Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
Gregor Dobler
1. Einleitung
Muße erleben zu können, setzt „Freiheit von temporären Zwängen“ und „die
Abwesenheit einer unmittelbaren, die Zeit beschränkenden Leistungserwartung“
voraus:1 die Zeit, die der Muße gewidmet sein soll, darf nicht von vorne herein
durch andere Zwecke bestimmt sein, die dem Handelnden ihre Logik aufzwingen. Damit, so scheint es, wird Muße überall dort, wo die Zeit des Menschen in
Arbeits- und Freizeit aufgeteilt ist, in die Freizeit verlagert, denn nur in ihr finden
sich Zeiten, über die wir frei verfügen dürfen, ohne dass sie schon von Anfang
an unter Leistungserwartungen stünden.
Diese starke Trennung zwischen zweckbestimmter Arbeitszeit und von Zwecken entlasteter Freizeit will ich in dem vorliegenden Aufsatz anhand von Material aus dem Norden Namibias in Frage stellen. Indem ich Handlungsstrukturen
von Arbeit und freier Zeit genauer untersuche, möchte ich aufzeigen, dass die
Empfindung einer Freiheit von temporären Zwängen viel stärker in der konkreten inneren Handlungsorientierung wurzelt als in der äußeren Zuschreibung an
Abschnitte der Tätigkeit oder Untätigkeit. Damit knüpfe ich an frühere Arbeiten
an, in denen ich ethnographisches Material aus verschiedenen Gesellschaften
benutzt habe, um die klare Abgrenzung zwischen Muße und Arbeit zu hinterfragen. Das Gegenteil von Muße, so hatte ich argumentiert, sei nicht Arbeit an
sich, sondern entfremdete Arbeit.2 Diese These möchte ich hier differenzieren
und stärker aus der Handlungsstruktur von Arbeit heraus begründen. Arbeit ist
in der Realität selten abstrakte Arbeit, sondern so gut wie immer auch konkretes
Handeln, das für die Arbeitenden unter einer Vielzahl von Bedingungen Züge
freier Tätigkeit annehmen kann. Wenn für die Handelnden die Freiheit des Tuns
gegenüber der Zweckbestimmung durch das Ziel in den Vordergrund tritt, kann
auch der Gegensatz zwischen Arbeit und Muße verschwinden.
1 SFB Muße, Muße. Konzepte – Räume – Figuren. Unveröffentlichter Einrichtungsantrag, Freiburg: Albert-Ludwigs-Universität 2012, 16.
2
Gregor Dobler, „Muße und Arbeit“, in: Burkhard Hasebrink / Peter Philipp Riedl (Hg.),
Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae – Publications of the School of Language & Literature, Freiburg Institute for Advanced
Studies, Bd. 35), Berlin / Boston 2014, 53–67.
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Gregor Dobler
Anknüpfend an Karl Bücher werde ich mich dabei zunächst auf Rhythmisierungsprozesse von Arbeitsabläufen konzentrieren. Rhythmus, so werde ich
argumentieren, kann die Wahrnehmung von Arbeit verändern und sie von einer
zielgerichteten, von ihrem Ende her bestimmten Tätigkeit zu einem repetitiven
und dadurch in der Wahrnehmung zweckentlasteten Ablauf machen. Am Beispiel von bäuerlicher Arbeit im Norden Namibias stelle ich verschiedene Arten
der Rhythmisierung von Arbeit dar und zeige auf, wie sie Zeiträume erzeugt,
in denen das Erleben nicht auf das Fortschreiten der Zeit gerichtet ist. Das
kann auch unter den Bedingungen grundlegender Zweckbestimmtheit zu einer
Freiheit von temporären Zwängen führen.
Die vollständige Abwesenheit temporärer Zwänge bringt, wie sich anschließend in der Untersuchung von Arbeitslosen zeigen wird, meist das Gegenteil
von Muße hervor. Reale Strukturierungsmöglichkeiten sind für das Erleben von
Muße ebenso wichtig wie die Freiheit zur Strukturierung. Arbeitslose haben
zwar sehr viel Zeit, aber es wird immer unwichtiger, wie sie ihre Zeit verwenden.
Das macht es ungleich schwieriger, Räume der Muße zu schaffen. Muße lässt sich
nicht nur in ihrer Binnenstruktur als produktive Unproduktivität begreifen; sie
ist auch in ihrer Rahmung auf Kontraste zwischen Bestimmung und Freiheit angewiesen. Für gelingende Momente der Erfahrung der Freiheit in der Langweile
ist die zeitliche Gestaltung ebenso wichtig wie für jene gelingenden Momente
in der Arbeit, in denen die Arbeitenden sich von der Zweckbestimmung lösen
können.
2. Arbeit zwischen Zweckbestimmung und Selbstbestimmung
Arbeit trägt stets ein Doppelgesicht. Sie ist nur dann tatsächlich Arbeit, wenn sie
durch äußere Zwecke bestimmt wird und effektiv auf die materielle und soziale
Umwelt einwirken soll.3 Doch diese äußere Zweckbestimmung raubt ihr noch
nicht jegliche innere Logik und jede intrinsische Motivation. Arbeit behält stets
den Charakter einer sinnvollen, von uns gestalteten Handlungsabfolge.
In den Sozialwissenschaften ist der Handlungscharakter von Arbeit seit Marx
zunehmend in den Hintergrund geraten, während die Entfremdungserfahrung
in den Vordergrund rückte. Es schien, als erfahre man alles, was man über entfremdete Arbeit wissen müsse, aus der Untersuchung ihrer gesellschaftlichen
Bedingungen, die jede positive Bezugnahme auf Arbeit zu Ideologie machten.
„Die Arbeit selbst“, so Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten
1844, „wird zu einem Gegenstand, dessen [der Arbeiter] nur mit der größten
Anstrengung und mit den unregelmäßigsten Unterbrechungen sich bemächtigen kann“. Weil die Arbeit „nicht zu seinem Wesen gehört“, „fühlt sich der
3
Gerd Spittler, Anthropologie der Arbeit, Berlin: Springer VS 2016.
