 Foucault (wie Anm. 36), S. 44. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 65 ßerer Bilderfundus zur Thematik anderer Kulturen und Naturen zur Verfügung stand. Trotzdem bezieht sich van Kessel auf die bereits eingeführte Bildformel der Erdteilallegorie, nicht ohne auf die ebenfalls existierenden visuellen Reiseschilderungen zu verzichten. Den bewährten Verweiszusammenhang weiblicher Körper nutzt van Kessel um ein bildräumliches Zentrum zu schaffen. Wovon die vier Erdteilallegorien jedoch eigentlich berichten ist der Versuch einer Bändigung des veränderten Weltwissens. Indem bekannte und unbekannte Bilder und Dinge in Räumen verortet werden und in verschiedene Medien transformiert – so werden beispielsweise Eckhouts gemalte Typenportraits nun zu steinernen Skulpturen und gestochene Veduten zu Gemälden – wird auch ihre Beherrschung und Kontrolle mit Hilfe ihrer Rahmung vorgeführt. Dieses immense Bemühen Welt zu strukturieren hat zwar einen Zielpunkt in den Allegorien, jedoch ergibt ob der Materialfülle der allegorisierte Körper, das heißt der Zusammenhang von Körperzeichen, Geschlechtlichkeit und Attributen, nicht den alles umfassenden Bedeutungszusammenhang. Im Vergleich der vier Gemälde machen die unterschiedlichen Figurationen allerdings wie schon bei Ripa eindeutige Unterschiede zwischen der prächtig gekleideten Europa und der mit bloßen Brüsten gezeigten America. Anders als die Hoffräulein wollen die Allegorien, die Naturalia und die Dinge nicht aus ihren großen schwarze Ebenholzrahmen hinaus, stattdessen verleihen ihnen die Holzrahmen und die gemalten Rahmungen eine ästhetische Identität und eine Ästhetik der Handhabbarkeit. Die Hoffräulein haben ihr ideales Gefüge in einem Punkt außerhalb des Bildes, die Allegorien in der Art und Weise ihrer Komposition hingegen inmitten verschiedener Rahmungen. Bedeutungsebene Raumordnung Das Schema der Bild-Anordnung, so wird häufig vermutet, ist von Kabinettschränken angeregt.52 Wirft man einen Blick in die Geschichte des Präsentationsmöbels wird deutlich, dass van Kessel eine Form wählt, die so viel Oberflächenpräsentation wie möglich bei maximaler Tiefenraumillusion garantiert und sich damit nicht an den gebräuchlichen Schrankmodellen der zeitgenössischen Kunst- und Wunderkammern orientiert. Denn wie Anke te Heesen darlegt kamen in den Kunst- und Wunderkammern vor allem Kabinettschränke zum Einsatz, die den jeweiligen Mikrokosmos aus Kunst und Natur in den Raum des 52 Vgl. hierzu auch Nadia Baadj, »A world of materials in a cabinet without drawers. Reframing Jan van Kessel’s The four parts of the world«, in: Netherlands Yearbook for History of Art 62.1 (2012), S. 202-237, die Verbindungen zum zeitgenössischen Antwerpener Kunstkasten nachweist. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 66 Silke Förschler bergenden Schrankes bringen.53 Dabei handelt es sich um Prunkmöbel, die als Stollenschrank – als eine »offene, hochgestelzte Kastentischform« – präsentiert werden.54 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts trat neben den Kabinettschrank, so te Heesen, das »Repositorium«, ein Begriff der Schränke, Regale, Abstelltische gleichermaßen bezeichnen konnte. Kunstgegenstände, Naturobjekte, Bücher und Archivmaterial fanden in ihm Aufbewahrung. Offene Stellflächen verweisen auf eine offene Zugangsweise zum Wissensobjekt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts, mit dem Wandel von der Einmaligkeit und Besonderheit der Dinge hin zu deren Regelhaftigkeit und Typisierung, kommen Schränke mit Glas zum Einsatz, die auf einen Blick die Zugehörigkeit der ausgestellten Dinge zu Arten, Klassen oder Kulturen deutlich machen. Diese späteren Zeige- und Präsentationsschränke nimmt van Kessel vorweg, indem er Schrankfächern gleich sein Hauptgemälde mit kleineren Gemälden umrahmt. Die Dominanz der schwarzen Holzrahmen hebt zum einen die im jeweiligen Bildvordergrund entfaltete Varianz der präsentierten Tiere, der ausgestellten Dinge und der menschlichen Figuren hervor, gleichzeitig betonen die Rahmungen auch den Tiefensog verschiedener Bildwelten. Diese Bildräume verweisen auf zwei Skalierungsmodelle. Ein Modell besteht in der Ordnung von Veduten – Ortsansichten, die mit Naturansichten verbunden sind, so dass nicht nur eine Topografie deutlich erkennbar ist, sondern auch topologische Aspekte dargelegt werden. Die Alternative zeigt das Hauptbild, das die reale Ebenholzrahmung aller Gemälde des Erdteilensembles auf verschiedene Arten aufnimmt. Zum einen gibt es gerahmte Gemälde im Hauptteil mit Insekten, Stillleben oder ethnografischen Szenen, zum anderen rahmen die Wandnischen einzelne Figuren, sowie die Bogenarchitektur den Blick in die Ferne. Die Anmutung der räumlichen Ordnung als Kunst- und Naturalienkammer bildet eine weitere Rahmung.55 53 Anke te Heesen, »Vom Einräumen der Erkenntnis«, in: Anette Michels u. Anke te Heesen (Hgg.), Auf/ Zu. Der Schrank in den Wissenschaften, Berlin 2007, S. 90-97. 54 Adolf Feulner, »Kunstgeschichte des Möbels« (1927), in: Propyläen Kunstgeschichte, Sonderbd. 2, Berlin 1980, S. 64; Michael Bohr, Die Entwicklung der Kabinettschränke in Florenz, Frankfurt am Main 1993. 55 Ulla Krempel, Jan van Kessel der Ältere, München 1973 schlug gegen die Regalordnung der Erdteilallegorien vor, dass sie von Landkarten, wie beispielsweise von Johan Blaeus’ Weltatlas (Hauptausgabe 1663) beeinflusst seien. Auf Blaeus’ Weltatlas trägt die Gesamtkarte oben in kleinen Bildfeldern die sieben Planeten, links die vier Jahreszeiten, rechts die vier Elemente, unten die sieben Weltwunder. Svetlana Alpers (wie Anm. 48), S. 237 beschreibt zum einen die Erweiterung des inhaltlichen Horizonts der Karten durch die Bilder sowie das Verschwimmen von Grenzen zwischen Vermessung, Aufzeichnung und Illustration. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 67 Bedeutungsebene Entwicklungsnarration Für eine Skalierung der Erdteilallegorien untereinander bietet sich abschließend die Perspektive auf frühneuzeitliche Konzeptionen zur Entwicklung des Menschen an. Der französische Philosoph und Theologe Carolus Bovillus stellt 1509 in seinem Liber de Sapiente die Menschheitsentwicklung im Verhältnis von Selbstreflexion und Dingen dar.56 An der Spitze der Menschheitsentwicklung steht Bovillus’›homo-homo-homo‹.57 Auf dieser höchsten Ebene der Reflexion ist der Mensch ein »anderer Gott«.58 Der Mensch erkennt sich als sapiens homo, indem er erkennt, dass alle Dinge in ihm sind wie in einem »Spiegel«; umgekehrt findet er sein geistiges Prinzip wie das »Auge des Universums«59 in allen Dingen wieder.60 Wesentlich für das Erklimmen der Entwicklungsstufen ist die Bewegung, mit der der Mensch zuerst ein Teil der Natur ist und sich dann im Unterschied zur Natur selbst erkennt und derart einen Gegensatz zur Natur wahrnimmt. Der Mensch positioniert sich also im Verhältnis von Natur und Dingen und in der Unterscheidung zu ihnen.61 Ernst Cassirer hat Bovillus’ Schrift als »die vielleicht merkwürdigste und in mancher Hinsicht charakteristischste Schöpfung der Renaissancephilosophie« bezeichnet, da sie seiner Meinung nach »Altes« und »Neues« miteinander verbindet, »Überlebtes« und »Zeugungskräftiges« findet sich hier auf engem Raum nebeneinander.62 Zu finden ist das mittelalterliche Denken eines Kosmos, der alles mit einem »Gewebe von Analogien« zu überspinnen und in einem Netzwerk der Analogie einzufangen versucht.63 In Bouvillus’ Schrift sieht Cassirer auf der untersten Stufe die Existenzweise, die der Stein, die 56 Für den Hinweis auf die Verbindung zwischen Kessels Erdteilallegorien und Carolus Bovillus danke ich Ulrich Pfisterer und Jasmin Mersmann auf dem Treffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung im Oktober 2015 ganz herzlich. 57 Vgl. Wiebke Schrader, »Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur ›homo-homo-homo‹Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus«, in: Perspektiven der Philosophie 28 (2002), S. 127-168. 58 Carolus Bovillus, Liber de Sapiente, c 7, zitiert in: Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig, Berlin 1927. 59 Zu »Spiegel« und »Auge des Universums«, vgl. Bouvillus, Liber de Sapiente, c 26 (wie Anm. 26), S. 355. 60 Vgl. Martina Scherbel, »Der Mensch in seiner Mitte. Zum philosophischen Werk Wiebke Schraders«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 2008, Bd. 34, hrsg. v. Georges Goedert u. Martina Scherbel, Amsterdam, New York 2008, S. 19-46. 61 Hier liegt der Brückenschlag zu anthropologischen Erklärungen von Kultur und der Funktion von Differenz nahe. Beispielsweise führt Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966 aus, dass soziale Gruppen ihrer Welt Bedeutung aufzwingen, indem sie Dinge in klassifizierende Systeme ordnen und organisieren. 62 Vgl. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Wiesbaden 1927, S. 103. 63 Ebd. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 68 Silke Förschler Pflanze, das Tier sowie der Mensch gemeinsam haben. Der homo der Natur kann allerdings weiter aufsteigen und zum Menschen der Kunst, zum homo-homo, werden. Realisiert er die Notwendigkeit dieser Differenz, hat er sie überwunden. Dies ist notwendig, da erst auf der letzten Stufe der Gegensatz von Natur und Freiheit, von Sein und Bewusstsein aufgehoben ist. Als homo-homo-homo ist der Mensch nun Auge und Spiegel des Alls, er formt und bildet die Bilder der Dinge in sich selbst.64 Der Mensch ist als Knotenpunkt in der Welt gedacht, inmitten der Dinge ist er der Akteur, der alles in der Natur mit Möglichkeiten, Schatten, Formen, Bildern und Bedeutung füllt.65 Appliziert man nun die Gedanken Bovillus’ auf van Kessels Gemälde Europa und Amerika so lassen sich hier mehrere Verbindungen finden. Schon die Platzierung der weiblichen Figuren könnte kaum unterschiedlicher sein. Sitzt die Figur der Europa in prächtige Gewänder gekleidet zwischen den religiösen Insignien zu ihrer Rechten und den Insekten- und Blumenstilleben in greifbarer Nähe auf der linken Seite, ist die Figur der America lediglich mit einem Tuch um den Schoß bekleidet und direkt auf den Boden platziert. In ihrer Nähe sind spielende Kinder sowie eine nur mit roten Federn geschmückte männliche Figur angeordnet. Muscheln sowie asiatische Gongs im Vordergrund stellen zwar auch einen Dingbezug her, jedoch handelt es sich dabei um Dinge, denen aus europäischer Perspektive ein weniger komplexer kultureller Zusammenhang unterstellt wird. Weder ein religiöser Gebrauch noch die Transformation von Naturalia in Kunst können unmittelbar mit der America verbunden werden. Zwar legt die Bildfindung der America nahe, dass eine Trennung zwischen Menschsein und Natur bereits stattgefunden hat, jedoch bezweifelt die Bildprägung, dass die in Amerika lebenden Menschen bereits die Stufe von Kunstschaffenden erklommen haben. Ausgestellt sind nämlich wie auf der Europa-Allegorie ausschließlich christlich-abendländische Narrationen und Formen. Die Position von Bovillus’ »homo-homo-homo«, des Menschen als Auge des Universums, so lässt sich argumentieren, nehmen der Künstler und die Betrachtenden ein, indem sie in einer Gesamtschau aller vier Erdteilallegorien die Welt überblicken und als gegebene Natur rezipieren können. 64 Bovillus, Kap. 26, fol. 133a-b. Cassirer, ebd., S. 97. 65 Ebd., fol. 355. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rahmungen als Skalierung von Natur und Geschlecht 69 Schluss In Anlehnung an Isabelle Stengers ist die Grundlage für den hier verwandten Interpretationshorizont die Annahme, dass es keine vorgängige Natur gibt, stattdessen jedoch viele Inszenierungen und Relationen. Dies lässt sich derart verstehen, dass in den unterschiedlichsten Kontexten, beispielsweise im Atelier und in der Sammlung etwas inszeniert werden kann und ›Natur‹ sich darin zeigt. Dieses in Erscheinung treten von ›Natur‹ ist jedoch nicht einfach nur kontextabhängig und beschränkt auf ein Setting, sondern alle Einheiten von ›Natur‹ haben miteinander zu tun. Für dieses Spiel verschiedener teleologischer Beziehungen schlägt Spengers den Begriff des entre-capture vor. Mit ihm kann ein gegenseitiges Ergreifen von Identitäten, die mit ›Natur‹ in Verbindung stehen, beschrieben werden. Identitäten von ›Natur‹ erfinden sich gegenseitig und nehmen gleichzeitig aufeinander Bezug.66 Versteht man van Kessels Verschachtelungen von Natur als entre-capture, stehen sowohl die toten und die lebendigen Tiere, die Stadtansichten und die Stillleben für verschiedene Formen von ästhetischer und damit auch klassifizierender Naturerfassung. Eine augenzwinkernde Verschachtelung findet sich in der Signatur »Joan van Kessel« auf dem Europa-Gemälde (Abb. 2a). In einem eigens gerahmten Bild, das an ein Gemälde mit einer Insekten-Landschaft und an ein Blumenstillleben gelehnt ist, bilden die einzelnen Buchstaben aus Schlangen, Würmern und Raupen den Namen des Künstlers. 67 Hier verweisen die sich schlängelnden und windenden Tierkörper auf ihn und auf sein Schaffen. Die ethnisierten und kulturalisierten Menschenkörper wiederum verzahnen sich mit den formal zwar unterschiedlichen, jedoch in sich jeweils klaren Mustern folgenden Naturbildern. Die Körperlichkeit der Erdteilpersonifikationen changiert derart zwischen einem allegorischen Verweiszusammenhang und einer Naturalisierung der skalierten Welt. 66 Isabelle Stengers, »Ökologie«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2 (2009), S. 29-35, insbesondere S. 32-33. 67 Das bekannteste Beispiel einer Signatur, die in die innerbildliche Narration integriert ist und deren Verweisstruktur über die Zeichen des Schriftzugs hinausreicht, ist Caravaggios »Enthauptung Johannes des Täufers«, von 1608 in der Johannes-Kathedrale von La Viletta, Malta. Hier ist der Künstlername »F Michel Angelo« am unteren Bildrand aus dem Blutstrom gebildet. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 70 Silke Förschler Abbildungsnachweise Abb. 1: Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz, Marburg 2010, Bd. 2, Abbildungen, S. 7 Abb. 2, 2a: Brasil Holandês, A »Alegoria dos Continentes« de Jan van Kessel »o Velho« (1626 – 1679). Uma Visao seiscentista da Fauna dos Quatro cantos do Mundo, Rio de Janeiro 2004, S. 8, Abb. 5 Abb. 3, 3a: Konrad Renger, Claudia Denk, Flämische Malerei des Barock in der alten Pinakothek, München, Köln: Pinakothek-DuMont 2002 S. 243 Abb. 4: Cesare Ripa: Iconologia, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 1984 S. 333 Abb. 5: Krückmann, Peter O. (Hg.), Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg, (Ausst.- Kat.), Bd. 1, München 1996. S. 57, Abb. 3 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bettina Brandt »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« Zur vormodernen Geschlechtercodierung der Nation in Bildern der »Germania« Körper und Kollektive sind auf vielfältige, historisch und kulturell variable Weise aufeinander bezogen. Mit der Sozialanthropologin Mary Douglas lässt sich der Körper als ein Modell verstehen, mit dem Kollektive ihre ›Ganzheit‹ und Grenzziehungen imaginieren. Doch auch leibhaftige Körper sind Gegenstand und aktive Träger von Praktiken kollektiver Regulierung, wie dies Michel Foucault für moderne Subjektivierungs- und Herrschaftspraktiken mit dem Begriff der »Bio-Macht« beschrieben hat.1 In beiden Richtungen ist die Beziehung zwischen Körper und Kollektiv eine politische, und dabei spielt die Kategorie Geschlecht eine signifikante Rolle: Auf die (religiös oder wissenschaftlich begründete) ›Natur‹ des Körpers zurückgeführt, ist die Unterscheidung männlich/weiblich ein effektvolles Instrument zur Einteilung des Sozialen und zur Legitimation kontingenter Ordnung.2 Die Beziehung zwischen Individualkörper und imaginiertem Kollektiv soll in diesem Beitrag am Beispiel der weiblichen Verkörperung Deutschlands in einer Langzeitperspektive in den Blick genommen werden. Im politischen Diskurs einer deutschen Reichsnation griffen Humanisten mit der Germania eine Figur römisch-antiker Herkunft und mit ihr eine lange Tradition der weiblichen Verkörperung von Ländern, Provinzen und Städten auf. Die rhetorische Figur der Personifikation erlaubt es, überindividuelle Einheiten zu individualisieren und sinnlich wahrnehmbar zu machen. In anthropomorpher Gestalt erhält ein Abstraktum wie die Nation weitreichende semantische Spielräume, indem sie 1 Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1970; zu einer regulierenden »Bio-Macht« als Komplement zur Massenmobilisierung der Nationalkriege im 19. Jahrhundert vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1998 (Sexualität und Wahrheit, 1), Kap. V, S. 166-181. 2 Sigrid Schade, Monika Wagner u. Silke Wenk (Hgg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln 1994; zum Körper als Teil verknüpfender sozialer Performanzen: Sylvia Sasse u. Stefanie Wenner (Hgg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002; zur »symbolischen Organisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung« auf der Basis der biologischen Reproduktion und zu einer »Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse« vgl. Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005, hier S. 44 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 72 Bettina Brandt mit Eigenschaften, Gefühlen, Handlungsfähigkeit, Zeitlichkeit und Narrationen versehen wird und als Körper Ein- und Ausschlüsse, Beziehungen und Abgrenzungen anschaulich macht. Die Personifikation fordert nicht nur zu Bewertungen (moralischer oder ästhetischer Art) auf, sondern auch zu einem Abgleich zwischen individuellen Erfahrungen und kollektiven Deutungen und Normen. Das kulturelle Schema ›Körper‹ setzt Individuum und personifizierte Nation in eine Beziehung, die sowohl »Realitätseffekte« erzeugt als auch die Wahrnehmung von »Alltags-Körpern« prägt und verändert.3 Fragen von Macht und politischer Ordnung rücken Individuen auch mit allegorischen Darstellungen auf den Leib. Allerdings gilt es, diese Mechanismen zu historisieren und zu fragen, ob und in welcher Weise die allegorischen Körper zeitgenössisches Wissen adressieren, ob sie neue Körperbilder entwerfen, oder ob sie mit zeitgenössischen Plausibilitätserwartungen in Konflikt geraten. Wie die feministische Geschlechterforschung gezeigt hat, (re-)produziert der (weiblich oder männlich dargestellte) allegorische Körper stets auch Wissen über die Geschlechterordnung. Dieser Aspekt der Codierung und Sinnstiftung wird jedoch im Kurzschluss zwischen dem Zeichen und einem einzigen Signifikat – wie eben der Nation – unsichtbar gemacht. Die Merkmale, die den weiblichen Körper zum geeigneten Zeichen der Nation werden lassen, erscheinen so als inhärente, dem Zeichenprozess enthobene, ›natürliche‹ Eigenschaften des Zeichens.4 Im Folgenden sollen daher Bilddarstellungen der Germania nach Geschlechtercodierungen und deren Wandel, nach dem semantischen Zusammenspiel von Geschlecht, Nation und politischer Ordnung und schließlich nach den Effekten befragt werden, die diese Konstruktionen für die Handlungsspielräume von Frauen und Männern besaßen.5 In drei Etappen werden die Umgestaltungen des weiblichen Körpers der Nation und seiner männlichen Bezugsfiguren beleuchtet: 3 Sigrid Schade, Monika Wagner u. Silke Wenk, »Allegorien und Geschlechterdifferenz. Zur Einführung«, in: dies. (wie Anm. 2), S. 5; zum Zusammenhang von Bildverstehen und körperlicher Erfahrung vgl. John M. Krois, »Bildkörper und Körperschema«, in: John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hrsg. v. Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011 (= Actus et Imago; 2), S. 253-271. 4 Schade, Wagner, Wenk (wie Anm. 3), S. 2 sowie ausführlich Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln u. a. 1996. 5 Umfassender zu dieser Fragestellung Bettina Brandt, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010. Allgemein zur Germania als politisches Symbol im 19. Jahrhundert: Lothar Gall, Germania. Eine deutsche Marianne? Une Marianne allemande?, Bonn 1993 sowie Marie Louise von Plessen (Hg.), Marianne und Germania 1789 – 1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – eine Revue, Ausst. Kat. Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1996. Zur Vormoderne: Detlef Hoffmann, »Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation«, in: Rainer Schoch u. Gerhard Bott (Hgg.), Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Ausst. Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1989, S. 137-155. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 73 Um 1500 nahm die Germania erstmals den Körper einer Mutter an, der eine ethnisch-kulturelle Grenze gegenüber ›fremden‹ Herrschaftsambitionen markierte. Im Bild eines zwischen Sexualität und Moral oszillierenden Kollektivkörpers ging es nach dem Dreißigjährigen Krieg um einen Rangwechsel der Herrschaft legitimierenden Prinzipien: Nicht zuerst der Stand, sondern Männlichkeit sollte die Normen garantieren, auf denen politische Ordnung und Herrschaftsausübung beruhten. Von Germania als unsterblichem Körper der Natur leitete sich um 1800 sodann ein bürgerlich-partizipatorisches Verständnis des Politischen ab, das zu einem sozial inklusiven, aber exklusiv männlichen Raum erklärt wurde. Ein Ausblick auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigt schließlich die langfristigen Effekte der Geschlechtercodierung des Nationalen auf, aber auch die Grenzen des weiblichen Kollektivkörpers, der den zeitgenössischen Authentizitätserwartungen nicht mehr entsprach. Der Körper der Nation sollte ein männlicher und schließlich ein die Alltags-Körper umgreifender Raum sein. Der Körper der Mutter: ethnisch-kulturelle Grenzziehung als politisches Argument Im humanistischen Umfeld Kaiser Maximilians I. erfuhr die Germaniafigur eine nachhaltige Umgestaltung, die aber das Wissen um die Tradition der Germania als Teil der römischen Herrscherikonographie seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert verrät.6 Während die Germania in der Triumphalarchitektur und auf Münzen der römischen Kaiserzeit gefangen, trauernd oder als befriedete Kriegerin die römische Provinz Germania verkörperte, und Miniaturen aus ottonischer Zeit wie das Evangeliar Ottos III. sie neben anderen Länderallegorien im spätantiken Motiv der Huldigung besiegter Völker vor dem Kaiser (im Muster römischer Kaiser- und Majestas Domini-Darstellungen) präsentierten (Abb. 1), ließ Kaiser Maximilian I. die Germania in einer Folge farbiger Pergamentminiaturen, die er 1512 bei Albrecht Altdorfer in Regensburg aufgab, als faktische Inhaberin kaiserlicher Herrschaft auftreten (Abb. 2 und 3).7 Die Miniaturen zeigten einen fiktiven Triumphzug, der zu den Erinnerungsprojekten des Habsburgers gehörte und dessen Ausführung in Holzschnitten wahrscheinlich die Wände 6 Zu Germania-Darstellungen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit s. Elke Trzinski, Studien zur Ikonographie der Germania, Münster 1990. 7 Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Das Reich Germanie, 1512 – 1516, Wien, Albertina Museum, Inv. Nr. 25211 (Ausschnitt); Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Die römische Krönung, 1512 – 1516, Wien, Albertina, Inv. Nr. 25211 (Ausschnitt). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bettina Brandt 74 Abb. 1: Dedikationsbild aus dem Evangeliar Ottos III., um 1000. Linke Seite: Dem Kaiser huldigende Provinzen, von rechts nach links: Roma, Gallia, Germania, Sclavinia. Rechte Seite: Thronender Kaiser. Abb. 2: Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Das Reich Germanie (Ausschnitt), Miniatur zum Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512-16. Abb. 3: Albrecht Altdorfer (Werkstatt), Bannerträger: Die römische Krönung (Ausschnitt), Miniatur zum Triumphzug Kaiser Maximilians I., 1512-16. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 75 von Rathaussälen schmücken sollte, also als kaiserliche Bildpolitik gedacht war.8 Germania, die »Germanisch fraw«, wie Maximilian seinem Sekretär diktiert hatte, trat in einer Darstellungssequenz der Kriege und Errungenschaften Maximilians nach der Personifikation der Kaiserwürde (die »Romisch fraw«) auf. Roma und Germania erscheinen als marienhafte Doppelgängerinnen mit langen blonden Locken und Gloriolen. Doch während die ehrwürdige Vor-Gängerin mit der Kaiserkrone die Herrschaftsinsignien nicht ergriffen hat, sondern mit leeren, wie segnenden Händen auf dem Thron sitzt, hat ihre Nachfolgerin Germania Zepter und Schwert, die Insignien faktischer Herrschaftsausübung, ergriffen. Germania wird auch nicht von Engeln gehuldigt, sondern sie herrscht, und sie blickt, etwas höher sitzend, auf Roma hinab. In Maximilians Triumph führen beide Frauen die nun gängige Reichstitulatur »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation« zusammen, aber es ist Germania, die die imperiale Macht ausübt – eine Aussage, mit der der erwählte, aber nicht vom Papst gekrönte Kaiser seine Ehrerbietung ausdrückte, aber auch politische Unabhängigkeit von Rom betont haben mochte. Mit der Inthronisierung der Germania und damit der politischen Aufwertung der Idee von einer deutschen Nation fiel die literarische Erfindung der Germania als Reichsmutter zusammen. Während der Zeit des Ersten Reichsregiments (1500 – 1502), eines ständischen Regierungsorgans, das dem Kaiser die Entscheidung über die Reichsfinanzen und die Kriegsführung aus der Hand zu nehmen drohte, setzte sich der Humanist und Tübinger Poetikprofessor Heinrich Bebel in einer Eloge auf das Kaisertum als Errungenschaft einer germanisch-deutschen Nation für die kaiserliche Autorität ein. In seiner Oratio ad Regem Maximilianum Caesarem, de ejus atque Germaniae laudibus (1501) entwarf er für diese inklusive Deutung einen gemeinsamen und kontinuierlichen Abstammungsraum, einen Ursprung, der Kaiser, Reichsstände und auch den humanistischen Gelehrten umfasste.9 Das Bild für die Kontinuitätsfiktion gab die Figur der Mutter Germania. »Übermenschlich groß«, aber in elendem Zustand beauftragt Germania ihren Sohn Bebel, den kaiserlichen Sohn Maximilian dazu zu bewegen, die kranken Glieder der Mutter zu kurieren, und das hieß, den Gehorsam der Reichsstände einzufordern. Wurde der mütterliche Körper der Nation als transhistorische und quer zur Ständeordnung liegende Einheit imaginiert, war die Germania als politischer Reichskörper jedoch vertikal gegliedert: Maximilian war das Haupt, 8 Horst Appuhn, Der Triumphzug Kaiser Maximilians I., Dortmund 1979, S. 166. Zum Triumphzug als Gedächtnisprojekt vgl. Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982, S. 148-153, und Trzinski (wie Anm. 6), S. 148 ff. 9 Heinrich Bebel, »Lob Deutschlands«, in: Paul Joachimsen (Hg.), Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Entwicklung, Darmstadt 1967, S. 32-41. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 76 Bettina Brandt Fürsten und Edle bildeten die Glieder des Reiches.10 Der Gehorsam der Glieder gegenüber dem Haupt wird hier nicht unmittelbar durch die gottgegebene Ordnung geboten, sondern er erscheint als ein Gebot der Nation, die als Mutter zu ehren erst sekundär wieder auf die christlichen Gebote verweist. Die mit einem gemeinsamen germanischen Ursprung legitimierte Einheit von Kaiser und Reich bemühte auch der Straßburger Humanist Hieronymus Gebwiler, als er 1519 im Wahlkampf zwischen dem Enkel Maximilians, Karl, und dem französischen König Franz I. Valois für den Habsburger Partei ergriff: Du kannst dich also nicht eben wenig beglückwünschen, berühmte Germania, du Fruchtbarste an Männern, die dem Mars heilig sind, du Reichste an glänzendsten Stammbäumen berühmter und edler Fürsten und Grafen: Aus deren Reihen betraue einen klugen und Friede bringenden Kaiser mit dem vakanten Kaiserthron, den fremden Stamm der Gallier aber halte von dir fern, damit du, die du bis jetzt über die anderen geherrscht hast und zu der auswärtige Nationen mit Zittern aufgeblickt haben, nicht irgendeinem Ausländer, der nicht von germanischem Blut abstammt, aber mit diesem Herrschaftszeichen geschmückt ist, wie eine Kaufsklavin zu dienen gezwungen bist.11 Auch hier herrscht Germania durch ihre Söhne, deren Einheit und Identität durch das Bild des mütterlichen Körpers konstituiert wird. Germanias Mutterkörper verbindet die kriegerischen, vom römischen Kriegsgott selbst anerkannten Germanen mit den Wahlfürsten des Jahres 1519 im Verhältnis der Blutsverwandtschaft, und diese nicht mehr nur historisch-kulturelle, sondern ethnische Nation markiert eine scharfe Grenze gegenüber einem als fremd bezeichneten Außen, den Franzosen, denen überdies politische Moralschwäche attestiert wird. Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem wird im Bildbereich familiärer und ethnischer Zugehörigkeit entfaltet, die historische Kontingenz überschreibt und politische Grenzziehungen emotional auflädt, denn die Öffnung nach außen ist gleichbedeutend mit einem Ehr- und Herrschaftsverlust, der auch das innere Machtgefüge der Reichsnation auf den Kopf stellen würde. Während des Dreißigjährigen Krieges berief sich vor allem das protestantische Lager auf die Reichsmutter Germania. Ein illustriertes Flugblatt, das 1620 während des Böhmisch-pfälzischen Krieges erschien, zeigte das Vaterland »werther Teutscher Nation« als protestantische Maria Regina (Abb. 4)12: Mit 10 Ebd., S. 33: Maximilian ist das »blühende Haupt aller meiner Glieder«. 11 Hieronymus Gebwiler, Libertas Germaniae, Augsburg 1519, Cap. VI. Zu Germania in humanistischen Texten s. Trzinski (wie Anm. 6), S. 167 ff. 12 Hertzliches Seufftzen vnnd Wehklagen/ auch christlicher Trost vnnd endtlich Göttliche Hülff vnsers vielgeliebten Vatterlandes/ werther Teutscher Nation, 1620, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Inv. Nr. IH 101. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 77 Abb. 4: Hertzliches Seufftzen vnnd Wehklagen/ auch christlicher Trost vnnd endtlich Göttliche Hülff vnsers vielgeliebten Vatterlandes/ werther Teutscher Nation, illustriertes Flugblatt, 1620. ausgebreiteten Armen herrscht sie über die vom Glaubenskrieg heimgesuchte Christengemeinde, die im Bildhintergrund Märtyrer, betende Bürger, Bauern und den Krieg führenden Adel einschließt. Deutlich ist es die Gestaltung des weiblichen Körpers, die die politische Botschaft, den Appell an die überkonfessionelle Einheit der Nation, visuell transportiert. Zwar ist die Germania mit einem langen, unter der Brust gegürteten weißen Hemd bekleidet, doch werden Bauch https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 78 Bettina Brandt und Brüste hervorgehoben, indem der Nabel über dem gewölbten Bauch und die Brustwarzen unter dem Stoff sichtbar sind. Während das dem Bild beigefügte Gedicht die Gemeinschaft aller deutschen Christen gegen den päpstlichen Antichristen in Rom – und damit auch ein Feindbild – beschwört, stellt das Bild einer schwangeren Germania den verbindenden Fluchtpunkt vor Augen: Das Geburtsland als alle Stände einschließende Abstammungsgemeinschaft. Eine andere politische Aussage machte ein ebenfalls protestantisches Flugblatt zum Prager Frieden 1635 (Abb. 5).13 Hier sitzt das »Teutsche Reich«, das zugleich als »Resp[ublica] Rom« und als »Reichs-Mutter« bezeichnet wird, dem Kaiser und dem sächsischen Kurfürsten als Vertragspartnern vor, um sie in ihrer Liebe zum »Reichs-Mutter-Hertz« zu vereinen. Das Bild der Reichsmutter vertritt hier ein Plädoyer für das Reich als überparteiliche, überkonfessionelle Regelungsinstanz und für einen an Vertrags- und Rechtsdenken orientierten Reichspatriotismus.14 Nicht der Kaiser ist das Haupt, sondern das Reich als nationale politische Institution, deren Sitz Gott im Himmel am nächsten ist. Das Bild des mütterlichen Körpers etablierte Vorstellungen von einer deutschen Reichs-Nation als einem umgrenzten Innenraum, die der Realität der frühneuzeitlichen Territorial- und Herrschaftsverhältnisse in keiner Weise entsprachen. Es zog Grenzen der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, die unwandelbar erschienen, die das Austarieren politischer Macht zwischen Kaiser und Reichsständen argumentativ stützten und Botschaften sozialer Inklusion vermitteln konnten, die aber die Unvereinbarkeit mit einem Außen umso schärfer markierten. Das Bild der Mutter Germania brachte im 17. Jahrhundert das Interesse der Fürsten am Reich als einer übergeordneten, ausgleichenden Institution zum Ausdruck. In einem anlässlich des Regensburger Reichstags 1653/54 veröffentlichten Flugblatt zogen Parteigänger einer starken kaiserlichen Position die Figur einer jugendlichen Germania vor. Germania sitzt im Schoß des als »Landes-Vater« bezeichneten Kaisers Ferdinand III., der hier die Rolle elterlicher Autorität übernimmt (Abb. 6).15 Germania bezeichnet die gehorsamen, helfenden Glieder des Reiches, von unten stützt sie die rechte Hand des Herrschers mit dem Zepter, während der Reichsapfel, auf die Welt verweisend, schon eher in ihrer Hand liegt und von Ferdinand schützend umfasst wird. Mit bauschigen Ärmeln, 13 Deß H. Römischen Reichs von GOTT eingesegnete Friedens-Copulation,1635, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv. Nr. XIII, 444, 96. 14 Vgl. ähnlich Johannes Burkhardt, »Auf dem Wege zu einer Bildkultur des Staatensystems. Der Westfälische Frieden und die Druckmedien«, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 81-114, hier S. 96. 15 Abraham Aubry nach Johann Toußin, Abbildung Vnsers heutigen Deutschlandes und der höchstgewündschten Vereinigung Des Christen Reichs Haupt mit seinen Gliedern, 1653/54, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Inv. Nr. Gü. 8045, fol. 92. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 79 Abb. 5: Deß H. Römischen Reichs von GOTT eingesegnete Friedens-Copulation, illustriertes Flugblatt, 1635. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 80 Bettina Brandt Abb. 6: Abraham Aubry nach Johann Toußin, Abbildung Vnsers heutigen Deutschlandes und der höchstgewündschten Vereinigung Des Christen Reichs Haupt mit seinen Gliedern, illustriertes Flugblatt, 1653/54. enger, spitz zulaufender Taille und einem tiefen Dekolleté tritt Germania in hochmodischer Kleidung auf. Überdies thront sie in der Rolle der Abundantia auf Früchten und Getreideähren, die Bauern herbeitragen, und zu ihren Füßen ruht entspannt der an einen schläfrigen Löwen gelehnte Kriegsgott Mars. Im Hintergrund, außerhalb des Thronsaales, sind die Kriege anderer Nationen, der »Pohlen«, der »Holländer« und »Engländer« und Frankreichs zu sehen und bilden den Kontrast zu dem üppigen und offenherzigen Lebensstil, den sich das befriedete Deutschland leisten kann. Haupt und Glieder begegnen sich mit https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 81 Freundlichkeit und Liebe, erläutert das Gedicht, und dankbar küsst Germania den Vater für den erlangten Frieden. Eingerahmt von machtvollen Beschützern, dem Kaiser, den pyramidenförmig angeordneten Kurfürsten und weiteren Reichsständen, gedeiht die junge Germania prächtig. Es ist der Körper, der Weiblichkeit bezeichnet und diese wiederum zu einem ›natürlichen‹ Zeichen männlicher Herrschaft erklärt: Die Bildmitte ist durch den Schoß der Germania markiert, und umgeben von Früchten und bauchigen Karaffen konnte sie durchaus als erotischer Blickfang verstanden werden. Dagegen verschwinden die Körper der männlichen Herrschafts- und Amtsträger unter Ornat und stoffreicher Kleidung. Doch auch von der mythischen Figur des Mars, der mit nacktem Oberkörper zu sehen ist, unterscheidet sich die Germania in diesem Blatt. Der weibliche Körper vermittelt hier zwischen den Sphären der historisch-politischen Akteure und dem Mythos, er zeigt die gewünschten Effekte politischen Handelns an; modisch und begehrenswert, warb dieser Körper dafür, das Wunschbild Wohlstand und dessen politische Bedingungen Realität werden zu lassen. Der weibliche Körper als labile Grenze: Moralische (Un-)Zuverlässigkeit und männliche Herrschaft Das Flugblatt zum Regensburger Reichstag nimmt sich wie eine Antwort auf einen früheren Auftritt der Germania in der Rolle der ›Frau Welt‹ aus. 1647, kurz vor den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück, führte der evangelische Pastor und von Ferdinand III. preisgekrönte Dichter Johann Rist in seinem Drama Das Friedewünschende Teutschland den tiefen Fall einer ungehorsamen Germania vor.16 Wie andere patriotische Autoren, Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Friedrich von Logau, interpretierte Rist den Dreißigjährigen Krieg als eine Folge nationaler Uneinigkeit, die sich ihrerseits dem Vergessen und dem Verfall nationaler Tugenden verdankt habe. Die Nation wurde als politischer Ordnungsrahmen aufgewertet, ihr Inklusionsraum im Sinne einer Leidens- und moralischen Gemeinschaft um alle Stände erweitert. Nationale Selbstvergessenheit, Ungehorsam gegenüber männlicher Autorität, die Vergewaltigung durch Fremde als Strafe Gottes, Leid und schließlich die Restitution einer männlich gebotenen Regierung – diesen Spannungsbogen ließ Rist die hochmütige Alamode-Königin Deutschland durchlaufen. Vier alte germanische Helden, die an ihren Hof kommen, um den Zustand des gegenwärtigen Deutschlands in Augenschein zu nehmen, lässt sie hinauswerfen, da die grob16 Johann Rist, »Das Friedewünschende Teutschland« (1649), in: ders., Sämtliche Werke, unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hrsg. v. Eberhard Mannack, Bd. 2: Dramatische Dichtungen, Berlin, New York 1972. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bettina Brandt 82 schlächtigen Altvorderen weder die Komplimentierkunst beherrschen noch die französische Sprache verstehen. Die germanisch-›deutschen‹ Tugenden genügen nicht mehr, um ihren Adel auszuweisen. Deutschland setzt sich über die vier »Fastnachtsbutzen« hinweg und öffnet ihren Hof lieber auswärtigen Kavalieren, die sie prompt mit Luxusgütern, mit spanischem und französischem Wein und vergifteten Florentiner Handschuhen, verführen und bezwingen.17 Im Kampf um ihre Körper-Ehre – ihr werden die Kette der Eintracht, das Zepter und die Kleider entrissen – wird Deutschland zur kampfstarken Kriegerin. Das aus der Germania des Tacitus bekannte Motiv der germanischen Kampfstärke ist hier nur im Rahmen einer Gottesstrafe erzählbar: Im weiblichen Kampf kulminieren männlicher Herrschaftsverlust und politische Unordnung. Das Titelbild der Ausgabe von 1649 brachte die dramatischen Stationen auf den Punkt (Abb. 7).18 Die Raumordnung macht die Überschreitung der nationalen und der Geschlechtergrenzen sichtbar. Deutschland hat den weiblich konnotier- Abb. 7: Titelkupfer zu Johann Rist, Das Friedewünschende Teutschland, Hamburg 1649. 17 Ebd., S. 69. 18 Ebd., Titelkupfer. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 83 ten Schutzraum der Stadt verlassen und ist im Freien von männlichen Peinigern mit phallischen Waffen umzingelt.19 Lange Haare und entblößte Brüste versetzen Deutschland in die Rolle der Sünderin und Büßerin Maria Magdalena. Der weibliche Körper ist erneut das Zentrum eines Kreises männlicher Figuren, nur zeigt er hier das Negativ der geschützten Situation an, die das Regensburger Blatt vermittelte, die Vergewaltigung. Das Thema des Dramas, national-moralische Unbeherrschtheit als Ursache für politischen Herrschaftsverlust, visualisiert das Titelbild in der entglittenen Kontrolle über einen sexualisierten weiblichen Körper. Der geschlechterspezifisch organisierte Moraldiskurs der Nation betonte die Männlichkeit der Normen, auf denen die Ausübung politischer Herrschaft beruhen sollte. Das Idealbild politischer Ordnung beschworen dagegen die alten Helden herauf mit ihrer Erinnerung an eine moralstarke Matrone Germania, die in einer Kapelle auf Kriegsgerät thronte. Wie der männliche Kontrollverlust auf weibliche Moralschwäche zurückgeführt wurde, diente eine asexuelle, statische Weiblichkeit als Zeichen männlicher Herrschaft. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«, ließ Paul Fleming in seinem Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne (1631) die zur Bettlerin heruntergekommene Germania über ihre glorreiche Vergangenheit als machtvolle Herrscherin klagen.20 Hier wie im Drama Rists vertrat Germania nicht Herrschaft und die zu ihr befähigenden Tugenden, sondern erinnerte ihr weiblicher Körper stets an deren Mangel, der allein durch »Manheit« behoben werden konnte.21 Die Sexualisierung des weiblichen Kollektivkörpers als Deutungsfolie, auf der männliche Herrschaftskonkurrenz und die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem thematisiert wurden, war auch für die literarischen und bildlichen Verarbeitungen des Arminius-Stoffes im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert charakteristisch, in denen die Figuren der Germania und der Thusnelda, als Gattin Hermanns die Vaterlandsliebe der Fürstinnen adressierend, verschmolzen.22 Hermann ersetzte den Kaiser als Bildpartner der Germania, und seine 19 Vgl. Sigrid Weigel, »›Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold‹. Zur Topographie der Geschlechter in Gründungsmythen und Städtedarstellungen«, in: dies., Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 149-179. 20 Paul Fleming, »Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschlande«, in: Johann Martin Lappenberg (Hg.), Paul Flemings deutsche Gedichte, Bd. 1, Reprint Darmstadt 1965, S. 102-110. 21 Ebd., S. 103. 22 Zu vaterländischen Verhaltensidealen für adelige Frauen s. Cornelia Plume, Heroinen in der Geschlechterordnung. Weiblichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die »Querelle des Femmes«, Stuttgart, Weimar 1996. Zur Teilnahme von Frauen am nationalen Diskurs der Frühen Neuzeit Sigrid Westphal, »Frauen der Frühen Neuzeit und die deutsche Nation«, in: Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt (Hgg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 363-385. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 84 Bettina Brandt Heldenrolle öffnete sich im 18. Jahrhundert bürgerlichen Wunschvorstellungen vom aufgeklärten Herrscher. Die Mythenarbeit verschaffte der Nation ein historisches Narrativ, demzufolge die Einheit der Germanen durch die römische Machtexpansion korrumpiert, ihre Freiheit durch die Fremdherrschaft der Römer beendet worden war und beide erst mit der Vernichtung des Feindes wiederhergestellt wurden. Damit ließ sich die Erwartung der politischen Gestaltbarkeit der Nation formulieren, jedoch so, dass der Auftrag an die Zukunft in einer besseren Vergangenheit lag. Genau diesen beiden Enden der Nationalgeschichte verlieh der weibliche Körper der Germania-Thusnelda Gestalt. Er war dem historisch-politischen Handeln der männlichen Helden ausgesetzt und zeigte dessen Folgen an. Das der Zeitlichkeit unterliegende Handeln wurde im Bild des weiblichen Kollektivkörpers moralisch bewertbar und erhielt dauerhafte Sichtbarkeit. Fester Bestandteil der Mythenarbeit war schließlich der Feind: Rom respektive Frankreich, dessen Expansionspolitik das Reich 1674 und 1689 zu Kriegserklärungen veranlasste und zu einer aktualisierenden Interpretation des Arminius-Stoffes einlud. Die Gestaltung des nationalen Befreiungsmythos übersetzte politische Konkurrenz und territoriales Ausgreifen in die Figur sexueller Begehrlichkeit, und entsprechend verkörperte Germania-Thusnelda eine gefährdete Grenze zwischen Sexualität und Moral. Eine richtungsweisende Fundgrube für die Hermannsepen und -dramen des 18. Jahrhunderts war der 1689/90 erschienene Roman Großmüthiger Feldherr Arminius des Daniel Casper von Lohenstein.23 Die vielfältigen Erzählstränge des umfangreichen, zweiteiligen Romans, in dem die Varusschlacht bereits im ersten Teil erzählt wird, ordnete der Großneffe des Nürnberger Kupferstechers Joachim von Sandrart, Johann Jacob, mit seinen beiden Titelkupfern zu einem Spannungsbogen, der im 18. Jahrhundert kanonisch wurde: auf germanische Zwietracht und römische Herrschaft folgten die Einigung der Germanenfürsten und der Sieg über die Römer (Abb. 8 und 9).24 Angezeigt wird der Verlauf durch die beiden weiblichen Figuren. Deutlich ist im ersten Kupfer der weibliche Körper dem männlich vertretenen Bereich des Handelns enthoben.25 Als Herrscherin über das Reich der Keuschheit, angezeigt durch ein muschelförmiges Gewölbe, das 23 Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Leipzig 1689/90, Faksimiledruck, hrsg. u. eingel. von Elida Maria Szarota, 2 Bde. Bern, Frankfurt a. M. 1973. Zum Vaterlandsdiskurs im 18. Jahrhundert und den Bearbeitungen des Arminius-Stoffes von Ulrich von Hutten über Lohenstein, Johann Elias Schlegel, Christoph Martin Wieland bis Friedrich Gottlieb Klopstock siehe Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000. 24 Lohenstein (wie Anm. 23), Titelkupfer Bd. 1: Johann Jacob von Sandrart, Arminius und Thusnelda, und ders., Titelkupfer Bd. 2: Eintracht läst hoffen. 25 Vgl. Detlef Hoffmann, »Arminius und Germania-Thusnelda. Zu einem ›annehmlichen Kupfer‹ von Johann Jacob von Sandrart«, in: Schade, Wagner u. Wenk (wie Anm. 2), S. 65-71. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 85 Abb. 8: Johann Jacob von Sandrart, Arminius und Thusnelda, Titelkupfer zu Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Bd. 1, Leipzig 1689/90. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 86 Bettina Brandt Abb. 9: Johann Jacob von Sandrart, Eintracht läst hoffen, Titelkupfer zu Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Bd. 2, Leipzig 1689/90. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 87 ihren Kopf wie eine Gloriole umgibt, thront Germania-Thusnelda nach hinten in eine Nische gerückt über dem Geschehen. Sie besetzt die höchste Position und einen Innenbereich, der durch zwei Halbkreise begrenzt wird, markiert durch die beiden Stufen des Thronpodestes und durch die männlichen Figurenkonstellationen. Während im Vordergrund Arminius (rechts) und ein Germanenfürst im Konflikt zu sehen sind, haben römische Soldaten diesen äußeren Kreis bereits durchbrochen und rücken als ein zweiter, engerer Kreis der weiblichen Figur zu Leibe. Ein Joch, die Verschleppung eines Kindes und erbeutete Kleider und Haare bezeichnen das der Germania-Thusnelda drohende Schicksal. Der Bildaufbau zeigt eine vertikale Ordnung, doch setzten die Kreise um die weibliche Figur, und damit die Unterscheidung zwischen einem weiblich besetzten Innenraum und dessen männlich umkämpften Grenzen, einen gleichwertigen Akzent. Die Unterscheidung ist deutlich sexualisiert: Das Bildzentrum ist der Schoß des weiblichen Körpers, vor den ein muskulöses Kind beschützend die Hand hält. Die Figur nimmt die künftige Einigung der germanischen Fürsten und den Sieg gegen die Römer vorweg, die das Titelbild des zweiten Romanteils zeigt (Abb. 9)26: Germania steht geschützt im Mittelpunkt eines Kreises germanischer Krieger, das Zerbrechen einer Fessel und das Hinwegschreiten über erbeutete Waffen verkünden die Befreiung von der römischen Herrschaft. Wieder macht die weibliche Figur das Ergebnis männlichen Handelns, diesmal in Eintracht, sichtbar. Standen sich im ersten Titelkupfer männliche Kontrahenten gegenüber, ist das Bild der Eintracht durch einen Verbund von Gleichen gekennzeichnet, deren gemeinsamer Bezugspunkt die mit einer kraftvollen und ausladenden Statur versehene Königin Germania ist. Alle männlichen Figuren treten in Geschichtskostümen auf, der Thron am rechten Bildrand bleibt leer. Arminius, dem erbeutete römische Feldzeichen überreicht werden, tritt als Primus inter Pares auf; die Figur von Haupt und Gliedern wird abgelöst durch eine Gemeinschaft männlicher Krieger, die sich im gemeinsamen Gegenüber zum weiblichen Körper der Nation konstituiert. Der unsterbliche Körper der Natur und die Politik des Bruderbundes Figuren der Hierarchie, der Autorität und des Gehorsams charakterisierten die frühneuzeitlichen Darstellungen von Nation und politischer Ordnung. In den Arminius-Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts wurden sie von den Motiven Gefühl und Liebe abgelöst. In den Paarbildern von Hermann und Germania übersetzte sich Hierarchie in eine horizontal organisierte, polare Differenz der 26 Lohenstein (wie Anm. 23), Titelkupfer Bd. 2: Johann Jacob von Sandrart, Eintracht läst hoffen. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 88 Bettina Brandt Geschlechter, ohne jedoch eine vertikale Asymmetrie aufzugeben. Ein Beispiel gibt das von Anna Maria Werner gezeichnete Frontispiz zu dem Heldenepos Hermann, oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto Freiherr von Schönaich, das Johann Christoph Gottsched mit einer Vorrede 1751 in erster Auflage veröffentlichte (Abb. 10).27 Arminius/Hermann ist als galanter höfischer Held Abb. 10: Johann Christoph Sysang nach Anna Maria Werner, Hermann löset, nach dem Siege über die Römer, der bis dahin gefesselten Germania die Ketten ab, Frontispiz zu Christoph Otto Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, Leipzig 1753. 27 Johann Christoph Sysang nach Anna Maria Werner, Hermann löset, nach dem Siege über die Römer, der bis dahin gefesselten Germania die Ketten ab, Frontispiz zu Christoph Otto Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, Leipzig 1753, Lippische Landesbibliothek Detmold, 02 A 725b.2.3. Literaturarchiv. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 89 dargestellt, der für sein Handeln, die Befreiung der Germania, von einer Victoria mit dem Lorbeer bekrönt wird. Germania dagegen sitzt barfüßig und in ein dickes Fell gewickelt auf dem Erdboden, Wurzeln und Felsbrocken zu ihren Füßen und die kleine Eiche am linken Bildrand weisen sie als ein Geschöpf der Natur aus.28 Im Motiv der Liebe werden historisch-politisches Handeln und Natur vereint: Die Figuren wenden sich einander empfindsam zu, Germania blickt ergeben zu ihrem Retter auf, der ihre Hand von der Fessel befreit, sie stützt und aufrichtet. Hermanns Kostüm und Körpersprache setzen Höflichkeit ins Bild. Auch in Schönaichs Epos zeichnet sich der Held zuerst durch die Verinnerlichung nationaler Werte aus, es ist sein tugendhaftes deutsches Herz, das seinen Harnisch von innen nach außen formt.29 Im Vergleich mit der von Ernst Kantorowicz beschriebenen politisch-theologischen Figur der »zwei Körper des Königs«, des unsterblich-politischen und des natürlich-sterblichen Körpers eines Herrschers30, zeigt das Frontispiz eine Neuverteilung auf der Folie der Geschlechterdichotomie. Die sich in Natur und Weiblichkeit manifestierende Nation garantiert die überindividuelle und zeitlose Dimension des Politischen, und diesem unsterblichen, aber vorpolitischen Körper tritt ein männlicher Akteur entgegen, der zwar sterblich ist, sich aber durch sein Handeln für die Nation als politisches Subjekt legitimiert. Diese neuartige Codierung des Verhältnisses von Politik und transzendentem Ganzen zeigt sich im Wandel der Germania-Darstellungen um 1800. Seit den 1770er Jahren gaben Autoren wie Johann Gottfried Herder oder Heinrich von Kleist, während der Revolutions- und Befreiungskriege gegen Frankreich auch weniger prominente Gelegenheitsdichter, der Germania die Gestalt eines mütterlichen Naturraumes.31 Das Motiv der Nation als sakraler, naturhafter und familialer Raum ersetzte nicht nur den fehlenden Rahmen einer staatlichen Einheit, sondern erlaubte auch die Unterscheidung einer deutschen, evolutionären Nationsbildung vom revolutionären Modell Frankreich. Gegen Napoleon mobilisierende Kriegslyrik porträtierte 1812 bis 1814 die deutsche Nation im Bild einer dyadischen Beziehung zwischen Germania und einem ständeübergreifen- 28 Vgl. zu dieser Darstellung auch Monika Wagner, »Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographie um 1800«, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 244-268. 29 Schönaich (wie Anm. 27), 9. Buch, S. 160. 30 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1994² (Princeton 1957). 31 Johann Gottfried Herder, »An den Genius von Deutschland«, in: Herders Poetische Werke, Bd. 5, hrsg. v. Carl Redlich, Berlin 1889, S. 329-332; Heinrich von Kleist, »Germania an ihre Kinder. Eine Ode«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hrsg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, S. 426-432. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 90 Bettina Brandt den Bund wehrhafter, ebenbürtiger Brüder.32 In dieser Konstellation ließ sich der bürgerliche Wunsch nach Teilhabe an den Rechten und Pflichten nationaler Souveränität ausdrücken, ohne dem französischen Beispiel der Beseitigung des Monarchen zu folgen. Die Naturalisierung des Kollektivkörpers verlieh aber nicht nur dem Konzept einer egalisierenden männlichen Sphäre politischen Handelns Legitimität und die Macht der Unschuld, sondern sie legitimierte auch den gewaltsamen Ausschluss von Feinden. Den Naturkörper der Nation als zeitlose und bezwingende Macht präsentierte zum Beispiel Caspar David Friedrich in seinem Gemälde Grabmale alter Helden, das 1812 auf der Berliner und 1814 auf der Dresdener Akademieausstellung gezeigt wurde (Abb. 11).33 Sogartig zieht ein Höhleneingang, in dem ein Sarkophag zu sehen ist, das Bild zur Mitte hin zusammen. Für zwei winzige französische Soldaten am Höhleneingang scheint es kein Entkommen vor der verschlingenden Kraft zu geben. Die Gewalt dieser Natur steht außerhalb gesellschaftlicher Rechtssetzung, und zugleich sind in ihr die Geschichte und die Zukunft der nationalen Helden verewigt: In die Erinnerungslandschaft der alten Helden ist ein leuchtender Obelisk hineingestellt, der die künftigen Retter des Vaterlands ankündigt – aus der längst zur Natur gewordenen nationalen Vergangenheit ragt die Ankündigung eines Totenkultes für eine neue Generation nationaler Freiheitskrieger heraus. Im nationalen und frühliberalen Diskurs des Bildungsbürgertums rückten wehrhafte Männlichkeit und die Bereitschaft, die Nation mit der Waffe und dem eigenen Leben zu verteidigen, zur Grundlage für die Forderung nach politischen Partizipationsrechten auf. Frauen blieben aus dieser Vorbedingung der Politikfähigkeit, die auch für die Wahlrechtsdiskussion des Paulskirchenparlaments 1848 und bis zum Ende des deutschen Kaiserreiches galt, ausgeschlossen.34 Die Symbolik hatte kräftig vorgearbeitet. Die Gestaltung des Weiblichen als übergreifender Raum männlicher Egalisierung, das in diesem Raum keinen Subjektstatus besitzen kann, zeigt beispielsweise die Allegorie der Kybele, die der Dresdener Porträtmaler Gerhard von Kügelgen um 1815 während der antinapoleonischen Kriege als Teil einer Serie, neben den Allegorien der Tragödie und der Geschichtsschreibung, anfertigte (Abb. 12).35 Die antike Erdgöttin verbindet sich mit den 32 Zu literarischen und visuellen Germanien der Befreiungskriege s. Brandt (wie Anm. 5), S. 135-196. 33 Caspar David Friedrich, Grabmale alter Helden, 1812, Hamburg, Kunsthalle, Inv. Nr. 1048. 34 Ute Frevert, »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995; dies., »Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert«, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hgg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 151-170; Karen Hagemann, »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002. 35 Gerhard von Kügelgen, Kybele, um 1815, Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. Nr. Gm 96/29. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 91 Abb. 11: Caspar David Friedrich, Grabmale alter Helden, Öl auf Leinwand, 1812. Figuren der Germania und einer Pietà. Sie hält eine Urne mit der Asche der für sie Gefallenen im Arm. Die Urne trägt keine Namen, nur die Jahreszahlen 1812 bis 1814, und ist mit einem antikisierten, lorbeerbekränzten Helm verziert. Vor der nationalen Natur, die durch das Eichenlaub und, den »Grabmalen« Caspar David Friedrichs ähnlich, die Farben braun und grün angezeigt wird, sind die gefallenen Nationalkrieger gleich, sie verschmelzen farblich mit dem weiblichen Kollektivkörper. Germania als nationale Mutter Natur macht den unsterblichen Körper der Nation ansichtig, dem ein neuer Kollektivakteur entstammt und für den er sterben soll: Ein wehrhafter Bruderbund. Germania als Natur bleibt dem Politischen äußerlich, umfasst und begründet es. Als Nationalhelden in der Nachfolge Hermanns wurden anders als im 18. Jahrhundert nicht mehr nur Fürsten und Monarchen adressiert, sondern bürgerliche Männer und Familienoberhäupter. Hermann und Thusnelda im Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1822), wieder in den Farben der Erde und der Vegetation gestaltet, geben das Idealbild einer bürgerlich-nationalen https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 92 Bettina Brandt Abb. 12: Gerhard von Kügelgen, Kybele, Öl auf Leinwand, um 1815. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« Abb. 13: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Hermann und Thusnelda, Öl auf Leinwand, 1822. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 93 94 Bettina Brandt Geschlechterordnung (Abb. 13).36 Der wehrbereite, dem Eichenstamm im Hintergrund gleichende Hermann schützt mit herkulischem Arm die nicht zum Kampf Fähigen, Kinder und einen alten Mann, und holt mit der Rechten zum Schlag gegen einen imaginären Feind aus. Unter dem Schwert befindet sich Thusnelda, womit das Kampfinstrument auch die Bedeutungen des Richtschwertes und der Entscheidungsgewalt erhält. An ihr Herz greifend, ist Thusnelda ganz Gefühl. Zugleich mag sie ihren Bauch mit dem Umhang schützen. Die Geste erinnert an die des Stillens und weist die biologische Reproduktion, die Sorge für die Kontinuität der ethnischen Nation, als weibliche Aufgabe aus. Wie die Germania in Anna Maria Werners Zeichnung für das Hermanns-Epos von Schönaich blickt Thusnelda zu ihrem Helden auf. Das äußere Weltgeschehen liest sie an seinem Gesicht ab, während Weitblick Hermann als politikfähigen Akteur auszeichnet. Im Unterschied zu den Darstellungen des 18. Jahrhunderts tritt mit diesem Hermann jedoch der männliche Körper in das Bildzentrum. Weibliche Reproduktion und männliche Kampfkraft werden an den zwei Körpern der Nation als ›natürliche‹ Eigenschaften manifest. Das Germanenkostüm Hermanns und die antikisierte Kleidung der Thusnelda ergänzen die Botschaft naturhafter Kontinuität um die Dimension einer historischen ›Tiefe‹. Damit lag das Gemälde ganz auf der Linie der modernen, wissenschaftsbasierten Begründung gesellschaftlicher Ordnung. Anthropologie, Medizin und Philosophie erklärten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die physischen Unterschiede von Männern und Frauen zu einer primären, quer zur sozialen Hierarchie liegenden natürlichen Differenz, aus deren Autorität sich auch die Ordnungen von Staat und Gesellschaft ableiten sollten. Die »Stimme der Natur«, die aus »der verschiedenen Organisation und Function der Geschlechtstheile« sprach, übersetzten liberale Theoretiker wie Carl Welcker problemlos in eine nach zwei Geschlechtern aufgeteilte soziale Welt, die Frauen das Erhalten, Nähren und Pflegen im häuslich-familiären »Inneren« und Männern den »Rechts- und Waffenkampf«, intellektuelle Kraft und die aktive Gestaltung des »äußeren« Lebens zuwies.37 Dass Frauen an der politischen Gestaltung des bürgerlichen Gemeinwesens mitwirken wollten, schien aufgrund ihres »Geschlechtscharakters« unnatürlich, unwahrscheinlich sogar, dass sie sich »dem unweiblichen Kampfe mit Männern aufopferten«. Die Auffassung von Politik als Krieg schrieb den Ausschluss von Frauen in einem simplen Satz fest: »Wer den Krieg zu beschließen das Recht haben will, der muß ihn auch zu führen im Stande sein.«38 36 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Hermann und Thusnelda, 1822, Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Foto: Sven Adelaide. 37 Carl Welcker, »Geschlechterverhältnisse«, in: Carl von Rotteck u. Carl Welcker (Hgg.), Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 5, Altona 1847, S. 654-679, hier S. 655 und S. 659-662. 38 Ebd., S. 667 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 95 Ausblick: ›Echte‹ Körper der Nation? Die Darstellungen von Hermann und Germania-Thusnelda übersetzten die ständisch-vertikale Gliederung des nationalen Kollektivkörpers in eine Differenz zwischen weiblicher Bedürftigkeit und männlichem Erlösungshandeln. Die emanzipatorische Aussage dieser Inszenierungen bestand in der Umdeutung der Adelsnation zu einer Gemeinschaft männlicher Akteure, deren Homogenität nicht mehr primär durch den sozialen Status, sondern über das geteilte Kriterium wehrhafter und moralgefestigter Männlichkeit definiert war. Die geteilte männliche Differenz zu einem das Überindividuelle, Überzeitliche verkörpernden Weiblichen war Voraussetzung für die Semantik männlicher Egalisierung und politischer Partizipation. Zugleich blieb aber in den Bildern sichtbar, dass die so konstituierten männlichen Subjekte des Rückbezuges auf das legitimierende weibliche Ganze bedurften. Es wurde eine Nicht-Identität von Männlichkeit und Nation sichtbar. Die Semantik der Nicht-Identität entfaltete in den Symbolkämpfen des Vormärz, der 48er Revolution und der kriegerischen Reichsgründungsphase eine politisch produktive Dynamik: Solange ein deutscher Nationalstaat Zielgröße politischen Handelns war, befeuerte sie die bürgerlichen, liberalen wie demokratischen Phantasien von Ermannung und mannhaftem Kampf für das Ideal nationaler Einheit. In den Jahren nach der Reichsgründung von 1871, auf dem Höhepunkt ihrer Prominenz und Allgegenwärtigkeit auf Krieger- und Nationaldenkmälern, öffentlichen Bauten, Postkarten, Festspielbühnen und als Werbeikone für Wein, Bier, Tabak, Schokolade oder Versicherungen wurde die weibliche Verkörperung des männlich definierten Nationalstaates jedoch bald zum Problem, das eine weitere Transformation des nationalen Bilderhaushaltes einleitete.39 In einer komplexen, zunehmend medialen, konflikthaften und Demokratisierung einfordernden Realität sehnten sich sowohl Konservative wie Bismarck als auch Liberale und nicht zuletzt Vertreter eines völkischen Nationalismus nach einer männlichen Verkörperung der Nation. Die politischen Zugriffe auf die Nationalfigur pluralisierten sich. Nicht nur übten Sozialdemokraten mit ihrem Bild einer reinlichen und zum Frieden erziehenden »echten« Mutter Germania Kritik an der in ihren Augen militant-vermännlichten Figur des Nationaldenkmals auf dem Niederwald, sondern erhob auch die bürgerliche Frauenbewegung Germania zu ihrer »Schirmherrin« und forderte in ihrem Namen die Frauenemanzipation. »Ist eine deutsche Frau so hoch erhoben/ Geziemt es jeder ihre Kraft erproben […] Jetzt ist es leichter Sieg zu prophezeien/ Wenn wir zu ihrer Ehr uns selbst befreien«, schrieb Louise Otto, Gründerin und Vorsitzende 39 Dazu Brandt (wie Anm. 5), S. 313-343 und S. 357-360. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 96 Bettina Brandt des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, 1883 anlässlich der Einweihung des Niederwalddenkmals.40 Zwar bestätigten Sozialdemokraten wie auch die Frauenbewegung mit ihren Germanien die binäre Geschlechterordnung, doch war der Raum des Politischen so überzeugend als ein naturgemäß männlicher Raum etabliert, dass sich Kritiker zunehmend an einem weiblichen Körperbild des Politischen störten. Bismarck lehnte die Niederwald-Germania mit dem Argument ab, ein »weibliches Wesen mit dem Schwert« sei etwas »Unnatürliches«, und der Berliner Kunstkritiker Ludwig Pietsch kommentierte in der Vossischen Zeitung: »Ein Mädchen als Verkörperung männlicher Heldenkraft, zäher Tapferkeit, ausdauernder Tüchtigkeit und zorniger Begeisterung – welch ein Widerspruch in sich!«41 Für die kulturkritische Publizistik der Zeitschrift Der Kunstwart wiederum stand die Germania seit den 1890er Jahren beispielhaft für die ›byzantinische‹ Kunstpolitik Wilhelms II., für die theatrale Phrase, aber auch für die kitschige Massenware der Denkmals- und nationalen Zubehör-Industrie; mit ihnen waren Hof und kapitalistischer Markt gemeint als Kräfte, die in der bürgerlichen Wahrnehmung die Gesellschaft zu zerreiben drohten. GermaniaFlachsperücken und Pappbrustpanzer als bestellbare Standardausstattung für nationale Festspielinszenierungen erschienen als Ausdruck konventioneller Erstarrung. Gefragt war das ›Echte‹, und dafür sollte die »Vollblutrasse« einer am ›Volk‹ orientierten Kunst die Lösung bieten.42 Der weiblichen Verkörperung der Nation fehle »Blut und Leben«, die Germania sei nurmehr ein »frostige[s]« Zeichen, meinte auch der Berliner Germanist Gustav Roethe.43 Sie kollidierte mit den zeitgenössischen Auffassungen und Wünschen nach einer authentischen Darstellung des Politischen und der Nation. Wurde der weibliche Körper mit Medialität und Massenhaftigkeit gleichgesetzt, schien der Körper des männlichen Helden Nation, Staat und Politik in sich zu vereinen. ›Echtheit‹ sollten nun auch architektonische Monumente verbürgen, indem sie die Nation für die realen Körper erlebbar machten. Auf ein solches Raumerleben war etwa das 1913 eingeweihte Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig ausgerichtet. Nicht die Gründung des Nationalstaates wurde mit dem Denkmal erinnert, sondern eine Klassen übergreifende »Erneuerung« des »nationalen Seins« proklamiert, deren historischer Bezugspunkt die Mobilisierung der ›Volksnation‹ gegen Napoleon 40 Vgl. »Mutter Germania«, in: Der Wahre Jacob 5 (1888) Nr. 61, S. 486; Louise Otto, »Germanias Standbild. Dem deutschen Frauentag in Düsseldorf gewidmet«, in: Neue Bahnen 18 (1883) Nr. 20, S. 157, Hervorhebungen im Original. 41 Eduard von Lade, Erinnerungen aus meinem vielbewegten Leben, Wiesbaden 1901, S. 78; Vossische Zeitung Nr. 453 (28.9.1883), Hervorhebung im Original. 42 Ferdinand Avenarius, »Musterbuch-Kitsch«, in: Der Kunstwart 28 (1915), S. 174-177; »Bildende Künste«, in: ebd. 4(1890/91), S. 28. 43 Gustav Roethe, »Deutsches Heldentum (1906)«, in: ders., Deutsche Reden, Leipzig [1927], S. 3. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts« 97 im Jahre 1813, und deren Sinnbild martialische Männlichkeit darstellte.44 Gerade im Zeichen einer Hygiene und Sexualität des ›Volkes‹ steuernden, rassistischen Biopolitik konnte jedoch auf die dem Weiblichen zugeschriebene Funktion biologischer Reproduktion nicht verzichtet werden. Die von Franz Metzner gestaltete, mehr als neun Meter hohe Sitzplastik der Volkskraft im Inneren des Denkmals zeigt daher eine wuchtige Kriegerfigur, die sich von ihren männlichen Pendantfiguren der Tapferkeit, Glaubensstärke und Opferbereitschaft nur durch die Hinzufügung eines Schleiers und weiblicher Brüste unterscheidet, an denen sich zwei Säuglinge nähren. Die politische Verfügung über weiblich konnotierte Sexualität wurde auf ein männliches Körperbild übertragen – eine ambivalente Figur, die nun auch den männlichen Körper der Amtstracht entkleidete und als Subjekt der Bio-Politik sichtbar machte. Abbildungsnachweise Abb. 1: München, Bayerische Staatsbibliothek, Inv. Nr. Clm 4453, fol. 23r-24v. Abb. 2 und 3: Wien, Albertina Museum, Inv. Nr. 25211 Abb. 4: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Inv. Nr. IH 101 Abb. 5: Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv. Nr. XIII, 444, 96 Abb. 6: Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Inv. Nr. Gü. 8045, fol. 92 Abb. 7: Johann Rist, Das Friedewünschende Teutschland (1649), in: ders., Sämtliche Werke, unter Mitw. v. Helga Mannack und Klaus Reichelt hrsg. v. Eberhard Mannack, Bd. 2: Dramatische Dichtungen, Berlin, New York 1972 Abb. 8 und 9: Daniel Casper von Lohenstein, Großmuethiger Feldherr Arminius, Leipzig 1689/90, Faksimiledruck, hrsg. u. eingel. von Elida Maria Szarota, 2 Bde. Bern, Frankfurt a. M. 1973 Abb. 10: Christoph Otto Freiherr von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, Leipzig 1753, Lippische Landesbibliothek Detmold, 02 A 725b.2.3. Abb. 11: Hamburg, Kunsthalle, Inv. Nr. 1048 Abb. 12: Berlin, Deutsches Historisches Museum, Inv. Nr. Gm 96/29 Abb. 13: Oldenburg, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Foto: Sven Adelaide 44 Alfred Spitzner, Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, das Ehrenmal seiner Befreiung und nationalen Wiedergeburt, Leipzig 1913; Stefan-Ludwig Hoffmann, »Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal«, in: Reinhart Koselleck u. Michael Jeismann (Hgg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249-280. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bettina Uppenkamp Insel der Hermaphroditen Bildpolitik im Umkreis des Hofes von Heinrich III. von Frankreich Die Figur des Hermaphroditen spielt in der Kultur des 16. Jahrhunderts in nahezu allen Bereichen eine wichtige und zugleich widersprüchliche Rolle. Sie wurde zu einem Gegenstand der Reflexion für die Natur- und Moralphilosophie, die Alchemie und die Medizin, sie beschäftigte die Rechtsprechung. Dichter und Künstler haben die unterschiedlichen Mythen immer wieder neu gestaltet und ausgelegt, die sich mit dieser Figur verbinden und von denen die AristophanesRede über den Ursprung der Macht des Eros im Symposion Platons und Ovids Erzählung vom Begehren der Wassernymphe Salmacis nach Verschmelzung mit dem schönen Sohn des Hermes und der Aphrodite die bekanntesten und wichtigsten sind.1 Während die platonische Geschichte von den primordialen Doppelwesen, unter denen ein drittes, mann-weibliches Geschlecht war, von einer ursprünglichen Einheit und Vollkommenheit auch der androgynoi ausgeht, einer Vollständigkeit, deren Verlust durch die göttliche Strafe der Zweiteilung in der heterosexuellen Vereinigung Heilung sucht, stellt sich bei Ovid die Metamorphose des Hermaphroditen durch die Vereinigung mit der Nymphe nicht als Vollendung im anderen, sondern als Verlust von Männlichkeit dar, der mit einem Fluch verbunden wird.2 Kathleen P. Long hat in einer glänzenden Studie den unterschiedlichen Dimensionen der Figur des Hermaphroditen in den philosophisch-spekulativen, den hermetischen und künstlerischen, sich teilweise überlappenden und sich gegenseitig beeinflussenden Diskursen der Renaissance in Europa und vor 1 Platon, Gastmahl, übers. u. eingel. v. K. Hildebrandt, Leipzig 1920, 189c-193b; Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, lateinisch / deutsch, übers. u. hrsg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, IV, 271-415. 2 »Sobald er also bemerkt hatte, dass ihn die klaren Wellen, in die er als Mann hinabgestiegen war, zum Zwitter gemacht hatten und dass seine Glieder darin weibisch geworden waren, streckte Hermaphroditus die Hände aus und sprach mit einer Stimme, die nicht mehr männlich war: ›Vater und Mutter, macht eurem Sohn, der nach euch beiden benannt ist, ein Geschenk: Jeder, der diese Quelle als Mann betritt, möge sie als Halbmann verlassen und, sobald er die Wellen berührt, weibisch werden.‹ Beide Eltern ließen sich rühren, erfüllten den Wunsch ihres zwitterhaften Sohnes und tränkten die Quelle mit einem Zaubermittel, das auf das Geschlecht wirkt.« Ovid (wie Anm. 1), IV, 380-388. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 99 allem in Frankreich nachgespürt.3 Insbesondere im Bereich der künstlerischen Fiktion dient die Figur des Hermaphroditen der teils spielerischen Herausforderung einer strikten heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und avanciert zu einem ästhetischen Ideal, in dem die »Sehnsucht nach Vollkommenheit«4 in der Vereinigung des Gegensätzlichen ein Bild findet, das im Monströsen, der Widernatur, der Missgeburt und dem Verbrecherischen sein Gegenbild hat. »Einträchtige Zwietracht und zwieträchtige Eintracht« sind von Werner Hofmann zu Strukturmerkmalen manieristischer Kunst erklärt worden, in der Schönheit sich mit dem Ungeheuerlichen verschwistern kann.5 Der Kulturtheoretiker Gustav René Hocke hat in seinem berühmt gewordenen Buch über den Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, den Hermaphroditen als einen der »›vereinenden‹ Zentral-Mythen« der magischen Naturphilosophie und der manieristischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts bezeichnet.6 Die Geschichte der kulturellen Existenz des Hermaphroditen ist zugleich geprägt von Verehrung und Verstoßung, die dem Schrecken der Übertretung folgt.7 Eng mit seiner geschlechtlichen Zweideutigkeit verbunden sind die Motive der 3 Kathleen P. Long, Hermaphrodites in Renaissance Europe, Aldershot 2006. Auch wenn Long zum Teil auf Bilder von Hermaphroditen eingeht, etwa auf Illustrationen in medizinischen Abhandlungen, bleibt der Bereich der bildenden Künste im engeren Sinne von ihr unberücksichtigt. Zu Bedeutung und Funktion des Hermaphroditen in der Alchemie vgl. auch Achim Aurnhammer, »Zum Hermaphroditen in der Sinnbildkunst der Alchemisten«, in: Christoph Meinel (Hg.), Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1986, S. 179-200; siehe auch ders., Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln 1986; einen breit angelegten und daher im Einzelnen eher kursorischen Überblick über die Figur des Heramphroditen in der Kunst bietet Andrea Raehs, Zur Ikonographie des Hermaphroditen. Begriff und Problem von Hermaphroditismus und Androgynie in der Kunst, Frankfurt a. M. 1990; zum ästhetischen Ideal der Androgynie in der Kunst des 16. Jahrhunderts Karin Orchard, Annäherungen der Geschlechter, Münster, Hamburg 1992. Einen breiten Überblick über den Umgang mit Hermaphroditen von der Antike bis hin zum Umgang mit Intersexualität in der Gegenwart liefert die medizinische Dissertation von Erika Nussberger auf der Grundlage medizinischer, juristischer und kulturgeschichtlicher Quellentexte. Vgl. Erika Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute, Wien, Köln, Weimar 2014. 4 »Sehnsucht nach Vollkommenheit« war der Titel einer 1986 ausgerichteten Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein, der eine Pionierfunktion im Hinblick auf das Thema Androgynie in der Kunst zugesprochen werden muss. Sehnsucht nach Vollkommenheit, Ausstellungskatalog Neuer Berliner Kunstverein, hrsg. v. Ursula Prinz, Berlin 1986. 