Zygmunt Bauman
Ethics of Individuals
"Private Sprache" , so Ludwig Wittgenstein, ist ein Oxymoron - oder, wenn
man das Lateinische dem Griechischen vorzieht, eine contradictio in adiecto.
Sprache setzt eine Sprachgemeinschaft voraus; Sprache ist eine "Form des
Lebens" - und zwar des miteinander geteilten Lebens, des Zusammenlebens.
Offensichtlich lasst sich ahnliches von der Ethik sagen. Gabe es nicht ein
Netz wechselseitiger Abhangigkeiten zwischen Individuen, wiirde die Vorstellung einer Ethik keinen Sinn ergeben. Ein Einzelwesen, dessen Leben
von anderen unberiihrt ist und das selbst kein anderes Leben beeinflusst, ware ein nicht-ethisches Wesen. Es ware weder gut noch bose, weder moralisch
noch unmoralisch, denn es geht bei der Ethik nicht darum, was ein Einzelwesen sich selbst, sondern was menschliche Wesen einander antun. Allerdings
konnte ein "Einzelwesen" auch kein menschliches Wesen sein. Wie schon
Aristoteles bemerkte, sind nur Bestien oder Engel fahig, ein Leben in Vereinzelung fUhren. Bei einem Sein*, das nicht (wie Martin Heidegger es ausdriickte) urspriinglich Mitsein* ist, handelt es sich urn eine Widersinnigkeit.
Es ist das Mitsein, das jenes Sein konstituiert, und es gibt kein Sein, das nicht
schon Mitsein ist. Man kann daher sagen, dass potentiell alles ethisch ist: Die
notwendige Bedingung fUr die Moralitat des Menschen-in-der-Welt war - ist
- erfiillt, unabhangig davon, wann (und ob iiberhaupt) Konzepte von "gut"
und "bose" entwickelt und ein Moralkodex schriftlich fIxiert wurden. Tatsachlich ist Mitsein die notwendige - aber nicht hinreichende - Bedingung
fUr Moralitat. Mitsein, wie Emmanuel Levinas bemerkte, mag nicht mehr
bedeuten als bloBes Zusammenmarschieren*. Die Tatsache, dass "wir alle im
selben Boot sitzen" , Zeit und Raum teilen, uns von Angesicht zu Angesicht
begegnen und voneinander hOren, macht uns nicht automatisch zu moralischen Wesen. Ethik, betont Levinas, kommt vor der Ontologie. Diese Reihenfolge gilt jedoch nicht fiir das moralische Selbst. Wir konnen sagen, dass
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T. Kron (ed.), Individualisierung und soziologische Theorie
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im Gegensatz zur "ethischen Festlegung" (Moralitat als ein existentieller Zustand oder. genauer. als Voraussetzung der Existenz), die "immer schon da"
ist. weil es dazu nicht mehr bedarf als der Gesellschaft anderer. das moralische Selbst nicht "gegeben" ist. Es muss erst geschaffen werden. Wir teilen
uns die Welt; was wir tun oder lassen hat deshalb zwangslaufig einen Einfluss auf das Leben anderer. so wie unser eigenes Leben von anderen beeinflusst wird. Schon auf Grund dieses Umstandes sind wir fUreinander verantwortlich und damit bereits ethische Wesen. Wir haben diese Verantwortung.
ob wir darum wissen oder nicht, ob wir sie wollen oder nicht. Aber wir konnen die Verantwortung fur unsere Verantwortung iibernehmen oder ablehnen. Nur wenn wir die Verantwortung iibernehmen. wird das Selbst moralisch: nur dann wird die Moral zum Leben erweckt - freilich zu einem unsicheren Leben. Das moralische Selbst ist geboren. wenn Mitsein in die Dimension des Fiirseins (.. pour-etre" ... being-for") gehoben wird. Die Geburt
der Moralitat vollzieht sich in der Verantwortungsiibernahme fiir den Anderen (womit die bereits bestehende. existentielle Verantwortung akzeptiert
wird). Dabei handelt es sich nicht urn einen einmaligen Vorgang. 1m Leben
des moralischen Selbst findet dieser Geburtsakt immer wieder statt - oder
eben nicht. Moralitat. deren einzige Substanz aus den Handlungen moralischer Personen besteht. muss im Verlauf sukzessiver zwischenmenschlicher
Begegnungen immer wi.~der
neu geboren werden - als ihre Vollendung.
Einmal geboren. ist ihr Uberleben niemals gesichert. denn die Chancen auf
fortwahrende Wiedergeburt. die einzig mogliche Form des Fortbestehens von
Moralitat. sind nicht immer die gleichen. Die Art und Wahrscheinlichkeit
zwischenmenschlicher Begegnungen hangt von der Art des Mitseins abo Da
Letztere wiederum durch die Eigenschaften der Gesellschaft bedingt ist. in
der Menschen leben (wir unterscheiden Gesellschaften nach der jeweils charakteristischen Form des Mitseins). kann man sagen. dass die Chancen fUr eine standige Wiedergeburt der Moralitat und des moralischen Selbst davon
abhangen. wie eine Gesellschaft strukturiert ist und das Leben der Individuen
formt. lede Gesellschaft als Zusammensein potentiell moralischer Wesen
kann sich fUr Moralitat entweder als fruchtbarer Boden oder als steiniger Acker
erweisen. auf dem nur ein besonders starkes moralisches Selbst Wurzeln zu
schlagen vermag.
Modernes Misstrauen
Die moderne kapitalistische Gesellschaft wird schon lange verdachtigt. der
Moralitat nur eine unwirtliche Umwelt zu bieten. Zwei Grunde fUr diesen
Verdacht (zwei Arten von Wahlverwandtschaft* zwischen Kapitalismus und
Immoralitat) sind besonders oft von besorgten Moralphilosophen angefiihrt
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worden. Der am haufigsten genannte Grund ist jene Ideologie. die personliche Bereicherung propagiert und das Gliick im Erwerb von Besitz sucht. bezogen auf den kapitalistischen oder "biirgerlichen" Charakter der modemen
Gesellschaft. Ein weiterer Grund: Das instrumental-rationale Denken. verbunden mit dem modern en Charakter der kapitalistischen Version einer biirgerlichen Gesellschaft. Dieser Ideologie wurde die Forderung eigeninteressierter Beschaftigung und die Betrachtung anderer Menschen als Bedrohung
dieser Interessen bzw. als Konkurrenten im Streben nach Gliick vorgeworfen.