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„Arbeiter […] erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu
Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus.
Seine Arbeit […] ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern
sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen“.4 Arbeit wird,
kurz gesagt, zu abstrakter Arbeit, zu einer messbaren, teilbaren und veräußerbaren Quantität; dabei verliert sie den Charakter konkreten Arbeitshandelns.
Eine solche Arbeit ist tatsächlich das Gegenbild zur Muße. Die Freiheit der
Muße braucht zuallererst als frei erfahrene Zeit, die sich in abstrakter Arbeit
nicht finden lässt.
Die Schwierigkeit, Muße und Arbeit zu verbinden, liegt dabei nicht so sehr
in der arbeitstypischen Notwendigkeit von Tätigkeit. Viele paradigmatische Beschreibungen von Muße verbinden sie nicht mit Nichtstun, sondern mit freier
Tätigkeit. Im Spazierengehen, Musizieren, Spielen oder Schreiben lässt sich
Muße offenbar sehr wohl erfahren, und die Scheidung zwischen Muße und
Nichtmuße verläuft nicht zwischen Nichtstun und Aktivität. Die Schwierigkeit,
Muße und Arbeit zusammenzudenken, liegt vielmehr in der Art der Tätigkeit
und in ihrer Motivation begründet. Arbeit ist per definitionem durch ihre Zwecke bestimmt. Sie soll die Welt verändern und uns Überleben und Einkommen
sichern. Das entfernt sie von Muße, „dem freien Verweilen in der Zeit“, das
„nicht von äußeren Zwecken bestimmt wird“.
Bei näherem Hinsehen jedoch liegen Arbeit und Muße oft näher beisammen,
als es zunächst scheint. Muße ist „produktive Unproduktivität“. Sie wird als freies
(Nichts-)Tun ohne äußere Bestimmungen erlebt, aber gerade dadurch birgt sie
schöpferische und bildende Kräfte, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Produktivität entfalten können. Sie dient Zwecken, ohne durch sie bestimmt zu sein.
Auch Arbeit dient Zwecken, und auch sie muss in unserem Erleben nicht in
jedem Moment von diesen Zwecken bestimmt sein. Der Zweck der Arbeit kann
während der Arbeit in den Hintergrund geraten, so dass Arbeit in freie Tätigkeit
umschlägt. So wie Muße im Ergebnis vom Reich des Zweckfreien in das Reich
des Zweckhaften übergreifen kann, kann Arbeit im Erleben zu zweckfreier und
selbstbestimmter Tätigkeit werden. Das wird unter Bedingungen der Entfremdung schwieriger, aber nur selten wird es vollständig unmöglich. Arbeit steht
unter den Anforderungen äußerer Zwecke, kann sich aber in jedem Moment in
sinnvolle, intrinsisch motivierte Handlung des Arbeitenden verwandeln.
4
Karl Marx, Marx-Engels Werke, Bd. 40: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Berlin:
Akademie der Wissenschaften 1968, 510, 514.
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Gregor Dobler
3. Arbeit und Rhythmus: Karl Bücher
Ein solches Umschlagen von Arbeit in eigenlogisches und intrinsisch motiviertes
Handeln hat Karl Bücher in seinem Buch Arbeit und Rhythmus5 als nötig dafür
beschrieben, dass Menschen über längere Zeit hinweg anstrengende Tätigkeiten
aufrechterhalten. Nur wenn die der Arbeit inhärenten Unlustgefühle während
der Arbeit in den Hintergrund treten, können wir uns auf Dauer zu der nötigen
Anstrengung motivieren. Als wichtigstes Mittel, um die Last der Arbeit in Lust
an der Arbeit umschlagen zu lassen, hat Bücher Rhythmus identifiziert.
Bücher (1847–1930) ist einer der heute weitgehend vergessenen Klassiker der
Wirtschaftsforschung.6 Er veröffentlichte sein Buch Arbeit und Rhythmus 1896;
bis 1924 erreichte es sechs teilweise stark erweiterte Auflagen und wurde ins Spanische und Russische übersetzt. Mit Hilfe von exotisch anmutenden Materialien
versuchte Bücher eine Antwort auf eine der zentralen Fragestellungen der europäischen Gesellschaft seiner Zeit: Wie schaffen es Menschen, auf Dauer mit der
Alltagserfahrung entfremdeter Arbeit zurechtzukommen? Wie können sie die
gleichen geistleeren Bewegungen immer wieder wiederholen, ohne von ihnen in
Trübsinnigkeit oder in die Revolte getrieben zu werden? Das, so Bücher, ist nur
möglich, weil Menschen ihre Arbeit in intrinsisch sinnvolle Tätigkeit verwandeln
können. Dafür sind Arbeitsrhythmen für Bücher entscheidend. Indem wir rhythmisch arbeiten, können wir den fremdbestimmten und entfremdeten Charakter
unserer Arbeit teilweise vergessen. Rhythmus verleiht der Arbeit ästhetischen
Wert, lenkt die Aufmerksamkeit der Arbeitenden von der Notwendigkeit der
Arbeit und ihren Zielen ab und verwandelt sie in eine eigenlogische Handlung.
Bücher betrachtet dabei im Wesentlichen eine Variante der Rhythmisierung:
den regelmäßigen Rhythmus, der sich zum unterliegenden Metrum auf stets
gleiche Weise verhält. Als Beispiele führt er das Dreschen von Getreide mit
dem Dreschflegel ebenso an wie das Rudern von Booten oder das Sägen von
Baumstämmen. Solche rhythmischen Bewegungen erlauben es, den Arbeitsprozess in eine Wiederholung gleicher, in ihrer Abfolge dem Körper angepasster
Sequenzen zu zerlegen. Damit lenken sie die Aufmerksamkeit der Arbeitenden
von der Mühe langer Arbeit ab und verwandeln körperliche Arbeit in eine Art
Tanz. Bücher geht sogar so weit, den Ursprung musikalischer und poetischer
Rhythmen und Tänze in der Arbeit zu sehen.
5
Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, 3. Aufl., Leipzig: Teubner 1899.