5 Werner Hofmann, »Einträchtige Zwietracht«, in: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, Ausstellungskatalog Wiener Festwochen, Wien 1987, S. 13-21, hier S. 19. 6 Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1957, S. 202. 7 Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl, »Nachwort« zu Michel Foucault, Herculine Barbin. Über Hermaphroditismus, hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1998, S. 215246, hier S. 219. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 100 Bettina Uppenkamp Täuschung und der Travestie als Praktiken der Überschreitung und Verwirrung der Geschlechterordnung, die nur entweder Männer oder Frauen anerkennen möchte, ebenso wie sich hier der Verdacht der Sodomie, der Bougrerie und des bisexuellen Exzesses anheftet. Dennoch: »Ritueller Geschlechtertausch und feudale Maskerade sind zwei Seiten eines kulturellen Vexierbildes, das die sexuelle Zweideutigkeit transportiert, und noch die politische Symbolik hat – über das Verdikt gegen die hermaphroditischen Wesen hinweg – von diesem Passieren der Grenzen profitiert.«8 Im Feld des Politischen treffen die mit der Figur des Hermaphroditen in der Frühen Neuzeit verbundenen Ambivalenzen aufeinander. Der Hermaphrodit kann hier in seiner sexuellen Uneindeutigkeit, welche die hierarchische Ordnung zweier Geschlechter in Frage stellt, zum Zeichen gravierender sozialer Unordnung werden; er kann aber als doppelgeschlechtliches Wesen auch die Utopie der Vereinigung politischer Gegensätze und Befriedung polarisierter politischer Verhältnisse verkörpern.9 Insel der Hermaphroditen: Ein Buch von 1605 Im Jahr 1605 erschien in Paris ein in der deutschsprachigen Geschlechterforschung bisher wenig rezipiertes Buch, welches heute unter dem Titel L’Isle des Hermaphrodites bekannt ist.10 In der Form angelehnt an frühneuzeitliche Reiseberichte aus der Neuen Welt11, erzählt hier ein literarisches Ich wie es nach abenteuerlichen Jahren des Umherschweifens in fremden Weltgegenden schließlich auf dem Rückweg in die französische Heimat durch Schiffbruch auf eine phantastische Insel 8 Ebd. S. 220. 9 Siehe auch Long (wie Anm. 3), S. 2. 10 Das Buch wurde von Claude-Gilbert Dubois nach einem Exemplar der Erstausgabe in der Pariser Nationalbibliothek, bezeichnet mit Lb 34 806, bei Droz neu herausgegeben und kritisch kommentiert. L’Isle des Hermaphrodites, hrsg. v. Claude-Gilbert Dubois, Genf 1996. Der Text erfuhr mehrere Ausgaben zwischen 1605 und 1610 und im 18. Jahrhundert mehrere Neuausgaben, gedacht als Ergänzung zu Pierre de L’Estoiles Journal de Henri III und kombiniert mit anderen Texten unter dem erweiterten Titel Descriptions de l’Isle des Hermaphrodites nouvellement découverte. Contenant les Moeurs, les Coutumes & les Ordonances des Habitans de cette Isle, comme aussi le Discours de Jacophile à Limne, avec quelques autres pieces curieuses. Pour servir de Supplement au Journal de Henri III, Köln 1724 und Paris 1744. Zu den Ausgaben vgl. Dubois, S. 43 f. Ein Exemplar der Ausgabe von 1724 ist elektronisch zugänglich unter: https://books.google.fr/books?id=38o5AAAAcAAJ&printsec=frontcover&dq=Description+ de+l‘isle+des+hermaphrodites&hl=fr&ei=KESWTtyEBtGO0QGw_62OCA&sa=X&oi=b ook_result&ct=result&resnum=1 (zuletzt aufgerufen 29. 10. 2016). Seitenangaben beziehen sich auf diese leicht zugängliche Ausgabe. 11 Zu den literarischen Bezügen zur frühneuzeitlichen Reiseliteratur wie zur utopischen Literatur vgl. Dalia Harnik, L’Isle des Hermaphrodites de Thomas Artus. Les Mignons à la Cour d’Henri III de Valois. Œuvre Baroque, Essen 2015, vor allem Kap. III, S. 151-178. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 101 verschlagen wurde. Diese Insel, auf der der Erzähler und seine Begleiter gestrandet sind, ist, wie sie feststellen, ein ohne jede Verankerung frei im Ozean flottierendes Gebilde12, so fruchtbar und blühend, dass die Geretteten glauben, die Fabel von den elysischen Feldern müsse doch wahr sein. Ein Gebäude, auf das sie nach ihrer Anlandung auf der Suche nach etwas Essbarem stoßen, stellt sich ihnen in seiner materiellen Pracht aus Marmor, Jaspis, Porphyr, Gold, verschiedenen Emaillen und mit seinem skulpturalen Schmuck so staunenswert schön dar, dass ihnen dieser Palast wie eine Illusion und nicht wie eine wirkliche Architektur erscheint, denn ein Auge sei unzureichend, um solche Schönheit zu erfassen.13 Wie sich dann schnell herausstellt sind die Havarierten auf einem Eiland gelandet, das als Insel der Hermaphroditen bezeichnet wird und von menschlichen Wesen mit uneindeutiger Geschlechtszugehörigkeit bewohnt und regiert wird, die hier ein luxurierendes, hochgradig ritualisiertes, ebenso theatralisches wie epikureïsches Reich errichtet haben und einem Kult der Venus, des Cupido und des Bacchus huldigen. Instabilität und Zweideutigkeit charakterisieren nicht nur die Insel und die Erscheinung ihrer hermaphroditischen Bewohner, sondern auch deren Sprache, Verhalten und Umgebung. Dieses gilt in einem ganz wortwörtlichen Sinne, wenn die Bewegungsart der »demi-femmes« von einer hin- und herwackelnden Eleganz ist, eine Fortbewegungsart, die dem Erzähler recht riskant, den Hermaphroditen aber gegenüber natürlichen Gangarten in ästhetischer Hinsicht weit überlegen erscheint.14 Es gilt aber auch drüber hinaus, wenn klare Grenzen nicht nur im Hinblick auf die Geschlechtsidentität verschwimmen, sondern sich auch der Unterschied zwischen Kunst und Natur aufzuheben scheint. Auf dem Weg durch den labyrinthischen Palast, der ihn an zahlreichen Kunstwerken erotischen Inhalts vorbei führt, vor allem Darstellungen von Metamorphosen nach Ovid, in denen neben dem Gestalt- auch der Geschlechtswechsel eine Rolle spielt, dringt der Erzähler schließlich in das ebenfalls üppig geschmückte Schlafzimmer eines Hermaphroditen vor, den er zunächst für eine bemalte Statue hält. »[…] aux milieu du lict on voyoit une statuë d’un homme a demy hors du lict […] Le Visage étoit si blanc, si luisant & d’un rouge si éclatant, qu’on voyoit bien qu’il y avoit plus d’artifice que de nature; ce qui me faisoit aisément croire que ce n’étoit que peinture.«15 Mehr Kunstfertigkeit als Natur ist die herausstechende Eigenartigkeit, mit der der Erzähler sich auf der Insel der Hermaphroditen konfrontiert sieht, eine Kunstfertigkeit, welche alles überzieht und zu durchdringen scheint, in einer Art und Weise, dass die Differenz von Sein und Schein kollabiert – ein klaustrophobisches, manieristisches Zauberreich, 12 13 14 15 L’Isle (wie Anm. 10), S. 4 f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 102 Bettina Uppenkamp in dem gerade nicht die Geschlechterdifferenz, sondern deren Irritation unaufhörlich aufgeführt und theatralisch inszeniert wird. Die Schilderungen, die der Erzähler von den Räumlichkeiten, den An- und Umkleidezeremonien wie auch den Mahlzeiten der Hermaphroditen liefert, oszillieren zwischen spektakulär und lächerlich. Die Erkundung des Palastes, die über Gänge und durch Tapetentüren in Schlafzimmer, Bildergalerien und Skulpturensäle, vorbei an Tapisserien führt, endet schließlich in einem Raum, in welchem sich besonders reich geschmückte Statuen befinden16, darunter solche von Nero und Sporus, einem Knaben, der angeblich von Nero kastriert und in Frauenkleidern geehelicht wurde. Außerdem findet sich in diesem Raum die Statue eines Hermaphroditen mit zwei Gesichtern, eines weiblich, eines männlich, und die Darstellung des spätrömischen Kaisers Heliogabalus, der in der Geschichtsschreibung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aufgrund seiner angeblichen sexuellen Ausschweifungen, seinem Streben nach Androgynie und sogar nach Kastration zu einem Symbol von Dekadenz und Despotie geworden war.17 Die Kastration des Heliogabalus war dem Erzähler schon auf einer der Tapisserien begegnet, an denen vorbei er in diesen letzten Raum gelangt ist, in dem er Einsicht in das Gesetzesbuch des Hermaphroditenreiches nehmen kann. Kathleen P. Long bezeichnet die Figuren des Hermaphroditen und des Heliogabalus als »the two extremes of hermaphroditism. Hermamproditus embodies both male and female characteristics, whereas Heliogabalus, […] embodies neither.«18 – Zu viel Geschlecht auf der einen, zu wenig auf der anderen Seite. Hermaphroditische Gesetze Während der erste Teil des Textes die Begegnung mit mehreren Hermaphroditen schildert, gibt der zweite Teil in einem »Extraits des mêmes Loix«, einem Auszug aus ihren Gesetzen, Einblick in die Glaubensgrundsätze (»Ordonnances sur le fait de leur Religion«, »Articles de Foy des Hermaphrodites«) und zivilen und militärischen Rechtsregelungen (»La Justice & les Officiers de cet Etat«, »La 16 Ebd. S. 28 f. 17 Heliogabalus oder Elagabal, wie der Kaiser posthum nach der syrischen Sonnengottheit genannt wurde, deren Kult er hatte in Rom als Staatsreligion einführen wollen, hieß eigentlich Varius Avitus Bassaianus; als Kaiser nannte er sich Marcus Aurelius Antonius. Vor allem seine Religionspolitik stieß auf erbitterten Widerstand in Rom, und nach seiner Ermordung wurde Heliogabalus der damnatio memoriae anheim gegeben. Die Berichte über Orgien, Prostitution, Homo- und Transsexualität, welche sein Bild schon in der spätantiken Geschichtsschreibung bestimmen, müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Vgl. etwa Martijn Icks, Elagabal. Leben und Vermächtnis von Roms Priesterkaiser, Darmstadt 2014. 18 Long (wie Anm. 3), S. 226. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 103 Police de cet Etat«, »Les Loix Militaires de cet Etat«) ihres sonderbaren Reiches, welches wie ein Vexierbild von Utopia, wie eine Anti-Utopie erscheint.19 Hier ist vorgeschrieben, was anderenorts verboten ist, grundlegende, gesellschaftsstiftende Normen und Tabus sind auf paradoxe und teils in sich widersprüchlicher Art und Weise pervertiert, und ein Sitten- und Sprachkodex (»L’entregent de cet Etat«) reglementiert Verhalten und Sprechen so, dass konventionelle Sinngehalte verkehrt und ausgehöhlt werden. Der erste Absatz in den Verordnungen über die Glaubensdinge lautet: »Les Cérémonies de Bacchus, & de Cupidon & de Venus, soient ici continuellement & religieusement observées, toute autre religion en soit bannie à perpétuité, si ce n’est pour plus grand volupté. Toutesfois nous n’empêchons de s’accommoder avec les autres Religions, pourvu que ce ne soit qu’en apparence, & non par croyance.«20 Einerseits wird hier strenge Glaubensobservanz gegenüber den genannten Göttern vorgeschrieben, andererseits aber im Namen größerer Wollust die Lizenz gegeben, sich auch anderen Religionen zuzuwenden unter der Voraussetzung, dass dieses nur zum Schein und nicht aus einem wirklichen Glauben heraus geschehe. Die Vermehrung der Lüste und die Kultivierung der Scheinheiligkeit und Heuchelei sind zwei Motive, die sich wie rote Fäden durch das gesamte Gesetzeswerk ziehen. Weder Mord ist verboten noch Feigheit vor dem Feind.21 Vater- Mutter- oder Brudermord werden nicht verfolgt22; Ehebruch ist geboten, Eifersucht dagegen ein Verbrechen; erlaubt ist es dennoch, die Gattin einzusperren, vorausgesetzt es bleibt ein Schlupfloch für den Liebhaber23; das Inzesttabu ist außer Kraft gesetzt. »Pour le regard des incestes du pere avec la fille, du frere avec la soeur, du gendre avec la belle mere & autres, que les fols & mal avisés tiennent à si grand crime, nous voulons & entendons qu’on en puisse user avec toute franchise & liberté, attendu que cela concerne & augmente d’autant plus les familles, si aucune consanguinité peut estre distinguée parmy eux.«24 Die Auflösung verwandtschaftlicher Ordnungen und Bindungen wird durch die Abschaffung der Wörter für Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel, Neffe, Cousin usw. besiegelt. Die einzigen erlaubten Bezeichnungen sollen Monsieur und Madame sein.25 Wenn sich in dieser Bestimmung die konventionelle Geschlechterdistinktion scheinbar wieder eingeschlichen hat, wird 19 Lise Leibacher-Ouvrard, »Decadent Dandies and Dystopian Gender-Bending. Artus Thomas’ L’Isle des hermaphrodites (1605)«, in: Utopian Studies 11, 1 (2000), S. 124-131, hier S. 125. 20 L’Isle (wie Anm. 10), S. 31. 21 Ebd. S. 41. 22 Ebd. 23 Ebd. S. 42 f. 24 Ebd. S. 44. 25 Ebd. S. 45. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 104 Bettina Uppenkamp weiter unten deutlich, dass identitäre Kategorien im Land der Hermaphroditen keine substantielle Entsprechung, keine Essenz haben »car en cette isle l’habit fait le moine, & non pas au contraire.«26 Jeder aber darf Kleider nach seiner Fantasie tragen, vorausgesetzt, sie sind prunkvoll und ähneln einer weiblichen Aufmachung. Soziale Differenzen sollen sich hier ebenso wenig ausdrücken wie geschlechtsspezifische, Amtsträger mit bestimmten Befugnissen sollen gerade nicht zu identifizieren sein. Die hermaphroditische Kleiderordnung stellt also auf den Kopf, was Kleiderordnungen und Luxusgesetze in der Frühen Neuzeit leisten sollten, die Sichtbarkeit gesellschaftlicher Hierarchien differenziert nach Geschlecht, Status, Stand und Amt.27 Auch die militärischen Ränge sind komplett abgeschafft.28 Dass Inhaber von Befugnissen und Ämtern, gehören sie zur Polizei oder zur Steueraufsicht, im Land der Hermaphroditen den gesetzlichen Auftrag zur Bereicherung und zum Betrug haben, kann letztlich nicht mehr überraschen.29 Geschlecht als Verkleidung Das Buch wird in seiner ersten gedruckten Ausgabe von 1605 mit einem Frontispiz geschmückt (Abb. 1), welches mit leichten Variationen auch in weitere Ausgaben aufgenommen wurde. Der Kupferstich zeigt in seinem zentralen Bildfeld eine menschliche Figur vor einer sich in die Bildtiefe erstreckenden, hügeligen Landschaft, in der links im Mittelgrund mehrere zum Teil festungsartige Gebäude zu erkennen sind. Die Figur, die dicht an den unteren Bildrand herangerückt ist und nahezu die gesamte Höhe des Bildfeldes einnimmt, ist mit einer Kniebundhose und einer kurzen in der Taille gegürteten Jacke aus gestreiftem, offenbar schimmerndem Stoff bekleidet, ein Kostüm, welches deutliche Ähnlichkeit mit 26 Ebd. S. 58. 27 Ein prägnantes Beispiel liefert die auf dem Augsburger Reichstag unter dem Vorsitz Kaiser Karls V. verabschiedete Reichspolizeiordnung von 1530, die ausführlich auf die ständisch gestaffelte Kleiderordnung eingeht und unter Berücksichtigung von Schnitten, bis hin zur Reglementierung der zulässigen Anzahl von Falten, und Materialien detaillierte Vorgaben macht, was wer und wann tragen darf. Die Normierung der Kleidung wird unter dem Absatz IX folgendermaßen begründet: »Nachdem ehrlich und ziemlich und billich, daß sich ein jeder, weß Würden oder Herkommen er sey, nach seinem Stand Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem stand underschiedlich erkanntnus sein mög […]«. Einsehbar ist die Reichspolizeiordnung von 1530 unter https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Polizeiordnung_ von_Karl_V._1530 (zuletzt aufgerufen 29. 10. 2016). Der seit dem 16. Jahrhundert wachsenden Bedeutung des höfischen Zeremoniells und damit der Kleidung als distinktem Bedeutungsträger entspricht eine Zunahme von Kleiderordnungen. Vgl. Philipp Zitzlsperger, Dürers Pelz und das Recht im Bild. Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, S. 127 f. 28 L’Isle (wie Anm. 10), S. 81. 29 Ebd., S. 55 ff. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 105 Abb. 1: Frontispiz zu Thomas Artus (zugeschr.), L’Isle des Hermaphrodites nouvellement descouverte, avec les moeurs, loix, coutumes et ordonnances des habitans d’icelle, 1605, Kupferstich, Paris, Bibliothèque nationale, LB 34 806 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 106 Bettina Uppenkamp höfischer Männerkleidung um 1600 in Frankreich aufweist, wenngleich die Weite der Beinkleider übertrieben scheint. Die auf Kniehöhe endenden Hosen lassen Hüften und Oberschenkel voluminös gerundet wirken. Unter der Jacke, mit einer zierlichen Knopfleiste versehen, zeichnen sich zart Brüste ab. Ein ausladender Spitzenkragen rahmt das bartlose Gesicht, eine Perlenkette ziert den Hals, und die kunstvoll hoch aufgetürmte Frisur ist mit Blüten geschmückt. Blumiger Schmuck befindet sich auch auf den Schuhen. Ihren rechten Arm hat diese Figur seitlich auf die Hüfte gestemmt, die linke Hand ruht auf dem Griff des Schwertes, mit dem sie gegürtet ist. Von der linken Schulter fällt ein langer Umhang herab. Die auffällige Frisur, in der die Erscheinung gipfelt, ragt in ein Schriftband hinein, in welchem zu lesen ist: »a tous accords« – mit allem einverstanden. In einem vom Hauptbild durch Rahmen abgesetzten Streifen steht der Schriftzug »Les Hermaphrodites«. Zusammen wirken diese Schriftzüge in ihrer Beziehung zu dem Bild wie ein emblematisches Motto und werden durch eine subscriptio ergänzt. Unterhalb der figürlichen Darstellung rahmen Rollwerk und Blattranken folgenden Vers: Je ne suis masle ny femelle / Et si je suis bien en cervelle / Le quel des deux je dois choisier / Mais qu’importe a qui on ressemble / Il vaut mieux les avoir ensemble / On en reçoit double plaisir.30 Die von Michel Foucault in seiner Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Erinnerungen der Herculine Barbin aufgeworfene Frage: »Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?« wird hier verneint, und zurückgewiesen wird die ›an Starrsinn grenzende Beharrlichkeit‹, mit der Foucault zufolge die Gesellschaften des Abendlandes diese Frage bejaht haben.31 Zurückgewiesen wird auch der Zwang jener vormodernen Gesetze, die zwar weniger die anatomische Vermischung zweier Geschlechter verfolgten, als vielmehr die Betroffenen vor die Wahl stellten, sich entweder für das eine oder das andere Geschlecht zu entscheiden und ihre Rolle entsprechend einzunehmen, um klare Verhältnisse herzustellen.32 Die Zurückweisung der Entscheidung erfolgt im Namen einer Vermehrung der Lust. 30 »Ich bin weder männlich noch weiblich / Und wenn ich gut bei Verstand bin / Welches der beiden soll ich wählen / aber was macht es aus, wem man ähnelt / Es ist besser sie gemeinsam zu haben / Daraus empfängt man doppelte Lust.« (Übersetzung Bettina Uppenkamp). 31 Michel Foucault, Herculine Barbin. Über Hermaphroditismus, hrsg. v. Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1998, S. 7. Foucault zeichnet in diesem Vorwort die Verschiebung nach, die aus dem Hermaphroditen als juristischem und sozialen Problemfall im Verlauf des 18. Jahrhunderts einen Fall für die Ärzte macht, denen es als Experten jetzt obliegt, das eine »wahre« Geschlecht festzustellen, welches sich hinter einer verwirrenden Anatomie verbirgt. 32 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. 1992, S. 157. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 107 Während die weitaus meisten europäischen Darstellungen von Hermaphroditen im 16. Jahrhundert wie schon in der Antike die Hermaphroditen unbekleidet zeigen, um die Zwittrigkeit des Körpers deutlich werden zu lassen – sei es im Kontext von medizinischen Abhandlungen, hermetischen oder alchemistischen Schriften oder aber in der Kunst, und unabhängig davon, ob diese Bilder die Monstrosität oder aber im Gegenteil die Idealität der Zweigeschlechtlichkeit im Sinne einer Harmonisierung des Gegensätzlichen herausstellen wollen – gibt die Darstellung auf dem Frontispiz von der ›natürlichen‹ Beschaffenheit des Körpers, von seiner Morphologie unter der Hülle seiner (Ver)Kleidung nichts preis. Dieses korrespondiert mit der Schilderung der Hermaphroditen im Text. Sie zielt kaum auf die körperlichen Merkmale, nicht auf die Sexualorgane oder Fragen der Reproduktion, sondern vordringlich, wie auch Kathleen P. Long betont33, auf die kulturellen Zeichen des Geschlechts, auf Kleidung, Gesten, Sprache, den öffentlichen Habitus. Es ist vor allem die gestalterische Dimension der Oberflächen, der Erscheinung, in der die Inselbewohner in aufwändigen Prozeduren des Ankleidens, des Schminkens, Frisierens und Schmückens ihre Körper als hermaphroditisch erscheinende Körper kunstvoll formen, und die der Erzähler, der einer Art zeremoniellem Lever beiwohnt, in Ausführlichkeit beschreibt.34 Dazu gehört zum Beispiel, dass auch das Aussehen der Gesichter unter Schminke und Maske niemals zum Vorschein kommt und die Hände in Handschuhen stecken. Das Bild, welches der Erzähler von den Hermaphroditen zeichnet, ist das eines manieristischen Kunstwerkes, welches seine artifizielle Raffinesse ebenso ausstellt, wie es die in seine kunstvolle Erscheinung investierte Mühe – der Erzähler fühlt sich an Folterprozeduren erinnert – durch Könnerschaft in den Techniken des »self-fashioning« zu überspielen sucht.35 Blutige Tragödien in Frankreich Als Motivation für seinen Aufbruch aus Frankreich in die Neue Welt gibt der namenlos bleibende Erzähler der Isle des Hermaphrodites in seiner Einleitung den Wunsch nach neuartigen Erlebnissen und den Überdruss an der Alten Welt an, andererseits macht er die Angst geltend, in die blutigen Tragödien hineingezogen 33 Long (wie Anm. 3). Der Isle des Heramphrodites ist in ihrem Buch das 8. Kapitel gewidmet: »Hermaphrodite Newly Discoverd: The Cultural Monsters of Early Modern France«, S. 215235, hier S. 216. 34 L’Isle (wie Anm. 10), S. 16 ff. 35 Der Begriff des »self-fashioning« wurde von Stephen Greenblatt geprägt: »[T]he power to impose a shape upon oneself is an aspect of the more general power to control identity – that of others at least as often as one’s own.« Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 1. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 108 Bettina Uppenkamp zu werden, die auf Europas Bühne gegeben wurden36, ein deutlicher Verweis auf die dramatischen politischen und konfessionellen, von kriegerischer Gewalt geprägten Verwerfungen, welche die Situation in Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gezeichnet haben. Frankreich wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert von einer Reihe, konfessionell grundierter, blutiger Kriege und Bürgerkriege erschüttert, in denen es der Krone nicht gelang, einen Ausgleich zwischen den Parteiungen herbeizuführen. Dieser historische Abschnitt, den die Geschichtsschreibung als »Epoche der Religionskriege« in der Regel mit dem Tod des Königs Heinrich II. von Valois im Jahr 1559 beginnen und mit dem Edikt von Nantes im Jahr 1598 enden lässt37, ist durch nicht weniger als acht bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den unter der Führung des Hochadels militärisch aufgerüsteten Konfessionsparteien gekennzeichnet; zudem wurde Frankreich von Pestepidemien und Hungersnöten heimgesucht, die von der Bevölkerung zum Teil angstvoll als Zeichen göttlichen Zorns gedeutet wurden.38 Zu den traumatisierenden Höhepunkten der nicht nur militärisch organisierten, sondern progromartig ausgeübten Gewalt gehörte die sogenannte Pariser Bluthochzeit in der Nacht auf den 24. August, der Bartholomäusnacht 1572, in der in Paris ca. 3.000 Hugenotten niedergemetzelt wurden. Betroffen waren von diesen Morden zum Teil hohe Adelige, die zu den Hochzeitsfeierlichkeiten anlässlich der Verheiratung der katholischen Prinzessin Margarete von Valois mit dem Protestanten Heinrich von Navarra angereist waren. Zum Auslöser war ein Attentat auf den hugenottischen Admiral Caspard de Coligny geworden. Die gewalttätigen Ausschreitungen setzten sich auch in anderen Gegenden Frankreichs noch an den folgenden Tagen fort und rissen den tiefen Graben zwischen den Konfessionen wieder weit auf, der durch die Hochzeit gerade hätte überbrückt werden sollen.39 Unschwer lassen sich die blutigen Tragödien, von denen in der 36 L’Isle (wie Anm. 10), S. 2. 37 Rainer Babel, »Kreuzzug, Martyrium, Bürgerkrieg. Kriegserfahrungen in den französischen Religionskriegen«, in: Franz Brendle u. Anton Schindling (Hgg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Münster 2006, S. 107-117, hier S. 107. 38 Denis Crouzet, »Henri III ou le souverain des contraires«, in: Fêtes et crimes à la Renaissance. La cour d’Henri III, Ausstellungskatalog Château royal de Blois 2010, hrsg. v. Pièrre-Gilles Girault u. Mathieu Mercier, Paris 2010, S. 21-33, hier S. 23 f. 39 Bis heute lassen sich die genauen Ereignisse kaum entwirren und eindeutig ist auch die Verantwortung für das Massaker nicht geklärt. Wenn häufig Katharina de‘ Medici als die eigentlich Schuldige identifiziert wird, ist demgegenüber festzustellen, dass die Eskalation zwischen den Glaubensparteien im Widerspruch zur Innen- und Außenpolitik der Königinmutter und Karls IX. stand, die im Namen der französischen Staatsräson auf Unabhängigkeit von Vatikan und Spanien bedacht und auf einen Ausgleich und die Koexistenz von Katholiken und Hugenotten in Frankreich gerichtet war. Es spricht einiges dafür, dass sich Karl IX. unter dem Druck der radikal-katholischen Guise und Philipp II. zur Billigung der Gewalt gezwungen sah, mit katastrophischen Folgen. Zur Bartholomäusnacht vgl. Denis Crouzet, La nuit de la https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 109 Einleitung der Isle des Hermaphrodites die Rede ist, mit diesen Ereignissen in Verbindung bringen. Die Einleitung liefert auch den terminus post quem für die Abfassung des Textes, denn die Narration lautet, nach Jahren des rastlosen Umherreisens habe die Nachricht vom Friedenschluss zwischen Frankreich und Spanien im Frieden von Vervins die Sehnsucht bei seinem Reisegenossen und ihm geweckt, die französische Heimat wieder zu sehen.40 »une Satyre ingenieuse« Als die Isle des Hermaphrodites 1605 herauskam, erschien das Buch ohne den Namen seines Verfassers und auch ohne den Titel, der erst auf eine spätere verlegerische Entscheidung zurückgeht. Heute wird es mehrheitlich einem gewissen Thomas Artus, Sieur d’Embry, zugeschrieben, einem dem katholischen Lager in Frankreich zuzurechnenden Schriftsteller und Übersetzer antiker philosophischer Texte. Diese Zuschreibung beruht auf einer Notiz in den Journalen des Pierre de L’Estoile am 11. April 1605, wo dieser über das Erscheinen des Buches berichtet. Pierre de L’Estoile war als Jurist an der französischen Staatskanzlei tätig und eng mit Pariser Kreisen des Parlaments und dem Hof sowohl unter Heinrich III. Valois als auch noch unter dessen Nachfolger Heinrich IV. von Navarra aus dem Haus Bourbon im Kontakt. Ab 1601 begann er mit der Niederschrift seiner auf Tagebuchaufzeichnungen beruhenden Erinnerungsjournale über die Regierungszeiten dieser beiden Monarchen. Wichtige politische wie zahlreiche Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1999; Uwe Schultz, Henri IV. Machtmensch und Libertin, Berlin 2010, S. 35-49; eine knappe Zusammenfassung der Fakten, soweit historisch geklärt, bei Martin Schieder, »Die göttliche Ordnung der Geschichte. Massaker und Martyrium im Gemälde ›Die Barholomäusnacht‹ von François Dubois«, in: Uwe Fleckner (Hg.), Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, Berlin 2014, S. 127-140. 40 Der am 2. Mai 1598 geschlossene Frieden von Vervins beendete den nach dem Tod von Heinrich III. ausgebrochenen Krieg zwischen Frankreich und Spanien, mit dem Philipp II. seinen Anspruch auf den französischen Thron hatte durchsetzen wollen. Abgeleitet war dieser Anspruch aus seiner Ehe mit Elisabeth von Valois, der Schwester des kinderlosen Heinrich III., und der Weigerung, die Legintimation des bei seiner Krönung noch protestantischen Nachfolgers auf dem französischen Thron Heinrich IV. anzuerkennen. Mit der Konversion Heinrich IV. zum Katholizismus im Jahr 1593 war dieser Kriegsbegründung der Boden entzogen worden. Die Bezugnahme auf den Friedensschluss im Jahr 1598 legt nahe, dass die Reisebeschreibung von der Insel der Hermaphroditen kurz danach geschrieben oder jedenfalls fertig gestellt wurde. Arthur Erwin Imhoff, Der Friede von Vervins 1598, Aarau 1966. Der Vertragstext ist online zugänglich auf der Seite Europäische Friedensverträge der Vormoderne auf der Seite des Leipniz-Institutes für europäische Geschichte, Mainz unter http://www.iegfriedensvertraege.de/treaty/1598%20V%202%20Friedensvertrag%20von%20Vervins/t-208-1de.html?h=1&comment=478 (letzter Zugriff 29. 10. 2016). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 110 Bettina Uppenkamp alltägliche Begebenheiten und Beobachtungen wurden von ihm festgehalten, und seine Aufzeichnungen stellen für die französische Geschichte in der Zeit der Religionskriege eine der wichtigsten Quellen dar.41 L’Estoile nennt den Autor der Ile des Hermaphrodites allerdings Artus Thomas, sodass dessen Identität mit dem Sieur d’Embry nicht als zweifelsfrei gesichert gelten kann, es sich möglicherweise sogar um ein Pseudonym handelt.42 Auch im Avis an den Leser in den Ausgaben des 18. Jahrhunderts wird der Autor als Artus Thomas bezeichnet. Zugleich wird hier deutlich formuliert, wofür man das Buch hielt, für eine geistreiche Kritik an dem französischen König Heinrich III., »une Satyre ingenieuse, qui fait voir les desordres de la Cour du Roy Henri III. Cette piece est fort recherchée de tous les Curieux parcequ’on y trouve effectivement une Description enjouée des minauderies & des manieres effeminées des Mignons de ce Roy.«43 Vermutet wird hier (fälschlich), dass diese »heitere Beschreibung der Affektiertheiten und der effeminierten Manieren der Mignons dieses Königs« bereits unter dessen Regentschaft geschrieben, aber erst nachträglich veröffentlicht worden sei. Zudem wird die Anekdote erzählt, dass Heinrich IV. das Buch gelesen, es zwar für dreist befunden, jedoch von einer Verfolgung des Autors abgesehen habe, denn es sei nicht in Ordnung einen Mann mit Kummer zu überziehen, der nur die Wahrheit gesagt habe. Das Vorwort endet dann mit einem Lob auf die Güte Heinrichs IV.44 Tatsächlich liegt es nahe, die Insel der Hermaphroditen als phantastischsatirische Beschreibung des Hofes unter Heinrich III. zu lesen. Heinrich III., als vierter Sohn von insgesamt sechs Kindern Heinrichs II. von Valois und Katharina de’ Medicis 1551 geboren, bestieg den französischen Thron 1575 nach 41 Pierre de L’Estoile, Registre-Journal du Règne de Henri III, hrsg. v. Madeleine Lazard u. Gilbert Schrenck, 6 Bde., Genf 1992-2003. Siehe auch Florence Greffe u. José Lothe, La vie, les livres et les lectures de Pierre de L’Estoile. Novelles Recherches, Paris 2004. 42 Die beiden Versionen – Thomas Artus und Artus Thomas – haben auch in der Sekundärliteratur für Verwirrung gesorgt. Zur Diskussion um Namen und Identität des Verfassers der Isle des Heramphrodites vgl. Dubois (wie Anm. 10), S. 17, Long (wie Anm. 3), S. 215, Anm. 2 sowie Harnik (wie Anm. 11), S.26 ff. Sowohl Long als auch Harnik folgen der Konvention, den Verfasser Thomas Artus zu nennen. Unentschieden in dieser Frage Gary Ferguson, Queer (Re)Readings in the French Renaissance. Homosexuality, Gender, Culture, Ashgate 2008, S. 265. Schon im 18. Jahrhundert wurde die Frage der Autorschaft kontrovers diskutiert. Carl Friedrich Flögel, der eine Geschichte der komischen Literatur geschrieben hat und das Buch als eine lebhafte allegorische Satire bezeichnet, referiert die Meinung, Thomas Artus als pedantisch gelehrter Autor komme als Urheber nicht in Frage. Vgl. Carl Friedrich Flögel, Geschichte der komischen Literatur, Liegnitz, Leipzig 1785, Bd. 2, S. 534 f. 43 L’Isle (wie Anm. 10), »Avis au Lecteur«, S. 2. 44 Ebd. S. 3. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 111 dem Tod seines Bruders Karl IX.45 Ein italienischer Gesandter am französischen Hof beschrieb Heinrich III. folgendermaßen: Sa façon de s’habiller et ses agissement prétencieux le font paraitre délicat et efféminé, car en plus des riches habits qu’il porte, tout couverts de broderies d’or, de pierreries et de perles du plus grand prix, il donne encore une extrême recherche à son linge et à l’arrangement de sa chevelure. Il a d’ordinaire au cou un double collier d’ambre serti d’or qui flotte sur sa poitrine et répand uns suave odeur. Mais ce qui plus que tout le reste, selon moi, lui fait perdre beaucoup des sa dignité, c’est d’avoir les oreilles percées comme les femmes […].46 Pierre de L’Estoile weiß zu berichten, dass der König bei Turnieren gelegentlich als Amazone verkleidet und in Frauenkleidern auftrat.47 Und über das Erscheinungsbild der sogenannten »mignons« des Königs, seiner engen Favoriten, hält L’Estoile fest, dass sie ›unzüchtig geschminkt und aufgemacht‹ gewesen seien, leurs cheveux onguets, frisés et refrisés par artifices, remontant par-dessus leurs petits bonnets de velours, comme font les putains du bordeau, et leurs fraises des chemises de toile d’atour empresées et longues de demi-pied, de façon qu’à voir leur tête dessus leur fraise, il semblait que ce fut le chef de saint Jean dans un plat; le reste de leurs habillements fait de même.48 Bei den Lieblingen Heinrichs III. handelte es sich in der Regel um Männer etwa seines Alters, teils Kriegsgefährten aus der Zeit, als er noch vor seiner Inthronisation als Herzog von Anjou und erfolgreicher Führer der katholischen Partei aktiv an den Religionskriegen teilgenommen hatte.49 Mit der Auswahl seiner 45 Als Karl IX. starb, befand Heinrich sich gerade in Polen, wo er auf Betreiben seiner Mutter zum König gewählt worden war. Geradezu fluchtartig verließ er nach der Nachricht vom Tod seines Bruders Polen, um sich über Venedig reisend zurück nach Frankreich zu begeben und die französische Königswürde zu übernehmen. Die anlässlich des Besuches in Venedig und der Reise Heinrichs durch Italien auf seiner Rückreise von Polen ausgerichteten Festlichkeiten von den ephemeren Bauten, die für den Einzug des französischen Thronaspiranten in der Lagunenstadt errichtet wurden, über die in Auftrag gegebenen Kompositionen bis hin zu den bildlichen Reflexen, welche dieses Ereignis in unterschiedlichen Medien hinterlassen hat, sind von Evelyn Korsch aufgearbeitet worden. Vgl. Evelyn Korsch, Bilder der Macht. Venezianische Repräsentationsstrategien beim Staatsbesuch Heinrichs III. (1574), Berlin 2013. 46 Zit. nach Jacqueline Boucher, Société et mentalités autour de Henri III, 2 Bde, Lille, Paris 1981, hier Bd. 1, S. 98 f. 47 L’Estoile (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 104. 48 Zit. nach Isabelle Haquet, L‘énigme Henri III. Ce que nous révèlent les images, Paris 2011, S. 22, Anm. 6. 49 Das System der Günstlinge und Lieblinge des Königs, der favoris und der mignons, war keineswegs eine Erfindung Heinrichs III. Neu war auch nicht, dass die Thronfolge mit einem Wechsel in diesen privilegierten Positionen bei Hof einherging und unter neuer Regierung https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 112 Bettina Uppenkamp engsten Vertrauten, die von ihm mit zahlreichen Kompetenzen, erheblichen Gratifikationen und Privilegien ausgestattet wurden, insbesondere mit dem Privileg eines bevorzugten Zugangs zum König, und mit denen er einen äußerst engen und vertraulichen Umgang pflegte, versuchte Heinrich III. offensichtlich den Einfluss der alten mächtigen Adelsfamilien bei Hofe zu beherrschen und sich eine Entourage zu schaffen, die ihre Stellung weniger ihrer Herkunft als vielmehr ganz persönlich dem König zu verdanken hatte.50 Zudem trachtete er danach, diese engen persönlichen durch familiäre Bindungen zu festigen, indem er einige seiner Favoriten mit Frauen aus der königlichen Verwandtschaft verheiratete.51 Nicht nur die ostentativ zur Schau gestellten Gunstbezeugungen für die Mignons, auch die Ausgestaltung des höfischen Lebens, bei der dieser ›noblesse de robe‹ nicht zuletzt die Rolle zukam, durch ihre luxuriöse Ausstaffierung den Glanz des Hofes und des Königs in seinem Zentrum zu heben, verbunden mit erheblichen Ausgaben für Kleidung und die zahlreichen höfischen Festveranstaltungen – um den Ansprüchen an ihr vom König kontrolliertes Erscheinungsbild gerecht zu werden, stürzten sich die jungen Männer nicht selten in Schulden – riefen zunehmend die Kritik an solcher Verschwendung in politisch äußerst bedrängter Zeit, die weniger Festlichkeit als vielmehr politische und militärische Entschlossenheit erfordert hätte, auf den Plan.52 Während Reichtum und Schönheit der königlichen Inszenierungen und Entourage, wie es Nicolas Le Roux ausgedrückt hat53, als ein platonisch inspiriertes Bild göttlicher Perfektion, und die ausgestellte »amitiée passionnée« als eine höhere Form der die höfische Elite einigenden Kraft mit zeichenhaftem Charakter für ein unbedingtes Treueverhältnisses zwischen dem König und all seinen Untertanen intendiert und imaginiert gewesen sein mögen, geriet dieses Modell im Lauf der Regierungszeit Heinrichs III. in die Krise und als »un vray sarail de toute lubricité et paillardise, un escole de Sodomie« in Verruf.54 50 51 52 53 54 nur wenige Günstlinge sich halten konnten. Schon die Thronübernahme Heinrichs II. war mit einer Palastrevolution einhergegangen, in der die Clique, welche den inneren Zirkel der Macht bestimmte, nahezu komplett ausgetauscht worden war. Vgl. Sigrid Ruby, Mit Macht verbunden. Bilder der Favoritin im Frankreich der Renaissance, Freiburg 2010, S. 123 ff. Grundlegend zu den mignons Heinrichs II. und Heinrichs III. Nicolas Le Roux, La faveur du roi. Mignons et et courtisans au temps des derniers Valois (vers 1547 – 1589), Seyssel 2001. Vgl. Nicolas Le Roux, »Henri III et ses mignons: mythe et réalité«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38) , S. 37-43, hier S. 39 f. Ebd., S. 41. Vgl. Robert J. Knecht, Hero or Tyrant? Henry III, King of France, 1574 – 1589, Farnham 2014, S. 210 ff. Le Roux (wie Anm. 49), S. 38. René de Lucinge, »Le Miroir des princes ou grands de la France et un bref discours des trois Estats du Royaume avec les conjectures de ce que doibt estre de luy à l’advenir« (1586), in: AnnuaireBulletin de la société de l’histoire de France, hrsg. v. Alain Dufour 1954-1955, S. 95-186, hier S. 105. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 113 In den Augen seiner Gegner avancierte die vom König selbst und seinen Vertrauten zur Schau gestellte sexuelle Ambiguität im Rahmen von exzessivem Luxuskonsum bei angeblicher Vernachlässigung der Regierungspflichten zunehmend zum Kern einer lasterhaften Tyrannis, durch die nicht allein die Ordnung der Geschlechter, sondern der Bestand des Königreiches Frankreich insgesamt auf dem Spiel stand. Dass der König, seit 1575, unmittelbar nach seiner Krönung mit Louise de Lorrain-Vaudémont verheiratet, ohne Kinder blieb und damit die Kontinuität des Hauses Valois in Frage gestellt war, sowie auch die Tatsache, dass er anders als sein Vater oder sein Großvater keine offizielle Mätresse hatte, schürten den Zweifel an seiner ›männlichen‹ Kompetenz zur Herrschaft. Vor allem das Fehlen eines männlichen Nachkommen sollte zu einer ernsthaften Bedrohung der ohnehin prekären Stabilität seiner Regierung werden, denn dadurch rückte in den Bereich des Möglichen, was bis dahin undenkbar gewesen war, nämlich, dass mit Heinrich von Navarra, dem Ehemann der Schwester Heinrichs III., dem nach salischem Recht nun die Thronfolge zustand55, ein Protestant den französischen Thron erben würde – für die radikalen Katholiken in Frankreich, denen der spanische König Philipp II. den Rücken stärkte, eine inakzeptable Aussicht. Der enge Umgang des Königs mit seinen Favoriten sowie seine Vorliebe für ›effeminierte‹ Garderobe und Aufmachung befeuerten die immer heftiger werdende, oft sexuell-denunziatorisch eingefärbte Polemik, die aus dem katholischen wie protestantischen Lager in die Welt gesetzt, in Form von Pamphleten und teils bebilderten Flugschriften zirkulierte und eine diskursive und visuelle Gegenmacht zur offiziellen Inszenierung der Monarchie mittels Kunst, Architektur, Theater, Festlichkeit und Zeremoniell sowie auch der ostentativen Einsetzung und Ausübung religiöser Riten unter Heinrich III. darstellte. Kein König war zuvor jemals mit einer vergleichbaren Flut von in Wort und Bild zirkulierenden Anschuldigungen und Verunglimpfungen überzogen worden.56 Bildpolitik unter Heinrich III. Aus kunstgeschichtlicher Sicht ist die Regierungszeit Heinrichs III. nach wie vor wenig belichtet. Während die Kunstförderung und die französische Hofkultur unter der Regentschaft seiner Vorgänger, vor allem seinem Großvater Franz I., und mittlerweile auch die Jahre unter seinem Vater Heinrich II. relativ gut erforscht sind und als glanzvolle Zeit der französischen Renaissance behandelt 55 Das salische Recht schloss Frauen von der Erbschaft und damit auch von der Erbschaft der Krone aus. 56 Knecht (wie Anm. 52), S. xi.; Pierre-Gilles Girault u. Mathieu Mercier, »Un siècle d’or et de sang«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S. 13-19, hier S. 14 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 114 Bettina Uppenkamp werden57, galt die mit dem Tod Heinrich II. einsetzende Phase als eine Epoche des künstlerischen Niedergangs und des Epigonentums. Anthony Blunt stellte in seinem der französischen Kunst der Frühen Neuzeit gewidmeten Standartwerk Art and Architecture in France 1500 to 1700 fest, dass die letzten vierzig Jahre des 16. Jahrhunderts in Frankreich die komplette Zerstörung all dessen gesehen haben, was unter François I. und Henri II. erreicht worden sei.58 Erst in jüngerer Zeit wurde auch der Kunst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.59 Tatsächlich ist Heinrich III. weniger als seine Vorgänger als Auftraggeber großer künstlerischer Projekte oder Bauaufgaben aufgetreten. Offenbar hat er den Medien Theater, Ballett, dem höfischen Fest und vor allem dem Hofzeremoniell selbst gegenüber der Architektur, der Skulptur und der Malerei zur ästhetischen Inszenierung seines Königtums den Vorzug gegeben.60 Es kommt hinzu, dass es nach der von Heinrich III. angeordneten Ermordung der Brüder Guise im Dezember 1588 – dies war die Rache des Königs dafür, dass der Herzog von Guise ihn im Mai des selben Jahres als militärischer Führer der 1584 neu gegründeten katholischen Liga gezwungen hatte, Paris zu verlassen61 – zu einem Bildersturm kam, in dem öffentlich sichtbare mit Heinrich III. verknüpfte Bildwerke und Darstellungen des Königs vernichtet worden sind. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die monumentalen Grabmale zerstört, welche Heinrich III. für seine ums Leben gekommenen Mignons von Germain Pilon in der Kirche Saint Paul in Paris hatte errichten lassen.62 Den Festinszenierungen bei Hofe, deren Choreographien gleichermaßen darauf zielten, die Person des Königs zu exponieren wie ihn zum einigenden, 57 Hier ist nicht der Ort für eine umfängliche Bibliographie. Hingewiesen sei hier vor allem auf jüngere Untersuchungen, welche Genderfragen mit berücksichtigen: Ruby (wie Anm. 49); Christine Tauber, Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier, Konstanz 2006. 58 Anthony Blunt, Art and Architecture in France 1500 to 1700, 5. Aufl. New Haven, London 1999, S. 84. In der großen Publikation über den europäischen Manieris von Daniel Arasse u. Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus 1520 – 1610, München 1997 kommen die Regierungsjahre unter Heinrichrich III. mit keiner Silbe vor. 59 Vgl. Henri Zerner u. Marc Bayard (Hgg.), ¿Renaissance en France, renaissance française?, Paris 2009; im hier zur Debatte stehenden Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit Fêtes et crimes (wie Anm. 38) sowie vor allem Isabelle Haquet (wie Anm. 48), deren Buch vor allem den Porträts und symbolischen Darstellungen des Königs gewidmet ist. 60 Pièrre-Gilles Girault u. Mathieu Mercie, »Introduction«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S. 12-19. 61 Zum Herzog von Guise vgl. Pièrre-Gilles Girault, »Scène de crime: sur les traces du duc de Guise«, in: ebd., S. 63-71. 62 Haquet (wie Anm. 48), S. 17. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 115 alle Gegensätze harmonisierenden Fluchtpunkt der Hofgesellschaft zu machen, korrespondierten nicht weniger spektakuläre und theatralische Inszenierungen von frenetischer Frömmigkeit und Bußfertigkeit, etwa wenn der König, flankiert von seinen Höflingen, seinen Körper in öffentlichen Prozessionen geißelte.63 »He seems to have identified his own body with the body politic and believed that its purification would bring about the moral reformation of his subjects.«64 Den Augen seiner Kritiker erschienen diese Darbietungen nicht weniger tadelnswert und ›unnatürlich‹ als die verschwenderischen Spektakel bei Hofe, der König und seine Mignons als Heuchler.65 Der Politisierung des religiösen Rituals auf der einen Seite entsprach auf der anderen die Sakralisierung der Königsherrschaft in der festlichen Ordnung von Tanz und Zeremoniell. Festlichkeit, Prachtentfaltung und verschwenderischer Luxus entsprangen ebenso wie die theatralisch ausagierte fromme Askese, so Denis Crouzet, einem politischen Konzept der Vereinigung des Unvereinbaren.66 Für ein angemessenes historisches Verständnis des eingeschränkt überlieferten Corpus von Kunstwerken aus der Regierungszeit Heinrichs III. gilt, was Christiane Hille etwa auch für die Bilder des höfischen Körpers in der englischen Hofkunst des frühen 17. Jahrhunderts postuliert hat67, dass ihre Rolle im Kontext des Ensembles visueller und performativer Strategien zu sehen ist, mittels derer die politischen Figurationen bei Hofe ausgestaltet wurden. Ein wichtiges Medium höfischer Selbstdarstellung ist das Porträt, welches druckgrafisch vervielfältigt, auch über den engen Kreis des Hofes hinaus das jeweils beanspruchte Bild der Herrschaft zu prägen und zu kommunizieren vermag. Die überlieferten Porträtdarstellungen Heinrich III. sind von Isabelle Haquet in drei Phasen überschieden worden.68 Während die Bilder zu Beginn seiner Herrschaft wesentlich dem schon unter seinen Vorgängern etablierten Typus für höfische Porträts folgen und entsprechend vor allem Kontinuität zum Ausdruck bringen (Abb. 2 u. 3) – sie zeigen den jugendlichen König im Dreiviertelprofil in kostbarer Kleidung mit Halskrause aus Spitze, reichem Juwelenschmuck und einem schräg auf dem Kopf sitzenden federgeschmückten Samtbarett – scheint sich die Erscheinung Heinrichs III. in den 1578 und 1579 entstandenen Bildnissen der tadelnden Beschreibung Pierre de L’Estoiles zu nähern. Neben dem reichen 63 Vgl. Knecht (wie Anm. 52), S. 215 ff. Der König zeigte sich nicht nur öffentlich bei Bußübungen, sondern zog sich auch zeitweise vom Regierungsgeschehen nicht weniger ostentativ zur Meditation zurück. Darüber hinaus überstützte er Klöster und die Gründung von Bruderschaften. 64 Ebd. 65 L’Estoile (wie Anm. 41), Bd. 4, S. 79 ff. 66 Crouzet (wie Anm. 38), S. 25. 67 Vgl. Christine Hille, Visions of the Courtly Body, Berlin 2012, S. 30 ff. 68 Haquet (wie Anm. 48), S. 22. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 116 Bettina Uppenkamp Abb. 2: Jean Decourt, Henri de Valois, um 1572, Zeichnung, Grafit und Rötel auf Papier, 33,3 x 22,8 cm, Paris, Bibliothèque nationale, Est., Na 22 Abb. 3: Bernard Linousin (zugeschr.), Porträt Heinrichs III., um 1575, Email auf Kupfer, Metz, Musées de Metz Métropole https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 117 Schmuck, der farbigen Kleidung und dem aufwändigen Spitzenkragen fällt hier vor allem die aufwändige hochaufgetürmte und von einer kostbaren Agraffe bekrönte Frisur auf (Abb. 4). Ganz ähnliche Akzente setzen Porträtdarstellungen seiner Mignons, wie das Miniaturporträt des Anne Duc de Joyeuse deutlich werden lässt (Abb. 5). Auch hier thront der sorgsam frisierte Kopf auf einem ausladenden Spitzenkragen, und ausgestellt ist die Perle, welche das linke Ohr ziert und in ähnlicher Weise auch auf Bildnissen des Königs zu sehen ist.69 Die Nähe zum König und enge Zugehörigkeit zum inneren Zirkel der Macht drückt sich hier in der Assimilation an die äußere Erscheinung des Königs aus. In den 1580er Jahren änderte sich die Selbstdarstellung des Königs im Brennglas der Image-Produktion seiner Hofkünstler, vor allem der Maler Jean Decourt und Jean Rabel und der Kupferstecher Thomas de Leu und Léonard Gaultier, welche für die Verbreitung dieses neuen und bis zum Tod des Königs gültigen Bildmusters sorgten. Seine Porträts zeigen ihn nun nicht mehr in farbenprächtiger Kleidung aus kostbaren Stoffen, mit ausladendem Spitzenkragen und Samtkappe. Vielmehr gibt jetzt eine Decourt zugeschriebene Zeichnung die Blaupause für die offiziellen Bildnisse des Königs ab, welche ihn in einem relativ schlichten schwarzen Anzug mit, verglichen mit der früheren Spitzenpracht, bescheidenem weißen Kragen und gerade auf dem Hinterkopf sitzenden ›polnischem‹ Barett zeigen, an dem eine Agraffe mit einem einzelnen großen gefassten Diamanten befestigt ist (Abb. 6 – 8). Die Haartracht scheint nunmehr gemäßigt. Zudem trägt der König auf seinen Porträts jetzt ausnahmslos ein blaues Band mit dem Stern des von ihm gegründeten Ordens vom Heiligen Geist. Die Gründung dieses Ordens im Jahr 1578, die auch unter herrschaftstechnischen Gesichtspunkten wichtigste religiöse Stiftung unter Heinrich III., zielte ebenfalls darauf, die Klientel des Königs seiner Gnade zu unterwerfen und durch Schwur persönlich an sich zu binden. Eine Miniatur auf Velinpapier von Guillaume Richardière zeigt die Aufnahmezeremonie eines Ordensritters durch den König, eine Zeremonie welche im Augustiner-Konvent nahe dem Louvre abgehalten wurde (Abb. 9). Vermutlich handelt es sich bei dieser Miniatur um die Kopie eines großen, jedoch bei dem Bildersturm 1588 zerstörten Gemäldes von Antoine Caron, welches in der Kirche der Augustiner aufgestellt die Bedeutung des Ordens dauernd gegenwärtig halten sollte.70 Dargestellt ist Heinrich III. 69 Gerade diese Perlenohrringe, die auch vom König getragen wurden, waren dem oben zitierten italienischen Botschafter als ein besonders auffälliges Zeichen mangelnder Würde aufgestoßen, eine Wahrnehmung welche im Widerspruch zur beanspruchten Symbolik der Perle stand, welche auf Reinheit und Perfektion verweisen sollte. Nicht erst Heinrich III. hatte das Tragen eines Perlenohrrings auch für Männer bei Hof zur fast unvermeidlichen Mode gemacht, bereits sein Bruder und Vorgänger auf dem Thron hatte angeblich das Tragen eines Perlenohrrings zur Pflicht erklärt. Vgl. Haquet (wie Anm. 48), S. 85. 70 Zur Geschichte des Bildes und seines Vorbildes vgl. Haquet (wie Anm. 48), S. 184 ff. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 118 Bettina Uppenkamp Abb. 4: Anonym nach Jean Decourt, Porträt Heinrichs III., 17. Jahrhundert, Öl auf Karton, 56 x 40 cm, Lyon, Musée historique des Hospices civils. Wortlaut der Inschrift: HENRICUS. III. FRANCOR. REX / Henri de Valoys III de ce nom par la grâce de Dieu Roy de France et de Pologne Abb. 5: Anonym, Porträt des Anne duc de Joyeuse, Miniatur aus dem Stundenbuch der Katharina de’ Medici, Paris, Bibliothèque nationale, ms. NAL 82, fol. 56 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 119 Abb. 6: Étienne Dumonstier nach Jean Decourt, Porträt Heinrichs III., um 1586, Grafit, Rötel und blaues Aquarell auf Papier, 34,2 x 23,1 cm, Paris, Bibliothèque nationale, Na 22 rés., boîte 12, no 10 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 120 Bettina Uppenkamp Abb. 7: Étienne Dumonstier (zugeschr.), Porträt Heinrichs III., um 1579/80, Öl auf Holz, 93 x 76 cm, Poznan, Muzeum Narodowe https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen Abb. 8: Léonard Gaultier, Porträt Heinrichs III., 1580, Kupferstich, Bibliothèque nationale, Reserve, fol. QB. 201 (9) https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 121 122 Bettina Uppenkamp Abb. 9: Guillaume Richardière, Aufnahme eines Ritters in den Orden des Heiligen Geistes, vor 1587, Miniatur auf Velinpapier, 26, 1 x 19,4 cm, Chantilly, Musée Condé, Ms. 408 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 123 thronend und leicht über die ihn flankierenden und umgebenden Kardinäle, Höflinge und Ordensoffiziere erhoben. Die hier zu seiner Rechten dargestellten Höflinge tragen die von den Königsporträts bekannten schwarzen Anzüge und diamantgeschmückten Kappen. Unter Heinrich III. kniet ein junger Mann, der seine Hand zum Schwur auf eine ihm hingehaltene Bibel legt, während der König die Ordenskette bereithält. Über Heinrich III. schwebt in einer goldenen Aureole, die sich effektvoll von dem silbrigen Hintergrund abhebt, die Taube des Heiligen Geistes. Einer der von dieser Aureole ausgehenden Strahlen trifft direkt auf den Edelstein in der Agraffe, welche die Kopfbedeckung des Königs schmückt. Thron und Raum erscheinen von einem leuchtend blauen, mit den goldenen Lilien des französischen Königshauses gemusterten Stoff bedeckt. Das Muster der nachtblauen Mäntel der Ordensritter zeigt die Flammen des Heiligen Geistes. Während zahlreiche Personen auf dem Bild aufgrund von Vergleichen mit überlieferten Porträts und auch aufgrund von schriftlichen Quellen identifiziert werden konnten, war dies für den Jüngling, dessen Aufnahmezeremonie dargestellt ist, bisher nicht möglich. Überzeugend scheint die von Haquet vorgetragene These, dass es sich bei dieser Figur tatsächlich nicht um eine ganz bestimmte Person handelt, sondern um einen anonymen Platzhalter als Projektionsfläche für all diejenigen jungen Männer aus dem Umkreis des Königs, die sich eine besondere Auszeichnung durch die Aufnahme in den exklusiven Orden erhofften.71 Es waren vor allem die Mignons, welche als Nicht-Kleriker aufgenommen wurden. Auch das oben erwähnte Porträt des Anne de Joyeuse zeigt diesen mit dem blauen Ordensband. Bemerkenswert sind die Raumgestaltung und -staffelung in der Miniatur. Zwar wird im unteren Bereich, wo der Initiant kniet, ein Fluchten in die Tiefe angedeutet, und auch die Staffelung des Bildpersonals zeigt ein räumliches Hintereinander an, wenngleich in einer an mittelalterliche Bilder erinnernden gedrängten und teils isokephalischen Aufstellung. Der thronende König allerdings scheint von jeder perspektivischen Rationalität ausgenommen. Nicht im Ansatz ist nachzuvollziehen, wie er auf seinem Thron sitzt, so als seien sein Körper und seine Person den Gesetzen des physischen Raumes enthoben. Anders als die anderen Personen im Bild scheint er auch weder an der durch Blicke und Gesten angedeuteten innerbildlichen Kommunikation der Figuren untereinander teilzunehmen noch ist ein Blickkontakt zu den Betrachtern des Bildes hergestellt worden, während einige der anderen Porträtierten aus dem Bild heraus schauen. Diese Sonderstellung des Königs, so scheint die Botschaft des Bildes, resultiert aus seiner direkten Verbindung mit dem Heiligen Geist. Der König ist in die 71 Vgl. ebd., S. 194. Haquet gibt hier auch Auskunft über die identifizierten Persönlichkeiten auf dem Bild. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 124 Bettina Uppenkamp Position von Christus selbst eingerückt. Der Diamant, ein Edelstein, der schon seit dem Mittelalter aufgrund seiner Klarheit und seiner unzerstörbaren Härte symbolisch mit Christus identifiziert wurde72, symbolisiert auf den ab 1578 entstehenden Porträts Heinrichs III., auf denen ein solcher Stein sein Haupt schmückt, die ewige Divinität seines Königtums. Bildpolitik gegen Heinrich III. Der offiziellen Bildproduktion unter Heinrich III., die zunehmend auf eine Sakralisierung seiner königlichen Position gerichtet scheint, korrespondiert unaufhörlich und mit den Jahren seiner Regierung in Zahl und polemischer Schärfe sich steigernd, die Produktion von Text- und Bildpamphleten, die den König der Unfähigkeit und der Lasterhaftigkeit bezichtigen, des ›Hochverrats, der Arglist, des Sakrilegs, der Grausamkeit und Schändlichkeit‹, wie es in einem 1589 erschienen und im Ton besonders aggressiven Pamphlet heißt, welches das ›Leben und bemerkenswerte Tatsachen aus dem Leben‹ des Königs zum Besten gibt.73 In dieser Schrift wird Heinrich III. als Atheist, als Hexer, Verräter, als meineidig, grob und verdorben geschildert, als eine Person, die »das Leben eines Caligula, eines Elagabal und eines Nero« führe, umgeben von hochmütigen und überheblichen Mignons, die ihn in seinen Lastern bestätigten und zugleich die Staatskassen leerten.74 Anonym erschienen, jedoch unter Vorbehalt dem radikalen katholischen Priester und Anhänger der katholischen Liga Jean Boucher zugeschrieben, ist das Pamphlet mit insgesamt acht Holzschnitten illustriert, welche die Verbrechen Heinrich III. anschaulich machen sollen.75 Zu den ungeheuerlichen Schandtaten, die ihm angelastet werden und auch bildlich dargestellt sind, gehört beispielsweise die Vergewaltigung frommer Jungfrauen. Einer der Holzschnitte zeigt eine vor einem Altar kniende junge Frau, nach der sich eine übergroße Hand ausstreckt, an den stilisierten Lilien auf dem Ärmel als Hand des Königs zu erkennen (Abb. 10). Weitere Verbrechen, die Heinrich III. in dieser 72 Wilhelm Lindemann (Hg.), Edelstein / Kunst. Renaissance bis heute. Gemstone / Art. Renaissance to the Present Day, Stuttgart 2016, S. 66 ff. 73 Anonym, La Vie et faits notables de Henry de Valois. Tout au long, sans rien requerir, Où sont contenues le trahisions, perfidies, sacrileges, cruautez et hontes de cest Hypocrite et Apostat …, o. O. 1589, Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669. 74 Ebd. 75 Annie Duprat, »Les regalia au crible de la caricature du XVIe au XVIIIe siècle«, in: Bulletin du Centre de recherche du château de Versailles, 2005. http://images.google.de/imgres?imgurl= https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2Fdocannexe%2Fimage%2F296%2Fimg-3-small580.jpg& imgrefurl=https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2F296&h=464&w=580&tbnid=XXVf (letzter Zugriff 31. 10. 2016). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 125 Abb. 10: Anonym, Vergewaltigung einer betenden Jungfrau durch Heinrich III., Holzschnitt in: Jean Boucher (zugeschr.), La Vie et faits notables de henry de Valois. Tout au long, sans rien requerir, Où sont contenues les trahisions, perfidies, sacrileges. Cruautez et hontes de cest Hypocrite et Apostat, o. O., 1589, Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669 Schrift angelastet und verbildlicht werden, sind Häresie und Grausamkeit und insbesondere auch der Mord an den Brüdern Guise, ein Ereignis, das vor allem auf katholischer Seite den Hass auf den König entfesselte. Der Holzschnitt, mit in dem das Pamphlet eröffnet, zeigt den König auf seinem Thron sitzend und von einer Balustrade umgeben (Abb. 11). Eine solche Schranke, die Heinrich III. in das höfische Zeremoniell einführte und mit deren Hilfe er sich während der Mahlzeiten von der übrigen Hofgesellschaft abgrenzte, brüskierte die französischen Adeligen zutiefst, waren sie doch bis dahin an eine auch haptische Zugänglichkeit des Königs bei Hof gewöhnt gewesen. Der Großvater Heinrichs III., Franz I., musste sich gelegentlich mit einem Stock gegen den Andrang derjenigen verteidigen, die sich ihm nähern wollten, oder entzog sich diesem Druck durch Flucht aus seinem Schloss in Fontainebleau.76 Heinrich III. schockierte den Hofstaat damit, dass er sich nun bei den Mahlzeiten mithilfe seiner Balustrade isolierte und zugleich exponierte. Diese Abschrankung war keineswegs die einzige verstörende Neuerung, die er in das französische 76 Monique Chatenet, »Henri III et la cérémonial de la cour«, in: Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S. 45-51, hier S. 46. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 126 Bettina Uppenkamp Abb. 11: Anonym, Heinrich III. in seiner Barriere, Holzschnitt in: Jean Boucher (zugeschr.), La Vie et faits notables de henry de Valois. Tout au long, sans rien requerir, Où sont contenues les trahisions, perfidies, sacrileges. Cruautez et hontes de cest Hypocrite et Apostat, o. O. 1589, Lyon, Bibliothèque municipale, Rés. 314669 Hofleben einführte. So akzeptierte er nicht mehr die unter seinen Vorgängern übliche Anwesenheit seines Hofstaates und seines Rates beim Lever; ausgenommen davon waren nur seine engsten Favoriten, die darüber hinaus auch bei Tisch eine Vorzugbehandlung genossen und für die in der Nähe zum König immer gedeckt sein musste. Außer zu eng umgrenzten Zeiten durfte niemand mehr das Wort an den König richten. Die Balustrade diente dazu, dieser Abgrenzung des Königs von den anderen am Hof anwesenden Personen nicht nur symbolischen, sondern auch materiellen Ausdruck zu verleihen. Heinrich III. war der erste französische König, der während seiner Regierungszeit das Hofzeremoniell in mehreren Redaktionen ausformulieren ließ und teils selbst ausformulierte und damit die komplizierten Regeln bei Hofe in einer auf seine Person zugeschnittenen Weise fixierte, die bis dahin in Frankreich unbe- https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 127 kannt gewesen war. Das Zeremoniell unter seinem Großvater und seinem Vater war noch ausschließlich mündlich und durch die sich ständig wiederholende Ausübung tradiert worden. Mit der peniblen Festlegung des Zeremoniells, das in seiner letzten Redaktion von 1585 den Tagesablauf bei Hofe bis ins Kleinste regulierte, wurde die Idee der französischen Monarchie dahingehend umgeformt, dass ihre Würde und Größe sich nunmehr in der ausgedehnten Distanz artikulierte, die zeremoniell zu überwinden war, um Zugang zum König zu erlangen.77 Diese Distanz wurde auch räumlich inszeniert, wenn der Weg zum königlichen Zimmer durch eine Enfilade von mehreren Räumen führte, deren Ausstattung durch Tapisserien mit zunehmender Nähe zum königlichen Gemach immer kostbarer wurde. Der Zugang war differenziert abgestuft; das ›Sanktuarium‹ des königlichen Zimmers selbst war nur für die Favoriten zu betreten. Der Sinn dieser Reformierung des königlichen Hofes durch die Neuordnung und detaillierte Festlegung des Hofzeremoniells mag nicht zuletzt darin gelegen haben, das Verhalten und die Lebensführung derjenigen zu disziplinieren, die sich in der nahen Umgebung des Königs aufhielten und so das Modell für eine Erneuerung und Pazifizierung der Gesellschaft insgesamt zu liefern, wie Mark Greengrass in seiner ideengeschichtlichen Untersuchung des politischen Denkens in der Zeit der französischen Religionskriege vorgeschlagen hat.78 Gelungen ist dies in den Augen seiner Zeitgenossen nicht; der König wurde weniger als Reformer, denn als Zerstörer der Tradition wahrgenommen. In dem Pamphlet dient die Darstellung des thronenden Königs in den Schranken einer Barriere der Veranschaulichung seines als unerhört geltenden Stolzes, der ihn dem Hof wie der Bevölkerung Frankreichs entfremdete. Heinrich III. hatte sich von einer eher familiären und landesväterlichen Auffassung und Ausübung der Königsrolle, nach der der König unter den Adeligen nur erster unter seinesgleichen war, entfernt. Es war vor allem diese Distanz, die mit ästhetischen Mitteln, durch 77 Ebd. S. 49 ff. 78 Vgl. Mark Greengrass, Governing Passions. Peace and Reform in the French Kingdom, 1576 – 1585, Oxford 2007, S. 13. Im Gegensatz zu einer Geschichtsschreibung, welche die eher problematischen und düsteren Seiten der Regentschaft Heinrich III. herausgekehrt hat oder aber sein Scheitern an der Aufgabe, die religiösen und gesellschaftlichen Zwiste im Innern Frankreichs durch wirksame Reformen in den Griff zu bekommen, unterstreicht Greengrass die Produktivität des intellektuellen Klimas unter dem letzten Valois, welches, wie er beschreibt, eine Ideologie der Reform der politischen Verhältnisse im französischen Königreich hervorbrachte, deren Wirksamkeit zwar zunächst begrenzt aber in ihrer gedanklichen Substanz dann doch über den Tod Heinrich III. hinaus bis ins 17. Jahrhundert hinein Effekte zeitigen und weiter entwickelt werden sollte. Mit seinen Reformanstrengungen, so lautet Greengrass‘ Fazit, habe Heinrich III. zwar Hoffnungen und Erwartungen wecken können, seine konkreten Erfolge blieben jedoch so begrenzt, dass diese Anstrengungen vor allem Enttäuschung produziert hatten. Ebd. S. 380. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 128 Bettina Uppenkamp die Choreografie der Feste, des Zeremoniells, der räumlichen Neuordnung im Louvre, die Ausschmückung dieser Räumlichkeiten wie auch durch die Bilder des Königs selbst inszeniert wurde. Umso provozierender musste der enge Umgang erscheinen, den der König mit seinen Favoriten pflegte. Die Stigmatisierung der königlichen Sexualität und der seiner Mignons, die Unterstellung, seine Günstlingspolitik sei erotisch motiviert, die Denunziation der »effeminierten« Garderobe und Aufmachung als sichtbare Zeichen einer zweifelhaften Männlichkeit erscheinen in den gegen Heinrich III. gerichteten Polemiken nicht im Widerspruch zur heterosexuellen Libertinage, sondern dienen der Amplifikation des Rollenverstoßes des sich gegen seinen Auftrag versündigenden Herrschers. Text- und Bildinvektiven waren nicht allein auf die Person des Königs gerichtet, auch seine engen Vertrauten wurden verteufelt. So zeigt ein ebenfalls 1589 kursierendes Pamphlet, welches der Textform nach als Beichte angelegt ist, den zum engen Kreis der Mignons gehörenden Jean Valette de Nogaret als haarige Teufelsgestalt mit Brüsten, als dämonischen Hermaphroditen (Abb. 12).79 Dass sich aus solchen Text- und Bildquellen im historischen Abstand weder Aufschluss über die tatsächlich ausgeübten sexuellen Praktiken am Hof Heinrichs III. gewinnen lässt noch sich in ihrem Spiegel Hinweise auf die sexuelle Orientierung oder gar Identität des Königs und seiner Favoriten herauslesen lassen, liegt auf der Hand. Zu verstehen sind die sexuellen Denunziationen als polemische Topoi in einer krisenhaft zugespitzten politischen Situation, die auf die Desakralisierung der königlichen Autorität in der Person Heinrichs III. abzielten und zu Waffen geschmiedet wurden, deren Schärfe aus der Irritation zu gewinnen war, welche die Ausgestaltung der königlichen Rolle und Erscheinung in der politischen Figuration des Hofes auslöste.80 79 Anonyme, La grande Diablereie de Jean Valette dit de Nogaret par la grâce du Roy duc d’èpernon, grand animal de France et bourgeois d’Angoulesme sur son département de la court, o. O. 1589, Paris, Musée du Petit Palais, Collection Dutuit no. 691. Vgl. auch Fêtes et crimes (wie Anm. 38), S. 115. 80 Die Frage, ob Heinrich III. und seine Mignons homosexuell waren steht hier nicht zur Debatte. In seiner Studie zur Homosexualität am Hof Heinrich III. vertritt Joseph Cady nachdrücklich den Standpunkt, es habe sich bei dem König und seinen Favoriten um homosexuelle Gemeinschaften und Peer-Groups gehandelt, und er verbindet seine Argumente mit einer methodischen Kritik an jener Forschung, welche im Anschluss an Michel Foucault Homosexualität als identitäre Kategorie für eine Erfindung des 19. Jahrhunderts hält, und, so Cadys Vorwurf, damit die Verleugnung von Homosexualität in der historischen Rückprojektion verlängert und verfestigt. Vgl. Joseph Cady, »The ›Masculine Love‹ of the ›Princes of Sodom‹. ›Practising the Art of Ganymede‹ at Henri III’s Court. The Homosexuality of Henri III. and his Mignons in Pierre de L’Estoile’s Mémoires-Journaux«, in: Jacqueline Murray u. Konrad Eisenbichler (Hgg.): Desire and Discipline. Sex and Sexuality in the Premodern West, Toronto, Buffalo, London 1997, S. 123-154; siehe auch David M. Halperin, »Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 129 Abb. 12: Anonym, Holzschnitt in: Anonym, La grande Diablerie de Jean Valette dit de Nogaret par la grâce du Roy duc d’Espernon, grand Animal de France et bourgeois d#Angoulesme sur son département de la court, o. O. 1589, 15,8 x 10 cm, Paris, Musée du Petit Palais, Collection Dutuit no 691 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 130 Bettina Uppenkamp Androgyne Panegyrik: Franz I. als Hermaphrodit Als göttlich-hermaphroditisches Wesen ist hingegen Franz I., der Großvater Heinrichs III., dargestellt worden (Abb. 13). Es handelt sich um eine Miniatur, die den König, dessen Gesicht durch den Vergleich mit zeitnah entstandenen Bildnissen eindeutig als sein Porträt zu erkennen ist81, als ein Kompositum aus diversen Gottheiten und ihren Attributen bildet.82 Helm, Schwert und Armpanzer gehören zum Kriegsgott Mars. Dem gepanzerten und erhobenen rechten Arm des Mischwesens steht ein entblößter und gesenkter auf der anderen Seite gegenüber und signalisiert so schon auf den ersten Blick, dass hier gegensätzliches in einer Figur vereint wurde. Das Gorgonenhaupt auf der Brust verweist wie der große Helm auf die Göttin der Weisheit Minerva, Köcher und Jagdhorn sind Attribute der jungfräulichen Jagdgöttin Diana, die Pfeile lassen sich jedoch auch mit dem Liebesgott verbinden. Der Caduceusstab, den die Figur einem Zepter gleich in ihrer linken Hand hält, gibt den Hinweis auf Merkur, ebenso wie die Flügel, welche an den nackten Füßen der Königsgestalt befestigt sind. Ambiguität in geschlechtlicher Hinsicht artikuliert sich in dem Nebeneinander eines bärtigen Gesichtes und einem Körper, der im Bereich von Bauch und Hüften zu scheinbar weiblichen Formen ausschwingt; deutlich zeichnet sich unter dem vage antikisch anmutenden roten Gewand der Bauchnabel ab, wie auf zahlreichen manieristischen Bildern üblich, wo Körper und Kleid mit einander verschmolzen Denken. Queer Studies, Frankfurt a. M. 2003, S. 171-220. Halperin hält »Effimination« für eine eigene sinnvolle historische Kategorie zur Abgrenzung bestimmter, von der heterosexuellen Verhaltensnorm (nicht unbedingt sexueller Praxis) abweichender männlicher Verhaltensformen. Ebd. S. 181 ff. 81 Die wichtigsten Bildnisse von François I. stammen von seinem Hofmaler Jean Clouet und dessen Sohn François Clouet, der zunächst mit dem Vater eng zusammenarbeitete und diesen dann als Hofmaler beerbte. Zur Malerfamilie der Clouet und ihrer Stellung am französischen Hof vgl. Alexandra Zvereva, Le cabinet des Clouet au château de Chantilly. Renaissance et portrait de cour en France, Paris 2011; Etienne Jollet, Jean et François Clouet, Paris 1997; François I. par Clouet, Ausstellungskatalog Paris, Musée du Louvre, Paris 1996. 82 Unterschiedliche Künstler wurden als Urheber dieses kleinen Kupferstichs auf Pergament auf Holz aufgezogen diskutiert. Ins Spiel gebracht wurden Niccolò dell‘ Abate, Nicoletto da Modena und Nicolas Belin da Modena. Vgl. Norbert Schneider, Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildniskunst 1420 – 1670, Köln 1999, S. 94. Nicolas Belin firmiert als Urheber bei Daniel Arasse und Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus 1520 – 1610, München 1997, S. 427. In der jüngeren Forschung wurde dieses wiederum bezweifelt mit dem Hinweis darauf, dass Nicolas Belin 1537 wegen seiner Verstrickung in eine Unterschlagungsaffaire den französischen Hof in Richtung England verlassen hat. Vgl. Harald Wolter von dem Knesebeck, »Buchkultur im Spannungsfeld zwischen der Kurie unter Leo X. und dem Hof von Franz I.«, in: Götz Rüdiger Tewes u. Michael Rohlmann (Hgg.): Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich. Politik, Kultur und Familiengeschäfte in der europäischen Renaissance, Tübingen 2002, S. 469-524, hier S. 498. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 131 Abb. 13: Nicolas Belin (?), Franz I. als Mischgottheit, 1545, Kupferstich auf Pergament auf Holz geklebt, Paris, Bibliothèque nationale https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 132 Bettina Uppenkamp scheinen. Die Figur ist auf einen mit Beschlagwerk verzierten Sockel platziert, der folgende panegyrische Inschrift trägt: FRancoy en guerre est un Mars furieux / en paix Minerve & diane a la chasse / A bien parler Mercure copieux / A bien aymer vray Amour plein de grace / O france heureuse honore donc la face / De ton grand Roy qui surpasse Nature / car l’honorant tu sers en mesme place / Minerve, Mars, Diane, Amour, Mercure83 Ziel der sonderbaren, um 1545 datierten Bildfindung scheint es zu sein, die Fähigkeiten und Tugenden der Götter auf den königlichen Körper zu übertragen, wo sie zum Idealbild eines kampfkräftigen, weisen, gütigen und tugendhaften Herrschers kompiliert sind, der die Begrenztheit menschlicher Körperlichkeit und die Beschränkungen menschlicher Fähigkeiten verlassen hat.84 Als hermaphroditisches Gottwesen verkörpert der König einer solchen Lesart zufolge ein Maß an Vollkommenheit, welches die Natur übertrifft, wie der Text kundtut. Das eindeutige Verständnis der Miniatur als Herrscherlob ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Raymond B. Waddington hat in ihr »not the self-sufficient integration of the androgyne but the impotent neutrality of Hermaphroditus« gesehen.85 Er rückt das Bild in den Kontext einer raffinierten höfischen Scherzkultur im Ton des Cortegiano von Baldassare Castiglione, in der auch Sottisen gegenüber dem Herrscher erlaubt sein konnten. Auffällig an der Darstellung Franz I. als einem göttlichen Mischwesen ist der Mangel an ästhetischer Harmonisierung der Versatzstücke. Die Merkmale göttlicher Herkunft sind nicht zu einer natürlich wirkenden Einheit verschmolzen, sondern wirken zusammen gesetzt. Weder die Größenverhältnisse scheinen stimmig – insbesondere der Helm der Minerva scheint dem König zu groß zu sein –, noch entspricht das Standmotiv einem ausgeglichenen Kontrapost. Dieses Ausstellen der ›ästhetischen Nähte‹ im Zusammenhang mit der akkumulierenden Beschreibung der im Widerstreit liegenden, durch die in den aufgerufenen Gottheiten repräsentierten Eigenschaften als visuelle Spur des rhetorischen Verfahrens gibt möglicherweise einen Hinweis darauf, dass Zweifel an einer ausschließlich 83 »François ist im Krieg ein wütender Mars / im Frieden Minerva und Diana bei der Jagd / Ein gut sprechender reichlicher Merkur / Ein viel liebender, wahrer Amor voller Gunst / O glückliches Frankreich, ehre daher dieses Gesicht / Deines großen Königs, der die Natur übertrifft / Denn ihn ehrend ehrst Du zugleich / Minerva, Mars, Diana, Amor, Merkur«. (Übersetzung Bettina Uppenkamp). 84 In diesem Sinne argumentieren auch Arasse u. Tönnesmann (wie Anm. 80), S. 427. Siehe auch Ruby (wie Anm. 49), S. 53 f. 85 Raymond B. Waddington, »The Bisexual Portrait of Francis I. Fontainebleau, Castiglione, and the Tone of Courtly Mythology«, in: Jean Brink, Maryanne C. Horowitz u. André Béjin (Hgg.): Playing with Gender. A Renaissance Pursuit, Urbana, Chicago 1991, S. 99-132. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 133 positiven Lesart im Sinne des Herrscherlobs angebracht sind. Doch selbst wenn die Ambition das Kriegerische und die Weisheit, die Beredsamkeit, die Liebe und die Keuschheit miteinander zu vereinen, hier einem subtilen Spott ausgesetzt wurden und die Miniatur Kritik an der Herrschaft Franz I. im panegyrischen Gewand dissimuliert, wird an diesem Beispiel deutlich, dass der Hermaphrodit in der Kunst des Manierismus als Denkbild für eine die Gegensätze integrierende Vollkommenheit tauglich war. In der gegen Heinrich III. gerichteten Polemik kollabierte diese utopische Dimension der Heramphroditischen als Einheit des Verschiedenen, und der Hermaphrodit mutierte zu einer Figur, in der sich die Perversionen einer verhassten Herrschaft verdichten ließen. Königsmord Nach der von Heinrich III. veranlassten Ermordung der Brüder Heinrich und Ludwig von Guise in Blois spitzte sich die militärische Lage in Frankreich zu und der König schloss mit seinem Schwager Heinrich von Navarra eine militärische Allianz gegen die Truppen der katholischen Liga und ließ Paris belagern. Für die radikalen Katholiken war er nun endgültig zu einen »neuen Herodes« mutiert.86 Am 1. August des Jahres 1589 gelang es einem katholischen Fundamentalisten, dem jungen Dominikanermönch Jaques Clément zum König vorzudringen und ihn mit einem Messerstich in den Bauch lebensgefährlich zu verletzten. Auf dem Sterbebett übertrug Heinrich III. seine Nachfolge an Heinrich von Navarra. Seine Ermordung fand Claqueure in beiden konfessionellen Lagern. Der Tod Heinrichs III. war das Ende für das Haus Valois; mit der Ausrufung Heinrichs von Navarra zum neuen König durch die Hugenottenarmee wie durch die sogenannten politiques, jene katholische Parteiung, der am Fortbestand der französischen Monarchie mehr gelegen war als an einem endgültigen Triumph des Katholizismus unter spanischer Vorherrschaft, beginnt in Frankreich die Herrschaft der Bourbonen. Heinrich IV. trat in dem tief gespaltenen und unter internationalem Druck stehenden Land ein schwieriges Erbe an, doch sollte ihm letztlich gelingen, was seinem Vorgänger nicht geglückt war, eine neue Integration der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, eine Befriedung der Religionskriege, und mit dem Edikt von Nantes die Schaffung einer Grundlage für die leidlich freie Religionsausübung sowohl für Katholiken wie für Protestanten in Frankreich.87 »Für den letztlichen Erfolg Heinrich IV. wurde entscheidend, dass jene Kräfte die Oberhand gewannen, die einer Koexistenz 86 Crouzet (wie Anm. 66), S. 29. 87 Zum Edikt von Nantes und seinen Voraussetzungen vgl. Schultz (wie Anm. 39), S. 132 ff. Siehe auch Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München 1991, S. 91. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 134 Bettina Uppenkamp der Religionsparteien unter dem Dach der Monarchie und einem Patriotismus, der über den Glaubensunterschieden stand, das Wort redeten – Kräfte, zu denen nach der Konversion des Königs zum Katholizismus (1593) auch die gemäßigten Katholiken und die politiques gehörten.«88 Die Vorstellung einer geeinten Nation unter einem sakrosanten Monarchen trat an die einer gemeinsamen, über anderweitige soziale Differenzen hinweg einigende und einzige Religion. Der konfessionelle Gegensatz wurde zu Gunsten eines nun höher bewerteten Ziels im Namen eines französischen Patriotismus in seiner Bedeutung zurück gedrängt.89 Hatte in der künstlerischen Selbstinszenierung Heinrichs III. die Schaustellung einer kriegerischen, virilen Männlichkeit so gut wie gar keine Rolle gespielt, ließ Heinrich IV. sich als Kriegsgott Mars porträtieren (Abb. 14). Schluss Auch wenn sich die Figur, welche das Frontispiz der Isle des Hermaphrodites des Thomas Artus schmückt, nicht als ein Porträt Heinrichs III. erkennen lässt – zu vage sind die bartlosen Gesichtszüge gehalten –, lässt sich in dem Text vielfach das Echo der höfischen Gepflogenheiten unter seiner Regentschaft und vor allem das jener Polemiken vernehmen, die den König unter Berufung auf die uneindeutige Ausübung seiner Geschlechterrolle verschrien haben. Der bei Hof unter seiner Aufsicht sich entfaltende Glanz und Luxus der Garderoben beim Fest und beim Maskenspiel klingt nach in den von Artus geschilderten Ankleidezeremonien der Hermaphroditen ebenso wie die Inszenierung eines sakralisierten Königtums in der Enfilade abgestufter räumlicher Zugänglichkeit in dem labyrinthischen, reich ausgeschmückten Palast, den der Ich-Erzähler durchwandert. Die im zweiten Teil des Buches ausführlich wiedergegebenen Gesetzesvorschriften der Hermaphroditen scheinen nicht allein den Zwang des Zeremoniells zu reflektieren, sondern etwa auch die von Heinrich III. veranlasste Kompilation und Kodifizierung der bereits unter seinen Vorgängern erlassenen Verordnungen durch Barnabé Brisson im 1587 publizierten Code Henri III.90 Die hermaphroditischen Vorschriften zur Ausübung von Religion erinnern an die 88 Babel (wie Anm. 37), S. 107. Zu den politiques, die sich zum katholischen Glauben bekannten und z. B. der Regentschaft und Person Heinrichs III. kritisch gegenüber standen, aber die Monarchie mit ihrer gemäßigten Haltung gegen die ultra-katholische Liga mit dem Ziel unterstützten, die nationale Einheit Frankreichs über die Konfessionsgrenzen hinweg zu bewahren, gehörte auch der Chronist Pierre de L’Estoile. 89 Ebd. S. 113 ff. 90 Vgl. Crouzet (wie Anm. 66), S. 26; siehe auch Encyclopédie ou dictionaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, s. v. »Code Henri III« http://portail.atilf.fr/ (letzter Zugriff 31. 10. 2016). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Insel der Hermaphroditen 135 Abb. 14: Ambroise Dubois, Heinrich IV. als Mars, ca. 1605, Öl auf Leinw., 186 x 135 cm, Pau, Musée du Château dem König immer wieder vorgeworfene Hypokrisie in Glaubensdingen; ihre Gesetze im Hinblick auf Familie und Sexualmoral lesen sich wie die literarisch veredelte Resonanz der sexuell denunziatorischen Pamphlete, die gegen Heinrich III. und seine Mignons in Umlauf gesetzt waren. Das freie Flottieren der Insel https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 136 Bettina Uppenkamp im Ozean schließlich lässt sich als Metapher für die fundamentale Unsicherheit verstehen, welche Ende des 16. Jahrhunderts die politische und gesellschaftliche Situation in Frankreich prägte. Traumverloren wirkt die Figur des Hermaphroditen in dem Kupferstich des Frontispizes, traumverloren vor allem im Vergleich zu der präsenten Potenz, welche in der Darstellung Heinrichs IV. als Mars zur Schau gestellt wird. Endgültig allerdings sollte der Traum einer in der Figur des Hermaphroditen beschlossenen selbstgenügsamen Vollkommenheit auch als Herrschaftsutopie nach dem Tod von Heinrich III. nicht ausgeträumt sein. Der Enkel Heinrichs IV., der sogenannte Sonnenkönig Ludwig der XIV., sollte in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts als androgyn kostümierter Balletttänzer die über die Sterblichkeit hinausweisende Dualität des königlichen Körpers zelebrieren.91 Abbildungsnachweise Abb. 1: Bibliothèque nationale de France http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/ cb32076027k Abb. 2: Isabelle Haquet, L‘énigme Henri III. Ce que nous révèlent les images, Paris 2011, Taf. III Abb. 3 – 7, 9, 11 u. 12: Fêtes et crimes à la Renaissance. La cour d’Henri III, Ausstellungskatalog Château royal de Blois 2010, hrsg. von Pièrre-Gilles Girault u. Mathieu Mercier, Paris 2010 Abb. 8: Bibliothèque national de France http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/ cb41500097p Abb. 10: Annie Duprat, »Les regalia au crible de la caricature du XVIe au XVIIIe siècle«, in: Bulletin du Centre de recherche du château de Versailles, 2005. http:// images.google.de/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fcrcv.revues.org%2Fdocanne xe%2Fimage%2F296%2Fimg-3-small580.jpg&imgrefurl=https%3A%2F%2Fcrcv. revues.org%2F296&h=464&w=580&tbnid=XXVf Abb. 13: Daniel Arasse u. Andreas Tönnesmann, Der europäische Manierismus 1520 – 1610, München 1997, S. 430 Abb. 14: Alain Mérot, French Painting in the Seventeenth Century, New Haven, London 1995, Abb. 197 91 Vgl. Mark Franko, »The King Cross-Dressed. Power and Force in Royal Ballets«, in: Sara E. Melzer u. Kathryn Norberg (Hgg.), From the Royal to the Republican Body. Incorporating the Political in Seventeenth- and Eighteenth-Century France, Berkeley 1998, S. 64-84. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Veronica Biermann Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht Christina von Schweden im Spiegel Gian Lorenzo Berninis Königin Christina hat von Geburt an, Zeit ihres Lebens und noch weit über ihren Tod hinaus für eine gewisse Verunsicherung gesorgt.1 Ihr königlicher Körper und das Geschlecht dieses Körpers werfen bis auf den heutigen Tag Fragen auf. An drei markanten Beispielen sei der Problemhorizont einleitend abgesteckt. Beispiel eins: Anlässlich der großen Ausstellung des Europäischen Rates, die 1966 in Erinnerung an Königin Christina in Stockholm ausgerichtet wurde, war im Jahr zuvor ihr Sarkophag in den Vatikanischen Grotten geöffnet worden.2 Ein Ziel der Exhumierung der im April 1689 in Rom verstorbenen, ehemaligen Monarchin Schwedens war es, eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutierte und offenbar als dringend erklärungsbedürftig empfundene Unsicherheit zu beseitigen. Als fraglich galt, ob Christina tatsächlich eine Geschlechtsfrau oder nicht doch ein biologischer Zwitter gewesen war.3 Gesucht wurde nach Erklärungen für eine auffällige Prägung der Königin. Wie sie in ihrer Autobiografie mitteilt, sei sie als Neugeborene zunächst für einen Jungen gehalten worden. Als man den Fehler bemerkte, hätte ihre Tante sie dem Vater schweigend so überreicht, dass er sich von ihrem richtigen Geschlecht überzeugen konnte. Dieser aber habe sie wie einen erstgeborenen Prinzen gefeiert und lachend bemerkt: 1 Im vorliegenden Aufsatz fasse ich Gedanken zusammen und bringe sie in einen neuen, argumentativen Zusammenhang, die ich bereits in einem Buch 2012 veröffentlicht habe: Veronica Biermann, Von der Kunst abzudanken. Die Repräsentationsstrategien Königin Christinas von Schweden, Köln, Weimar, Wien 2012. 2 Vgl. Carl-Herman Hjortsjö, »The Opening of Queen Christina’s Sarcophagus in Rome«, in: Magnus von Platen (Hg.), Queen Christina of Sweden. Documents and Studies (Analecta Reginensia 1), Stockholm 1966, S. 138-158. 3 Vgl. ebd., S. 154 f. Bereits Zeitgenossen hielten Christina für einen Hermaphroditen, so z. B. Lieselotte von der Pfalz, die Gerüchte kolportiert, in: Hans F. Helmolt (Hg.), Elisabeth Charlottens Briefe an Karoline von Wales und Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Annaberg 1909, S. 67-68. Als Argument in der Forschungsliteratur diskutiert insbes. bei Erik Essen-Möller, Drottning Christina. En määniskostudie ur läkaresynpunkt, Lund 1937; Sven Stolpe, Königin Christine von Schweden, Frankfurt a. M 1964, S. 59. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 138 Veronica Biermann »Sie wird geschickt seyn; denn sie hat uns alle betrogen.«4 Diese von ihr selbst kolportierte Anekdote kann für das lebenslange Verhalten Christinas stehen, eine gewisse Unsicherheit über ihr Geschlecht und ihren Status verbreitet zu haben und dementsprechend ambivalent wahrgenommen worden zu sein.5 Die zahlreichen von ihren Zeitgenossen verfassten Beschreibungen stimmen in einem Punkt so gut wie alle überein: Zeit ihres Lebens muss sie die Kleiderordnung gebrochen haben, sie trug Männerschuhe und Männerhandschuhe, ein Wams und ein Justaucorps sowie einen Männerhut. Keiner, der ihr leibhaftig begegnete und sie beschrieb, hat je versäumt, auf die Details ihrer männlich kodierten Kleidung hinzuweisen.6 Die Meisten erwähnen zudem ebenso einprägsame wie sie befremdende körperliche Eigenschaften, einen raschen Gang, ihre bewegte Mimik, ihre ausladende Gestik und ihr breitbeiniges Sitzen.7 Viele verweisen auf die Unruhe, die sie offenbar stets verbreitet zu haben scheint, ihr lautes Reden, ihr ungehemmtes Lachen, ihr Hin- und Hergehen und Auf- und Niedersetzen – auch und gerade in Situationen, die wohl eher Ruhe und Stillstand erwarten ließen.8 Einige vermuten, dass sie ein ausschweifendes Liebesleben führte und nicht nur Männer, sondern auch Frauen begehrte.9 Diejenigen, die Zugang zu ihr hatten und mit ihr sprechen konnten, berichten – nie ohne eine gewisse Verwunderung – von einer aufmerksamen Zuhörerin, deren politischer, militärischer, naturwissenschaftlicher, musikalischer und künstlerischer Sachverstand offenkundig als überragend und daher als ›männlich‹ wahrgenommen wurde.10 Zweifelsohne, die unverheiratet und kinderlos gebliebene Christina befremdete mit ihrem als unschicklich empfundenen Aussehen und Verhalten ihre Zeitgenossen und bereitete damit ihnen wie späteren Interpreten gleichermaßen Kopfzerbrechen. Die Untersuchungen von 1965 erbrachten, dass Schädel und Knochenbau typische weibliche Merkmale aufwiesen und ihre Beckenmaße der Geburt eines Kindes nicht im Wege gestanden haben würden.11 Aus anthropo4 »Das Leben der Königinn Christina, von ihr selbst beschrieben, mit einer Zuschrift an Gott«, in: Johan Arckenholz (Hg.), Historische Merkwürdigkeiten die Königin Christina von Schweden betreffend, Bd. 3, Leipzig, Amsterdam 1760, S. 19. 5 Vgl. hierzu ausführlich Biermann (wie Anm. 1), S. 248-261. 6 Vgl. ebd., S. 250 f. 7 Vgl. ebd., S. 251 f. Beispielhaft die Beschreibung des Grafen zur Lippe, in: Erich Kittel (Hg.), Memoiren des Generals Graf Ferdinand Christian zur Lippe, Lemgo 1959, S. 52. 8 Vgl. ebd., S. 252. Beispielhaft die Beschreibung von Tomaso Raggi, in: Filippo Clementi, Il carnevale romano nelle cronache contemporanee dalle origini al secolo XVII, Rom 1939, S. 550. 9 Vgl. ebd., S. 254 ff. Beispielhaft Christinas eigene, flirrenden Bemerkungen, in: Carl de Bildt (Hg.), Christine de Suède et le cardinal Azzolino. Lettres inèdites (1666 – 1668), Paris 1899, S. 473. 10 Vgl. ebd., S. 258-261. Beispielhaft die Beschreibung des englischen Botschafters, in: Bulstrode Whitelocke, A Journal of the Swedish Ambassy In The Years M.DC.LIII. And M.DC.LIV […], London 1772, Bd. 1, S. 234 f. 11 Vgl. Hjortsjö (wie Anm. 2), S. 155. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 139 logischer wie anatomischer Sicht kann demnach als empirisch erwiesen gelten, dass der Körper Christinas demjenigen einer biologisch korrekt gebauten und funktionsfähigen Frau entsprach. Jedoch, auf was für eine Frage gibt die Humanbiologie mit ihrer eindeutigen Geschlechtszuweisung eine Antwort? Ob Christina trotz aller Auffälligkeiten dennoch eine ›richtige‹ Frau war? Eine solche Frage mag dem historischen Problemhorizont der Moderne vom späten 19. bis tief in das 20. Jahrhundert hinein entsprechen, mit dem Horizont der Königin deckt er sich wohl eher nicht. Bezeichnenderweise konnte Christina, wenn sie denn wollte, auch in den Kategorien ihrer Zeit ganz Frau sein. Eine anonym verfasste, anekdotische Lebensbeschreibung kolportiert, dass sie anlässlich einer päpstlichen Audienz Innozenz XI. milde stimmen wollte: »Sie ließ sich und ihr Frauenzimmer in einer Weise einkleiden, die sie ›all’ innocenziana‹ nannte. Es waren sehr lange, bis auf den Boden reichende Kleider, vorne geschlossen und mit eng anliegenden Ärmeln, die die Hände bedeckten. Der Hals war so eng umschlossen, dass man kaum noch das Gesicht sah.«12 Gefangen gesetzt in einer Kleidung, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkte, trat sie, solchermaßen körperlich gebändigt, dem ›unschuldigen‹ Innozenz in aller Unschuld ›all’innocenziana‹ entgegen.13 Die unverkennbar ironische Stoßrichtung dieser Kleiderwahl lässt zum einen das hohe, subversive Potential Christinas erkennen. Zum anderen belegt diese gezielte Inszenierung aber auch ihr ausgeprägtes Bewusstsein der unterschiedlichen Rollenmodelle von Männern und Frauen und ihrer divergierenden Gestaltungsrahmen. Darüber, dass sie diese mit ihrer üblichen Kleiderwahl, ihrem Aussehen und Betragen beständig sprengte, war sie sich im Klaren, ihre charakteristischen Eigenheiten konnte sie reflektieren und genau einordnen: sie habe zu laut geflucht und zu oft und zu laut gelacht, so wie sie auch einen allzu geschwinden Gang an den Tag gelegt habe.14 Jedoch »[...] alle diese Fehler würden von geringer Erheblichkeit seyn, wenn sie sich nicht an einem Frauenzimmer fänden. Mein Geschlecht macht, dass sie weniger zu entschuldigen sind: gleichwie sie auch allen meinen guten Eigenschaften und Gaben etwas von ihrem Werthe benehmen, weil sie von solcher Art sind, dass sie sich dafür nicht schicken«.15 Königin Christina wusste demnach sehr genau 12 »Si fece vestire assieme con tutte le sue donne in una certa forma che ella chiamava all’Innocenziana, quest’erano vesti lunghe e si trascinavano sino a terra, chiuse davanti con maniche strette che arrivavano sopra il pugno, et attorno al collo appena si vedeva il vezzo«, in: Jeanne Bignami Odier, Giorgio Morelli (Hgg.), Istoria degli intrighi galanti della Regina Cristina di Svezia […], Rom 1979, S. 183. 13 Zur Konstruktion des höfischen weiblichen Körpers vgl. Ingrid Bennewitz, Der Körper der Dame. Zur Konstruktion von »Weiblichkeit« in der deutschen Literatur des Mittelalters, Braunschweig 1996 (Braunschweiger Universitätsreden, TU Braunschweig). 14 Arckenholtz (wie Anm. 4), S. 49 f . 15 Ebd., S. 50. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 140 Veronica Biermann um ihre unschickliche Wirkung auf die Zeitgenossen. Deren Irritation scheint für sie jedoch kein hinreichend wichtiger Grund gewesen zu sein, irgendetwas an ihrem Aussehen oder Verhalten zu ändern. Die Kleiderordnung nicht befolgt und ihr Verhalten nicht zu demjenigen einer sich selbst kontrollierenden Frau korrigiert zu haben sind Probleme, die ihre Zeitgenossen teilweise und die bürgerliche Biographik maßgeblich beschäftigten – sie selbst hat sie schlicht ignoriert und teilweise gezielt konterkariert. Werden mit der Identifizierung eines eindeutigen Geschlechts demnach Königin Christina und ihr Körper in ausreichendem Maße erfasst und eine Antwort auf ihre Uneindeutigkeiten gegeben? Wohl kaum. Es ging nie und geht nicht darum, ob sie eine ›richtige‹ und damit eben ›nur‹ Frau war. Im geöffneten Grab wurde nach etwas gesucht, das dort niemals hätte gefunden werden können und dort auch in Zukunft niemals gefunden werden wird. Das Selbstverständnis Christinas speiste sich nicht daraus, eine Frau zu sein, sondern eine Königin. Weshalb als Frage bleibt, wo dann sonst nach Erklärungsmöglichkeiten für das Phänomen Christina und ihren königlichen Körper, ihre schillernde Zweigeschlechtigkeit, ihre auffallende Beweglichkeit und ihren beständigen Bruch mit dem, was als angemessen galt, gesucht werden kann. Beispiel zwei: Das Leben Königin Christinas war fürwahr reich bewegt. Beschränkt man einen kurzen Überblick nur auf die wichtigsten, politischen Ereignisse der ersten achtundzwanzig Jahre, sind davon unbedingt zu nennen: ihre Königswerdung als Fünfjährige nach dem Tod des Vaters Gustav Adolf 1632; ihr Antritt der Eigenherrschaft als erbberechtigte Königin zum Zeitpunkt ihrer Großjährigkeit im Dezember 1644; der maßgeblich von ihr forcierte Friedensschluss zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges im Oktober 1648; ihre Herrscherweihe und Krönung im Oktober 1650, nachdem sie ihren Cousin Carl Gustav von Pfalz-Zweibrücken über Jahre konsequent zu ihrem erbberechtigten Nachfolger aufgebaut hatte und mit denen sie ihre Stabilisierungs- und Konsolidierungspolitik der schwedischen Monarchie zu einem buchstäblich krönenden Abschluss brachte; ihre Abdankung im Juni 1654; sowie ihre Konversion zur katholischen Konfession, die sie im Dezember 1654 in Brüssel insgeheim vollzog und im November 1655 in Innsbruck öffentlich bestätigte. Von diesen wichtigen, politischen Ereignissen schnitt die Abdankung am tiefsten in das Leben der Königin ein. Sie kam, juristisch gesehen, ihrem Tode gleich.16 In dem Augenblick, in dem Christina dem ererbten Thron entsagte 16 Zur Abdankung als »Herrschertod« vgl. Susan Richter, »Zeremonieller Schlusspunkt. Die Abdankung als Herrschertod«, in: Susan Richter, Dirk Dirbach (Hgg.), Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln, Weimar u. Wien 2010, S. 75-94. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an Kaiser Karl V., der gegenüber Philip II. stets betonte, ihm die Herrschaft freiwillig übertragen zu haben und »zu Deinem https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 141 und auf die Ausübung ihrer Herrschaft verzichtete, gingen Herrschaftsgewalt und Königswürde umstandslos auf ihren Nachfolger Carl Gustav über. Dem Verständnis der Zeit entsprach dieser Vorgang dem Augenblick der charismatischen Herrschaftsübertragung, wie sie beim Tod eines regierenden Königs in der Formel le roi est mort, vive le roi, ihren Ausdruck fand.17 Die juristische Basis dieses Wechsels bildeten signierte und beglaubigte Verträge, das Abdankungsinstrument Christinas und der Zusicherungsvertrag Carl Gustavs.18 Deren zentrale Inhalte wurden in einem zeremoniellen Akt der Reichsöffentlichkeit unmittelbar vor Augen geführt und so sichtbar in ihr Recht gesetzt.19 Der actus abdicationis war demnach eine performative Publikation: Im vollständigen Krönungsornat zog Christina in den Reichssaal des Schlosses von Uppsala ein, nur noch in ein weißes Gewand gekleidet verließ sie ihn wieder.20 Ein- und Auszug rahmten die rituelle Kernhandlung der Abdankung, die re-signatio, die Rückgabe der Insignien ihrer Herrschaft.21 Christina erstattete dem schwedischen Reich Krone, Zepter, 17 18 19 20 21 Vorteil gleichsam vor der Zeit sterbe«, in: Alfred Kohler (Hg.), Quellen zur Geschichte Karsl V., Darmstadt 1990, S. 466 f. Der Ausruf »Der König ist tot, es lebe der König« ist erstmals für die Begräbnisfeierlichkeiten Franz I. bezeugt, die Auffassung allerdings, dass »das Hinscheiden des Königs [...] den rechtmäßigen Erben in den Ländern, in denen die Königswürde erblich war, unmittelbar zum König [machte]«, wohl älter, vgl. Marc Bloch, Die wundertätigen Könige [Les rois thaumaturges], München 1998, S. 244. Auch Christina war nach dem Tod ihres Vaters Gustav Adolph in der Schlacht bei Lützen 1632 in dieser Weise in ihrer Herrschaft bestätigt worden, vgl. Arckenholtz (wie Anm. 4), S. 27. Vertragstexte auf deutsch bei Christian Steiff, Leben der weltberühmten Königin […], Leipzig 1705, S. 61.; Anders Anton von Stiernman, Alla Riksdagars och Mötens Besluth […], Stockholm 1729, Bd. 2, S. 1208-1217; S. 1224-1228. Die ausführlichsten Darstellungen der Abdankung Christinas bei: Andreas Guldenblad, »Geschichte der Begebenheiten nach dem Tode des großen Gustav […]«, in: Arckenholtz (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 168-173; Johann Georg Schleder, Theatri Europaei sechster und letzter Theil, das ist, Außführliche Beschreibung der Denckwürdigsten Geschichten, Frankfurt a. M. 1663, S. 638 f. Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale historico politicum oder historisch- und politischer Schau-Platz aller Ceremonien, Leipzig 1719, Bd. 2, S. 813 f. Die bisher ausführlichsten Analysen bei: Markus Bauer, »Das große Nein – Zum Zeremoniell der Resignation«, in: Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hgg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 99-124, insbes. S. 113-121; Biermann (wie Anm. 1), S. 36-58. Zum Zeremoniell als rechtsetzendem Publikationsakt, vgl. Bernhard Jussen, »Um 2005. Diskutieren über Könige im vormodernen Europa. Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. XIXXIV, hier S. XIV-XVII. Zum Zeremoniell als ritualisierter, symbolischer Kommunikation vgl. Barbara StollbergRillinger, »Berichte und Kritik: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neuere Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit«, in: Zeitschrift für historische Forschung 27, 3 (2000), S. 389-405; Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, insbes. das Vorwort. Zum höfischen Zeremoniell vgl. Jörg Jochen Berns, »Der nackte Monarch und die nackte Wahrheit. Auskünfte der deut- https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 142 Veronica Biermann Reichsapfel, Schlüssel und Krönungsmantel zurück. Ihre Resignation war unmissverständlich als eine Entkleidung gestaltet, die die Einkleidung während ihrer Krönung ins Gegenteil verkehrte. Die symbolische Umkehrung veranschaulichte den juristischen actus contrarius mit seinen faktischen Folgen, genau so wie sie zur Königin gemacht worden war wurde dies nun wieder rückgängig gemacht, die Herrschaftsgewalt kehrte sich um und lag bei ihrem Nachfolger.22 Allein, bei exaktem Hinsehen wird meines Erachtens erkennbar, dass ein königliches Zeichen nicht zurückgegeben wurde, weil es nicht zurück gegeben, sondern nur von Gott selbst zurück genommen werden konnte: Im Krönungsakt war Christina vom Bischof gesalbt, ihre Majestät dadurch von Gott selbst geheiligt worden.23 Dass diese Einprägung des heiligen Geistes der Königin verblieb und die Salbung nicht restituiert wurde, scheint während der Resignation auf subtile Weise wahrnehmbar gemacht worden zu sein. Drei unterschiedliche Berichte beschreiben in dreifach verschiedener Weise eine offenbar auffällige Situation während der Entkleidung Christinas.24 Ab einem bestimmten Moment muss sie auf Hilfe gewartet und diese teilweise sogar winkend befohlen haben, doch nichts geschah: Im ersten Fall treten erst nach dreimaliger Wiederholung ihres Befehls, ihr die Krone vom Kopf zu nehmen, Umstehende hinzu, um ihr zu helfen25; im zweiten Fall befielt sie dem Reichsdrosten Per Brahe mehrfach, ihr die Krone abzunehmen, doch er weigert sich hinzuzutreten, so dass sie gezwungen 22 23 24 25 schen Zeitungs- und Zeremoniellschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum Verhältnis von Hof und Öffentlichkeit«, in: Daphnis 11 (1982), S. 315-349, insbes. S. 333-349 und ders., »Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 34 (1984), S. 295-311. Zum Zeremoniell als Zeichensystem und Darstellungsmedium der repraesentatio maiestatis vgl. insbes. Monika Schlechte (Hg.), Nachwort zur Edition Julius Bernhard v. Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren, Leipzig 1989, S. 3-53. Der Grundsatz stammt aus dem kanonischen wie römischen Vertragsrecht: »nihil tam naturale est quam eo genere quicque dissolvere, quo colligatum est – nichts ist natürlicher, als dass man eine Sache auf dieselbe Weise wieder auflösen kann, auf die man sie auch zustande gebracht hat«, Digesten, L, t.17, l. 35, in: Paul Krueger u. Theodor Mommsen (Hgg.), Corpus iuris civilis, Bd. 1: Institutiones et Digesta, Berlin 1877, S. 869. Zur rituellen Inversion als symbolischem Verfahren der Reversibilität vgl. Barbara Babcock, »Introduction«, in: dies. (Hg.), The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society, Ithaca, London 1978. Vgl. Schleder (wie Anm. 19), Bd. 6, S. 1180; zur Bedeutung königlicher Salbungen vgl. Bloch (wie Anm. 17); zur Herrscherweihe vgl. Reinhard Elze, »Herrscherweihe«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, s. v., zu protestantischen Salbungen vgl. Hans Liermann, »Untersuchungen zum Sakralrecht des protestantischen Herrschers«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 30 (1941), S. 311-383. Vgl. Whitelocke (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 259; Per Brahe, »Merkwürdigkeiten des brahischen Geschlechts«, in: Arckenholtz (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 430, Anm. * [sic!]; Galeazzo Gualdo Priorato, Historia della Sacra Real Maestà di Christina Alessandre Regina di Svetia, Modena 1656, S. 15. Vgl. Whitelocke (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 259. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 143 ist, sie sich selbst vom Kopf zu nehmen26; und im dritten Fall wartet sie darauf, dass ihr Umstehende dabei helfen, den Krönungsmantel von den Schultern zu ziehen, was jedoch nicht geschieht, so dass sie ihn sich selbst abnimmt und lachend zu Boden wirft.27 Diese Berichte sind anekdotisch verfasst, ihre Autoren sind subjektiv, sie widersprechen einander und sie sind unpräzise, das, was sie schreiben ist daher auslegungsfähig und -bedürftig.28 Doch so verschieden ihr jeweiliger Blickwinkel und ihre Interessen auch gewesen sein mögen, eines haben sie gemeinsam: sie alle scheinen auf einen auffälligen Moment des Zögerns zu reagieren, die resignierende Königin befielt und wartet, doch niemand gehorcht. Es ist recht offensichtlich, dass der Handlungsfluss während der Resignation ins Stocken geraten sein muss. Eine Merkwürdigkeit, die wahrgenommen wurde, die jedoch ohne eine offizielle Erklärung geblieben zu sein scheint, weshalb sie von den Autoren nach Belieben für ihren jeweiligen Zweck interpretiert werden kann. Für uns wird über ihre Erzählungen so erkennbar, dass im Moment der Resignation dem Befehl Christinas offenbar ein höherrangiger Befehl entgegenstand. Die Umstehenden scheuen davor zurück, zu ihr zu treten und ihm Folge zu leisten. Vermutlich, weil sie sich ansonsten einem Anderem gegenüber schuldig gemacht haben würden. Dieses Andere und unbedingt Gehorsamspflichtige kann nur höherranging und daher Gott und eines seiner Gebote gewesen sein, beispielsweise das alttestamentarische nolite tangere Cristos meos – tastet meine Gesalbten nicht an.29 In beredtem Schweigen wäre auf diese Weise klar gemacht worden, dass die gesalbte Majestät Königin Christinas unangetastet und beschützt blieb.30 In diesem einen Punkt kam es zu keinerlei Veränderungen und dies kenntlich zu machen war von aller größter Wichtigkeit, denn im Unterschied zu ihrer reversiblen Herrschaft war ihre Herrscherweihe irreversibel, sie hatte weiterhin Bestand und dauerte über den juristischen bis zum natürlichen Tod der Königin.31 Trotz Abdankung behielt Christina zeitlebens Rang und Titel einer Königin, trotz Resignation behauptete sie ihre Würde einer Heiligen Majestät.32 26 27 28 29 30 Vgl. Brahe (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 430. Vgl. Priorato (wie Anm. 24), S. 15. Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 48-51. Ps. 104, 15. Vgl. ebd., S. 51 f. Zu den medialen Vorzügen des Rituals vgl. Niklas Luhmann, »Geheimnis, Zeit und Ewigkeit«, in: ders. u. Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, S. 101-137. 31 Das problematische Verhältnis von reversibler Herrschaft zu irreversibler Weihe ist deutlich an forcierten Abdankungen (Depositionen) nachzuweisen, vgl. Frank Rexroth, »Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter«, in: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 27-53; ders., »Um 1399. Wie man einen König absetzte«, in: Bernhard Jussen (Hg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 241-254. Vgl. hier w. u. 32 Darin ist sie Karl V. unmittelbar vergleichbar, vgl. Richter (wie Anm. 16), S. 86. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 144 Veronica Biermann Dass Königin Christina – fast – unverändert diejenige blieb, die sie vorher gewesen war, fand im weiteren zeremoniellen Verlauf eine sichtbare Bestätigung. Ihrer Resignation schlossen sich noch der Austausch von Komplimenten und diverse Reden auf den Treppenstufen des Thronpodiums an. Danach trat Christina jedoch nicht endgültig von der letzten Stufe. Vielmehr geleiteten sich ehemalige Königin und neuer König gegenseitig auf das Podium zurück, wo sie ihren Nachfolger auf die Insignien hinwies, während er sie dazu aufforderte, sich wieder auf den Thron zu setzen, was sie jedoch ablehnte.33 Für alle sichtbar, kehrte Christina im Zeremoniell an die Schwelle des schwedischen Throns zurück. Dort allerdings stand sie nun bar ihrer Insignien und nur noch in ein weißes Gewand gekleidet. Der Autor einer der wichtigsten Zeitungen ihrer Zeit – des Theatrum Europaeum – vermittelt seinen Lesern diesen Moment, indem er schreibt, sie habe dort »wie eine sonst gemeine dame« gestanden.34 Ein offenkundig mehr als nur problematischer Vergleich, entblößt die lapidare Formulierung Christina doch ihres weiterhin bestehenden Königtums und ihrer Majestät und damit genau dessen, was sie sich vertraglich hatte zusichern lassen und was in der Resignation als Geheimnis zugleich offengelegt und beschützt worden war. Der Vergleich reduziert sie auf das, was auch im Grab der Königin gefunden wurde: eine Frau, ›nur‹ eine Frau. Erst solchermaßen schärft sich der Kontrast, der zwischen den verschiedenen Kategorien einer unangetasteten und unantastbaren Heiligen Majestät und einer »sonst gemeine(n) dame« liegt. Erkennbar werden so die Komplexität des Körpers der Königin und seines Geschlechts ebenso wie die Probleme, vor denen Christina stand. Beide Kategorien bildeten gewichtige Faktoren, die sie in ihrer Repräsentation zu reflektieren und zu gestalten hatte, und die Frage stellt sich, wie sie ihre Repräsentationsschwierigkeiten anging und löste. Beispiel drei: Das Leben Christinas vollendete sich nicht mit ihrer Abdankung 1654 und auch nicht mit ihrer Konversion 1655, es ging weiter. Im Dezember 1655 zog sie in einem triumphalen Adventus in Rom ein, wo Papst Alexander VII. Chigi dieser kostbaren katholischen Trophäe einen fulminanten Empfang bereitete. Rom wurde der Ort, an dem sie – mit Unterbrechungen – ihr weiteres Leben bis zum Tod im April 1689 verbrachte. Ab 1662 bezog sie hier zunächst temporär, ab 1668 dann kontinuierlich ihren Wohnsitz im Palazzo Riario an der Lungara, der für sie seit 1659 angemietet und zu einer königlichen Residenz umgebaut worden war.35 Zu den frühesten und zugleich kostbarsten Ausstattungsstücken ihres öffentlich zugänglichen Paradeappartements gehörte ein allegorischer Spiegel, der von Gian Lorenzo Bernini für Christina entworfen und in ihrem wichtigsten Sammlungsraum, dem »großen Gemach« bzw. der »stanza 33 Vgl. Schleder (wie Anm. 19), Bd. 7, S. 639; vgl. Lünig (wie Anm. 19), S. 814. 34 Ebd. 35 Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 83-87 mit weiterführender Literatur. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 145 dei quadri«, angebracht wurde.36 Berninis Entwurf hat sich in einer prächtigen Präsentationszeichnung in den königlichen Sammlungen von Windsor Castle erhalten.37 (Abb. 1) Ausgeführt wurde er 1662 in einer leicht veränderten Fassung durch Ercole Ferrata.38 Fast zwei Meter hoch und einen Meter breit war er außergewöhnlich groß, die Spiegelfläche setzte sich aus insgesamt acht Einzelscheiben zusammen, der Rahmen und sein Beiwerk bestanden aus vergoldetem Stuck.39 Konzipiert war der Spiegel als eine Allegorie, deren Sinngehalt sich in dem Moment vervollständigte, in dem Christina den Raum betrat und sich in ihm betrachtete: Eine knapp lebensgroße Stuckfigur, die den bärtigen Gott der Zeit darstellte, hinterfing den Spiegel. Mit weit aufgespannten Flügeln und geneigtem Oberkörper beugte er sich leicht über den Rahmen, um mit festem Griff ein reich gefaltetes Tuch zu raffen, das andernfalls die Spiegelflächen verdeckt haben würde. So jedoch enthüllte er dem Blick Christinas ihr Spiegelbild. Erst ihr im Spiegel sichtbar werdender Körper und ihr Gesicht füllten die Leerstelle, wie sie in den Zeichnungen stehen gelassen ist und wie sie im Raum ohne ihre Gegenwart ebenfalls bestand. Ihr – bekleideter – Körper ergänzte den fehlenden Teil des allegorischen Erzählzusammenhangs: der Gott der Zeit enthüllt die nackte Wahrheit.40 36 Vgl. ebd., S. 146 f.; S. 212 ff.; Zum Gesamtzusammenhang vgl. Veronica Biermann, »Die Königin und ihr Künstler: Christina von Schweden und Gian Lorenzo Bernini im ›Großen Gemach‹ des Palazzo Riario in Rom«, in: Eckhard Leuschner u. Iris Wenderholm (Hgg.), Frauen und Päpste. Zur Konstruktion von Weiblichkeit in Kunst und Urbanistik des römischen Seicento, Berlin 2016, S. 21-48. 37 Zuschreibung an Bernini erstmals durch Heinrich Brauer u. Rudolf Wittkower, Die Zeichnungen des Gianlorenzo Bernini, Berlin 1931, S. 151; sie ist unbestritten, zuletzt publiziert in: Sebastian Schütze u. Jeannette Stoschek (Hgg.), Bernini. Erfinder des barocken Rom (Museum der bildenden Künste Leipzig), 2014, Kat.-Nr. 141. 38 Vgl. Tomaso Montanari, »Bernini e Cristina di Svezia. Alle origini della storiografia berniniana«, in: Alessandro Angelici (Hg.), Gian Lorenzo Bernini e i Chigi tra Roma e Siena, Siena 1998, S. 373. Das Aussehen des tatsächlich ausgeführten Spiegels hat sich in einer Zeichnung überliefert, vgl. Rudolf Wittkower, Gian Lorenzo Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque, London 1997 (1955), S. 262. 