Indem man Gliick in Beziehung zum Anteil an der endlichen Menge der
Giiter setzte. machte diese Ideologie das Streben nach Gliick zu einem Nullsummenspiel. Sie lieB. so klagte man. weder Raum noch Zeit fUr desinteressierte Selbstaufopferung. den Eckstein des Fiirseins. noch fUr spontane.
nicht-berechnende moralische Akte. Moralgelenktes Verhalten schien mit
den Gesetzen rationalen Handelns nicht in Einklang gebracht werden zu
konnen. da es offensichtlich unvorhersagbar und nicht-instrumentell ist.
Infolge dieser zwei Griinde vertrauten nur wenige Moralphilosophen der
modemen Gesellschaft. Moralitat aus sich selbst heraus und als Selbstverstandlichkeit. d.h.. ohne aktive und planvolle Intervention iiberlegener und
ethisch bewusster (und gewissenhafter) Krafte hervorbringen zu konnen. Die
Zweifel wurden taglich aufs Neue bestatigt. als die gewohnheitsmaBige Regulierung mensch lichen Zusammenlebens zusammen mit "ancien regime"
und "sozialer Ordnung" kollabierte. d.h .. als ein zuvor unproblematischer
Verlauf der Dinge zu einer Aufgabe wurde. die bewusst angegangen und
ausgefiihrt werden musste. Durch eine seltsame Umkehrung der Perspektive
wurde jedoch der Mangel an Vertrauen in das moralische Potential der modemen biirgerlichen Gesellschaft auf die "menschliche Natur" projiziert. der
die meisten Moralphilosophen mit Verachtung oder Argwohn gegeniiberstanden - bestenfalls a-moralisch. schlimmstenfalls un-moralisch: Menschen
verfiigten nicht iiber eine natiirliche Neigung zu moralischen Einstellungen
und Verhaltensweisen. Falls man sie nicht zu moralischem Verhalten veranlassen oder zwingen konnte. wiirden sie einander an die Kehle gehen. Unmoral sei der natiirliche Zustand des Menschen; Moralitat konne nur das Ergebnis eines langen und anstrengenden Kampfes sein und miisse durch fortwahrende auBere Zwange gesichert werden. Sympathie. Mitleid und Sorge urn
den Anderen sind in dieser Anschauung kiinstliche und erworbene Eigenschaften. die erst "von auBen eingebracht" . d.h .. gelehrt oder oktroyiert werden miissen. urn spater menschliche Interaktionen steuem zu konnen. Seit
Hobbes diente die Annahme angeborener menschlicher Selbstsucht als Legitimation des staatlichen Vorrechts. Gehorsam und Disziplin zu verlangen.
Diesen Ursprung des sozialen Vertrags in Anspruch nehmend - als sicherer
Hafen von den einsamen und verangstigten Individuen eingefordert. verzweifelt angesichts des "hasslichen. rohen und kurzen" Lebens - erschien die Gesellschaft und ihr starker Arm. der Staat mit seinem Machtapparat. als der
einzige Schutz vor den schlimmen Folgen der menschlichen. a-sozialen oder
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anti-sozialen Instinkte und Neigungen. Gesetzgeber, von Moralphilosophen
beraten und von Lehrern und Priestern unterstutzt, wurden durch planvolle
MaBnahmen das Versagen der "menschlichen Natur" kompensieren mussen:
durch Sanktionen, die unmoralisches Verhalten zu kostspielig machen wurden, und/oder durch den uberzeugenden Nachweis, dass moralisches Verhalten sich lohnt und wert ist, ausprobiert zu werden. Paradoxerweise handelt es
sich in beiden Fallen urn einen Appell an eben jene Selbstsucht, die man fUr
die Ursache der Unmoral des ungeformten, unkultivierten Individuums im
"Naturzustand" hielt. Man glaubte, den Mangel an naturlicher Neigung zu
moralischem Verhalten durch einen ethischen Kodex ausgleichen zu mussen,
ausgestaltet und gesetzlich erlassen in verbindlichen Ge- und Verboten und
von "law-and-order" -Kraften in Zusammenarbeit mit moralischen Erziehungsinstanzen durchgesetzt. In Ermangelung angeborener moralischer Impulse hatte die Regelkonformitat, verstarkt durch Strafsanktionierungen
nicht-konformen Verhaltens, die moralischen MaBstabe menschlichen Zusammenlebens zu gewahrleisten.
Das war im Wesentlichen die "ethische Problematik" der modernen Gesellschaft in den ersten beiden Jahrhunderten ihrer Geschichte. Die Aufgabe
der Entwicklung moralischer MaBstabe stellte sich als Frage nach der angemessenen gesellschaftlichen Kontrolle individuellen Verhaltens; ein Abweichen von moralischen MaBstaben wurde auf Schwachen des ethischen Kodex
oder die Nachlassigkeit der ihn uberwachenden Organe zuruckgefUhrt. Ungeachtet des radikalen Wandels, der sich mittlerweile in der modernen Gesellschaft vollzogen hat, werden Ruckschlage auf ethischem Gebiet sowie die
zu ergreifenden GegenmaBnahmen in weiten Teilen der heutigen Moralphilosophie noch stets im Rahmen dieser etablierten Tradition diskutiert. Dabei
hat dieser unbeachtete und gedanklich nicht verarbeitete Wandel zwar nicht
unbedingt radikal neue Ursachen fUr moralische Unzulanglichkeit geschaffen, aber er lieB die von der orthodoxen Moralphilosophie bislang nicht erfassten Ursachen deutlicher hervortreten.