Siehe etwa Jürgen Backhaus (Hg.), Karl Bücher. Theory, history, anthropology, non-market
economies, Marburg: Metropolis 2000; Chris Hann / Keith Hart, Economic Anthropology. History, Ethnography, Critique, Cambridge: Polity Press 2011, 57; Erik Koenen / Michael Meyen
(Hg.), Karl Bücher. Leipziger Hochschulschriften 1892–1926, Leipzig: Universitätsverlag 2002;
Heath Pearson, „Homo Oeconomicus Goes Native, 1859–1945. The Rise and Fall of Primitive
Economics“, in: History of Political Economy 34,4 (2000), 933–989; Gerd Spittler, Founders of the
Anthropology of Work. German Social Scientists of the 19th and Early 20th Centuries and the First
Ethnographers, Münster: LIT 2008.
6
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
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Im Folgenden werde ich auf Büchers Grundgedanken zurückgreifen, um unterschiedliche Arbeitsrhythmen namibischer Bäuerinnen darzustellen. Ich werde
dabei argumentieren, dass solch repetitive und musikalische Rhythmisierungen
nur eine Variante von Arbeitsrhythmen darstellen, und dass andere Varianten
der Rhythmisierung ebenso große Konsequenzen für das Erleben von Arbeit als
selbstbestimmter Handlung haben.
4. Arbeitsrhythmen namibischer Bäuerinnen
Das flache, abflusslose Becken der geographischen Region Ovamboland im zentralen Norden Namibias ist von bäuerlicher Streusiedlung geprägt. Die Einzelhöfe, in denen heute meist zwischen fünf und fünfzehn Angehörige einer matrilinearen Familie leben, liegen inmitten ihrer Felder. Die wichtigsten Anbaufrüchte
sind verschiedene Hirsesorten; zusätzliches Einkommen kommt von staatlichen
Transferzahlungen und von Beiträgen jener Mitglieder der erweiterten Familienhaushalte, die in den Städten arbeiten. Die Landwirtschaft ist relativ wenig mechanisiert und dient fast ausschließlich der Subsistenz der weiteren Familien.
Männer arbeiten meist nur in klar definierten Phasen und für spezifische Arbeiten auf den Feldern mit; der Alltag vieler Frauen dagegen ist von bäuerlicher
Arbeit geprägt. Im Vergleich mit anderen kleinbäuerlichen Gesellschaften ist
die Arbeit vieler nordnamibischer Frauen vom Druck zur Effizienzsteigerung
relativ entlastet, da die Einkommen städtischer Familienmitglieder oft einen
wichtigeren Beitrag zum Überleben leisten als die Landwirtschaft selbst.7 Das hat
selbstverständlich auch Konsequenzen für die Möglichkeit der Rhythmisierung
von Arbeit. Verschiedene Formen der Rhythmisierung lassen sich unter diesen
relativ entlasteten Bedingungen besser beobachten als in vielen anderen bäuerlichen Gesellschaften.
Meine Forschungen für diesen Aufsatz fanden in Odibo, einem kleinen Dorf
in der Nähe der angolanischen Grenze statt, wo ich im Herbst 2014 drei Monate
lang auf einem Bauernhof gelebt und mitgearbeitet habe. Ich kenne die Gegend
seit mehr als zehn Jahren und habe insgesamt mehr als 30 Monate dort gelebt
und geforscht. Meine Gastgeberin auf dem Hof, die neunzigjährige Meme Ndiipala, bewirtschaftet ihren Hof mit der Hilfe von vier Enkelinnen; die beiden
älteren von ihnen arbeiten zeitweise in einem Laden im Dorf und helfen dann
kaum mehr in der Landwirtschaft mit.
7
Für die Geschichte dieses Gefüges zwischen Subsistenz- und Marktwirtschaft siehe Gregor
Dobler, Traders and Trade in Colonial Ovamboland, 1925–1990. Elite formation and the politics
of consumption under indirect rule and apartheid, Basel: Basler Afrika Bibliographien 2014;
Emanuel Kreike, Re-creating Eden. Land-Use, Environment and Society in Southern Angola and
Northern Namibia, Portsmouth: Heinemann 2004.
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Gregor Dobler
Meine Beschreibungen beruhen auf der direkten Teilnahme an bäuerlicher
Arbeit, auf ihrer Beobachtung, auf der Analyse von Videoaufnahmen von Arbeitsprozessen und auf Alltagsgesprächen über Arbeit. Die körperliche Teilnahme verschaffte mir ein Gefühl für die innere Logik der Bewegungen und für
die Anstrengungen und Befriedigungen, die mit ihnen verknüpft sind; sie legte
den Grund für die intersubjektive Verständigung mit den Bäuerinnen über ihre
Arbeit.8 Alltagsbeobachtungen und Videoanalysen ermöglichten mir die genauere Beschreibung einzelner Bewegungsabfolgen, während die Gespräche über
Arbeit Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen meiner eigenen Wahrnehmung und den Arbeitserfahrungen verschiedener Bäuerinnen zu erkennen
ermöglichten.
a. Reguläre, musikalische Rhythmen
Karl Bücher hat sich am meisten für jene in vielen mechanischen Arbeiten
wichtige Form der Rhythmisierung interessiert, die Arbeitsprozesse am offensichtlichsten prägt: die regelmäßige Wiederholung gleichartiger Bewegungen,
die Arbeitsprozesse oft auch mit einer ebenso regelmäßig strukturierten Geräuschkulisse untermalt. Die Arbeitsbewegungen bleiben dabei in einer stabilen
und vorhersagbaren Beziehung zum Metrum, das den Bewegungen unterliegt.
Die regelmäßige Abfolge repetitiver Bewegungen erzeugt einen Arbeitsfluss,
dessen Bedingungen von den körperlichen Fähigkeiten der Arbeitenden, den
Eigenschaften der Werkzeuge und den an beiden ansetzenden physikalischen
Kräften geschaffen werden.