39 »Una statua che rappresenta il tempo di creta tutta indorata grande, quale tiene in mano un specchio con panneggiature di creta simile indorato, sopra d° specchio, che scopre la verità, et il d° specchio è in otto pezzi et è alto in tutto palmi otto e largo palmi sette, quale statua e specchio stanno attaccati al Muro«, in: Inventario della eredità della Regina Cristina di Svezia, ASR, A. C. 917, S. 535; vgl. auch Nicodemus Tessin, Traictè dela decoration interieur 1717 (Nicodemus the Younger, Sources, Works, Collections), hrsg. v. Patricia Waddy, Stockholm 2002, S. 257; zum Spiegel vgl. Jennifer Montagu, Roman Baroque Sculpture. The Industry of Art, New Haven, London 1988, S. 119. 40 Zum Spiegelbild Christinas als allegorischem Porträt vgl. Carl Nordenfalk, »Realism and Idealism in the Roman Portraits of Queen Christina of Sweden«, in: Studies in Renaissance and Baroque Art presented to Anthony Blunt, London, New York 1967, S. 127; Matthias Winner, »Veritas«, in: Anna Coliva u. Sebastian Schütze (Hgg.), Bernini scultore. La nascita del barocco https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 146 Veronica Biermann Abb. 1: Gian Lorenzo Bernini, Entwurfszeichnung für den Allegorischen Spiegel im »großen Gemach« des Palazzo Riario, ca. 1662, Royal Collection, Windsor Castle. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 147 Anders als im Reichssaal zu Uppsala 1654, in welchem sie ihrer königlichen Insignien entkleidet in symbolischer Nacktheit vor der Reichsöffentlichkeit stand, war sie im Spiegel des großen Gemachs ihres römischen Palastes in allegorischer Nacktheit sichtbar. Nach ihrer Resignation konnte der Autor des Theatrum Europaeum sie mit einer »sonst gemeine(n) dame« vergleichen und sie so auf das reduzieren, was sie strikt zu vermeiden suchte, nämlich einfach nur eine Frau zu sein. Berninis Spiegel wirkt dagegen wie ein Gegenprogramm, denn in seiner Allegorie enthüllt der Gott der Zeit nicht einfach nur das Spiegelbild einer Frau, sondern dasjenige der nackten Wahrheit. Was aber war die ›nackte Wahrheit‹ Königin Christinas, was wurde in und vor diesem Spiegel reflektiert? Mit großer Wahrscheinlichkeit kontemplierte sie das, was üblicherweise mit der nackten Wahrheit eines Spiegelbildes verbunden wird und wurde: die Veränderungen ihres weiblichen Körpers und somit die Vergänglichkeit ihres Menschseins. Als Vanitas verstanden rückte auch ihr Spiegelbild sie in die Nähe dessen, was der Autor des Theatrum Europaeum auf dem Thronpodium gesehen und in ihrem Grab schlussendlich gefunden wurde – eine sterbliche Frau. Doch ebenso wahrscheinlich eröffnete ihr der Blick in diesen spezifischen Spiegel und auf ihre – allegorische – Nacktheit noch eine ganz andere Bildebene und die Bestätigung einer ganz anderen Wahrheit: die unveränderliche und unvergängliche ›Physis mit Metaphysik‹ ihres königlichen Körpers.41 Der Körper der Königin und ihre heilige Majestät besaßen einen unsterblichen Anteil, diesen im Grab zu suchen bedeutet vergebliche Liebesmüh. Wie die drei Beispiele des geöffneten Grabes, der Rückgabe der Insignien und des Blicks in den Spiegel zeigen, werfen Körper und Geschlecht der Königin Fragen auf, die zentral sind für ein besseres Verständnis Christinas von Schweden. Wie die drei Beispiele ebenfalls zeigen, ist es gar nicht so einfach, diese Fragen überhaupt zu formulieren, geschweige denn, plausible Antworten zu finden. Glücklicherweise existiert jedoch eine Möglichkeit der Annäherung an Antworten. Der Weg führt über ein Medaillenproträt, das Massimiliano Soldani in Casa Borghese, Rom 1998, S. 295-309, insbes. S. 299; Montanari (wie Anm. 38), S. 374; ders., »La maschera e il vuoto. Sui ritratti romani di Cristina di Svezia«, in: Anne-Lise Desmas (Hg.), Les portraits du pouvoir, Rom 2003, S. 96 f.; Lilian H. Zirpolo, »Christina of Sweden’s patronage of Bernini: the mirror of truth revealed by time«, in: Woman’s art journal 26 (2005), S. 38-43. Zur Ikonographiegeschichte der nackten Wahrheit vgl. Hans Kauffmann, Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 203-218. 41 Ich variiere eine Formulierung von Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (The King’s Two Bodies). Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 62. Er beschreibt dort den tragischen Bedeutungsgehalt der demise des Königs, d. h. der Trennung des body politic von body natural am Beispiel von Shakespeares Richard II., welcher nach seiner Deposition nur noch Mensch sei, mit einer »Physis, der nun jede Metaphysik fehlt«; vgl. hier w. u. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 148 Veronica Biermann Benzi für Christina in Rom entworfen hat und das in einem Text von ihr selbst erläutert worden ist. (Abb. 2) Abb. 2: Massimiliano Soldani Benzi, Porträtmedaille Königin Christinas, 1681, Avers, British Museum, London, © Trustees of the British Museum. Soldani, den der Großherzog von Toskana 1678 zu Ausbildungszwecken nach Rom geschickt hatte, und der 1681 für vier Monate in die Dienste Christinas trat, schuf für sie das Averso einer vierteiligen Medaillenserie mit ihrem Brustbild im Profil.42 In ein antikisierendes Gewand gekleidet ist ihr großflächiges Gesicht falten- und alterslos wiedergegeben, auf die Betonung unmittelbar eingängiger ›Männlichkeit‹ wurde in diesem Porträt verzichtet.43 42 Vgl. Carl De Bildt, Les Médailles romaines de Christine de Suède, Rom 1908, S. 77-119; Klaus Lankheit, Florentinische Barockplastik. Die Kunst am Hofe der letzten Medici 1670 – 1743, München 1962, S. 110-123; Benedetta Ballico, Le medaglie del Soldani per Cristina di Svezia, Florenz 1983; Tomaso Montanari, »Bellori and Christina of Sweden«, in: Janis Bell u. Thomas Willette (Hgg.): Art History in the Age of Bellori. Scholarship and Cultural Politics in Seventeenth-Century Rome, Cambridge 2002, S. 110-115; Biermann (wie Anm. 1), S. 268-287. 43 Dies im Unterschied zu so gut wie allen literarischen und einigen gemalten Porträts, wie beispielsweise von Sebastien Bourdon und Wolfgang Heimbach. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 149 Im Stockholmer Reichsarchiv hat sich zu diesem Porträt eine explication in sechsfacher Ausfertigung mit eigenhändigen Korrekturvorschlägen Christinas erhalten – eine ungewöhnlich ausführliche Sehanleitung, die zur Publikation vorgesehen war und die meines Erachtens einen der wichtigsten Zugangsschlüssel zu ihrem Selbstverständnis liefert.44 Worauf werden in diesem Text auf welche Weise die Betonungen gelegt? Vom ersten Satz an wird als zentrales Problem die Undarstellbarkeit »ihrer Majestät« benannt: die Medaille bilde sie im Profil ab, doch seien ihre Züge und ihre Art von der Kunst – und, wie Christina in mehreren Kommentaren präzisiert, von den größten Meistern der Kunst – nahezu unnachahmlich. Selbst der berühmte Bernini – und seine Berühmtheit wird im Text explizit betont –, selbst »le fameux Bernin« habe ein Gelingen nicht versprechen können.45 Die angeführten Gründe für dieses möglich erscheinende, künstlerische Scheitern muten vertraut an, decken sie sich doch mit jenen charakteristischen Merkmalen, die in so vielen Beschreibungen Christinas, einschließlich ihrer Autobiografie, immer wieder begegnen: Ihre vivacité und extreme impatience, ihre Lebhaftigkeit und ihre Ungeduld. Wie es im Text heißt, sei es ihr nie gelungen, sich und ihren Körper zu beherrschen, ausgerechnet ihr, die sich doch in allen Dingen immer absolut zu bezähmen vermochte. Der einzige Anlass, den sie daher je zur Klage gegeben habe, sei der, dass deswegen der Öffentlichkeit das Vergnügen entgangen sei, sie als das dargestellt zu sehen, was sie ist – telle qu’elle est.46 Auf den Punkt gebracht: es gibt keine Darstellung von 44 Explication des 4 dernièrs médailles de Christine Auguste, Reine de Suède. Sechs Manuskriptfassungen in unterschiedlichen Redaktionsstadien haben sich erhalten, SRA, AA, K432, unpaginiert. Vgl. a. de Bildt (wie Anm. 42), S. 98-119; Tomaso Montanari (wie Anm. 42), Appendix 3. 2, S. 118-122. 45 »La figure principal est le profil de sa Majesté, dont la phisionomie et l’air son presque inimitables à l’art. Le fameux Bernin en fut si persuadé qu’il n’osa se promettre d’y réussir, craignant la trop grande vivacité et l’extrême impatience de la Reine, se trouvant déjà dans un âge trop avancé pour un si grand ouvrage.«, Montanari (wie Anm. 42), S. 118. Alternative in Fassung I: »Sa phisionomie est exprimé en partie, son air héroïque et magnanime, qui sont inimitables a tous les maistres de l’art: ce que le fameux Bernin même avoua, n’ayant jamais osé l’entreprendre de crainte d’éschouer dans une telle entrepris: l’impatience de sa Majesté et son extrême vivacité la rendent presque impossible a un homme d’un âge si avancé, ce qu’il a dit souvent luy même en se plaignant de son malheur sur ce sujet.« Fassung III: »Tous les maistres de l’art confessent que sa phisionomie et son air sont inimitables, ce que le fameux Bernin même avoua ingénuement, n’ayant jamais osé l’entreprendre craignant trop qui l’extrême vivacité et l’impatience de sa majesté ne le fist éschouer en une si grande entreprise.« Ebd., S. 327, Anm. 79. 46 »Elle qui a un si absolu pouvoir en toutes les autres choses sur elle même n’a jamais pu fixer son impatience, et c’est le seul sujet de plainte qu’elle a donné au public qui est prive par là du plaisir de la voir représenté telle qu’elle est.« Ebd. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 150 Veronica Biermann ihr, als das, was sie ist bzw. wie sie ist, denn ihre notorische Unbeherrschtheit macht sie unnachahmlich, selbst einem Bernini. Man kann die Aussagen dieses Textes wortwörtlich nehmen und sie glauben. Die Frage stellt sich allerdings, ob dies auch tatsächlich so gewollt wird und man dies also sollte. Denn – so überzeugend der Hinweis auf Christinas körperliche Beweglichkeit auch ist und so sehr man ihr zutraut, sogar als Künstlermodell ihr Ungestüm nicht diszipliniert zu haben; mit dem Hinweis auf den »berühmten Bernini« und dessen Eingeständnis, diese Königin in ständiger Bewegung letztlich nicht darstellen zu können, nimmt die Argumentation eine doch recht bemerkenswerte Wendung. Berühmt war Bernini schließlich dafür, exakt diese größte aller Schwierigkeiten meistern zu können – das bewegteste Vorbild im unbewegtesten Material darzustellen.47 Erst kunsthistorisches Fachwissen ermöglicht es uns zu erkennen, dass die Autoren an dieser Stelle ihres Textes ein raffiniertes Spiel treiben. Spätestens mit dieser einen Formulierung zwingen sie bewanderte Leser dazu, die Glaubwürdigkeit des von ihnen Gesagten auf den Prüfstand stellen zu müssen. Die leise Irritation ist eine literarische Technik, auf indirekte Weise durchblicken zu lassen, worauf ihre Argumentation eigentlich zielt. Es ist offenkundig, dass die Autoren der explication sehr eingehende Kenntnisse der Porträtpraxis Gianlorenzo Berninis gehabt haben. Sein Sohn Domenico hat sie in der Vita seines Vaters prägnant beschrieben – und Christina kannte nicht nur Bernini selbst, sondern auch diese Vita sehr genau: Bernini hatte beim Porträtieren in Stein oder in der Zeichnung eine vom allgemeinen recht abweichende Angewohnheit. Er wollte nie, dass derjenige, den es zu porträtieren galt, still dasaß. Vielmehr wollte er, dass er sich so wie immer ganz natürlich bewege und spreche. Denn nur auf diese Weise, so sagte er, könne er dessen Schönheit ganz erkennen und ihn so erfassen, wie er sei – contrafare com’ gli era. Und er versicherte, dass, wenn jemand in Wirklichkeit ganz unbeweglich und still dastünde, sich selbst nie so ähnlich sei, als wenn er sich bewegte. Denn die Bewegung offenbare alle Eigenschaften, die ganz die seinen seien und von niemand anderem sonst und es seien 47 Bernini war berühmt dafür, mit seiner Kunst der Definition der difficoltà, wie sie Galileo Galilei in seinem Brief vom 26. Juni 1612 an den Maler Cigoli definiert hatte, zu entsprechen: »[...] quanto più i mezzi, co’ quali si imita, son lontani dalle cose da imitarsi, tanto più l’imitazione è meravigliosa.« Einen guten Einblick in die kunsttheoretischen Aspekte bei Bernini geben die Arbeiten Rudolf Preimesbergers. Vgl. ders., »Themes from art theory in the early works of Bernini«, in: Gianlorenzo Bernini, New Aspects of his Art and Thought, University Park 1985, S. 1-18; ders., »Berninis Cappella Cornaro. Eine Bild-Wort-Synthese des siebzehnten Jahrhunderts? Zu Irving Lavins Bernini-Buch«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 2 (1986), S. 190-219, hier insbes. S. 193-198. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 151 eben diese Eigenschaften, die dem Abbild seine Ähnlichkeit (zum Vorbild) gäben.48 Vor dem Hintergrund dieser Informationen beginnt sich abzuzeichnen, was die Autoren der explication begreifbar machen wollen: Wenn Berninis spezifische Porträtpraxis darin gründete, seine Vorbilder dazu anzuhalten, sich ganz natürlich zu bewegen, um so ein treffenderes Abbild von ihnen schaffen zu können, dann hätte Christina gar nicht stillgestellt werden dürfen. Ganz im Gegenteil, gerade ihre unbezähmbare Lebendigkeit und Ungeduld würde ein ihr ähnliches Porträt durch Bernini befördert haben. Nur so hätte er ihre individuellen Eigenschaften erfassen und sie so abbilden können, wie sie war bzw. als das, was sie war – com’egli era in Berninis, telle quelle est in Christinas Sprachgebrauch. Wozu die ganze Geheimniskrämerei? Welche Erkenntnis sollen wir als Leser durch diese rhetorische Technik der argumentativen Umkehrung gewinnen? Die Folgerung scheint klar: da mit sehr gut fundierten Gründen auszuschließen ist, dass der unbeherrschte Körper der Königin und dessen natürliche Bewegungen dem berühmten Bernini künstlerische Grenzen zogen, können es auch keine natürlichen Bewegungen dieses Körpers gewesen sein. Es muss sich um eine andere Art von Bewegung und daher auch um eine andere Art von Grenze handeln. Was für Bewegungen und Grenzen kommen in Frage? Möglicherweise ›übernatürliche‹ Bewegungen und daher majestätische Grenzen? Das allerdings wären delikate Aspekte, würdig genug, um sie mit Geheimnis zu umgeben. Die Analyse lässt zwei Aspekte an Kontur gewinnen: Dieser Text verhandelt kein künstlerisches Darstellungsproblem, es geht den Autoren nicht um die mimetische Schwierigkeit, vom bewegten Vorbild der Königin ein lebensnahes, ein naturgetreues, ›natürliches‹ Abbild zu schaffen. Und: dieser Text begreift die Bewegungen des Körpers der Königin, Christinas berühmt-berüchtigte vivacité und impatience, nicht als natürlich, ergo geht es den Autoren auch nicht um den ›natürlichen‹ Körper der Königin. Worum aber geht es dann? Diese Frage klären die Autoren der explication in der ihnen eigenen, komplexen Argumentationsführung am Beispiel des Medaillenproträts. Auch zu diesem wissen sie Bemerkenswertes mitzuteilen: Soldanis Profilporträt Christinas sei herausragendes Beispiel für ein besonders gut gelungenes Porträt der Königin, eines der ihr ähnlichsten – le plus resemblant –, das je von ihr gemacht werden 48 Domenico Bernini, Vita del Cavalier Giovanni Lorenzo Bernini, Rom 1713, (Nachdruck, München 1988), S. 133 f. Auch wenn mittlerweile klar ist, dass der Biograf der Vita Berninis, Filippo Baldinucci, die Notizen der Familie, sprich die Vita Domenico Berninis, wohl eher nicht aus den Händen Christinas erhielt, um seinen Text schreiben zu können, bleibt dennoch anzunehmen, dass sie diesen Text kannte, in dessen Publikation sie eingebunden war, vgl. Montanari (wie Anm. 38), S. 410-425. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 152 Veronica Biermann konnte.49 Und nicht nur, dass Soldani gelungen zu sein scheint, was zuvor noch als unmögliches Unterfangen beschrieben worden ist, er hat dies wunderbarer Weise auch vermocht, obwohl ihm die Königin nicht einen einzigen Moment zugestand, um sie anzuschauen.50 Als Leser sehen wir uns zum wiederholten Male mit einer interessanten Wendung konfrontiert, denn wie hat der Künstler das beste, ja sogar das ihr ähnlichste Porträt schaffen können, wenn er sie nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam? Die argumentative Technik der Autoren ist nunmehr vertraut, bestätigt wird, was wir schon wissen: die Ähnlichkeit von Vorbild zu Abbild, von der Königin im Leben zu ihrem Profilbildnis in der Medaille, berührt nicht die üblichen Darstellungsprobleme künstlerischer Mimesis, sie bewegt sich auf einer anderen Ebene. Welche weiteren Ebenen kommen in Frage? Wie sie schreiben, sehen wir Christina in Soldanis Medaille als Gott Apoll repräsentiert.51 Mit einem Körper, der eine Kraft und Gesundheit aufweise, wie sie ihm vom Himmel gegeben worden seien, um all’ die ihm auferlegten Sorgen und Arbeiten bewältigen zu können und den auch die Ruhe und Freuden eines beschaulichen Lebens nicht haben schwächen und verweichlichen können.52 Im Anbetracht solcher Erklärungen könnte man meinen, die Autoren bewegten sich in vertrauten Gefilden, sie thematisierten zwar nicht das Feld realistischer, wohl aber dasjenige idealer Darstellungen.53 Das Porträt weist erkennbar die Züge Christinas auf, dass sie und ihr tatsächliches Aussehen dennoch divergierten, sie sich als Fünfundfünfzigjährige sehr wohl verändert und ihr Körper im Alter ein wenig weicher und fülliger geworden war, scheint ein offenes Geheimnis gewesen zu sein. Zeitgenossen jedenfalls spotten, Soldani habe ihrer Majestät einen langen Hals gegeben und sie dadurch verschönert, wo doch ihr Hals in Wirklichkeit kurz sei.54 Diesen Kritikern ist Soldanis Medaille ein Idealbild der Königin, mit dem er ihr schmeichelt. 49 Das wird in einer der von Christina redigierten Fassungen ausdrücklich betont: »La figure principal est un profil de la Reine le plus resemblant qu’on a pû faire d’elle. [...] Cepandant celuy qui l’a fait n’a pas mal réussi et celle médaille est peut estre un des meilleurs portraits qu’on aye encore veu de la Reine.« Montanari (wie Anm. 42), S. 327, Anm. 79. 50 »Et ce qu’il y a de plus admirable il l’a fait sans que la Reine luy ait donné un moment pour la regarder.« Ebd., S. 118. 51 »Mais si Apollon fut autre fois représenté sous ces diverses figures et noms, on peut s’assurer que c’est luy qu’elle représente mieux que nul autre.« Ebd. 52 »Vous y voyez un corps qui marque cette vigueur et santé que le Ciel luy a donnés, si capable de soustenir tous les soins et les travaux, que le repos et les délices d’une vie tranquille n’ont jamais afaiblis ou amolis.« Ebd. 53 So Lankheit (wie Anm. 42), S. 118; Ballico (wie Anm. 42), S. 9. 54 »Ha dato nel genio di Sua Maestà, perché li ha fatto il collo lungo e l’ha rimbellita assai, e il collo della Maestà Sua è corto.«, Lankheit (wie Anm. 42), Dok. 169; Ballico (wie Anm. 42), S. 8. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 153 Sie scheinen sich mit ihrer Lesart jedoch zu täuschen. Denn dankenswerterweise sorgen die Autoren der explication an diesem einen Punkt mit ihren Erklärungen tatsächlich – fast – eindeutig für Klarheit: Soldani habe bewusst darauf verzichtet, Christina in ihren üblichen Männerkleidern darzustellen, um sie vor den Vorurteilen derjenigen zu schützen, die diejenigen, die die Kleiderordnung brächen, lächerlich machten.55 Stattdessen gebe er sie in antikisierender Kleidung und lorbeerbekränzt wieder, derart schön gewandet könne man sie für eine Göttin halten oder für einen Apoll in den Gewandungen verschiedener Göttinnen. Tatsächlich jedoch repräsentiere nur der Gott Apoll sie am besten und niemand anderes, denn – und jetzt kommt die entscheidende Begründung: »Les dieux n’ont point de sexe, ils ne viellisent pas, leur vigueur ne diminue jamais. C’est un continuel printemps que leur vie, et les années ne leur apportent que de beaux jours. C’est sur ce pied que vous la voiez dans un éstat si jeune et si florissant.«56 Dort, wo die explication explizit wird, lässt sich nun auch erkennen: Soldani zeigt uns in seinem Medaillenporträt eine Christina, deren Körper – bis auf die Kleidung – der Königin so ähnlich wiedergegeben ist, wie einem Künstler nur irgend möglich. Sie ist demnach ganz und gar lebensnah dargestellt, allerdings nicht mit ihrem natürlichen Körper, sondern mit einem Körper, der geschlechtslos, alterslos, mit nie versagenden Kräften gesegnet und von ewiger Jugend ist. Alle diese Eigenschaften charakterisieren üblicherweise den politischen Körper des Königs bzw. der Königin.57 Mit einigem Erstaunen muss an diesem Punkt daher zur Kenntnis genommen werden, dass die Autoren der explication die Porträtmedaille Christinas auf eine Weise erklären, die unverkennbar auf das Modell der zwei Körper des Königs rekurriert. Und dies, obwohl doch spätestens seit der Exekution Karls I. im Januar 1649 die Teilbarkeit der zwei Körper des Königs exemplarisch vor Augen geführt, das Modell der Einheit von body natural und body politics im Körper des Königs daher obsolet geworden war. Die juristische Fiktion der zwei Körper der Königin war Christina und ihrem Umfeld nicht unbekannt, spielte jedoch nur selten eine Rolle.58 Außerdem war sie keine Amtsträgerin mehr, sie 55 »La simplicité et la négligence de son habillement marquent le mépris que elle fait de toutes ces bagatelles qui sont les plus serieuses et grandes occupations de son sexe. On l’a habillée à l’héroique pour éviter le préjudice que le temps aporte aux habits, qu’il rend ridicules aussi tost qu’il les change. Mais que de grandes choses sont renfermés dans ces deux mots: ›Christina Regina‹, qui font connoistre l’heroine que cette médaille représente.« Montanari (wie Anm. 42), S. 118 f. 56 Ebd. 57 Vgl. Kantorowicz (wie Anm. 41), S. 31-46. 58 Für Beispiele vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 289 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 154 Veronica Biermann musste in ihren Porträts nicht mehr in ihrer Herrschaftsgewalt dargestellt werden. Dennoch scheint genau dieses Modell den Autoren bei ihren komplexen Erklärungsversuchen vor Augen gestanden zu haben. Warum? Die Anstrengungen der Autoren gelten dem Versuch, deutlich zu machen, dass sie nicht die Lebendigkeit und Beweglichkeit eines natürlichen, sondern eines übernatürlichen Körpers verhandeln. Die im Bild angestrebte Ähnlichkeit stellt die Künstler daher auch nicht vor ein künstlerisches Abbildungsproblem, sondern konfrontiert sie mit einer königlichen Repräsentationsschwierigkeit.59 Die vivacité und impatience Christinas, ihre Unbeherrschtheit ebenso wie ihre männliche Kleidung waren und sind allen bekannt, die Autoren können damit rechnen, dass sie als lebensnahe und untrennbar mit der Königin verbundene Charakteristika erkannt werden. Doch gemeint waren sie offenbar – in Text, Bild und Leben – als Vergegenwärtigungen einer übernatürlichen Präsenz. Christinas natürlicher Körper verkörperte sie. Um diesen Kontrast zwischen natürlichem und übernatürlichem Körper zu schärfen, greifen die Autoren auf das Modell der zwei Körper zurück. Das Geheimnis, mit dem sie im Text die Informationen zum Körper der Königin systematisch umgeben, lässt die Leser jedoch erahnen, dass sie nicht den ohnehin problematischen Amtskörper der Königin meinen, sondern offenbar die Physis Königin Christinas mit ihren metaphysischen Anteilen, sozusagen die ›Meta-physis‹ ihrer heiligen Majestät. Im Zentrum der Überlegungen Königin Christinas hätte somit der von Kantorowicz so sträflich vernachlässigte und von Kristin Marek in die Diskussion eingeführte ›dritte Körper‹ der Königin gestanden.60 Es ist dieser, der den berühmten Bernini in seine Schranken weist. Aus diesem Grunde kann von der explication der Porträtmedaille Soldanis auch wieder vor den allegorischen Spiegel Berninis im römischen Palazzo Riario Königin Christinas zurückgekehrt werden61: Der Gott der Zeit raffte dort den Vorhang vor einem Spiegel und damit vor einem Darstellungsmedium, das zu seiner Zeit als einziges in der Lage war auch Bewegungen abzubilden. Wenn 59 Zum problematischen Verhältnis von königlichem Vorbild zu seinem Abbild als Repräsentationsschwierigkeit vgl. Louis Marin, Das Porträt des Königs, Berlin 2005, insbes. S. 15-27; vgl. Stefan Germer, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, S. 219-225. 60 Vgl. Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009. Marek argumentiert am Beispiel der Effigies, die nach dem Tod der Könige deren dritten, ›heiligen Körper‹ darstellten und die in der historischen Wahrnehmung, – gerade in Ernst Kantorowicz fundamentalem Werk zu den zwei Körpern der Könige – nicht in den Blick genommen wurden; in eine ähnliche Richtung zielt meine Kritik, Biermann (wie Anm. 1), S. 240-244. 61 Einen Bezug zwischen explication und Berninis Spiegel vermutete erstmals Montanari (wie Anm. 40), S. 97. Seiner Interpretation, Bernini habe so das Problem des unvorteilhaften Aussehens der Königin gelöst, wird hier nicht gefolgt. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 155 nun die allseits bemerkte und in so gut wie allen Quellen bestätigte vivacité und impatience Christinas eine körperliche Einschreibung war, die den heiligen Körper der Königin und dessen metaphysische Qualität meinte; und wenn dieser es war, der den Künstlern üblicherweise ihre darstellerischen Grenzen aufwies; dann scheint Bernini bereits 1662 eine ingeniöse Lösung für Christinas Repräsentationsproblem gefunden zu haben. Sein Spiegel bot ihr ein zwar flüchtiges, doch unanfechtbar präzises Bildnis ihres Körpers und ihres Selbstverständnisses, so, wie sie war – telle qu’elle est: Mit der Physis einer Frau ebenso wie mit der ›Meta-physis‹ ihrer Majestät. Dies scheint die ›nackte Wahrheit‹ Königin Christinas gewesen zu sein. Vieles von dem, was an Königin Christina irritierte, manifestierte sich zwar an und in ihrem natürlichen Körper, war aber der metaphysischen Qualität ihres übernatürlichen Körpers geschuldet. So merkwürdig dies erscheinen mag, und so erstaunlich es ist, dass sie ihrem königlichen Sakralcharakter offenbar sehr viel Aufmerksamkeit schenkte, so neugierig macht ein solcher Befund, weshalb statt des unergiebigen Blicks in ihr geöffnetes Grab noch einmal in den Reichssaal von Uppsala 1654 geschaut werden soll. Drei Facetten des Körpers der Königin können von dort ein letztes Mal kurz in den Blick genommen werden und abschließend helfen, die Perspektive auf Christina von Schweden zu justieren. Facette eins: An Weihnachten 1655 war in Rom eine Königin empfangen worden, von der Papst und Stadt zu wissen meinten, sie habe abgedankt um konvertieren zu können.62 Doch Christina enttäuschte Alexander VII. Anders als erwartet worden zu sein scheint, folgte ihren radikalen Entscheidungen auf den Thron zu verzichten um den Glauben wechseln zu können keine vergleichbar radikale Glaubenspraxis. Weder fiel Christina ihren römischen Zeitgenossen durch übergroße Frömmigkeit auf, noch durch Kirchen- und Kapellenstiftungen, geschweige denn, dass sie in ein Kloster ging oder aber in die Rekatholisierungsprojekte der Nordischen Länder eingebunden werden konnte.63 Eine bemerkenswerte Diskrepanz, die selbst die historische Fachforschung dazu verleitet hat, sie als extremen Wankelmut einer unbeherrschten Frau zu interpretieren.64 Ganz abgesehen davon, dass eine derartige Sichtweise mit ihrem Chauvinismus nicht wirklich zu überzeugen vermag, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob die Annahme, Christina habe abdanken müssen, um konvertieren zu können, überhaupt stimmt. Meines Erachtens spricht sehr viel mehr dafür, dass sie abdanken wollte und deshalb konvertieren musste. Warum hätte sie abdanken wollen? Was war ihr Problem? 62 Sforza Pallavicino, Della Vita di Alessandro VII. Libri cinque, Prato 1839, Bd. 1, S. 344. 63 Vgl. Oskar Garstein, Rome and the Counter-Reformation in Scandinavia. The Age of Gustavus Adolphus and Queen Christina of Sweden 1622 – 1656 (Studies in the History of Christian Thought), Leiden u. a. 1992, S. 766-770. 64 Ebd., S. 772. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 156 Veronica Biermann Wie alle erbberechtigten Königinnen der Frühen Neuzeit, die aus eigenem Recht regierten, sah sich auch die schwedische Christina in einem unlösbaren Konflikt: der Kollision von Staats- und Naturrecht in ihrer Person. Als Königin war sie ein Souverän, im Sinne Jean Bodins ein princeps legibus solutus und als solche niemandem außer Gott Rechenschaft schuldig und ihm alleine Untertan.65 Als verheiratete Frau wäre sie gegenüber einem Gatten rechenschaftspflichtig und ihm Untertan geworden, »von dem Recht des Ehemannes über seine Frau« betitelt Hugo Grotius seinen naturrechtlich fundierten Eheparagraphen.66 Aus dieser Konstellation erwuchsen der Königin, der Dynastie der Wasa und damit auch der schwedischen Monarchie gewaltige Probleme: Als unverheiratete Königin war es ihr unmöglich dem Reich einen Thronfolger durch eine Geburt zu schenken. Einen Anspruch auf ihr dynastisches Erbe konnten daher die Nachkommen Johanns III. Wasa erheben, die als polnische Könige Katholiken waren und für das lutherisch orthodoxe Schweden eine Ernst zu nehmende, konfessionelle Bedrohung darstellten. Die mächtige schwedische Nobilität verfolgte zudem eigene Interessen, die nicht dem Erhalt der Erbmonarchie, sondern einer Wahlmonarchie galten.67 Bei jeder sich bietenden Gelegenheit ließ sie im Reichsrat durchblicken, die Erbansprüche eines von Christina installierten Nachfolgers nach ihrem Tod nicht anerkennen zu wollen.68 Wie löste sie diese Probleme? Wollte Christina die Dynastie und damit die Erbfolge der schwedischen Monarchie erhalten, musste ihre Nachfolgefrage gelöst werden. Mit großem Geschick baute sie ihren Cousin Carl Gustav systematisch zu ihrem erbberechtigten Nachfolger auf, ein Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch nahm und den sie mit ihrer Krönung und Herrscherweihe zu einem ersten Ende brachte.69 Was jedoch gefehlt zu haben scheint, war eine Legitimierung dieser Nachfolge, die so fraglos anzuerkennen war, dass selbst der Hochadel sich ihr kampflos beugen musste. Eine Abdankung bot dieses Maximum an Sicherheit. Ihre Kernhandlung, die Resignation, ersetzte, wie bereits weiter oben gesagt, den natürlichen Tod der Königin und das Begräbniszeremoniell, sie war ein Schwellenritual, 65 So seit der Definition durch Jean Bodin, vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 1, München 1957, S. 67. 66 Vgl. Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700 – 1914, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 421. 67 Vgl. Curt Weibull, Christina of Sweden, Göteborg 1966. 68 Vgl. ebd., S. 33. Christina im Reichsrat 1649: »Heirathe ich den Herzog Karl, so würdet ihr seine Kinder ohnfehlbar als Kronerben ansehen: sterbe ich aber, so will ich meine beiden Ohren verwetten, daß er niemals zum Throne gelanget«, Arckenholtz (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 170; Sverin Bergh (Hg.), Svenska Riksrådets Protokoll, Stockholm 1912, Bd. 13, 1649, S. 346. 69 Vgl. Wilhelm Heinrich Grauert, Christina, Königin von Schweden und ihr Hof, Bonn 1842, Bd. 1, S. 289-302; Weibull (wie Anm. 67), S. 9-50; Garstein (wie Anm. 63), S. 560 f.; Biermann (wie Anm. 1), S. 21-26 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 157 während dem sich die Herrschaft Christinas charismatisch auf ihren Nachfolger übertrug.70 Carl X. Gustav war recht buchstäblich eine Kreatur der Königin, er verdankte ihr nicht einfach nur eine besondere Karriere; als König entspross er der Abdankung als einem gemeinsamen Schöpfungsakt von Gott und Christina: Carolus Gustavus a Deo et Cristina Rex, wie er seinen Krönungsmedaillen einprägen ließ.71 Königin Christina scheint diese unhintergehbare Absicherung der Herrschaft ihres Nachfolgers und damit die Konsolidierung und Stabilisierung der schwedischen Monarchie tatsächlich wichtig genug gewesen zu sein, um sich gegen ihre absolute Eigenherrschaft und für die Abdankung zu Gunsten der Erbmonarchie zu entscheiden.72 Aus der Abdankung erwuchs Christina für ihre eigene Person jedoch ebenfalls ein gewaltiges Problem. Im Zentrum der Resignation, die ein Schwellenritual war, stand der Körper der Königin.73 An dessen öffentlicher Entkleidung wurde der actus contrarius ihrer Herrschaftsrückgabe nicht einfach nur visualisiert, sondern der tatsächliche Wechsel der Herrschaft als neues Recht sichtbar in Kraft gesetzt. Doch der Reversibilität der Herrschaft stand die Irreversibilität der königlichen Weihe entgegen. Der Körper der Königin war während der Krönung vom Bischof Lenäus gesalbt worden und vieles deutet darauf hin, dass auf die Gegenwart eben dieser Gesalbten des Herren während der Rückgabe der königlichen Insignien in beredtem Schweigen verwiesen wurde. Warum? Wahrscheinlich musste dies geschehen, um trotz und wegen der äußersten Geheimhaltung dennoch offenlegen zu können, dass im Ritual unangetastet und geschützt blieb, was durch dieses Ritual zugleich gefährdet war. Wie umstürzend die Veränderungen auch immer waren, die mit dem Herrschaftswechsel eintraten, die Heiligkeit ihrer Majestät musste trotz der Wandlungsmacht des Rituals unverändert und unverwandelt andauern. Sie gründete bei Christina aber in einer altargebundenen, protestantisch lutherischen Salbung. Und dieses Faktum lässt meines Erachtens relativ genau erkennen, wovor Christina sich wohl fürchtete: vor ihrer Profanierung. Mit der contagio geht die vollkommene Privation des heiligen Wesens einher, Sakralität 70 Vgl. hier w. o.; Zum königlichen Begräbniszeremoniell als Schwellenritual vgl. Ralph E. Giesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, Genf 1960. 71 Vgl. Christina Queen of Sweden. A personality of European Civilisation, Stockholm 1966, Nr. 519-522. 72 Absolute Gewissheit über die Gründe Christinas lässt sich nicht erzielen, doch sollten die innenpolitischen Argumente, die sie immer auch angeführt hat, nicht als nachrangig außer Betracht gelassen werden, vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 21-25 mit weiteren Quellen. 73 Veränderungen erfordern in Ritualen körperliche Präsenz: »The physical act alone accomplished the transition. This demand for bodily involvement characterized all rites of passage, indeed all rituals in traditional Europe«, so Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997, S. 31. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 158 Veronica Biermann wird durch Entweihung zerstört.74 Erst durch den im Ritual betriebenen Schutz vor Berührung rückt ins Bewusstsein, dass die Sakralität der Majestät unantastbar, die Herrscherweihe der Königin irreversibel und die Salbung Christinas andauernd waren. Unantastbarkeit, Irreversibilität und Dauer sind allerdings Aspekte, die die lutherische Auslegungslehre der Weihen und Sakramente weniger gut bzw. gar nicht zu garantieren vermag, während sie durch die katholische Lehre, die an den character indelebilis ihrer Sakramente und Weihen glaubt, deutlich besser abgesichert erscheinen.75 Die Konversion zum katholischen Glauben könnte demnach der Preis gewesen sein, den die lutherisch gesalbte Christina zu zahlen bereit war, um ihre Heilige Majestät davor zu bewahren, entweiht zu werden und um sie und sich in ihrer Würde zu behaupten.76 Facette zwei: Die Resignation Königin Christinas war ein Ritual, in welchem sie ihren Körper Wirkkräften aussetzte, die möglicherweise schwerer zu bändigen waren, als sie angenommen haben mag. Es wird nicht von ungefähr geschehen sein, dass der Autor des Theatrum Europaeum sie, nachdem sie ihre Insignien abgelegt hatte und nur noch in ein weißes Kleid gewandet auf dem Thronpodium stand, mit einer »sonst gemeinen Dame« vergleichen konnte. Vielleicht ahnte er, wie bewusst oder unbewusst auch immer, dass nur schwer zu schützen war, was da im Reichssaal von Uppsala der starken Wandlungsgewalt eines Rituals ausgesetzt wurde und wie fragil die Position Königin Christinas tatsächlich geworden war. Wie hoch Christinas Gefährdung durch und nach der Resignation war, erweist sich an vielleicht unvermuteten Ort. Die Wahrnehmung Christinas wird bis auf den heutigen Tag zu nicht geringen Teilen durch Texte mitbestimmt, die nach ihrer Abdankung und Konversion in europaweit kursierenden Pamphleten pub74 Giorgio Agamben, »Lob der Profanierung«, in: Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 7091, hier S. 71. 75 Am Beispiel priesterlicher Degradationsverfahren der katholischen Kirche kann die Unterscheidung zwischen dem unauslöschlichen Charakter der sakramentalen Weihe und dem Verbot der Amtsausübung am einfachsten gezeigt werden: »[...] weder die Weihe noch die mit ihr gegebenen Gewalten [können] aufgehoben werden, weder durch die kirchliche Autorität noch durch den Geweihten selbst. Beim Ausscheiden aus dem Klerikerstand unterbindet die kirchliche Autorität jedoch die erlaubte Ausübung der Weihegewalt«: Gerhard Fahrnberger, »§ 23 Das Ausscheiden aus dem Klerikerstand«, in: Joseph Listl u. Heribert Schmitz (Hgg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1999 (2. Auflage), S. 283 f. Ordinierte Pfarrer der evangelischen Kirche sind nicht geweiht, das Problem von Amt und Weihe stellt sich nicht, vgl. Evangelisches Kirchenlexikon, hrsg. v. Erwin Fahlbusch, Berlin 2003, Bd. 3/8 ›Ordination‹ u. Bd. 3/9 ›Priester, Priesteramt, Priestertum‹, insbes. S. 1323 u. S. 1326-1327; vgl. auch character indelebilis, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hier Anm. 23. 