Das Verschwinden der Kollektive und
die Begrenzungen der Moral
Ais einer der ersten Denker des 20. Jahrhunderts erahnte Walter Benjamin
die zuvor nicht beachteten Gefahren. Wie Susan Buck-Morss, eine sehr
scharfsinnige Interpretin des benjaminschen Werkes, im Kontext von Benjamins querelle mit den Surrealisten (die danach trachteten, die traumahnliche
Qualitat moderner RealWiten als vorrangige, vielleicht ausschlieBliche Sache
subjektiver, uberaus individueller Erfahrung zu kennzeichnen) dargestellt
hat, liegt nicht im traumenden Individuum, sondern im traumenden Kollektiv
das schon lange auf Entdeckung wartende Geheimnis der atomistischen Gesellschaft. Das Kollektiv traumte, denn es war "unconscious of itself, com-
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posed of atomized individuals. consumers who imagined their commoditydreams to be uniquely personal (despite all objective evidence to the contrary). and who experienced their membership in the collectivity only in an isolated. alienating sense. as an anonymous component of the crowd." (BuckMorss 1993: 318) Kurz: Das Kollektiv .. traumt". weil den Individuen. aus
denen es sich zusammensetzt. die kollektiven Urspriinge ihrer individuellen
Eigenschaften und Erfahrungen ebenso wenig bewusst sind wie die kollektive Natur ihrer Schwierigkeiten und damit auch die m6glichen Wege zur Behebung dieser Probleme. Nach Benjamin brachte die moderne Gesellschaft
Konformitat in das Leben der Menschen ... but not social solidarity. no new
level of collective consciousness concerning their commonality. and thus no
way of waking up from the dream in which they were enveloped" (ebd.: 318
f.. Herv. i. 0.). Die Gesellschaft wirkte sozusagen einschlafernd; sie hinderte
die Individuen an der Bewusstwerdung ihrer wechselseitigen Abhangigkeit
und damit ihrer Verantwortung fiireinander - und deshalb auch an ihrer MoralWit. Die Chancen der Bewusstwerdung (Levinas schreibt von .. Niichternwerden") des ethischen Kerns des Selbst werden von einer communitas
abscondita fortwahrend unterminiert. zunichte gemacht von einem Kollektiv.
das seine Mitglieder zusammenhalt. indem es sich unsichtbar bzw. bedeutungslos macht. Der Riickzug des Individuums auf die Belange und Anliegen
des Selbst ist das Resultat dieses .. Verschwindens" . Zudem hat die Unsichtbarkeit des Kollektivs jene Auswirkungen. die von Soziologen als .. sich
selbsterfiillende Prophezeiung" beschrieben wird: Wenn Individuen sich so
verhalten als ob ihre Erfahrungen und ihr Schicksal keine kollektiven Auswirkungen hatten. dann kann diese Annahme in ihren Konsequenzen tatsachlich wahr werden. Zuerst wird das Kollektiv dem Blick entzogen; und
danach. wenn die Solidaritat schwindet. hart es auf. in der tatsachlichen Realitat zu existieren. Mit anderen Worten: Das solidarische Leben ist nicht auf
Grund angeborener Selbstsucht .. unzureichend sozialisierter" Individuen gefahrdet. Das Gegenteil ist der Fall: Individuen neigen zu Selbstsucht (und daher zu moralischer Blindheit und ethischer Gleichgiiltigkeit bzw. Inkompetenz) wegen des unaufhaltsamen Dahinschwindens von Kollektiven. mit denen man solidarisch sein k6nnte. Weil es kaum Motivationen zur Solidaritat
gibt. werden .. die Anderen" zu Fremden - und vor Fremden sollte man sich
in Acht nehmen. wie jede Mutter ihrem Kind beibringt. Man sollte sich am
besten von ihnen fernhalten und gar nicht erst mit ihnen reden. Das ist es.
was Jonathan Raban. der Autor von Soft City (eine bemerkenswerte Studie
iiber zeitgen6ssisch konzipierte und praktizierte Lebensformen unter Fremden) von Bixby Hall. einer kleine Wohnsiedlung am Rande von Los Angeles.
berichtet: .. There nice people have erected their $150.000 homes inside a
fortified stockade. eight feet high. patrolled by heavily armed security
guards. with an electronic communication system installed in every house. In
a TV programme about this armour-plated ghetto a shrill housewife. surrounded by hardware and alarm-buttons. said: .We are trying to preserve va-
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lues and morals here that are decaying on the outside'. And her husband. a
comfortable Babbity figure. told the reporter: .When I pass by the guard in
the evening. I'm safe. I'm home. it's just a lovely feeling. it really is. '" (Raban 1974: 18) Bixby Hall ist nur eines der in den letzten zwanzig Jahren in
allen amerikanischen Stadten wie Pilze aus dem Boden geschossenen "gepanzerten Ghettos" , die in letzter Zeit zunehmend auch in so weit von einander entfernt liegenden Landern wie Sud afrika und Frankreich errichtet werden. Dieses neue Lebensmedium ist. wie aIle Medien. eine Botschaft - und
die besondere Nachricht dieses Mediums lautet. dass "Werte und moralische
Vorstellungen" nur fur den Hausgebrauch bestimmt sind und nur bewahrt
und angewendet werden konnen. wenn man sich separiert. loslost. zuruckzieht und ausschlieBt. Das Universum moralischer Verpflichtungen
schrumpft schnell. und die Aufgabe derjenigen. denen etwas an ihrem Wohlbefinden liegt, ist es. den Schrumpfungsprozess zu beschleunigen.
Die ethischen Folgen der Individualisierung in zeitgenossischen Demokratien untersuchend. deutet Joel Roman auf die nun wahr gewordenen dusteren Vorahnungen von Alexis de Toqueville hin: Heute ist das Individuum
in der Tat zum "schlimmsten Feind des Burgers" geworden: "l'individu contempo rain tend a se detourner des engagement collectifs. des responsabilites
sociales et politiques" (Roman 1998: 171) - es zieht sich zuruck von all jenen Einstellungen und Handlungen. die einen Burger. ein Mitglied des Gemeinwesens. definieren. Den Individuen wird nahe gelegt. sich urn ihre eigenen Angelegenheiten zu kummern. ihr Leben selbst, mit Hilfe des eigenen
Verstandes und mit eigenem Einsatz zu meistern und stolz auf diese Einsamkeit zu sein: Das Gemeinwesen verspricht. sich nicht einzumischen; im Gegenzug darf das Individuum aber auch nicht erwarten oder gar verlangen.
von Offentlichen Einrichtungen etwas zu erhalten. was diese weder geben
wollen noch konnen. "Abhangigkeit" ist zu einem Kritik und Missbilligung
ausdruckenden Begriff geworden. wahrend Formulierungen wie "mehr Freiraum brauchen" oder "Freisetzung" (von Skrupeln und Gewissensbissen.
vom Netz wechselseitiger Verpflichtungen. von Bindungen) fur individuelle
Selbstbehauptung stehen. Doch Abhangigkeit ist und wird fUr immer die andere Seite moralischer Verantwortung sein. so lange das moralische Selbst
nur in nachster Nahe zu anderen Menschen wachsen und gedeihen kann nicht in einem geschlossenen System. das im leeren Raum schwebt.