Das paradigmatische Beispiel solch rhythmischer Arbeit im Norden Namibias
ist das Stampfen von Hirse in hölzernen Mörsern. Hirsebrei ist das wichtigste
Gericht der Region; ohne ihn ist keine Mahlzeit vollständig. Bevor man Brei aus
ihr kocht, muss die Hirse entweder in der dieselbetriebenen Mühle des Dorfes
gemahlen oder in Mörsern auf dem Hof zerstampft werden. Diese Arbeit wird in
aller Regel von Mädchen oder jungen Frauen geleistet. Die Mörser sind aus Baustämmen angefertigt und fassen etwa zwei Liter Korn; als Stößel dienen runde,
nicht ganz menschenhohe Stangen aus Hartholz, die etwa den Durchmesser
eines Unterarms haben.
Um Hirse zu stampfen, platzieren die Frauen einen Mörser auf ein sauber
gestampftes Stück Lehmboden oder auf eine Plane und füllen ihn etwa zu zwei
Dritteln mit Hirse. Wer die Hirse stampft, steht mit hüftbreit gespreizten Beinen
nahe am Mörser. Der Stößel wird zunächst im Mörser abgestellt und mit beiden
Händen in Brusthöhe gefasst; dann bewegt die Arbeiterin ihn nach oben, bis
8 Rita Kesselring, Moments of Dislocation: Why the body matters in Ethnographic Research,
Basel: Institute of Social Anthropology 2015; Judith Okely, „Vicarious and Sensory Knowledge
of Chronology and Change“, in: Kirsten Hastrup / Peter Hervik (Hg.), Social Experience and
Anthropological Knowledge, London: Routledge 1994, 45–64.
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67
ihre Hände etwa auf ihre Augenhöhe kommen, und stampft mit dem Stößel in
die Hirse. Die Arme kommen dabei der Schwerkraft zu Hilfe und beschleunigen
den Stößel nach unten.
Das Stampfen versetzt den ganzen Körper in eine rhythmische Bewegung. Die
Arbeiterin benutzt das Aufschlagen des Stößels, um ihre Knie in eine federnde
Bewegung nach vorne zu bringen. Diese Bewegung wird von der Hüfte aufgenommen, deren Vorwärtsbewegung den Oberkörper wieder aufrichtet und die
Aufwärtsbewegung der Arme mit dem Stößel einleitet. Am höchsten Punkt entspannen sich die Arme kurz, bevor sie wieder die Schwerkraft in einer erneuten
Abwärtsbewegung unterstützen.
Als ich selbst das erste Mal Hirse stampfte, übertrug ich dazu Körperbewegungen, die mir von der Arbeit mit einer Spitzhacke oder einem Vorschlaghammer vertraut waren. Ich verwendete vor allem meine Arme, um den Stößel
zu bewegen, hieb mit ihm auf das Getreide ein und stand dabei eher seitlich als
frontal vor dem Mörser. Weil meine Arme die gesamte Arbeit verrichten mussten, ermüdete mich das Stampfen schnell. Den gesamten Körper zum Stampfen
einzusetzen, gelang mir bis zuletzt nicht wirklich. Die Bewegungen der Frauen
beruhen auf einem langen Habitualisierungsprozess, in dem einzelne Muskelgruppen ebenso trainiert werden wie ihr Zusammenspiel in einer Bewegungsabfolge. Je vertrauter und je besser auf die Fähigkeiten ihrer Körper abgestimmt
die Bewegungen waren, desto stärker nahm das Stampfen für die Frauen den
Charakter eines kompetenten Tanzes an.
Hirse zu stampfen ist eine sehr schwere Arbeit, aber im Vergleich mit anderen
anstrengenden Arbeiten empfinden die meisten Frauen es als deutlich befriedigender und angenehmer. Der Rhythmus der Bewegungen bringt den eigenen
Körper in einen Flow, der die Aufmerksamkeit von der Anstrengung ablenkt. Die
Arbeitenden konzentrieren sich auf den Rhythmus, der die Arbeit trägt, nicht
auf die Schwere der Arbeit.
Solche Rhythmisierungsprozesse sind keinesfalls strategisch geplant, um Arbeit leichter zu machen. Man könnte sich im Gegenteil nur sehr schwer vorstellen, ohne Rhythmus Hirse zu stampfen. Die Bewegungen ordnen sich wie
von selbst in einen Rhythmus, der den Arbeitsprozess gliedert und dadurch
seinerseits Lernprozesse ermöglicht, die körperlichen Habitus und Arbeitsprozess aufeinander abzustimmen erlauben.
Auch wenn Frauen alleine arbeiten, stampfen sie rhythmisch. Wo zwei Frauen
in Hörweite voneinander an ihren eigenen Mörsern stampfen, stellen sie ihren
Rhythmus unwillkürlich auf einander ein. Selbst diejenigen, die einfach nur
durch das Dorf gehen oder auf dem Hof einer anderen Arbeit nachgehen, synchronisieren den Rhythmus ihres Handelns automatisch mit den Geräuschen
des Stampfens. Erst wenn das Stampfen aufhört, kehren sie zu ihrem eigenen,
vom Verhältnis zwischen ihrer Arbeit und ihrem Körper bestimmten Rhythmus
zurück.
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Gregor Dobler
Rhythmen wie derjenige des Stampfens ziehen sich durch die Klanglandschaft
des Dorfes. Sie zeigen den Ablauf des Arbeitstages an, erinnern an die Präsenz
der Nachbarn im sozialen Raum des Dorfes und ermöglichen die Kontrolle der
Arbeit der jüngeren Frauen durch die älteren auch dort, wo diese in der Nähe
einer anderen Arbeit nachgehen.
Meistens bleiben die Rhythmen im Hintergrund der Aufmerksamkeit, aber
sie können auch in ihr Zentrum rücken. Das geschieht vor allem dort, wo sie zur
Basis der Koordination zwischen verschiedenen Arbeitenden werden. Häufig
arbeiten etwa zwei Frauen mit ihren eigenen Stößeln an einem gemeinsamen
Mörser. Eine beginnt zu stampfen; wenn sie ihren Stößel am Ende des ersten
Zyklus wieder nach oben bewegt, setzt die andere mit der gleichen Bewegung
ein. Das Stampfen wird dann zu einer klar koordinierten sozialen Tätigkeit. Die
Notwendigkeit, die Arbeit zu koordinieren, zieht zusätzliche Aufmerksamkeit
von der Anstrengung der Arbeit ab und schärft gleichzeitig die Fokussierung auf
den Arbeitsprozess. Wenn sie eine im Arbeitsprozess etwa ebenbürtige Partnerin
finden, ziehen es die meisten Frauen deutlich vor, zu zweit zu stampfen.