76 In einer Randbemerkung bei Guldenblad (wie Anm. 19) wird Christina explizit: »[…] die niemanden, Außer Gott, über sich erkannte. Sie behielte sich vollkommen die unumschränkte Gewalt und die Unabhängigkeit, worinn Gott sie hatte gebohren werden lassen, vor, und sie wird dieselbe bis an den Tod unverletzt erhalten.« Ebd., S. 169, Anm. *** [sic!]. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 159 liziert wurden. In der Brieve Relation de la Vie de Christine de Suede von 1655 wird auf über fünfzig Seiten in immer neuen Varianten der sittliche Verfall Königin Christinas nachgezeichnet: sei sie zu Beginn ihrer Regierung noch eine fromme, gerechte und tugendhafte Prinzessin gewesen, hätten sie später ihre französischen Berater – insbesondere der Arzt Bordelot – zu einem nachlässigen Leben verführt. Nach deren Ankunft bei Hofe habe Christinas Niedergang eingesetzt, nicht nur unklug (imprudente) sei sie geworden, sondern auch unkeusch (impudente), ohne Glauben, Gnade, Tugend.77 Der anonyme Autor der berüchtigten Copie d‘une Lettre escritte de Bruxelles à la Haye, die ebenfalls ab 1655 und dann durch ihr ganzes Leben hindurch an den Höfen Europas zirkulierte, feilt mit kaum noch zu übertreffender Akribie an seiner Darstellung der stetigen sittlichen Verwahrlosung dieser Königin ohne Thron.78 Mit ihrem kurzen Rock, dem Justeaucorps, ihrem Männerhut, Männerkragen und ihrer schwarzen Perücke mache sie sich zum Äffchen der Kompanie – in Verkleidung zur Belustigung.79 Ihre Antikenlektüre habe sie vollends verdorben: keine spräche mit mehr Kenntnis von der Sodomie als sie, sie habe Recht gehabt der schwedischen Krone zu entsagen, da ihre Einwohner zu grob für die Feinheit fleischlicher Gelüste seien, sie aber solle sich in Sodom zur Königin krönen lassen.80 In Hamburg habe sie sich in eine Jüdin verliebt, diese öffentlich in ihren Wagen eingeladen und wohl auch mit ihr geschlafen, die Damenwelt habe Schwierigkeiten, ihre Töchter vor ihr zu 77 Brieve Relation de la Vie de Christine de Suède, Jusque à la demission de sa Couronne, et son arrivement à Bruxelles, 1655. Als L’Adieu des Francois à Lá Suede abgedruckt in: Histoire de la Vie de la Reyne Christine de Suede, Stockholm 1777, S. 59-104, z. B. S. 61, 63 u. S. 67. Die Histoire de la Vie ist eine späte Sammlung der wichtigsten Pamphlete gegen Königin Christina. Eine Liste der gegen Christina gerichteten Pamphlete bei Susanna Åkerman, Queen Christina of Sweden and her Circle. The Transformation of a Seventeenth-Century Philosophical Libertine, Leiden u. a. 1991, S. 310-315. 78 Copie d’une Lettre escritte de Bruxelles à la Haye, touchant la Reyne de Suede, abgedruckt in: Histoire de la Vie de la Reyne Christine de Suede, Stockholm 1777, S. 38-58. 79 »La maniere dont elle est habillèe, n’est pas moins extraordinaire, que celle de sa personne; Cay pour se distinguer de celles de ce sexe, elle porte des juppes fort courtes, avec un just au corps, un chapeau, un colet d’homme, ou un mouchoir qu’elle noüe comme un Cavalier qui va en party, & quand elle met une cravate, comme les Dames ont accoustumé de porter, elle ne laisse pas de fermer la chemisse jusques au menton, & de porter un petit colet d’Homme avec de manchettes telles que nous les protons, en sorte que la voyant marcher avec sa peruque noire, sa juppe courte, sa gorge fermée, & son espaule elevé, on diroit que c’est un singe, quel’on c’est ainsi deguisé pour divertir la Compagnie.«, ebd., S. 40 f. Christina scheint diesen Text gekannt zu haben, auf ihn könnten sich die Erklärungen in der explication beziehen. 80 »Elle parle de la sodomie avec plus d›effronterie, que si elle en avoit fait leçon dans la Colisée à Rome: & tous les Italiens qui l›entendent sur ce chapitre là, dicent qu›elle à eu raison de quitter la Couronne de Suede, où les habitans sont trop grossiers pour chercher & gouter toutes les delicatesses de la chair, & qu›il faut qu›elle aille se faire couronner dans sodome.« Ebd., S. 42. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 160 Veronica Biermann schützen, und Madame de Cueva sei ihr recht häufig unter die Hände geraten, es gelte als sicher, dass sie Christina als Prostituierte gedient habe.81 Immer schon interessierte die Frage, ob und was an diesen scharfen Anwürfen historisch belegbare Lebensrealität Christinas war; interessant ist es aber auch danach zu fragen, worauf diese Pamphlete eigentlich zielten. Es fällt auf, dass sich die Angriffe in diesen Texten genau gegen diejenigen Charakteristika richten, die an ihr immer allen auffielen und irritierten, von denen jedoch die Autoren der explication – wie zu zeigen war – eine überraschende Erklärung anzubieten hatten. Sind daher Gründe denkbar, die noch über eine politisch motivierte Diffamierung hinausgehen könnten?82 Um eine neue mögliche Lesart dieser Pamphlete hinzuzugewinnen lohnt es sich, der freiwilligen Resignation Christinas die unfreiwilligen Depositionen gestürzter Könige vergleichend zur Seite zu stellen.83 Frank Rexroth hat am Beispiel erzwungener Abdankungen des Hoch- und Spätmittelalters als wiederkehrendes Phänomen ausmachen können, dass parallel zu den offiziellen Absetzungszeremonien so gut wie immer eine inoffizielle Pampheltliteratur entstanden zu sein scheint.84 Offensichtlich reichte es nicht aus, das erzwungene Ende einer Königsherrschaft in einem öffentlich vorgeführten, zumeist symbolischen, Entkleidungszeremoniell zu visualisieren und ins Recht zu setzen. Das Sakrale im Profanen scheint gravierende Probleme aufgeworfen zu haben, der unauflösliche Konflikt zwischen der juristisch begründeten Reversibilität von Königsherrschaft und der königlich behaupteten Irreversibilität der Weihe benötigte wohl einer zusätzlichen, subversiver agierenden Begründung.85 Hierzu bedienten sich die verschiedenen Autoren der vielen Pamphlete immer wiederkehrender, topischer Argumente.86 Fast alle Depositionen begleiten Pamphlete, in denen die Negativkarriere des königlichen Protagonisten skizziert wird und immer sind es abschüssige Wege des Niedergangs, an deren Anfang hoffnungsfrohe 81 »[...] elle devint amoureuse d›une Juifve, qu›elle menoit publiquement dans son carosse, & qu›elle faisoit coucher quelques fois avec elle. Car elle est une des plus ribaudes triballes dont on ait jamais ouy parler. Et pendant qu›elle a fait icy son residence, on luy a veu mettre la main sous la juppe des femmes, & leur prendre les cas reservez ordinairement aux maris, de sorte que les dames avoient peine à se refoudre de mener leur filles chez elle: Madam de Cueva, dont je vous parleray dans la suitte de cette lettre, luy a souvent passé par les mains, & l›on tient pour certain, qu›elle luy a servi de succube.« Ebd., S. 44 f. 82 Grauert (wie Anm. 69), Bd. II, S. 70-76; Garstein (wie Anm. 63), S. 537 f. 83 Zum Begriff »Deposition« vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Wiederstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Darmstadt 1954. 84 Vgl. Rexroth (wie Anm. 31). Zur Pamphletliteratur insbes. Rexroth 2004, S. 49 f. Vgl. auch Biermann (wie Anm. 1), S. 244-248. 85 Vgl. ebd.(2004), S. 43 f. u. ebd. (2005), S. 244. Vgl. Biermann (wie Anm. 1), S. 236-244. 86 Vgl. Rexroth 2004 (wie Anm. 31), S. 49-50. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 161 junge Könige stehen, die am Ende ihres sittlichen Verfalls einen männlichen Günstling begehren.87 Das Verfahren mutet vertraut an, eine vergleichbare, mit topischen Versatzstücken operierende Konstruktion ihrer Vita begegnet auch in den Pamphleten nach Christinas Abdankung und Konversion. Doch im Unterschied zu den deponierten Königen war ihre Resignation ganz und gar freiwillig erfolgt. In ihrem Fall stand ihre Weihe nicht zur Disposition und es gab auch nicht die Notwendigkeit, einen Zwang zu legitimieren. Dennoch entstand eine überraschend ähnliche Literatur. Wieso? Wie konnte es dazu kommen? Die resignierte Christina verband nichts mit den deponierten Königen, bis auf eines: Sie waren alle gesalbte ›Heilige Majestäten‹, ihnen allen eignete ein sakraler Charakter. Auch einem unfreiwillig abdankenden König wie Richard II. beispielsweise, konnte nicht genommen werden, was ihm von Gott gegeben worden war.88 Weshalb zumindest als Frage formuliert werden kann, ob diesen Pamphleten mit ihrer ungehemmten Boshaftigkeit womöglich die Aufgabe zufiel, alle diese Gesalbten des Herren – die unfreiwillig ebenso wie die freiwillig auf ihre Herrschaft verzichtenden – in dem einen Punkt zu berühren, der ihnen gemeinsam heilig war. Statt einer körperlichen Berührung scheinen topisch argumentierende Texte – wenn man so will: ein Sprachritual – das Instrumentarium geliefert zu haben, mit dem eine Majestät entweiht und so abschließend, endgültig und überaus dauerhaft zerstört werden konnte und vielleicht sogar zerstört werden musste. Womöglich galt es, Unerträgliches zu kompensieren, das mit der Veränderung durch Depositionen wie Resignationen eintrat; vielleicht musste Sicherheit über die Entweihung erzwungen werden, da das Ritual in diesem Punkt eine Unsicherheit offen ließ; vielleicht durfte eine ›Heilige Majestät‹ nicht Teil profanen Alltags werden. Auch Königin Christina nicht. Facette drei: Das große Vorbild Königin Christinas, Kaiser Karl V., zog sich nach seiner freiwilligen Abdankung in ein Kloster zurück, vermutlich auch, um sich und seine Majestät der profanen Welt zu entziehen. Königin Christina wählte einen davon sehr verschiedenen Weg, sie blieb in der Welt und setzte sich deren Gefährdungen aus. Allerdings kam ihr als abgedankter Königin in dieser Welt ein überaus spezifischer, ein singulärer Status zu. Und um diese Facette in den Blick zu bekommen, sei ein letztes Mal in den Reichssaal 1654 geschaut. 87 Die von der Heiligen Brigitta von Schweden verfassten Revelationes Extravagantes beispielsweise bildeten die Basis für eine chronique scandaleuse, die die Negativvita des deponierten schwedischen Königs Magnus Erikson lieferte, vgl. ebd. 88 Richard II. versuchte seinen Gesprächspartnern im Tower klar zu machen, dass er seine Salbung nicht revozieren könne, und als ihm sein Gegenüber erklärte, dass sein Thronverzicht unumstößlich sei, da »lächelte Richard wie jemand, der ohnehin nicht damit gerechnet hatte, verstanden zu werden. Er wechselte das Gesprächsthema.« Ebd., S. 52. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 162 Veronica Biermann Von den Geschehnissen dort haben sich zwei ausführliche Beschreibungen erhalten, die auch von den zeremoniellen Teilen berichten, die sich dem Resignationsritual anschlossen.89 Ohne hier noch näher auf diese Texte eingehen zu können, sei abschließend auf eine Gemeinsamkeit verwiesen: beide Autoren berichten, dass Christina sich nach der Resignation langsam vom Thronpodium begab, sich nach und nach vom Ort des Rituals entfernte. Ihre Abschiedsrede hielt sie auf der zweiten Stufe des Thronpodiums, die Abschiedsgrüße der Standesvertreter nahm sie vom letzten Treppenabsatz entgegen.90 Beide Autoren berichten aber auch, dass sie danach wieder auf das Thronpodium zurückkehrte. Im Bericht des Theatrum Ceremoniale fordert Carl Gustav die ehemalige Regentin dazu auf, sich doch wieder auf den Thron zu setzen, was sie jedoch ablehnt91; im Bericht des Theatrum Europaeum greift Christina Carl Gustav bei der Hand und führt ihn zum Thron.92 Wie immer nur unausgesprochen und daher nur schemenhaft erkennbar, kann dennoch begriffen werden, dass Christina zum Ende des Zeremoniells wieder in die unmittelbare Nähe des Thrones zurückkehrte, zum Ort des Rituals. Wo aber war dort ihr Platz? Sie gehörte nicht mehr der Sphäre königlicher Herrschaft an, die sie ja aufgegeben hatte. Schon gar nicht gehörte sie zur Sphäre der höfischen Gesellschaft, sie war keine ›gemeine Dame‹, eine Eingliederung in das höfische Frauenzimmer kam nicht in Frage. Ihr Ort lag auf der Schwelle des Rituals und der verschiedenen Sphären, nur im Zwischenreich der Liminalität war sie weder Herrscherin, noch Untertanin, nur auf dem limen konnte sie in ihrer Majestät unangetastet überleben. Königin Christina in ihrer Kleidung und habituell akzentuierten ›Männlichkeit‹, in ihrer Lebendigkeit und Lebhaftigkeit, in ihrem Ungestüm und ihrer Hemmungslosigkeit, in ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit und in ihrer sexuellen Ambiguität – Deutungshilfen für diese Phänomene kann die Medizin nicht anbieten. Eventuell die Ethnologie, denn Victor Turner hat bereits vor vielen Jahrzehnten darauf verwiesen, dass eine rituelle Verortung in Liminalität mit unterschiedlichen Formen der Ambiguität einherzugehen scheint, zu denen die Technik, eine ambivalente Geschlechtlichkeit symbolisch zu betonen, gehört.93 Wider die Eindeutigkeit, so hat Antke Engel ihr Buch über Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation betitelt, das 2002 erschienen ist und zu den Standardwerken der Queerstudies zählt. Auch diese helfen das 89 Lünig (wie Anm. 19), S. 814; Schleder (wie Anm. 19), S. 639. 90 Vgl. Lünig (wie Anm. 19), S. 814. 91 Ebd. 92 Vgl. Schleder (wie Anm. 19), S. 639. 93 Victor W. Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M., New York 1989; ders.: »Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage«, in, ders., The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca 1967, S. 93-11, bes. S. 98 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der unbeherrschte Körper der Königin und sein Geschlecht 163 Phänomen Christina zu beschreiben, sie liefern Werkzeuge, um die Paradoxien Christinas, die Irritationen und Uneindeutigkeiten, als Techniken der Desintegration erkennen zu können.94 Christina war widerständig und überlegen, sie stand außerhalb von Norm und Ordnung, sie war queer. Allerdings als ein Kind ihrer Zeit, als Königin galt das Interesse ihrer queeren Politik gewiss nicht der klassenlosen Gesellschaft, wohl aber der Exklusivität ihres Andersseins: Keines Menschen Untertan. Unbeherrscht. 94 Vgl. Antke Engel, Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt, New York 2002. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ilaria Hoppe Der eine Körper Habsburgs Zur Bildpolitik der Florentiner Regentschaft Kaum eine Untersuchung zum herrscherlichen Körper in der Frühen Neuzeit kommt ohne die Referenz auf die grundlegende Studie von Ernst Kantorowicz Die zwei Körper des Königs aus.1 Dort zeigt er die Differenz zwischen dem leiblichen und dem politischen Körper des Königs auf, der einerseits eine sterbliche Hülle hinterließ, andererseits an die transtemporal gedachte Funktion seines Amtes gebunden war. Die Effigies des verstorbenen Königs während des Begräbniszeremoniells sollte folglich das Überdauern des politischen Herrschaftskörpers symbolisieren. Der Ansatz von Kantorowicz war so erfolgreich, dass er auf alle europäischen Dynastien der Frühen Neuzeit, mehr noch auf das monarchische System im Allgemeinen ausgedehnt worden ist. Kristin Marek erweiterte sein vor allem staatsrechtlich ausgelegtes Konzept um die Kategorie des ›heiligen Körpers‹, der sinnvoll die mittelalterlich-christliche Vorstellung sakraler Königsherrschaft zum Ausdruck bringt.2 Regina Schulte gibt in der Einführung zu dem von ihr herausgegebenen Band Der Körper der Königin außerdem zu bedenken, dass Kantorowicz seine Studie am Beispiel des englischen Königshauses entwickelte. Dort stand die Säkularisierung eines zuvor theologischen Begriffs am Beginn eines neuen Verständnisses der Monarchie, allerdings erst im 16. Jahrhundert, also genau in dem Moment als Elisabeth I. als Frau den Thron von England bestieg.3 Dennoch blieben in diesem Ideal – so Schulte – politischer und natürlicher Körper miteinander verwoben. Daher kam dem Bildnis für beide Geschlechter eine besonders relevante politische Funktion zu, war es doch in der Lage, die Überblendung dieser Ebenen visuell zu vermitteln. Die Verwendung der (männlichen) Effigies im englischen Königsbegräbnis verwies jedoch ganz eindeutig auf die Notwendigkeit, eine Differenz zwischen Körper und Amt zu kompensieren. In der Staatstheorie der Habsburger wiederum ist die Trennung der Herrschaftskörper so nie vollzogen worden. Seit dem Mittelalter begrün1 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl. München 1994 (zuerst 1957). 2 Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009. 3 Regina Schulte, »Der Körper der Königin – konzeptionelle Annäherungen«, in: dies. (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500, Frankfurt a. M. 2002, S. 11-23. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 165 dete sich ihre Politik stets über den heiligen, von Gottes Gnaden eingesetzten Monarchen, genauso wie der Monarchin. Ihre Riten kennen daher auch keine Effigies, sondern die getrennte Bestattung von Körper, Herz und Eingeweiden.4 Diese Tradition rekurriert auf die Sakralisierung des Herrschaftskörpers, da die sterblichen Überreste wie Reliquien von Heiligen bestattet und entsprechend verehrt werden können. Trotz der physischen Aufteilung wurde leiblicher, politischer und heiliger Körper als eine machtvolle Einheit gedacht, die sich pars pro toto genauso manifestieren konnte wie überall dort, wo der Herrschaftskörper zu Lebzeiten in Erscheinung trat. Bildkünste und Zeremoniell waren aufgerufen, dieses Konzept medial durchzusetzen. Mit welchen Mitteln dieses Verständnis mystischer Herrschaft auch legitimatorisch zum Einsatz kommen konnte, zeigt das Beispiel von Maria Magdalena von Österreich, Großherzogin der Toskana zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Zur historischen Situation Als der Großherzog der Toskana Cosimo II. de’ Medici 1621 nach langer Krankheit starb, hinterließ er einen minderjährigen Thronfolger, den man sogleich als Ferdinando II. akklamierte. Von dieser Situation künden die erst 1626 entstandenen Gemälde von Justus Sustermans, welche die ungewöhnliche Situation in der Toskana illustrieren, denn der junge Thronerbe sitzt zwischen seiner Mutter Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich und seiner Großmutter, der mächtigen Großherzogin Christina von Lothringen (Abb. 1).5 Beiden Frauen war gemeinsam mit einem vierköpfigen Florentiner Rat die Regentschaft übertragen worden. Der Florentiner Senat schwor formal nur dem Thronfolger die Treue, doch zeigt das Bild die Inszenierung eines dreiteiligen Herrschaftskörpers, dem zugleich gehuldigt wurde. Tatsächlich hatte man dem elfjährigen Ferdinando die Staatsgewalt übertragen, doch führten bis zu seiner Volljährigkeit 1628 die beiden Frauen aktiv die Regierungsgeschäfte.6 Dabei übernahm vor allem seine 4 Armin Dietz, Ewige Herzen. Kleine Kulturgeschichte der Herzbestattungen, München 1998, S. 89-103; s. a. Friedrich B. Polleroß, »La gravure et la diffusion de la mort des habsbourg, XVIe – XVIIIe siècle«, in: Julius A. Chrościcki, Mark Hengerer u. Gérard Sabatier (Hgg.), Le deuil, la mémoire, la politique, Versailles 2015, S. 77-96. 5 Caterina Caneva u. Muriel Vervat (Hgg.), Il giuramento del senato fiorentino a Ferdinando II de’ Medici. Una grande opera del Suttermans restaurata, Florenz 2002; Ilaria Hoppe, Die Räume der Regentin. Die Villa Poggio Imperiale zu Florenz, Berlin 2012, S. 30 f. 6 Siehe dazu mit Bibliographie Estella Galasso Calderara, La Granduchessa Maria Maddalena d’Austria. Un’amazzone tedesca nella Firenze medicea del ‘600, Genua 1985, S. 93; Suzanne G. Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court. Music and the circulation of power, Chicago, London 2009, S. 193, Anm. 9; Hoppe (wie Anm. 5), S. 27-34. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ilaria Hoppe 166 Abb. 1: Justus Sustermans, Obedienzeid der Senatoren von Florenz für Ferdinando II. de’ Medici, vor 1626, Florenz, Uffizien Mutter eine entscheidende Rolle in der Repräsentation der Regentschaft, so zum Beispiel auf dem großformatigen Staatsporträt, das sie als Witwe zeigt (Abb. 2).7 Das große Rubinkreuz an ihrer Kette betont dabei ihren christlichen Glauben; das Stundenglas auf dem Tisch verdeutlicht das nur temporale Verständnis ihres Herrschaftsauftrages. Durch die Anlage einer persönlichen Residenz schuf sich Maria Magdalena von Österreich darüber hinaus einen Raum, in dem sie als Regentin agieren konnte. 7 Hoppe (wie Anm. 5), S. 29 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 167 Abb. 2: Justus Sustermanns, Maria Magdalena von Österreich im Witwenhabit, 1621, Florenz, Villa di Poggio a Caiano https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 168 Ilaria Hoppe Die Villa Poggio Imperiale Die Lage von Poggio Imperiale deutete bereits darauf hin, dass die Villa nicht bloß ein Ort der Muße war, sondern auch einen politischen Handlungsraum darstellte. Durch den Zukauf von Gütern grenzte der Besitz unmittelbar an die Boboli-Gärten und damit an die Hauptresidenz der Medici in Florenz, den Palazzo Pitti.8 Die angekauften Grundstücke dienten dem Hofarchitekten Giulio Parigi außerdem dazu, eine monumentale, heute noch erhaltene steil ansteigende Anfahrt anzulegen, die sich im rechten Winkel zum großen Viale der Boboli-Gärten befindet. Die Residenzen wurden also durch diese Achsen symbolisch miteinander in Beziehung gesetzt. Gleich am Fuße des Hügels inszenierte ein Skulpturenensemble den Eingang zum Reich Maria Magdalenas mit dem kaiserlichen Doppeladler und dem Allianz-Wappen der Häuser Medici und Habsburg.9 Das mal mehr oder weniger subtile Spiel mit den Verweisen auf die beiden Dynastien setzte sich in der Gestaltung der neuen Fassade fort sowie mit der Namensgebung. Die Illustration von Alfonso Parigi, dem Sohn des Hofarchitekten Giulio, zum Libretto der Theaterinszenierung La liberazione di Ruggiero dall’isola di Alcina von 1625, stellt für die Rekonstruktion des damaligen Zustands der Fassade die grundlegende Quelle dar (Abb. 3).10 Der eher unscheinbare Villenbau aus dem 15. Jahrhundert war in eine moderne, frühbarocke Anlage mit Ehrenhof und Belvedere verwandelt worden. Die schlichte Gestaltung der Fassade mit Bändern an Kanten und Maueröffnungen steht in der Tradition des mediceischen Villenbaus und wies das Gebäude weithin als zu ihrem Besitz gehörig aus. Das monumentale Wappenschild mit Inschrift über dem Portal verdeutlichte gleichwohl, wer die Besitzerin des Hauses war: Einerseits durch die erneute Verwendung eines Doppelwappens und andererseits durch die überlieferte Inschrift, die den Villentopos mit einer Widmung verband: 8 Zur Geschichte der Villa s. mit Bibliographie ebd., S. 35-55. 9 Siehe dazu ausführlich Ilaria Hoppe, »Die Villa Poggio Imperiale in Florenz als Schwellenraum«, in: Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon u. Kristina Steyer (Hgg.), Räume der Macht. Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2013, S. 65-90. 10 Ilaria Hoppe, »Die Räume der Regentin und der Ort der Inszenierung: Die Villa Poggio Imperiale unter Maria Magdalena von Österreich«, in: Christine Fischer (Hg.), La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina. Räume und Inszenierung in Francesca Caccinis Ballettoper (Florenz, 1625), Zürich 2015, S. 67-88. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 169 Abb. 3: Alfonso Parigi, Pferdeballett vor Poggio Imperiale, 1625, Kupferstich, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe Uffizi Die kaiserliche Villa, die von den erhabenen Österreichern ihren Namen erhielt, möge auf ewig den zukünftigen Großherzoginnen Etruriens dem Otium und dem Vergnügen dienen.11 Nach Vollendung der Umbauarbeiten 1624 hatte die Regentin die ehemalige Villa Baroncelli durch ein unanfechtbares Edikt in Poggio Imperiale – also kaiserlicher Sitz – umbenannt, womit ein weiterer Verweis auf ihre Abkunft gegeben war.12 Maria Magdalena stammte zwar von der in Graz ansässigen Nebenlinie der Habsburger ab, diese stellten jedoch seit 1619 mit ihrem Bruder Ferdinand II. den Kaiser. Somit gab es eine unmittelbare Beziehung zum Kaiserhaus und die imperiale Ikonographie gehörte zu den wichtigen Elementen der Selbstdarstellung der Erzherzogin. 11 »VILLA IMPERIALIS AB AUSTRIACIS / AUGUSTIS NOMEN CONSECUTA / FUTURAE MAGNAE DUCES ETRURIAE / VESTRO OCIO DELICIISQUE / AETERNUM INSERVIAT«; Hoppe (wie Anm. 5), S. 44. 12 Ebd., S. 38. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 170 Ilaria Hoppe Funktion und Dekoration der Räume der Regentin Die Auswertung der Hofchronik und des Inventars der Villa von 1625 ermöglichte es, die Innenräume und ihre dekorative Ausstattung zu rekonstruieren und sie mit ihren ursprünglichen Funktionen in Verbindung zu bringen.13 Im Innenhof (Abb. 4, Nr. 1) gibt das Inventar neben Gemälden antike Büsten römischer Kaiser und Kaiserinnen auf Sockeln mit dem Habsburg-Wappen an.14 Diese Reihe setzte sich sowohl im Saal im Erdgeschoss fort (Abb. 4, Nr. 3), als auch in der Galerie, die den Innenhof im Obergeschoss säumte.15 Zur Rechten des Innenhofes schloss sich das Appartement Maria Magdalenas und ihres Sohnes Ferdinando an, wobei diesem nur ein Vorzimmer und ein Schlafgemach zugedacht worden waren (Abb. 4, Nr. 14 und 15).16 Repräsentativen Charakter erhielten seine Räume insbesondere durch die Fresken in den Lünetten, die eine Equipe Florentiner Maler ausgeführt hatte und die sich bis heute in situ befinden. Sie zeigen Heldentaten Habsburger Kaiser, also der männlichen Vorfahren der Mutter des jungen Herzogs. Die genealogische Abfolge beginnt chronologisch im ehemaligen Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 14) mit dem Fresko von Matteo Rosselli, das den Gründungsmythos der Habsburger Dynastie zeigt: Die Legende von Rudolf und dem Priester (Abb. 5). Außerdem dargestellt sind der Treueid der Barone für Rudolf I. und Taten Kaiser Maximilians I. Im ehemaligen Vorzimmer des jungen Großherzogs (Abb. 4, Nr. 15) sind zwei Lünetten den Siegen Kaiser Karls V. gegen die Türken gewidmet (Belagerung vor Wien 1529, Eroberung von Tunis); zwei weitere Darstellungen zeigen ›Ruhmestaten‹ von Kaiser Ferdinand II., also dem Bruder der Regentin und gleichnamigen Onkel ihres Sohnes Ferdinando II. Diese Fresken thematisieren jeweils aktuelle politische Geschehen und zwar die Schlacht am Weißen Berg bei Prag von 1620 und die Vertreibung der Protestanten aus Innerösterreich 1596 im Zuge der erzwungenen Rekatholisierung des Landes durch Erzherzog Ferdinand. Die Abfolge Habsburger Kaiser bildete unter Verwendung für die italienische Kunstgeschichte absolut singulärer Themen einen dynastisch-genealogischen Fürstenspiegel für den jungen Großherzog und Thronfolger, allerdings nicht wie sonst üblich im Rekurs auf sein agnatisches Geschlecht, sondern auf das 13 Florenz, Archivio di Stato di Firenze (ASF), Miscellanea Medicea (MM) 11, Cesare Tinghi, Diario di Ferdinando I G[ran] D[uca] di Toscana scritto da Cesare Tinghi suo ajutante di camera, III. Guardaroba Mediceo (GM) 479, 17.3.1625 (1624 stile fiorentino), Inventario Originale Debit[ori] e Credit[ori] della Villa Imperiale. Das Inventar ist vollständig publiziert in Hoppe (wie Anm. 5), S. 290-330. 14 Ebd., S. 57. 15 Ebd., S. 58 f. 16 Hoppe (wie Anm. 5), S. 65, 169-189. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 171 Abb. 4: Rekonstruktion des Erdgeschosses von Poggio Imperiale nach dem Inventar von 1625 den Medici an dynastischem Rang weitaus überlegene Haus seiner Mutter. Die Fresken vermitteln durch Schlachtenszenen, armae und ignudi in den seitlichen Kartuschen ein dezidiert männliches Herrscherbild, bei gleichzeitiger Betonung ihrer Verdienste für den ›wahren‹ katholischen Glauben und gegen alle Andersgläubigen wie Protestanten und Muslime. Schließlich wird die Begründung der Kaiserdynastie auf eine Heilslegende zurückgeführt, so dass die Abkunft der Habsburger als zusätzlich sakralisiert erscheint. Die Situierung der Szene von Rudolf I. und dem Priester ist für dieselbe Zeit ebenso im Schlafgemach von König Philipp IV. von Spanien im Alacazàr in Madrid dokumentiert, dort als Gemälde von Peter Paul Rubens.17 Die Ikonographie zielte auf die Vermittlung 17 Ilaria Hoppe, »Engendering Pietas Austriaca: The Villa Poggio Imperiale in Florence under Maria Maddalena of Austria«, in: Herbert Karner, Ingrid Ciulisová u. Bernardo García García https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 172 Ilaria Hoppe Abb. 5: Matteo Rosselli, 1624, Rudolf I. und der Priester, Florenz, Villa Poggio Imperiale, ehemaliges Schlafgemach von Ferdinando II. einer gottgeweihten Kontinuität der Habsburger-Dynastie. In der schriftlichen Überlieferung diente die Episode als Exempel des durch Monarchie und Religion vereinten Staatswesens und fundierte das Konzept der Pietas austriaca, einer dynastisch gebundenen Heilslehre.18 Die Darstellung der Szene innerhalb repräsentativer Schlafgemächer zeigt außerdem, dass nicht nur an die Frauen des Hauses, sondern auch an die männlichen Mitglieder der Dynastie der Anspruch an Kontinuität und damit Reproduktion gestellt wurde. (Hgg.), The Habsburgs and their Courts in Europe, 1400 – 1700: Between Cosmopolitism and Regionalism, Österreichische Akademie der Wissenschaften, KU Leuven 2014 [http://www. courtresidences.eu/index.php/publications/e-Publications/] Zugriff 22.11.2016. 18 Hoppe (wie Anm. 5), S. 182-188; s. a. Werner Telesko, »The Pietas Austriaca. A political myth? On the Instrumentalisation of Piety towards the Cross at the Viennese Court in the Seventeenth Century«, in: Karner et al. (wie Anm. 17). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 173 Alle übrigen Räume in diesem Flügel der Villa Poggio Imperiale waren der Regentin zugeeignet. Saal, Vorzimmer und Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 3, 4, 13) bilden mit dem Freskenprogramm der Berühmten Frauen ein Pendant zur Ausstattung der Räume ihres Sohnes.19 Im Saal (Abb. 4, Nr. 3) führen sie die lange und vorbildliche Tradition christlicher Herrscherinnen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor Augen: Neben Mathilde von Tuszien, ideelle Vorgängerin Maria Magdalenas als Regentin der Toskana, erscheinen die beiden ersten christlichen Regentinnen Ost- und Westroms Galla Placidia und Pulcheria in den Lünetten. Mit Ausnahme der hl. Katherina von Alexandrien, die als Exemplum für die kirchliche Lehre und umstrittene apostolische Tätigkeit von Frauen figuriert20, sind alle übrigen im Saal dargestellten Heldinnen auf den realen oder konstruierten Stammbaum der Habsburger zurückzuführen. Bekannt ist dies allgemein für die hl. Isabella von Portugal, Isabella die Katholische, Konstanze von Aragon oder die hl. Kaiserin Kunigunde, letztere flankiert von Putten mit Rüstungen, welche auf die Legende des Bindenschildes des Hauses Habsburg anspielen (Abb. 6). Meine Recherchen ergaben zudem, dass die unter Kaiser Maximilian I. verfasste Sammelvita von Jakob Mennel über die Berühmten Frauen der Habsburger mit Chlothilde »als ain grossmuter der fürsten von habspurg«21 beginnt, so dass nun auch das Auftreten der ersten christlichen Königin Frankreichs in der Heldinnengalerie von Poggio Imperiale zu erklären ist. Neben der historischen Herleitung der positiven Auswirkungen von Frauen bzw. Habsburgerinnen an der Macht, betont die Auswahl zudem ihre Frömmigkeit und wundertätigen Gaben. Maria Magdalena hatte sich selbst für die Kanonisation der Isabella von Portugal eingesetzt22, um eine weitere Heilige in der eigenen Ahnenreihe anzuführen, denn sie steigerten grundsätzlich das Prestige der Dynastie im Sinne des Gottegnadentums. In Poggio Imperiale zeigten sich die ausgewählten Frauen als Vollstreckerinnen des göttlichen Heilplans, der sie wiederum zum Herrschen prädestinierte. Neben den erwähnten Kaiser- und Kaiserinnenbüsten mit dem HabsburgWappen ergänzten vier großformatige Gemälde mit Heldinnen der Antike ursprünglich die Ausstattung des Saales. Sie bildeten eine eigenständige Gruppe innerhalb des nach heilsgeschichtlichen Epochen unterteilten monumentalen Programms.23 Sie zeigen vorbildliche Regentinnen, wie Artemisia und Semiramis, 19 Hoppe (wie Anm. 5), S. 95-168. 20 Ebd., S. 112-114. 21 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Biblioteca Palatina Vindobonensi, Cod. 3077***, Jacobus Mennel sive Manlius, De claris mulierbus domus Habsburgicae liber germanicus, Augsburg 1518, fol. 1v, 4r−4v. 22 Hoppe (wie Anm. 5), S. 108 f. 23 Ebd., S. 95-102. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 174 Ilaria Hoppe Abb. 6: Benedetto Veli, hl. Kunigunde, 1623/24, Fresko, Saal von Poggio Imperiale sowie historische Frauenfiguren, die sich zum Wohle der Staatsraison geopfert hatten, wie Lukrezia24 (Abb. 7) und Sophonisbe. Zur bis heute erhaltenen Freskendekoration der Decke im Saal gehören Kaiser- und Großherzogskrone sowie eine Herrschaftsallegorie mit den Attributen kaiserlicher und päpstlicher Gewalt.25 Die hier dargestellte Verbindung profaner und sakraler Macht vereint im Ideal von Gottesgnadentum und Universalmonarchie stellte sich als für das gesamte Programm bestimmend heraus. Das Motiv der Berühmten Frauen und Männer wurde in Poggio Imperiale sowohl mit der von den Habsburgern in Anspruch genommenen Translatio imperii verknüpft, das heißt mit der Vorstellung der Weiterführung des römischen Kaiserreiches, als auch mit der Pietas Austriaca, der topischen Sakralisierung der Dynastie. So setzt sich auch das Programm im Appartement der Regentin mit Motiven fort, die Religion und Herrschaft 24 Ilaria Hoppe, »Tod der Lucrezia«, in: Francesca de Luca (Hg.), Österreichische Erzherzoginnen am Hof der Medici, Ausstellungskatalog Schlossmuseum Linz 2016, Linz 2016, S. 168-169. 25 Hoppe (wie Anm. 5), S. 118-124. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 175 Abb. 7: Francesco Rustici, Tod der Lucrezia, vor 1623/25, Florenz, Uffizien miteinander verbinden (Abb. 4, Nr. 13). In ihrem ehemaligen Vorzimmer sind es Heldinnen des Alten Testamentes, die als Gottesstreiterinnen für ihr Volk eintraten, wie etwa Judith, Jael und Esther oder, durch göttliche Vorsehung unterstützt, die legitime Nachfolge sicherten, wie Rebecca oder die Tochter des Pharao.26 Mit dem Verweis auf den Alten Bund entspricht diese Ikonographie der auch durch das Zeremoniell nachweislichen transitorischen Funktion des Vorzimmers zwischen Saal und Schlafgemach der Regentin. In typologischer Steigerung folgen dort die Darstellungen jungfräulicher Märtyrerinnen des Frühchristentums (Abb. 4, Nr. 4). Einzige Ausnahme stellt hier die hl. Helena dar, ebenfalls eine von den Habsburgern vereinnahmte Fürstin und Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin des Großen (Abb. 8). Die Ikonographie des heiligen Kreuzes verknüpft sich hier mit dem Modell der jungfräulichen Märtyrerinnen und verwies auf die familiengebundene, besondere Bedeutung des Kreuzes für die Habsburger, der dynastisch formulierten Fiducem in Crucem Christi.27 Durch das Auffinden einer angeblichen Kreuzesreliquie noch zu Lebzeiten ihres Gemahls hatte die Regentin dieses Konzept wiederum für Florenz an 26 Ebd., S. 124-146. 27 Siehe dazu ausführlich Telesko (wie Anm. 18). https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 176 Ilaria Hoppe Abb. 8: Domenico Pugliani, Hl. Helena, 1623/24, ehemaliges Schlafgemach der Regentin, Poggio Imperiale ihre Person gebunden und durch die Stiftung eines aufwendigen Reliquiars mitsamt Kapelle im Wallfahrtsort Impruneta nachhaltigen Ausdruck verliehen.28 In ihrem Nachlass befand sich eine Kreuzreliquie und ein monumentales Reliquiar in Form eines Kruzifixes ist in der Kapelle in Poggio Imperiale dokumentiert.29 Das Einfügen einer Darstellung der hl. Kaiserin in ihrem Schlafgemach verwies zudem auf die Kaiserinnen-Reihe im Saal, so dass programmatisch und räumlich ein immerwährender heilsgeschichtlicher Zyklus hergestellt war. Bislang waren die Dekorationen in den Räumen von Mutter und Sohn immer getrennt voneinander, ohne Berücksichtigung der Raumfunktionen sowie der Relevanz von Poggio Imperiale als Residenz während der Regentschaft betrachtet worden. Aber erst durch die Zusammenschau und die Rückbindung auch der weiblichen Figuren an den Stammbaum der Hausherrin wird die Verbindung zur männlichen Genealogie deutlich, die ebenfalls die hohe Abkunft 28 Ilaria Hoppe, »Maria Maddalena d’Austria e il culto delle reliquie alla corte dei Medici. Scambi di modelli dinastici ed ecclesiastici«, in: Christina Strunck (Hg.), Medici Women as Cultural Mediators (1533 – 1743), Cinisello Balsamo 2011, S. 227-251. 