Freiheit durch Individualisierung?
Individualisierung ist, wie Ulrich Beck (1992: 34) feststellt. kein Einzel-.
sondern ein Kollektiv-Schicksal. Individualitat wird als Unbegrenztheit der
Wahlmoglichkeiten aufgefasst, aber ein Individuum zu sein - allein operierend und alleine die sich daraus ergebenden Konsequenzen tragend - ist keine Sache der Wahl. Individualisierung uberkommt Manner und Frauen als
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Schicksal. undurchsichtig und unbeeinflussbar: wie jene .. nicht selbst gewahlten Bedingungen". denen Menschen - wie Marx sagt - unterworfen
sind. wahrend sie Geschichte machen. In Becks Worten (1995: 83): .. Enlightenment ends in the fatalism of developed industrial society. which. on
the one hand. transforms everything into something that can be done and. on
the other. sanctifies and blesses its nearly total paralysis of action [... J Protests. no matter how insistent and desperate. only confirm the fundamental
theme of irresistibility and irreversibility." Das Wesen der .,Individualisierung" besteht weniger in der Freisetzung der Individuen von Zwangen
und der Erweiterung von Wahlmoglichkeiten als in der Abkopplung individueller Entscheidungen und Handlungen vom Wirken des Systems als Ganzem. Das .. System" . die Bedingungen des Handelns. immunisiert sich groBtenteils gegen die von den Individuen im Verlauf ihres Lebens getroffenen
Entscheidungen. Wenn der systemische Rahmen individueller Selbstkonstitution auBerhalb der Reichweite individueller Entscheidungen liegt. wenn er
unbertihrt und unversehrt bleiben kann. dann obliegt es den Individuen und
den ihnen zur Verfiigung stehenden Ressourcen. mit den Konsequenzen systemischer Widersprtiche fertig zu werden (oder auch nicht). Sie konnen nur
versuchen. die Wirkung dieser Widersprtiche auf ihr personliches Wohlbefinden abzumildern. ohne sich ihrem Einfluss entziehen oder sie gar auflosen
zu konnen. Claus Offe (1996: 12) hat die paradoxen Resultate treffend zusammengefasst ... complex' societies have become rigid to such an extent
that the very attempt to reflect normatively upon or to renew their .order'.
that is. the nature of the coordination of the processes which take place in
them. is virtually precluded by dint of their practical and thus their essential
inadequacy." Die neue Immunitat systemischer Bedingungen gegentiber den
Wirkungen individuellen Handelns wird perverserweise aufgefasst - und allzu oft auch theoretisiert - als Zuwachs an individueller Freiheit. Es scheint.
dass .. nearly all factors of social. economic. and political life are contingent.
elective and gripped by change. while on the other hand the institutional and
structural premises over which that contingency runs are Simultaneously removed from horizon of political. indeed of intellectual choice." (ebd.) Auf
Grund der Unempfanglichkeit gegentiber individuellen - seien es einzelne
oder mehrere - Handlungen. kann sich das System eine tiber den Dingen stehende .. Toleranz" erlauben: Indifferenz. Schweigen. missverstanden als Fehlen von Restriktionen. Gerhard Schulze (1993) scheint dieses ostentative
Desinteresse des Systems ftir eine neue Autonomie zu halten. fi.ir einen entscheid end en Durchbruch auf dem Gebiet individueller Selbstbehauptungskrafte. und die Schuld an den Schwierigkeiten freigesetzter Individuen gibt er
einem Mangel an klaren Richtlinien. die eigentlich von der institutionalisierten Tradition bereitgestellt werden sollten. aber nicht werden. In Goran Dahls
(1999: 180) Darstellung der Sicht Schulzes heiBt es: .. individuals have to
construct their own biographies without being able to use social norms which
could give rise to a self-evident identity. Less and less is .given' or transmit-
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ted from social and historical contexts [... J Individualization does not only
mean freedom but also the burden of living without self-evidence" . So gesehen haben Freiheit und die aus ihr folgenden Miihen zwei verschiedene Ursachen. und die Qualitat des einen beeinflusst nicht die Qualitat des anderen:
Die Loslbsung des Systems kann zwar dazu fUhren. dass die freigesetzten Individuen unzureichend informiert und daher oft verwirrt und orientierungslos
sind. aber dies tut ihrer Freiheit keinen Abbruch - sie miissen hochstens fUr
ihre Unfahigkeit und ihre groben Fehler einen hOheren Preis zahlen. Offes
Interpretation ist jedoch eine andere: Riickzug und Nicht-Einmischung des
Systems; Deregulation. in der sich dieses Zuriickweichen manifestiert und
die daraus resultierende. kiinstlich geschaffene Flexibilitat und Kontingenz
menschlichen Lebens machen deutlich. dass Freiheit nur eine Illusion ist.
denn diese Art von Freiheit geht mit Machtlosigkeit einher. Diese Freiheitsform lasst keine Chance. iiber den systemischen Rahmen. in dem Individuen
urn ihre Lebensgestaltung kampfen. zu verhandeln oder ihn gar zu verandern.