Wenige erfahrene Stampferinnen beschleunigen manchmal unwillkürlich
ihren Rhythmus, wenn sie zu zweit stampfen. Eine der beiden beginnt, etwas zu
schnell zu stampfen – oft aus Sorge, zu langsam zu sein. Die andere stellt sich
darauf ein, was zu einer stetigen Beschleunigung des Stampfrhythmus führen
kann. Manchmal gelingt es dann den Arbeitenden, den Rhythmus wieder auf
ein langsameres und stetiges Maß zurückzuführen; in anderen Fällen beginnen
die Arbeiterinnen zu lachen und setzen neu an. Auch durch solche Zwischenfälle
kann Arbeit einen gewissen Spielcharakter behalten – erst recht, wenn Mädchen
den Rhythmus mit Absicht beschleunigen und das Stampfen in einen Wettkampf
umdeuten.
Auch wenn rhythmische Arbeit auf diese Art eine Eigenlogik annehmen
kann, sollen die Arbeitenden nie vergessen, dass sie in Wirklichkeit arbeiten.
Sie müssen den Mahlgrad kontrollieren, von Zeit zu Zeit Wasser hinzufügen,
um das Mehl elastisch zu halten, und das fertig gestampfte Mehl mit neuem
Korn ersetzen. Wenn Meme Ndiipala merkte, dass ihre Enkelinnen zu langsam
stampften oder sich von spielerischen Elementen hinreißen ließen, anstatt ihre
Arbeit zu tun, rief sie sie regelmäßig scharf zur Ordnung und erinnerte sie an
den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel.
Die Art der Rhythmisierung des Stampfens ließe sich nahtlos in Karl Büchers
Argumentation einfügen: Der klar wahrnehmbare Rhythmus erleichtert die Koordination und verwandelt Arbeit in eine eigenständige und gleichzeitig soziale
Handlung.
Durch solche Rhythmen kann Arbeit auch eine Binnenstruktur gewinnen,
die sie im Erleben nahe an Muße rückt. Rhythmisches Arbeiten lenkt durch
seinen repetitiven Charakter die Aufmerksamkeit vom Vergehen der Zeit ab.
Momente in der Zeit werden durch die Wiederholung immer gleicher Elemente
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austauschbar gemacht und Zeit damit – wenn auch auf sehr dynamische Weise –
still gestellt. Während die Notwendigkeit, in relativ kurzer Zeit ein Arbeitsziel zu
erreichen, die Aufmerksamkeit auf das Vergehen der Zeit und die Konsekutivität
lenkt, rückt Rhythmisierung den Prozess selbst in den Fokus des Erlebens. Die
Effektivität der Arbeit tritt gegenüber ihrer Eigenlogik in den Hintergrund.
Dieser erste Befund reicht aber keinesfalls aus, um die Beziehung zwischen
Arbeit, Rhythmus und Möglichkeiten der Muße zu verstehen. Neben der rhythmischen Wiederholung gleicher Bewegungen finden sich in Bauernarbeit im
Norden Namibias weitere grundlegende Möglichkeiten der Rhythmisierung,
die für das Erleben der Arbeit entscheidend sind. Bäuerinnen arbeiten nicht
ohne Pause, sondern wechseln zwischen rhythmischer Arbeit und Ruhezeiten
(4b) einerseits, zwischen unterschiedlichen Arbeiten (4c) andererseits ab. Viele
Arbeiten sind nicht ebenso klar rhythmisierbar wie das Stampfen (4d). Die
Darstellung dieser unterschiedlichen Varianten von Rhythmisierung wird mich
dann zu der Frage bringen, welche Faktoren die Möglichkeit von Rhythmisierung beeinflussen (5).
b. Der Rhythmus von Anstrengung und Erholung
Karl Bücher beschreibt Rhythmen, als würden Menschen über lange Zeit hinweg in kontinuierlichem Rhythmus arbeiten. Solche Arbeiten gibt es zwar, vor
allem dort, wo der Arbeitsprozess mehrerer Menschen aufeinander abgestimmt
werden muss und die einzelnen Arbeitsschritte nicht allzu anstrengend sind.
Meistens jedoch folgt bei körperlicher Arbeit auf eine Sequenz rhythmischer
Arbeit eine Pause, die dann wieder in eine Arbeitssequenz übergeht. Der regelmäßige Rhythmus der Arbeit wird von einem langsameren Rhythmus zwischen
Anstrengung und Erholung unterbrochen.9
Wie in vielen Fällen ist das beim Stampfen von Hirse schon technisch bedingt.
Nach einer gewissen Zeit des regelmäßigen Stampfens ist das Korn zu Mehl
geworden; die Arbeiterin muss absetzen und den Mörser leeren und neu füllen.
Die meisten Arbeiterinnen geraten aber bereits lange, bevor dieser Punkt erreicht
ist, außer Atem, und legen eine kurze Pause ein, bevor sie die rhythmische
Bewegung wieder aufnehmen. Niemand sieht solche Pausen als Beweis für Unfähigkeit an. Im Gegenteil: Seine Kräfte einzuteilen, Aktivität und Erholung ins
Gleichgewicht zu bringen und so lange Zeiten der Arbeit durchzuhalten, ist eine
entscheidende Fähigkeit guter Arbeiterinnen.
Auch dieser Rhythmus zwischen Anspannung und Erholung hilft, Arbeit als
eigene Handlung wahrzunehmen. Jede Arbeiterin kann selbst entscheiden, wann
sie eine Pause einlegt und wann sie weiterarbeitet. Zu lange Pausen verlängern
9
Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, Cambridge: University Press 1977; Edith
Fél / Tamas Hofer, Geräte der Atányer Bauern, Kopenhagen: Danish Academy 1974.