29 Ebd. und Riccardo Gennaioli, »Antonio Susini«, in: de Luca (wie Anm. 24), S. 176 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 177 Maria Magdalenas in Szene setzte und zugleich für ihren Sohn beanspruchte. Im Unterschied zu den dynastisch-genealogischen Zyklen der Medici wird die Anciennität der Linie, ihre Sakralisierung mittels Heiliger im Stammbaum sowie der beständige Einsatz für den katholischen Glauben betont. Die Medici suchten eher durch die Darstellung des durch Tugend erworbenen Adels und arma et litterae-Motiven ihren geringen dynastischen Rang zu kompensieren. Zum Andenken an ihren verstorbenen Gemahl hatte Maria Magdalena eine solches Medici-Programm in einer Galerie mit Zugang zum Garten ausführen lassen. An deren gewölbter Decke – daher ihr Name Volticina – sind diplomatische und militärische Erfolge von Großherzog Cosimo II. zu sehen (Abb. 4, Nr. 7).30 Wie in einer antiken Ruhmeshalle gehörten acht in Nischen eingestellte Statuen zur Dekoration dieses Raumes, ferner eine Fülle von Kunstgegenständen. Der antikisierende Charakter setzte sich in dem kleinen angrenzenden Innenhof mit Grotte fort (Abb. 4, Nr. 8), wo ebenfalls antike Stücke ausgestellt waren. Zum ebenerdigen Appartement der Regentin und ihres Sohnes gehörte weiterhin eine Kapelle mit Geheimausgang (Abb. 4, Nr. 9). Für diese ist die Tafel von Jacopo Ligozzi Der hl. Franziskus empfängt das Christuskind dokumentiert.31 Die dahinter liegenden kleineren Räumlichkeiten waren einer intimeren Nutzung vorbehalten. Die Treppe führte ins Obergeschoss, durch das Mezzanin, wo sich das ebenfalls im Inventar erwähnte »geheime Zimmerchen« der Regentin befand. Der gegenüberliegende Flügel (Abb. 4, Nr. 19-28) war den Gästen vorbehalten, der dortige Saal vornehmlich mit Portraits der Familie Maria Magdalenas geschmückt. Im zweiten Obergeschoss entsprach die Raumdisposition derjenigen im Erdgeschoss. Eine weitere Galerie, die sogenannte Galleria del Giro, mit Kaiserbüsten und Herrscherportraits der Medici und der Habsburger säumte den Innenhof. Diesem schlossen sich wie im Erdgeschoss eine Suite für Mutter und Sohn an sowie auf der gegenüberliegenden Seite ein Appartement für die Mitregentin und Schwiegermutter Maria Magdalenas, Großherzogin Christina von Lothringen. Im dritten Geschoss hatten die Geschwister des Thronfolgers ihre Zimmer sowie weitere Mitglieder der Entourage. Die Sammlung Neben der Gestaltung der Räume durch die bis heute gut erhaltenen Fresken, kam der Kunstsammlung eine äußerst bedeutende Funktion zu. Das Inventar gibt Auskunft über die ungeheure Fülle der Gegenstände insbesondere im Erd30 Hoppe (wie Anm. 5), S. 189-205. 31 Ebd., S. 64. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 178 Ilaria Hoppe geschoß der Villa.32 Die Regentin hatte dafür sowohl ganze Bildserien aus den mediceischen Sammlungen nach Poggio Imperiale überführen lassen, als auch in großen Stil mittels Agenten angekauft sowie selbst Kunstwerke in Auftrag gegeben. Neben einer Fülle von Gemälden ganz unterschiedlicher Sujets, weisen die in einem Kabinett vorhandenen über 70 Kleinbronzen, darunter wohl auch eine von Michelangelo, sie überdies als engagierte Kunst-Sammlerin aus.33 Schließlich prägten die Ausstattung Antiken oder Antikenkopien sowie die Malereien auf Edelstein als genuin Florentiner Kunstform. Insofern demonstrierte die Sammlung gerade nicht, den Maria Magdalena aufgrund ihrer Bigotterie unterstellten Bruch mit der mediceischen Kultur, sondern vielmehr deren Weiterführung, allerdings zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung. Einen deutlichen Schwerpunkt erhielt die Sammlung durch die über das ganze Haus verteilten Darstellungen ihrer Namenspatronin, der hl. Maria Magdalena, die wie ein Verweissystem den Herrschaftsraum der Erzherzogin markierten. Noch posthum stellte man 1632 ein mit Marmorintarsien ausgekleidetes Oratorium fertig, dessen Lünettenzyklus von der Hand Francesco Curradis die Vita der hl. Maria Magdalena zeigt.34 Sie selbst hatte sich als büßende Eremitin vom Hofmaler Justus Sustermans darstellen lassen, ein Gemälde, das sehr wahrscheinlich im Obergeschoss inmitten der dynastischen Portraitgalerie hing, und zwar genau an der Stelle, an der die Bildnisse der Habsburger und der Medici aufeinandertrafen (Abb. 9).35 Der dunkle Bildhintergrund lässt auf die Grotte schließen, in der sich die Heilige zur Kontemplation der Legende nach zurückgezogen hatte. Zu ihrer Rechten sind ihre Attribute und Askesewerkzeuge zu sehen. Sie selbst trägt die Haare gelöst und eine am Ärmel eingerissene Kutte. Die Hände sind zum Gebet erhoben und ihr tränenverschleierter Blick richtet sich am Betrachter vorbei in die Ferne, so als ob sie eine durch Erleuchtung erlangten Vision schaue. Dieser körperliche und innerliche Rückzug wurde in Poggio Imperiale allerdings einer höfischen Öffentlichkeit ausgestellt, als sakrales Identifikationsportrait, in dem sich Herrschafts- und Heiligenbild überblendeten. Hier wird die Zwiesprache der Regentin mit Gott betont, ihre völlige Hingabe an das religiöse Ideal der vita contemplativa. Gleich zu Beginn ihrer Regent32 Für eine zusammenfassende Darstellung ebd., S. 57-76. 33 Eike Schmidt, Das Elfenbein der Medici. Bildhauerarbeiten für den Florentiner Hof von Giovanni Antonio Gualterio, dem Furienmeister, Leonhard Kern, Johann Balthasar Stockamer, Melchior Barthel, Lorenz Rues, Francis van Bossuit, Balthasar Griessmann und Balthasar Permoser, München 2012, S. 45-91. 34 Hoppe (wie Anm. 5), S. 61 f. 35 Im Inventar heißt es: »Un’Quadro in tela (…) entrovi dipinto, una Santa Maria Maddalena nel diserto.« ASF, GM 479, fol. 27v, so auch in den späteren Inventaren benannt; Hoppe (wie Anm. 5), S. 66 f; Lisa Goldenberg Stoppato, »Justus Sustermans«, in: de Luca (wie Anm. 24), S. 159-161. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs Abb. 9: Justus Sustermans, Maria Magdalena von Österreich als Hl. Maria Magdalena, vor 1625, Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 179 180 Ilaria Hoppe schaft hatte die Erzherzogin die Inszenierung eines Dialoges zwischen Martha und Maria Magdalena in Auftrag gegeben; als Bildthema war dieses Sujet auch als Altarbild von Allessandro Allori in der Kapelle im Obergeschoß, also direkt neben der Galerie, präsent.36 Maria Magdalena hatte sich gemäß der auch vom Tridentinum befürworteten intercessio sanctorum zu einer heiligen Fürbitterin stilisieren lassen, als unmittelbare Verbindung zwischen den Untertanen und Gott. Situierung und Thema verdeutlichen das Selbstverständnis von Maria Magdalena von Österreich als ›heiliger Fürstin‹, das ostentativ zur Schau gestellt wurde und so auch einen politischen Zweck erfüllen konnte.37 Die Sakralisierung ihres Körpers, die hier ihren unmittelbar bildlichen Ausdruck gefunden hatte, legitimierte ihre durchaus nicht unumstrittene Herrschaft mit dem Verweis auf Frömmigkeit und göttliche Berufung. Das Identifikationsportrait überblendete die gewünschten Andachtspraktiken von Herrscher- und Heiligenbild, zumal die Verehrung der hl. Maria Magdalena während der katholischen Reform ihren Höhepunkt erreichte und sich in Florenz auch mit dem lokalen Kult der hl. Maria Maddalena de’ Pazzi verknüpfen ließ.38 Das Zeremoniell in der Villa Poggio Imperiale Die Regentin hatte also weder Kosten noch Mühen gescheut, sich eine Villa suburbana einzurichten, die mit vergleichbaren zeitgenössischen Anlagen der Medici konkurrieren konnte. Poggio Imperiale diente ihr, der Entourage und Gästen zum ländlichen Vergnügen, ganz so wie es die Widmung verhieß: Man lud Bauernmädchen der Umgebung zum Tanz, veranstaltete Jagdausflüge und Bankette.39 Kleinere Gesellschaften unterhielt man mit Kammermusik oder durch Darbietungen der Prinzen und Prinzessinnen. Überliefert sind auch mehrfach Führungen durch das Haus. Die erwähnte Operninszenierung gehörte zu den größeren Veranstaltungen, für die man die gesamte Villa einem höfischen Publikum öffnete. Dazu zählten auch religiöse Feiern, wie das Fronleichnamsfest 36 Hoppe (wie Anm. 5), S. 68. 37 Für das Modell der ›Heiligen Fürstin‹ im Sinne der katholischen Reform s. Xenia v. Tippelskirch: »›Zum Exempel eines gottseligen Wandels gantz lustig zu lesen‹. Anmerkungen zur Vita der Marie von Portugal, Fürstin zu Parma und Piacenza (1538 – 1577)«, in: Peter Burschel u. Anne Conrad (Hgg.), Vorbild – Inbild – Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2003, S. 83-119; Zum ›Heiligen Fürsten‹ nach Adriano Prosperi s. Marcello Fantoni, »Il ›Principe santo‹. Clero regolare e modelli di sovranità nella Toscana tardo medicea«, in: Flavio Rurale (Hg.), I religiosi a Corte. Teologia, politica e diplomazia in antico regime, Rom 1998, S. 229-248. 38 Siehe hierzu mit Bibliographie Hoppe (wie Anm. 5), S. 25-26, 74-76. 39 Ebd., S. 77-93. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 181 von 1625.40 Zu diesem Anlass hatte man die Fassade des Palastes mit Tapisserien, Gemälden und Festons geschmückt. Am Eingang standen Brunnen, aus denen eisgekühlter Rotwein floss. Im Innenhof war ein Altar mit Baldachin aufgebaut, den goldene Gefäße, Kandelaber und Blumen schmückten. In feierlicher Prozession trug man den Baldachin schließlich in eine unweit gelegene Kirche, wo man der Messe beiwohnte. Solche Praktiken durchdringen den vermeintlich profanen Raum einer villa suburbana und machten ihn zu einem geheiligten Ort. Nicht nur der Herrschaftskörper und seine Repräsentation wurden sakralisiert, sondern durch Kunst- und Kultgegenstände sowie das religiöse Ritual auch der Handlungsraum der Regentin. Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass wichtige gesellschaftliche Ereignisse – seien sie nun profaner oder sakraler Art – in den Jahren der Regentschaft in Poggio Imperiale stattfanden. Der Palazzo Pitti blieb zwar offiziell die Hauptresidenz für den bereits formal bestätigten Großherzog Ferdinando II., doch verstand es die Regentin, die Aufmerksamkeit des Hofes und seiner Gäste durch verschiedenste Aktivitäten auf ihre Villa suburbana zu lenken, die so die Funktion einer Residenz übernommen hatte. Deutlich wird diese Konstellation bei den in der Hofchronik festgehaltenen Empfängen hochgestellter Diplomaten, etwa dem Gesandten des französischen Hofes im Mai 1624. Dieser wurde am Tag seiner Ankunft zuerst im Palazzo Pitti von Ferdinando II. empfangen. Am nächsten Tag fuhr man gemeinsam im Sechsspänner nach Poggio Imperiale. Dort wurde der Gast zuerst in sein Quartier geführt und von den männlichen Mitgliedern des Hofes begrüßt. Danach geleitete man ihn in den Saal (Abb. 4, Nr. 3), wo der junge Großherzog ihn erneut, in der Mitte des Saales stehend, empfing. Die Damen des Hofes warteten im Vorzimmer (Abb. 4, Nr. 13). Nachdem die Männer dort eingetreten waren, erhob sich Christina von Lothringen und ging drei Schritte auf den Gesandten zu und man tauschte Briefe aus. Danach setzte man sich zur Konversation. Bei einem anderen Anlass wurde der Diplomat von Maria Magdalena in ihrem Schlafgemach (Abb. 4, Nr. 4) empfangen und durch den Saal wieder hinaus geleitet.41 Das Zeremoniell fand also vornehmlich in den drei freskierten Repräsentationsräumen der Regentin im Erdgeschoss statt. Die so im Kreis abzuschreitende Bewegung korrelierte mit dem dortigen Programm der Berühmten Frauen, womit jenem eine besondere Relevanz zukam. Programme mit heilsgeschichtlicher Epocheneinteilung münden stets in einen Ausblick auf ein ›Goldenes Zeitalter‹, das in Poggio Imperiale durch die Männer und Frauen des Hauses Habsburg seine Erfüllung gefunden hatte. Damit verbunden war außerdem 40 ASF, MM 11, fol. 48r. 41 ASF, MdP 6080, fol. 45r-45v; Hoppe (wie Anm. 5), S. 85 f. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 182 Ilaria Hoppe die Deutung des goldenen Zeitalters aus der IV. Ekloge Vergils: Die Cumäische Sybille prophezeit den Anbruch eines neuen und zugleich letzten Zeitalters, eines von Saturn beherrschten Reiches in dem die virgo und ein neues vom Himmel ausgesandtes Geschlecht erscheinen.42 Mit der Geburt eines Knaben sollte das eiserne Zeitalter überwunden und eine unter dem Zeichen des Sonnengottes Apoll stehende gens aurea begründet werden. Sobald er »die ruhmvollen Taten der Helden und seines Vaters Verdienste erkenne und den Umfang seiner Leistungen würdige« 43, erblühe die Natur und keine Kriege noch Arbeit wären mehr notwendig. Übertragen auf den Zyklus im Palast der Regentin bedeutet dies, dass die Abfolge der Zeitalter mit den Taten der Fürstinnen im Saal ihren Höhepunkt fand. Die weibliche christliche Herrschaft steht im Zentrum des gesamten Konzeptes und wird als Ideal präsentiert, in dem weltliche und geistliche Macht – natürlich beides in der Hand der Habsburger – im Kampf gegen die ›Feinde‹ des Christentums friedlich vereint sind. Die dichterische Vision Vergils, nach der das goldene Zeitalter in der Geburt eines Knaben als Begründer einer gens aurea mündet, bietet sich demnach auch als Metapher für das Programm in Poggio Imperiale an, da die Regentin die in den Lünetten visualisierte Tradition idealer weiblicher Herrschaft weiterführte, dessen Erbe ein Knabe antreten sollte, ihr Sohn Ferdinando II. Mit diesem würde sich schließlich das Heilsversprechen erfüllen und durch die Abkunft Maria Magdalenas von den Habsburgern sich auch die Dynastie der Medici erneuern. Die Fülle der weiblichen Exempla diente also nicht nur der historischen Begründung und Legitimation einer weiblichen Herrschaft, sondern auch der Darstellung ihres transitorischen Charakters, welche die gewünschte Ordnung nicht grundlegend in Frage stellte. Insofern standen sich Handlungs- und Bildraum nicht widersprüchlich gegenüber, sondern ergänzten sich. Allerdings waren die Räume Ferdinandos entgegen der sonst üblichen Geschlechtertopographie bei Hof in das Frauengemach integriert und durch die Darstellung der Habsburger Kaisergalerie auch thematisch mit den Räumen der Mutter verbunden. Die fragile politische Situation hatte also eine ambivalente Raumdisposition und ein kompliziertes Zeremoniell hervor gebracht, die den Zugang gleich zu mehreren Potentaten zu regulieren hatten. Eine wahre Nähe zum Herrschaftskörper wurde aber laut Hofchronik nur für Maria Magdalena inszeniert und 42 »Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; / magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. / iam redit et virgo, redeunt saturnia regna; / iam nova progenies caelo dimittitur alto. / tu modo nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / caste fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.«; Vergil, Hirtengedichte, lateinisch und deutsch, hrsg. v. Heinrich Naumann, München 1969, S. 86. 43 Zitiert nach: Vergil. Werke in einem Band. Kleine Gedichte, Hirstengedichte, Lied vom Landbau, Lied vom Helden Aeneas, hrsg. v. Dietrich Ebener, Berlin, Weimar 1983, S. 35. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 183 zwar in ihrem Schlafgemach.44 Nach modernem Verständnis ist dies der Raum größter Privatheit, am Hofe Ludwigs XIV. wurde es zum öffentlichen Ort einer Inszenierung. In Florenz stellte sich meiner Meinung nach hingegen eine dritte Variante ein, die sich wahrscheinlich durch das spanische Hofzeremoniell der Habsburger vermittelt hatte. Die Regentin empfing nicht nur ihre Familie sondern auch Diplomaten und Künstler und Künstlerinnen im Prunkbett, allerdings nur wenn sie krank war – und dies scheint der entscheidende Unterschied etwa zum französischen Hof zu sein. Zum Beispiel wird in der Chronik ausführlich ein Aderlass beschrieben, unmittelbar davor und danach verschiedene Besuche, unter anderem von der Mitregentin Großherzogin Christina von Lothringen.45 Diese überreichte ein wertvolles Geschenk an Maria Magdalena: Einen schwarz-gold lackierten Kabinettschrank mit einem dazugehörigen Aufsatz. Dabei handelte es sich sehr wahrscheinlich um den später identifizierten und immer noch in Florenz erhaltenen Intarsien-Schrank, den ein Calvarienberg-Motiv ziert (Abb. 10).46 Nach dem Essen, das sie wohl ebenfalls im Bett verzehrt hatte, kam die Hofmusikerin Francesca Caccini und musizierte gemeinsam mit den Prinzen und Prinzessinnen. Da Maria Magdalena eine äußerst ambitionierte Sammlerin von Reliquien war, gehe ich davon aus, dass der Schrank für die Aufbewahrung religiöser Schätze diente. Unmittelbar neben dem Bett soll sich eine Marienkrönung auf Silber befunden haben, inmitten von emaillierten und mit Edelsteinen besetzten Verzierungen. Weiterhin verzeichnet das Inventar Gemälde mit religiösen Sujets, wie die Darstellung des heiligen Hieronymus, die mystische Vermählung der heiligen Katherina von Siena, eine Auferstehung Christi venezianischer Provenienz sowie eine Madonna mit Jesus und dem Johannesknaben von Puligo.47 Und auch die Namenspatronin der Regentin – die hl. Maria Magdalena – hatte sinnfällig Eingang in ihr Schlafgemach gefunden: Als Andachtsbild auf ihrer persönlichen Kniebank, das man Leonardo da Vinci zuschrieb, sowie auf einem großformatigen Gemälde, das den Tod oder die Ekstase der Heiligen zeigt (Abb. 11).48 Das Liegemotiv des Körpers der Heiligen wird hier mit einer transzendenten Erfahrung verbunden, in der die Heilige alles Weltliche hinter sich gelassen hat. Die Forschungen von Magdalena Sánchez für den spanischen Hof der Schwester der Florentiner Regentin, der Königin Margarethe von Österreich, 44 Vgl. Ilaria Hoppe, »Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am Beispiel Florenz«, in: Irene Nierhaus u. Kathrin Heinz (Hgg.), Matratze / Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft, Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 389-410. 45 ASF, MM 11, fol. 41 v-42 r. 46 Annamaria Giusti, Opificio delle Pietre Dure di Firenze. Guida al Museo, Venedig 1995, S. 40 f. 47 Hoppe (wie Anm. 5), S. 59 f. 48 Alice E. Sanger, Art, Gender and Religious Devotion in Grand Ducal Tuscany, Farnham 2014, S. 124. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 184 Ilaria Hoppe Abb. 10: Prager Manufaktur, Kabinettschrank mit Edelsteininatrsien, Anfang 17. Jh., Florenz, Opifico delle pietre dure Abb. 11: Rutilio Manetti, hl. Maria Magdalena, vor 1625, Florenz, Uffizien https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der eine Körper Habsburgs 185 haben gezeigt, wie Krankheit auch ganz gezielt als Strategie eingesetzt wurde, etwa um zeremoniellen Pflichten auszuweichen oder die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu ziehen.49 Der weibliche kranke Körper wurde also nicht versteckt, sondern ganz im Gegenteil ausgestellt; ein Bild, das sich männliche Herrscher wohl nicht zu Nutze machen konnten, waren sie doch zur Repräsentation von Stärke verpflichtet. Gerade im Fall des kränklichen Cosimo II. de’ Medici prägte seine Gebrechlichkeit bis heute die negative Wahrnehmung seiner Regierungszeit. Im Schlafgemach Maria Magdalenas thematisieren hingegen auch die Fresken das Leiden weiblicher Körper. Die dargestellten unterschiedlichen Martern der Märtyrerinnen bedingten geradezu ihre Christoformitas, die sowohl vorbildlich für die Regentin waren, als auch die Ähnlichkeit zwischen heiligem und herrscherlichem Körper betonten. Zusammengefasst wird das theologische Konzept durch das Deckenfresko mit der Allegorie des Neuen Bundes, die in einer Hand den Kelch als Zeichen für das katholische Glaubensbekenntnis und die Transsubstantiation hält, mit der anderen in den Himmel zeigt, als Verweis auf Christus und seine Erlösung. Die Darstellung der Auffindung des Kreuzes durch die hl. Helena erlaubte die Anbindung der Inkarnationslehre an die Dynastie der Habsburger und ihr Konzept der Pietas austriaca (Abb. 8). Diese unauflösliche Verquickung von Religion und Politik, die unter Karl V. als Monarchia universalis aktualisiert worden war, bedingte auch in den neueren katholischen Staatstheorien die beständige Zwiesprache des Souveräns mit Gott. Dieses vorbildliche Verhältnis sollte sich dann wiederum in dem des Souveräns mit seinen Untertanen spiegeln. Insofern kamen dem Herrscher und der Herrscherin eine Vorbildfunktion zu.50 Im Fall einer weiblichen Regentschaft geriet durch das Fehlen einer männlichen Autorität dieses Konzept in die Krise, besonders augenfällig in einem Schlafgemach, dessen eigentliche Bestimmung ja in der Reproduktion und Absicherung der dynastischen Nachfolge lag. In Poggio Imperiale konnten die ausgewählten Exempla der jungfräulichen Märtyrerinnen diese Leerstelle füllen, da sie sich als entsexualisierte Heiligkeits- und Weiblichkeitsmodelle für die Regentin-Witwe anboten, die wiederum, in ihrem Bett liegend, wie diese Heiligen zu verehren war. Zeremoniell und Raum visualisierten in Poggio Imperiale also das schwierige Gefüge dieser nicht unumstrittenen Regentschaft. Beide Instrumente bestätigten jeweils geschlechtsspezifisch die Stellung des Thronfolgers, aber immer zugleich auch die der Regentin. Die Legitimation dieser Konstellation vermittelte sich über Maria Magdalena von Österreich und ihrem Selbstverständnis als ›heili49 Magdalena S. Sánchez, The Empress, the Queen and the Nun. Women and Power at the Court of Philip III of Spain, Baltimore, London 1998, insb. S. 156-171. 50 Siehe dazu ausführlich Hoppe (wie Anm. 5), S. 403. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 186 Ilaria Hoppe ger Fürstin‹. Durch sie war es möglich, das Kaiserhaus als imperial-antike wie christlich-heilige Genealogie auch für Ferdinando II. zu instrumentalisieren und die Dynastie der Medici insgesamt zu erhöhen. Im Ganzen waren diese Bemühungen davon gekennzeichnet, den natürlichen Körper soweit es eben nur ging, zu transzendieren und einen einheitlichen sakralen Herrschaftskörper zu konstruieren. Abbildungsnachweise Abb. 1: Christina Strunck (Hg.), Die Frauen des Hauses Medici. Politik, Mäzenatentum, Rollenbilder (1512 – 1743), Petersberg 2011, S. 86 Abb. 2: Alinari Abb. 3: Soprintendenza per i beni ambientali e architettonici, Gabinetto fotografico, Palazzo Pitti, Florenz Abb. 4: Ilaria und Henning Hoppe Abb. 5: Elisa Acanfora: »Maria Maddalena d’Austria, donna di governo e virtuosa delle arti«, in: Mina Gregori (Hg.): Fasto di corte. La Decorazione murale nelle residenze dei Medici e dei Lorena, 4 Bde., Florenz 2005-2007, Bd. 1, S. 131-187, Tafel XCIV Abb. 6: Acanfora (wie Abb. 5), Tafel LXXXVII Abb. 7: Gianni Papi (Hg.), Caravaggio e caravaggeschi a Firenze, Ausstellungskatalog Florenz 2010, Mailand 2010, S. 250 Abb. 8: Ilaria Hoppe Abb. 9: Cristina Giannini (Hg.), Stanze segrete raccolte per caso. I medici Santi – Gli arredi celati, Ausstellungskatalog Palazzo Medici-Riccardi Florenz 2003, Città di Castello 2004 (Cultura e Memoria, 29), Abb. 23 Abb. 10: Annamaria Giusti, Opificio delle Pietre Dure di Firenze. Guida al Museo, Venedig 1995, S. 40 f. Abb. 11: Evelina Borea (Hg.), Caravaggio e Caravaggeschi nelle Gallerie di Firenze, Ausstellungskatalog Palazzo Pitti Florenz 1970, Florenz 1970, Kat.-Nr. 34 https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Abstracts Claudia Bruns Anthropomorphic Maps of Europe at the Cusp of the Early Modern Age Claudia Bruns’ contribution focuses on anthropomorphic maps of Europe made during the shift from the Middle Ages to the Renaissance. In this pivotal moment at the cusp of the Early Modern Age Europe began to assume a cartographic form as a figurative representation of a person, such that a fully new and unique type of image emerged. Maps featuring Europe as a woman with imperial attributes quickly became popular, alongside Ptolemaic, scaled maps. Bruns argues that these new visualizations of Europe exemplify how geographic, gender and ethnic boundaries were negotiated in newly interconnected ways. Silke Förschler Framing as Scaling of Nature and Gender. Jan van Kessel’s Allegories of the Continents (1664 – 1666) The article deals with the framing and scaling of nature and gender in Jan van Kessels painted allegories of the four continents (1664 – 1666). These are composed of one large painting with a female allegory surrounded by sixteen smaller paintings showing cityscapes, landscapes and animals. The particular arrangement of one big painting surrounded by sixteen small paintings raises questions about the relation of the female allegories and the structuring of nature. The female allegories representing the continents create hierarchies between Europe and the other continents. This article focuses on the relation of Europe and America. European conceptions and theories of Natural History are transferred to the New Continent. Silke Förschler sets out to explain how the different representations of nature in Kessel’s paintings are interconnected with different aesthetic notions and classification systems of nature. The essay further discusses the connection between gendered and ethnical bodies and the apparent scaling of the natural world. Bettina Brandt »An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts«. Gendering the Nation in Early Modern Images of »Germania« Whether the body stands as a model for collective boundaries, or whether real bodies are subject to and performing collective norms and power, the relation https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 190 Abstracts between bodies and collectives is of political relevance. The category of gender plays a significant role here: The ›nature‹ of biological differences becoming ›evident‹ in male and female bodies was and still is a powerful instrument for the legitimization of socio-political inequalities and the naturalization of contingent order. This contribution investigates the entangled concepts of nation, gender and politics from the Early Modern to the Modern Period, taking the female personification of Germany as an example. Paradoxically it was the antidemocratic and racist understanding of the nation in the Wilhelminian period that was in particular need of the female body’s symbolic potential. Bettina Uppenkamp Island of the Hermaphrodites. Picture Politics at the Court of Henry III of France Bettina Uppenkamp’s contribution focuses on the challenge of princely power through sexualized images in the vicinity of the royal court of the last Valois king Henry III of France. The article’s starting point is a satirical text, which was published in 1605 after the death of Henry III. It is known under the title L’Isle des Hermaphrodites and has hitherto received little attention by German scholars. The reign of Henry III was marked by the crisis of the French religious wars during the second half of the sixteenth century. Henry III became the target of numerous written and illustrated polemics and sexual denunciations, which were instigated by the king’s ambiguous gender performance. From the perspective of his adversaries, Henry’s excessive interest in precious garments and his policy of favoritism privileging young men of the lower nobility were motivated by homoerotic desire. But the polemics also partly show a fascination with the flagrancies they aim to denounce. They thus shed light on the borders violated by the king’s mannerist will to shape his own (gender) role and reshape the court manners and ceremonials. Veronica Biermann The Queen’s Inordinate Body and its Sex. Christina of Sweden and Gian Lorenzo Bernini’s Mirror Known for her notorious impatience, her constitutional impetuousness, and her vivacity, Queen Christina constantly broke with dress codes as well as with all other conventions considered appropriate for women and queens at the time. This already led her contemporaries to express doubts regarding her female sex. In the 1960s, Christina was disinterred and her mummified corpse underwent minute inspection. Since then, the queen’s body has been empirically proven to https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Abstracts 191 belong to a woman. And yet, there are good reasons to doubt that the answer to the question about the queen’s sex can be adequately answered by virtue of taking a closer look at the open tomb. An alternative proposal is to consider a portrait medal by Massimiliano Soldani Benzi – for which variously revised viewing instructions in Christina’s own hand have survived – as well as the famous allegorical mirror Gian Lorenzo Bernini designed for her Rome apartment. These two objects enable us to pursue the issue from a different vantage point. The Swedish monarch was faced with considerable problems following her abdication and public resignation in 1654. She attempted to master the challenges through her personal representation. Although from then on it was possible to compare her with an »otherwise ordinary lady«, she still remained an untouched and untouchable »Holy Majesty«. This article attempts to bring to light and hence to make visible the queen’s holy, third body and thereby make Christina’s self-understanding and her strategies for representation comprehensible in all their complexity. Ilaria Hoppe Habsburg’s one Body and the Visual Politics of the Regency in 17th Century Florence Hardly any investigation on the body as representation of rule in the early modern period comes without the reference to the basic study of Ernst Kantorowicz The King’s Two Bodies. There he discerned the difference between the corporeal and the political body of the king, who, on the one hand, left a mortal shell, on the other hand was tied to the transtemporal function of his office. Kantorowicz’s approach has been so successful that it was adopted for all European dynasties, even more to the monarchic system in general. However, in the state theory of the Habsburg dynasty, the separation of the ruler’s body has never been conceived. Since the Middle Ages, their policies have always been based on the divine right to rule by God’s grace. In spite of the supposed division, the physical, political, and sacred body of Habsburg rule was conceived as a powerful unity, and it was the task of the arts to implement and communicate this concept visually. The example of the patronage of Mary Magdalen of Austria, Grand Duchess of Tuscany at the beginning of the 17th century, gives a vivid survey of this understanding of mystic rule and shows how it could serve even to legitimate a female regency. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Über die Autorinnen Veronica Biermann hat Kunstgeschichte, Geschichte und Klassische Archäologie an den Universitäten Mainz, München und Berlin studiert. 1995 wurde sie an der TU Berlin mit einer architekturtheoretischen Arbeit über das ornamentum in Leon Battista Albertis Traktat de re aedifcatoria promoviert. Anschließend war sie MPG-Forschungsstipendiatin an der Bibliotheca Hertziana in Rom, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Census an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der TU München. 2008 erfolgte die Habilitation an der TU München mit einer Arbeit über Königin Christina von Schweden und ihre römischen Repräsentationsstrategien. Seit 2009 ist sie Privatdozentin der TU Berlin. Sie war Vertretungsprofessorin an der HU Berlin und der Universität Leipzig bis 2016. Seit dem Wintersemester 2016/17 vertritt sie die Professur für die Geschichte des Designs und der Architektur an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Architektur und ihrer Theorie vom 15. bis zum 21. Jahrhundert und in der gattungs- und medienübergreifenden Geschichte des römischen Barocks. Bettina Brandt ist wissenschaftliche Geschäftsführerin der Schule für Historische Forschung an der Universität Bielefeld. Von 2001 bis 2007 war sie Geschäftsführerin des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Konstanz wurde sie 2005 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld mit einer Studie über die Germania-Personifikation in Neuzeit und Moderne promoviert. Die Dissertation erschien 2010 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen unter dem Titel Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Ihre Forschungsinteressen liegen in der historischen Nationalismusforschung, der Geschlechtergeschichte, der politischen Kultur der Moderne und der historischen Bildwissenschaft. In diesem Zusammenhang hat sie mehrere Aufsätze veröffentlicht, zuletzt: »Judith Butler in Verteidigung der Palästinenser – ›Demanding the Impossible‹«, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 199-212. Claudia Bruns ist Professorin für Historische Anthropologie und Geschlechtergeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Über die Autorinnen 193 Berlin; von 2011 – 2013 war sie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs Geschlecht als Wissenskategorie, zuvor u. a. Juniorprofessorin für Neuere und Neueste vergleichende Europäische Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim und Postdoktorandin des Trierer Graduiertenkollegs Identität und Differenz. 2002 war sie Preisträgerin des Frauenförderpreises der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Europäischen Kulturgeschichte des Politischen und der Geschichte von Europas Grenz- und Raumkonstruktionen, außerdem der Sexualitäts-, Körper- und Männlichkeitsgeschichte sowie bei Arbeiten zur filmischen Erinnerung an den Holocaust. Publikationen: Karten, Körper, Kollektive. Europas Grenzdiskurse (Böhlau 2016); Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur. 1880 – 1934, Köln u. a. 2008; »Welchen der Steine du hebst« – Zur Filmischen Erinnerung an den Holocaust, hrsg. zus. mit A. Dardan u. A. Dietrich, Berlin 2012; »Antisemitism and Colonial Racism. Transnational and Interdiscursive Intersectionality«, in: Wulf D. Hund, Christian Koller u. Moshe Zimmermann (Hgg.), Racisms Made in Germany, (Racism Analysis | Yearbook 2), Berlin 2011, S. 99-121; Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, hrsg. v. Graduiertenkolleg Identität und Differenz, Köln u. a. 2005. Silke Förschler, Dr. phil., ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im LOEWEForschungsschwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft an der Universität Kassel. Derzeit arbeitet sie an einer kunsthistorischen Habilitation mit dem Titel Bilder naturgeschichtlicher Ästhetik: Spuren zwischen Leben und Tod. Gemeinsam mit Anne Mariss Herausgabe des Sammelbandes Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Wien, Köln, Weimar 2017. Ilaria Hoppe hat seit September 2016 den Lehrstuhl am Institut für Kunst in gegenwärtigen Kontexten und Medien der Katholischen Privat-Universität Linz inne. Zuvor hat sie am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der HumboldtUniversität zu Berlin die Lehrstühle für Frühe Neuzeit und Moderne vertreten. Von 2005 bis 2015 war sie dort als Assistentin mit einem regelmäßigen Lehrangebot für den Studiengang Gender-Studies tätig. Ihr Studium der Kunstgeschichte, Italianistik und Philosophie absolvierte sie in Düsseldorf und an der TU Berlin, wo sie 2004 promoviert wurde. Ihre Dissertation Die Räume der Regentin: Die Villa Poggio Imperiale zu Florenz ist 2012 im Reimer Verlag erschienen. Seit 2007 beschäftigt sie sich mit Urban Art und gegenwärtigen Diskursen der Urbanität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Frühen Neuzeit und der Gegenwart, Gender Studies sowie der Verknüpfung von Raum- und Bildtheorie. Letzte Publikation: »Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am Beispiel Florenz«, in: Irene Nierhaus u. Kathrin Heinz (Hgg.), Matratze / https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 194 Über die Autorinnen Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft, Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 389-410 (= wohnen +/- ausstellen, 3). Sophia Kunze ist Stipendiatin des Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor« der Humboldt-Universität zu Berlin und erarbeitet in diesem Rahmen ihre Dissertationsschrift zum Thema »Frauen mit Vollbart« (Arbeitstitel). Von 2014 – 2015 war sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt Gender & Gestaltung tätig. Sie hat in Hamburg Kunstgeschichte und Geschichte studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Gender Studies und Medizingeschichte. Letzte Publikation: Dark Rooms – Räume der Unsichtbarkeit, hrsg. zusammen mit Marietta Kesting, Berlin 2016; »Typus oder Porträt – Authentizität bei Riberas bärtiger Frau«, in: Uwe Fleckner u. Titia Hensel (Hgg.), Hermeneutik des Gesichts, Berlin 2016 (= Schriften des Warburgkollegs, Bd. 4). Bettina Uppenkamp ist seit 2013 Professorin für allgemeine Kunstgeschichte an der Hochschule für Bildende Kunst Dresden. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenz-Cluster »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor«, hatte Vertretungs- und Gastprofessuren an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Hamburg und der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Philosophie wurde sie 1997 an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zu Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock promoviert, erschienen im Reimer-Verlag Berlin 2004. Forschungsschwerpunkte liegen bei der Kunst der Frühen Neuzeit und der Gegenwartskunst sowie bei der Geschichte und Theorie der Geschlechterordnungen in der visuellen Kultur. Letzte Publikation: »Kunst und Kunstgeschichte«, in: Stefan Horlacher, Bettina Jansen u. Wieland Schwanebeck (Hgg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2016, S. 256-269. https://doi.org/10.5771/9783465142713 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 15.01.2022, 11:53:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.