Pascal ergriindete einst die tragischen Konsequenzen des .. Riickzugs
Gottes". des Lebens mit dem Deus absconditus. dem .. sich verbergenden
Gott" . Beck. so kann man sagen. weist hin auf die Konsequenzen des Lebens
mit einem .. sich verbergenden System". einem System absconditus: .. how
one lives becomes the biographical solution of systemic contradictions" .. experts dump their contradictions and conflicts at the feet of the individual
and leave him or her with the well intentioned invitation to judge all of this
critically on the basis of his or her own notions [... J At the same moment as
he or she sinks into significance. he or she is elevated to the apparent throne
of a world-shaper." (Beck 1995: 137) Dies ist ein wiederkehrendes Thema in
Becks Schriften: Die seltsame. paradoxe Lage. uneingeschrankt fUr sich
selbst verantwortlich und gleichzeitig abhangig von Bedingungen zu sein.
iiber die man keinerlei Kontrolle hat. weder intellektuell noch - und dies ist
entscheidend - praktisch. Diese von Widerspriichen gepragte Individualisierung ruft eine ganzlich andere Lebenswelt* herauf als die von der Aufklarung
ersonnene und von der Moderne versprochene: .. The untrod tracks to be followed here in a loose crowd of fellow individuals lead in exactly the opposite
direction to that which enlightenment has pointed so far. It is no longer the
matter of understanding natural laws. developing technologies. building up
production. increasing material wealth. altering the economic. social and political circumstances and only after that finally liberating men and women
from their drudgery. Instead. the last in the line is brashly pushed to the front:
develop your own personality. and this will have a lasting effect on your
marriage. family. work. colleagues. career. officialdom and the way we all
treat our resources and our world." (BecklBeck-Gernsheim 1995: 43f.) Wir
konnen festhalten. dass diese Art und Weise. den Karren vor das Pferd zu
spannen. nicht neu ist. Die von einem .. Lebensprojekt" geleitete "inn ere Ent-
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wicklung" war von Anfang an definitorisches Attribut des "modernen Menschen" und stand im Zentrum moderner Lebensstrategie. Die in der Moderne
an die Stelle der erblichen Stande tretenden Klassen setzten sich - wie sachlich falsch auch immer - als telos. nicht als Ursprung des Lebensplans: Jedem "Pilger auf dem Weg des Lebens" wurde die Aufgabe ubertragen. anjeder Weggabelung die richtige Wahl zu treffen; jeder wurde fUr den Verlauf
des zuruckgelegten Weges. dessen retrospektiv konstruierte innere und kumulative Logik gelobt oder getadelt: "When the ethical culture of modernity.
with its codes of personal responsibility and life purpose. is carried into a society without institutional shelters. there appears not pride of self. but a dialectic failure in the midst of growth. Growth in the new economy depends on
gutting corporate size. ending bureaucratic guarantees. profiting from the
flux and extensions of economic networks. Such dislocations people come to
know as their own lack of direction" . (Sennett 1999: 2lf.) Das "Schwinden
institutioneller Unterstutzung" lasst Individuen "alleine mit ihrem VerantwortungsgefUhl" . Dieses GefUhl fUhrt jedoch weder zu Kuhnheit und Entschlossenheit. noch zu einem Bewusstsein urn die sozial geformten Bedingungen des gemeinsamen Lebens; es fUhrt vielmehr zu standiger Beschaftigung mit sich selbst. zu zwanghafter Selbstbeschuldigung und SelbstgeiBelung.
Wir sind nunmehr aIle. durch sozial vermittelte und doch anonyme Dekrete. in der Lage des Barons von Munchhausen. Man erwartet von uns. dass
wir uns aIle an unserem eigenen Haar aus dem Sumpf ziehen; doch das Haar
ist nach der neuesten Frisurenmode geschnitten und mit Haarpflegemitteln zu
behandeln. die gegenwartig als "neu und mit verbesserter Rezeptur" angepriesen werden. Die Aufgabe des Individuums (wie uns. den Individuen.
immer wieder gesagt wird) besteht darin. das richtige Geschaft auszumachen.
das richtige Regal zu finden und in der verwirrenden Fulle des Angebots
nach der richtigen Schachtel oder Tube zu greifen. "Es liegt an Ihnen" bekommen wir taglich zu hOren. doch die Dinge. die unser Leben und das Leben anderer am entscheidendsten beeinflussen. liegen offensichtlich nicht "an
uns" . Man kann sie nicht kaufen. und in den Regalen der Geschafte wurden
wir vergebens nach ihnen such en - vorausgesetzt. wir wussten uberhaupt.
wonach wir suchen sollten. Die Unbestimmbarkeit der Ziellinie veranlasst
die Laufer zu gr6Beren Anstrengungen und schnellerem Laufen und erlaubt
ihnen vor allem nicht. ihre Aufmerksamkeit von der Leistungsfahigkeit des
eigenen K6rpers. der eigenen Sehnen und Muskeln abzuwenden. "The cliches of modern counselling are that you need to believe in yourself. feel
good about yourself. not put yourself down" . stellt John Carroll (1998: 9)
fest. Man muss an sich selbst glauben. weil es sonst nichts mehr gibt. an das
man glauben k6nnte. wenn die Suche nach einem befriedigenden Leben auf
dem Spiel steht und es urn die sinnhafte Gestaltung der LebensfUhrung geht.
Es spielt kaum eine Rolle. dass dieselben Umstande. die den "Glauben an
sich selbst" zur letzten Zuflucht gemacht haben. dem Einzelnen selten oder
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nie die Moglichkeit geben, .. mit sich zufrieden" zu sein. Was zahlt ist, dass
nur .. man selbst" es in der Hand hat. Die Allmacht des .. man selbst" gibt
dem Ego Auftrieb - aber, urn noch einmal Carroll anzufiihren, .. a preoccupation with ego is in danger of stifling the soul" . Natiirlich gibt das .. Ersticken
der Seele" dem Ego weiteren Auftrieb: .. if we cannot have the food we truly
crave, spiritual food, then we shall accumulate the goods of this world on a
vast scal." (ebd.: 95). Wir befinden uns in einem Teufelskreis, aus dem es
anscheinend keinen Ausweg gibt.
Indifferenz, Adiaphorisierung und "Adiaphorisierung
Version II"
.. Seele" ist weder ein gebrauchlicher Begriff in den Sozialwissenschaften,
noch hOrt man ihn in der modernen Philosophie sonderlich oft. Wenn man
dariiber spricht, dann nur als Begriff, dem ein deutlich erkennbares Referenzobjekt fehlt; als Benennung eines Mangels, einer Leere - als Bezeichnung fUr
etwas, das nur in Abwesenheit sichtbar wird und sich durch diese definiert.