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Gregor Dobler
die Arbeit und führen zu schnellerer Ermüdung (zumindest behaupten das die
Frauen); zu lange Arbeitsphasen sind zu anstrengend, um sie lange durchzuhalten. Gute Arbeiterinnen versuchen deshalb, so lange zu arbeiten, wie sie im Fluss
bleiben können (und vielleicht etwas länger, um sich selbst zu beweisen, dass sie
es können); dann legen sie ohne schlechtes Gewissen eine Pause ein. Der Ablauf
von Arbeits- und Ruhephasen zeigt, dass die Arbeit die eigene ist.
c. Abwechslung der Aufgaben
Auch der nötige Wechsel zwischen unterschiedlichen Arbeitsschritten bringt Arbeitsrhythmen hervor. Auch dafür ist das Stampfen der Hirse ein gutes Beispiel.
Stampfen, Wasser hinzufügen, den Mahlgrad kontrollieren, den Mörser zu leeren
und neu zu füllen – alle diese Aufgaben sind notwendige Teilschritte der Arbeit.
Jede von ihnen erfordert unterschiedliche Fähigkeiten, unterschiedliche Muskeln
und unterschiedliche Bewegungen. Ihr Wechsel kostet Zeit, und mindestens
seit Adam Smith haben Ökonomen Arbeitsteilung als Weg propagiert, diesen
Zeitverlust zu minimieren und gleichzeitig das individuelle Geschick für einen
einzelnen Arbeitsschritt zu maximieren. Arbeitsteilung, so Smith, macht Arbeit
viel effizienter. Dieses Argument entspricht durchaus der Erfahrung von Bäuerinnen im Norden Namibias. Sie wissen es zu schätzen, wenn jemand kleinere
Teilschritte der Arbeit übernimmt, so dass sie etwa den Stößel nicht beiseitelegen
müssen, wenn das Korn zu trocken geworden ist, sondern ihn für eine Ruhepause auf den Rand des Mörsers stützen können. Gerade nach einem langen
Arbeitstag ist es angenehm, mechanisch stampfen zu können, ohne dabei gleichzeitig den Mahlgrad im Auge behalten zu müssen.
Dennoch sind die Frauen meistens eher froh über die Abwechslung, die durch
die unterschiedlichen Teilschritte in den Arbeitsprozess eingeführt wird. Der
Wechsel der Aufgaben bringt Erholung. Da niemand den ganzen Tag ununterbrochen stampfen könnte, macht der Wechsel die Arbeit zudem effizienter, nicht
weniger effizient.
Die allermeisten bäuerlichen Arbeiten bestehen aus unterschiedlichen Arbeitsschritten, die jeweils ihren eigenen Rhythmus haben. Beim Jäten des Feldes
nach den ersten Regenfällen, das den Boden für das Pflügen vorbereitet, hacken
Frauen meist in einem Halbkreis, dessen Durchmesser von der Reichweite der
Hacke definiert ist; dann sammeln sie das ausgehackte Unkraut, werfen es auf
einen Haufen, ebnen den Boden etwas ein und machen einen Schritt vorwärts
zum Zentrum des nächsten Halbkreises. Jeder Arbeitsschritt in dieser Sequenz
hat seinen eigenen inneren Rhythmus, aber ihn ohne Pause zu wiederholen wäre
viel ermüdender, als ihn mit anderen Arbeitsschritten zu alternieren.
In diesen Beispielen ist jeweils ein Arbeitsschritt anstrengender und effektiver
als die anderen – das eigentliche Stampfen und das eigentliche Hacken. Dieser
Schritt erscheint als der Kern der Aktivität und gibt ihr ihren Namen. Häufig hat
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71
dieser Schritt auch den am klarsten definierten inneren Rhythmus. Die übrigen
Schritte werden oft als eher lästig angesehen; sie sind für das Selbstbild der Arbeitenden weniger wichtig und werden, wo es geht, oft untergeordneten und weniger geübten Arbeitenden übertragen. Dennoch bringen sie sehr willkommene
Pausen, die die Arbeitenden oft herbeisehnen und auf die sie um so bewusster
hinarbeiten, je erschöpfter sie sind.
Auch diese notwendige Arbeit trägt dazu bei, die Aufmerksamkeit vom Zweck
der Arbeit auf ihren Prozess zu verschieben. Wenn man arbeiten muss, kann man
zumindest selbst entscheiden, wie man die Arbeit organisieren möchte. Man
kann dem Ende eines Arbeitsschrittes entgegensehen und darin vielleicht die
Kraft finden, ihn noch etwas fortzusetzen; und man kann sich aufgrund der Abwechslung wieder neu auf die Arbeit konzentrieren. Der klare und regelmäßige
Rhythmus der Arbeitsbewegungen ist in einen freieren Rhythmus von stärkerer
und weniger starker Beteiligung am Arbeitsprozess eingebunden.
d. Unregelmäßigere Rhythmen
Nicht jede Arbeit lässt sich einem gleichmäßigen Rhythmus unterwerfen. Während des Stampfens der Hirse etwa muss man von Zeit zu Zeit die Hühner verjagen, die versuchen, Körner aufzupicken. Hier erschließt sich die Unmöglichkeit
rhythmischen Arbeitens direkt: Hühner sind zu unberechenbar, als dass man sie
rhythmisiert vertreiben könnte.10
Doch selbst manche Arbeiten, die dauerhafter, repetitiver und eigenständig
organisierter Anstrengungen bedürfen, lassen sich nicht so leicht rhythmisieren
wie das Stampfen. Auf dem Hof von Meme Ndiipala wird jedes Jahr Öl aus
Marulakernen hergestellt. Die Nüsse der Marulafrucht sind ungefähr so groß wie
Walnüsse; ihre sehr harte Schale birgt drei oder vier Samenkanäle, in denen die
pinienkerngroßen Samen liegen. Aus den halbierten und getrockneten Nüssen
muss man diese Samen mit Hilfe einer langen Nadel auspulen, wobei sie meist
in mehrere Fragmente zerbrechen.
Mir ist es nie gelungen, Marulasamen rhythmisch aus der Nuss zu entfernen.
Die Aufgabe war zwar durchaus repetitiv und routinisiert, aber weil keine Nuss
der anderen gleicht, konnte ich die Handgriffe nie so weit standardisieren, dass
die Arbeitsschritte rhythmisch aufeinander folgten.
Der Unterschied zwischen leichter und schwieriger zu rhythmisierenden
Tätigkeiten ist aber keinesfalls absolut. Die meisten Frauen arbeiteten beim
Entkernen von Marulanüssen ebenso unregelmäßig wie ich. Meme Ndiipala
dagegen rhythmisierte diese Arbeit sehr stark. Sie nahm eine Handvoll Nüsse
in ihre linke Hand, rollte eine Nuss mit Daumen und Zeigerfinger nach vorne
10
Siehe Gerd Spittler, Hirtenarbeit. Die Welt der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen von Timia,
Köln: Köppe 1998, 185 ff. für die Arbeit mit Kamelen.
72
Gregor Dobler
und hielt sie dort fest, während sie mit der Nadel in der rechten Hand dreimal in
jeden Samenkanal stocherte. Dann schlug sie die Nuss leicht gegen den rechten
Daumen, um restliche Fragmente zu entfernen, und begann mit dem nächsten
Kanal. Die leere Nuss warf sie in einen größeren Korb, der vor ihr auf dem Boden
stand. Nur sehr selten wurde dieser Rhythmus unterbrochen und sie stocherte
ein viertes oder fünftes Mal nach; diese Ausnahmen bewiesen, dass sie trotz der
Rhythmisierung die Kontrolle über ihren Arbeitsprozess behielt. Während des
Arbeitens unterhielt sie sich mit den Umsitzenden, überwachte den Haushalt
und rief von Zeit zu Zeit eine ihrer Enkelinnen mit einem scharfen Befehl zur
Ordnung.
Ich war nicht der einzige, dem solche Unterschiede auffielen. Die jüngeren
Frauen sahen fließende Arbeitsrhythmen als klares Zeichen von Kompetenz an.
Eine der Enkelinnen erzählte, sie fände neue Arbeiten oft so verwirrend, dass
sie sich auf jeden einzelnen Arbeitsschritt konzentrieren müsse, während ihre
Großmutter bei der gleichen Aufgabe den Eindruck erwecke, überhaupt nicht
zu arbeiten. Die Ethnologie hat solche Differenzierungen schon oft beschrieben. Ob es um die Arbeit von Journalisten11 oder von Fabrikarbeitern12 geht,
um Tischler13 oder Spitzenklöpplerinnen14: Die Fähigkeit, die eigene Arbeit zu
strukturieren und den eigenen Rhythmus zu erreichen, ist ein wichtiges Element
in der Erfahrung und der Darstellung von Arbeitskompetenz. Rhythmus ist nicht
einfach nur eine Funktion des Arbeitsschrittes. Er entsteht im Zusammenspiel
von Arbeitendem, Aufgabe und Arbeitsumwelt und ist stets mit dem verbunden,
was Lefebvre dressage genannt hat: die Anpassung der eigenen Person an das
Handwerk, das man meistert.15
Im Extremfall kann daraus Kompetenz erwachsen, die Arbeit als Ganze in den
Hintergrund der Aufmerksamkeit rücken lässt und sie zum Hintergrund eines
freien Verweilens in der Zeit macht. Die einzige Form des Gesangs während
der Arbeit, auf die ich in Nordnamibia gestoßen bin, ist gerade dafür ein Indiz.
Von Zeit zu Zeit beginnen Menschen zu singen, während sie etwa einen Korb
flechten, Marulanüsse entkernen oder einer Kuh die Haut abziehen. Die meisten
dieser Lieder sind getragene anglikanische Kirchenlieder. Ihre Beziehung zur
Arbeit ist eine grundlegend andere als jene der Arbeitsgesänge, die Bücher beschreibt. Das Singen ist der Beweis dafür, dass die Arbeitsbewegungen routiniert
11
Dominic Boyer, „The Corporeality of Expertise“, in: Ethnos 70,2 (2005), 243–266.
Michael Burawoy, Manufacturing Consent, Chicago: Chicago University Press 1979, 88.
13 Trevor Marchand, „Embodied Cognition and Communication: studies with British fine
woodworkers“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute N. S. 16,S1 (2010), S100–S120.
14
Nicolette Makovicky, „‚Something to talk about’: notation and knowledge-making among
Central Slovak lace-makers“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute N. S. 16,S1 (2010),
S80–S99.
15
Henri Lefebvre, Rhythmanalysis. Space, time and everyday life, London: Continuum, 2004,
39.
12
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
73
und unabhängig genug geworden sind, um einen Raum der Kreativität und Besinnung zu eröffnen – otium in labore.
Die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten und unterschiedlichen Arbeiterinnen bedeuten jedoch auch, dass der Prozess der Rhythmisierung voraussetzungsreicher ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es
gelingt nicht jedem in jedem Moment, die Last der Arbeit in den Hintergrund
geraten zu lassen und die Arbeit als freie Handlung wahrzunehmen. Im nächsten
Abschnitt werde ich Bedingungen für diesen Schritt analysieren.
5. Bedingungen der Rhythmisierung
Anders als musikalische Rhythmen sind Arbeitsrhythmen nicht völlig frei zu
gestalten. Arbeit wirkt auf die soziale und physische Umwelt ein und kann darin
nur erfolgreich sein, wenn sie die Eigenschaften dieser Umwelten berücksichtigt.