(In der Annaherung an diese schwer fassbare GroBe sieht Carroll sich zum
Verwenden negativer Termini gezwungen: .. have not" , .. do not" , .. is not there" . So gesehen ist die Seele, was das Ego nicht ist, was es verzweifelt und
vergeblich zu werden versucht - denn nur .. Seele" konnte dem Ego zu der
Starke verhelfen, die es zu besitzen behauptet und besitzen miisste, urn der
angestrebten LebensfUlle teilhaftig zu werden.) 1m Kontext der ethischen
Konsequenzen individualisierter Existenz steht die .. Seele", deren Niedergang oder Vernachlassigung laut Carroll die Wurzel des gegenwartigen Unbehagens ist, fUr die Absenz einer Beziehung zur Welt, fUr das Zuriickweichen des Selbst vor Verpflichtungen oder seine Weigerung, sich etwas anderem als dem eigenen Wohlergehen verpflichtet zu fUhlen. Diese Abwesenheit
ist die Abwesenheit von Moralitat. Mit anderen Worten, das Ersticken der
.. Seele" steht hier fUr nicht wahrgenommene, aufgegebene oder abgelehnte
Verantwortung, kurz: fUr Indifferenz.
Die polnische Philosophin Jadwiga Mizinska (1999) beginnt ihre Abhand lung iiber Indifferenz mit der Feststellung, dass die philosophische Kategorie "Indifferenz" selbst ein Fall von Abwesenheit ist: Sie taucht im axiologischen Diskurs so gut wie gar nicht auf. Die Philosophie steht quasi der
schrecklichen Kraft der Indifferenz seltsam indifferent gegeniiber. Eine Erklarung dafiir ist, dass die Idee von "Indifferenz" allzu oft fiilschlicherweise
als Synonym fUr .. Untatigkeit" aufgefasst wird: gleichbedeutend mit der
Weigerung, sich fUr eine Seite zu entscheiden, sich einzumischen, weil man
damit eventuell Druck auf andere ausiibt und als unhOflich erscheint. Indifferenz ist aber in Wahrheit eine durchaus aktive Haltung: Sie folgt auf die Entscheidung, bestimmte Lebensbereiche und vor allem die darin angesiedelten
Lebewesen auszuschlieBen, d.h., sie gelten nicht mehr als legitimer Anlass,
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sieh betroffen fUhlen und Partei ergreifen zu mussen. "Indifferenz" steht fUr
die aktive Zuruckweisung der Moglichkeit des Engagements. fUr ethische
Gleichgiiltigkeit. Indifferenz ist eine Haltung gegenuber Objekten. einschlieBlich solcher. bei denen es sieh urn menschliche Subjekte handelt, die
man zuvor aus dem Universum moralischer Verpflichtung verbannt hat.
Mizinska zitiert aus den Offenbarungen des Johannes (3. 15-17): "Ich
kenne euer Tun. Ich weiB. dass ihr weder warm noch kalt seid. Wenn ihr wenigstens eins von beiden wart! Aber ihr seid weder warm noch kalt; ihr seid
lauwarm. Darum werde ieh euch aus meinem Mund ausspucken." Der Zorn
und die Verachtung Gottes. des obersten ethischen Gesetzgebers. riehten sieh
gegen die Lauwarmen. die "weder HeiBen noch Kalten" - so Mizinska. Gott
bestraft sie nieht wie die Sunder - er "spuckt sie aus" ; eine Geste. die "Abscheu. Widerwillen. Ekel" signalisiert. Die Lauwarmen sind nieht auf dem
falschen Weg. wie es nur die "HeiBen" oder "Kalten" sein konnen - sie haben sich aus der menschlichen Gemeinschaft verabschiedet. in der die Unterschiede zwischen richtig und falsch. gut und bose. eine zentrale und sinngebende Rolle spielen. Mit ihrer Indifferenz gegenuber den Anderen. die auBerhalb der Grenzen des moglichen Engagements stehen. begehen die Lauwarmen keine moralische Sunde: Tatsachlich platzieren sie sieh vielmehr
jenseits aller Ethik. In nieht-religioser Terminologie: Die Indifferenten machen sieh keiner Irrtumer und Fehler schuldig. wie sie nur moralische Personen begehen konnen. nachdem sie ihre ethische Verantwortung akzeptiert
haben. Worin sie fehlgehen. ist ihre Nieht-MoraIWit: ihre Weigerung. Verantwortung fUr ihre Verantwortung zu ubernehmen.
Was Indifferenz "bose" oder "schlecht" macht. ist laut Mizinska die
daraus folgende Unempfindlichkeit gegenuber physischen. psychischen und
spirituellen Leiden anderer. Indifferenz konnte daher zu Recht als Seelenlosigkeit bezeiehnet werden. Seelenlose Indifferenz macht den zwischenmenschlichen Raum zu einem Totenraum*. in dem weder MitgefUhl noch
Feindseligkeit Platz haben. weder Liebe noch Kampf. weder guter noch boser Wille. Wo seelenlose Indifferenz regiert. verkummern menschliche Bande. Einen von den Kirchenkonzilen des Mittelalters gepragten Terminus
ubernehmend. nenne ieh jene Tendenz. moralischer Bewertung zugangliche
Handlungskategorien zu beschneiden und zurechtzustutzen. die ethische Relevanz bestimmter Kategorien zu verschleiern oder zu leugnen und die ethischen Vorrechte bestimmter Handlungsziele zu bestreiten. "Adiaphorisierung" . Adiaphorisierung kann die Form eines offenkundigen Ausschlusses
yom Universum moralischer Verpflichtungen annehmen; meist erscheint sie
jedoch als stillschweigendes oder gar verstohlenes und eher vor-reflexives
"effacing the face" *: als unbewusste Abwehr der bloBen Moglichkeit, dass
bestimmte Gruppen anderer Menschen als Ziel ethisch bedeutungsvoller
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Handlungen erscheinen. Diese Tendenz trat wahrend der gesamten Geschichte der Moderne hervor; auch wenn ihre Ursachen und Ausdrucksformen nicht immer die gleichen waren. Indem die Moderne das Geschaftliche
(okonomisch und sozial wie raumlich) vom Haushalt trennte (und damit eine
ganzlich neue Grundlage geschaffen hatte. ecc1esia und oikos zu sondern).
Offnete sie einen enormen. von traditionellen Beschrankungen befreiten
Raum: befreit von Grenzen. auferlegt durch Rechtsgewohnheiten*; von alten
Sitten und traditionellen. ethisch gesattigten Mustern menschlicher Interaktion. Dieser neue Raum war .. ethisch leer" ; ein noch jungfrauliches Land. das
erst noch erkundet. kartographiert, mit Wegweisern versehen und von den
Gesetzgebern und Wachtern der neuen Regeln in einen sorgfaltig und mit
Bedacht gestalteten Garten verwandelt werden musste. Als wichtiges Gestaltungsmerkmal war das neue Territorium gegen das Eindringen aller moglichen .. fremden" Motive und Ziele abzuschotten. die das Monopol administrativer Intentionen gefahrden konnten - ethische Erwagungen standen ganz
oben auf der Liste von .. Unerwiinschtem" . Die mod erne rationale Biirokratie
hat sich als Meister der Adiaphorisierung erwiesen: Sie verlangt von ihren
offiziellen Vertretern ein konsequentes sine ira et studio bei den zu erledigenden Aufgaben. ungeteilte Loyalitat gegeniiber den Statuten sowie die
Nichtberiicksichtigung personlicher Gefiihle und Bindungen wahrend der
Zeit. die sie sich in den Amtsgebauden aufhalten oder mit der Erledigung von
Auftragen verbringen. Esprit de corps* war die einzige von der Biirokratie
benotigte Ethik - und Biirokratie wiirde auch keine andere Ethik tolerieren.
Biirokratie war die Verkorperung der Moderne in ihrem ersten ... schweren" .
.. soliden" bzw ... Hardware" -Stadium - besessen von der Idee. Ordnungen zu
entwerfen und zu errichten; besessen von dem Gedanken. einige Muster zwischenmenschlicher Beziehungen verpflichtend zu machen und aIle anderen
zu verbieten. In diesem Stadium waren panoptische Uberwachung und linear-vertikales Management die wichtigsten Instrumente der Ausiibung sozialer
Kontrolle und der Bewahrung von Ordnung. An anderer Stelle (in Liquid
Modernity) versuche ich. den beschleunigten Abbau der Institutionen panoptischer Kontrolle nachzuzeichnen und aufzuzeigen. wie Verfiihrung und Unsic her he it als Haupttechniken von Kontrolle und Ordnungssicherung an die
Stelle von Uberwachung und Zwang treten. Die umstandliche und kostspielige Herstellung kiinstlicher Notwendigkeit verliert rapide an Bedeutung gegeniiber dem viel weniger schwerfalligen Spiel von Unbestandigkeit. Flexibilitat und Unsicherheit.
James Burnham stellte bei den Kapitaleignern seiner Zeit die Neigung
fest. das Alltagsgeschaft angestellten Managern zu iiberlassen. Anscheinend
erfreuten sich Verwaltungsaufgaben nie groBer Beliebtheit bei jenen Leuten.
die genug Geld und Macht hatten. sie auf andere abzuwalzen. Ob sich vor ei-
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im Original deutsch
im Original deutsch
EthicS of Individuals
215
nem halben Jahrhundert tatsachlich eine "managerial revolution" zugetragen
hat. wie Burnham die Uberlassung "wirklicher Macht" an professionelle
Manager nannte. sei dahingestellt. Aber es ist kaum zu iibersehen. mit welch
erstaunlichem Eifer die scheinbar triumphierenden Manager unserer Zeit die
Friichte ihres Sieges von sich werfen (oder sich zumindest bemiihen. die - in
ihren Augen - negativen Folgen einzuschranken). Management-Aufgaben
werden zunehmend von dem Vorrecht der Entscheidungsfindung abgekoppelt und unsichtbaren und doch unausweichlichen Kraften diffuser Wettbewerbsmechanismen iiberlassen. Das Zentrum der Strategie ist Enthindung:
Man lasst den Untergebenen die Freiheit. bei der Verfolgung des Geschaftsinteresses ihren eigenen Weg zu finden. wahrend man die Hande. was die
Verantwortung fUr ihr Schicksal betrifft. in Unschuld wascht - dies ist in
immer starkerem AusmaB die bevorzugte Methode des Managements. Ziele
zu erreichen und aIle. deren Kooperation man benotigt, "auf Linie" zu bringen. Die neue geschaftsfUhrende Weisheit ist: Der Entwurf von Arbeitsroutinen und die Notigung der Beschaftigten zu ihrer blinden Befolgung ist unbedingt zu vermeiden. Unter Marktbedingungen angebotene Dienstleistungen
ersetzen immer mehr langfristige und gegenseitig bind en de Arbeitsverhaltnisse. Man preist diesen Wandel als Weg zur ErschlieBung bislang ungenutzter Ressourcen an Talent. Initiative und Erfindungsgeist - aber das wahre
Geheimnis der Popularitat dieser Strategie liegt in der ermoglichten Entkopplung der begehrten Macht von Verpflichtungen und Verantwortung. die
stets als ihr unerwiinschter aber unvermeidlicher Preis galten; die Manager
sehen keinen Grund mehr. diesen Preis zu bezahlen. vor allem angesichts der
neuen und sehr viel weniger kostspieligen Methoden. ihre Ziele zu erreichen.
Die Verpflichtung zu gegenseitigen. langfristigen Verbindlichkeiten ist
der Rahmen fUr nie ganz aufzu16sende Interessenkonflikte und fortwahrende
Auseinandersetzungen. aber auch fUr Verhandlungen und Kompromisse und
vor allem auch fUr umstrittene und aus diesem Grund ernsthaft diskutierte
ethische Prinzipien. Die Konsequenzen des Verhaltensjeder Seite fUr die Lage der jeweils Anderen sind offensichtlich. ebenso die Verantwortung. die
daraus folgt. Die Zerbrechlichkeit kurzfristiger. leicht zu 16sender Bindungen
(und die Leichtigkeit. mit der man sich zuriickziehen kann. wenn Schwierigkeiten auftreten) macht eine Festlegung von Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten iiberfliissig. Carlyles "cash nexus" ist noch nie so griindlich
auf bloBe Kosten-Nutzen-Erwagungen reduziert worden wie heute. "Der
Preis stimmt" und "Man kriegt was fUr sein Geld" (mit dem Zusatz "ohne
Verpflichtungen" . versteht sich) reichen vollig aus als die Kreide. mit der die
Linie zwischen an gem essen em und unangemessenem Verhalten zu ziehen ist
- und andere Malwerkzeuge bekommt man ohnehin nicht.
Wie Pierre Bourdieu beobachtete. gibt es kaum eine Moglichkeit. die
Zukunft zu gestalten. wenn man die Gegenwart nicht im Griff hat. Aber
wenn Unsicherheit zu einem endemischen Zug menschlichen Lebens wird
und jede Facette des Netzwerks sozialer Abhangigkeiten und Verpflichtun-
216
Zygmunt Bauman
gen pragt, dann ist genau dieser Zustand erreicht - das Beherrschen der Gegenwart ist das erste, was diesem Zustand zum Opfer fallt. Es ist sinnlos,
komplexe Gewebe menschlicher Verpflichtungen zu kniipfen, wenn jeder
Faden nur von zweifelhafter Qualitat ist und bei der geringsten Beanspruchung zu zerreiBen droht. Die spektakulare Karriere der Formulierung ..Ich
brauche mehr Freiraum" reflektiert die vorherrschende Stimmung unserer
Zeit: Die M6glichkeiten der Flucht vor den Konsequenzen vorangegangener
Handlungen und des Riicktritts von einmal eingegangenen Verpflichtungen
sind die Hintertiiren einer wachsenden Anzahl menschlicher Beziehungen.
Riickzug und Freisetzung, wiederholte Versuche "neu anzufangen" oder
"wiedergeboren zu werden" , sind die beliebtesten, wenn auch letztlich immer wieder frustrierendsten Reaktionen auf die Schwierigkeiten des Lebens .
..Individualisierung de jure" (die eine De-facto-Individualisierung vergeblich
einzuholen versucht) ist ein sich selbst reproduzierender und sich selbst verstarkender Zustand: Sie bringt Reaktionen hervor, die ihre Effekte nur verstarken und ein Bediirfnis nach mehr Reaktionen der gleichen Art hervorrufen. Es entwickelt sich eine Eigendynamik - der Zerfall sozialer Bindungen
(legitimiert durch die sachliche Formulierung des Anspruches auf "mehr
Freiraum") treibt sich selbst an. Mein "mehr Freiraum" ist eine schlechte
Nachricht fiir den Anderen. Sie zeigt ihre/seine Zwangsraumung aus meinem
Universum moralischer Verpflichtungen an. Vnd es gibt keinen einsichtigen
Grund, warum die DurchfUhrung des Verdikts ausgesetzt oder gar aufgehoben werden sollte. Nicht, dass ich besonders egoistisch ware oder mir urn das
Wohlergehen des Anderen keine Gedanken mach en wiirde, wenn es urn meine eigenen Interessen geht; der Andere und ich sind eben gleichermaBen Individuen - wir sind beide sich-selbst-behauptende Einheiten; wir glauben
beide an Selbstgeniigsamkeit als Ideal, als Ziel und Bedingung des Lebens
zugleich - und deshalb ware gegenseitige Abhangigkeit fUr den Anderen
ebenso erniedrigend und herabwiirdigend wie fUr mich. In der Moralphilosophie und in Moralpredigten argumentierte man einst mit einem Verweis auf
den wechselseitigen Nutzen fUr die Notwendigkeit, Sorge und Verantwortung fUr den Anderen zu tragen; das Erfordernis, Distanz zum Anderen zu
halten, wird ahnlich in Termini der Reziprozitat begriindet - aber mit einem
Verweis auf den entstehenden wechselseitigen Schaden. Durch mein Wirken
wiirde der Andere abkommen von dem fUr Individuen richtigen Weg, von
dem Erfordernis, sich ausschlieBlich auf eigene Ressourcen und geistige Fahigkeiten zu verlassen. Und indem ich den Anderen von meiner Unterstiitzung abhangig mache, wiirde ich im Obrigen selbst abhangig von den offenen oder auch nur schemenhaft sichtbaren Anspriichen des Anderen; meine
Entscheidungsfreiheit ware eingeschrankt, meiner Selbstbehauptung waren
Grenzen gesetzt. Beide Seiten der Beziehung, so heiBt es, wiirden letztlich
verlieren. Die Verantwortung fUr den Anderen ablehnend, handle ich weise
und edel; und ich sollte all jenen dankbar sein, die sich in Bezug auf mich
ebenso verhalten. Dies ist die zweite, spezifisch spat-moderne Variante von
Ethics of Individuals
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Adiaphorisierung. Diese spat-moderne ("flieBend-moderne") "Adiaphorisierung Version II" wirkt auf dem Wege von Entbindung. Freisetzung und Distanzierung. in scharfer Abgrenzung zu der frtiheren. btirokratischen Form.
die von stark verpflichtender Einbindung als Bedingung allgegenwartiger
Uberwachung. von normativer Regulierung. standiger Kontrolle und routinemaBiger Austibung von Druck ausging. Die Resultate sind jedoch nahezu
die gleichen: Ein immer groBerer Teil menschlicher Interaktionen wird
"ethisch entscharft" - befreit von moralischer Bewertung und emanzipiert
von der heimttickischen Uberwachung und der korrektiven Einwirkung des
moralischen Gewissens. Dieser Stand der Dinge wird oft als weiterer. entscheidender Etappensieg auf dem Weg zur Freiheit gefeiert. Der dafUr zu
entrichtende Preis besteht allerdings im weiteren Zerfall menschlicher Bindungen. Wahrend Adiaphorisierung in der "Originalversion" Bindungen festigte und (wenn auch auf perverse Weise) Integration fOrdern sollte. bewirkt
die "Adiaphorisierung Version II" eine Auflosung interaktiver Netzwerke.
wahrend sie parallel (oder besser: in einem Zug) das Netzwerk der Abhangigkeit menschlicher Einflussnahme entzieht. Die beiden Prozesse sind untrennbar miteinander verflochten und unzertrennlich; sie konnen nur gemeinsam angegangen werden.
Literatur
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Vbersetzung aus dem EngJischen von Margarete Dresen