Diese Eigenschaften haben deshalb großen Einfluss auf die Möglichkeiten rhythmischen Arbeitens. Einige davon werde ich im Folgenden systematischer behandeln; dabei gehe ich von der Analyse bäuerlicher Arbeiten in Namibia aus,
erweitere aber den Bezugsrahmen in vergleichender Perspektive.
a. Materialien, auf die wir arbeitend einwirken
Nur Arbeitsbewegungen, die sich in einzelne, einander ähnliche und repetitive
Bewegungen aufteilen lassen, können klar rhythmisiert werden. Jede Einzelbewegung muss der vorangegangenen gleichen. Ihre Wiederholung ermöglicht
eine Routinisierung, die einen Teil unserer Aufmerksamkeit freisetzt und den
Geist wandern lässt. Dabei müssen wir im Idealfall jedoch genug residuale Aufmerksamkeit auf den Arbeitsprozess richten, um in jedem Moment beurteilen zu
können, ob die rhythmische Wiederholung der Aufgabe weiterhin angemessen
ist und unsere Aufmerksamkeit erneut auf die Arbeit zu fokussieren. Rhythmisierung verwandelt Bewegungen nie in vollständig mechanische Wiederholungen des Gleichen. Je vertrauter uns eine Arbeit ist, desto besser können wir
unseren Arbeitsrhythmus dabei an das Material anpassen, ohne ganz aus dem
Rhythmus zu geraten.
Eine versierte Arbeiterin wird jeden Nagel mit der gleichen Anzahl Hammerschläge in ein Brett versenken können. Genau dazu muss sie jedoch flexibel
auf die Umwelt eingehen und den Winkel und die Kraft des Schlags situationsangepasst verändern.16 Rhythmisierung befreit nur jenen Teil unserer Aufmerksamkeit, der nicht für diese Reaktion notwendig ist.
16
Siehe auch Michael Herzfeld, The body impolitic: artisans and artifice in the global hierarchy
of value, Chicago: University Press 2004, 106.
74
Gregor Dobler
Je homogener unsere Arbeitsmaterialien dabei sind, desto weniger Aufmerksamkeit benötigt jede einzelne Wiederholung, und desto leichter lässt sich der
Arbeitsrhythmus aufrechterhalten. Auf einer trockenen, ebenen Straße zu gehen
etwa erlaubt es uns, den Rhythmus der Schritte frei zu wählen; wird der Boden durch Eis oder Matsch inhomogen rutschig, stößt die Rhythmisierung viel
schneller an ihre Grenzen.
Homogenität der Arbeitsmaterialien kann ihren Grund in ihrer gleichförmigen Struktur haben (wie in dem Brett, das wir hobeln, oder dem Wasser, in
dem wir rudern) oder in der Gleichförmigkeit ihrer einzelnen Teile (wie im
Korn, das wir stampfen oder mahlen). Wir können solche Homogenität nicht
einfach voraussetzen, sondern ein großer Teil der Arbeitsvorbereitung ist oft
damit beschäftigt, sie erst herzustellen. Vor dem Pflügen müssen die Strünke von
Büschen ausgegraben werden, vor dem Säen der Boden geeggt, vor dem Mauern
der Mörtel sorgfältig gemischt. Auch sehr viel komplexere Abläufe wie etwa die
Standardisierung von Übertragungsprotokollen vor der Kommunikation per EMail gehören in dieses Feld der Herstellung einer homogenen Arbeitsumwelt, in
der freie Rhythmisierung möglich wird.
Immer wieder aber stößt diese Homogenisierung an ihre Grenzen. Auf der einen Seite wird sie von Störungen durchbrochen: Der Ast im Holz unterbricht den
Rhythmus des Hobelns, der Stein im Boden bietet der Hacke unvorhergesehenen
Widerstand. Solche Inhomogenitäten lassen uns punktuell aus dem Rhythmus
geraten, ohne unsere grundsätzliche Fähigkeit zur Rhythmisierung von Arbeit
einzuschränken. Je weniger homogen die Arbeitsmaterialien sind, desto stärker
verhindern sie Rhythmisierung überhaupt. Die großen Unterschiede zwischen
den einzelnen Marulanüssen machten es mir unmöglich, einen klaren Arbeitsrhythmus zu finden, und selbst meine Gastgeberin konnte auf das eigensinnige
Picken der Hühner nicht rhythmisch reagieren.
b. Werkzeuge, mit denen wir arbeiten
Werkzeuge sind der Kontaktpunkt zwischen unserem Körper und den Materialien, auf die wir arbeitend einwirken. Ihre Eigenschaften sind für Rhythmisierung entscheidend. Viele sind so gestaltet, dass sie rhythmisches Arbeiten nicht
nur ermöglichen, sondern erfordern.17 Die Säge gleitet leichter durchs Holz, der
Hammer fällt müheloser, wenn wir uns auf die Frequenz einstellen, die sich im
Zusammenspiel unseres Körpers, des Werkzeugs und des Materials ergibt.
Je besser die Werkzeuge dabei auf das Material abgestimmt sind, auf das sie
einwirken sollen, desto freier können wir im Normalfall unseren Rhythmus
wählen; ein scharfes Hobelmesser durchschneidet härtere Stellen im Holz besser als ein stumpfes. Allein vom Arbeitsmaterial her gesehen wären deshalb
17
Bücher, Arbeit und Rhythmus, 403.
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
75
spezialisierte und an das jeweilige Werkstück angepasste Werkzeuge ideal zur
Rhythmisierung.
Je spezialisierter aber das Werkzeug, desto weniger vertraut wird der Arbeitende mit ihm sein. Ein neues Werkzeug zwingt unserem Körper andere Bewegungen auf und kann sich unvertraut anfühlen. Auch das setzt unserer Kompetenz
im Arbeiten allgemein und der Rhythmisierung im Speziellen Grenzen – um
so mehr, als auch der nötige Wechsel der Werkzeuge unseren Rhythmus durchbrechen kann. Solche Unterbrechungen sind um so gravierender, wenn nur
eine geringe Anzahl von Werkzeugen an einen mobilen Arbeitsplatz mitgeführt
werden kann. Viele Bauern in Namibia und anderswo verwenden deshalb am
liebsten Werkzeuge, mit denen sie selbst sehr vertraut sind und die sich für eine
Reihe von Arbeiten gut genug eignet, selbst wenn spezialisierte Werkzeuge den
einzelnen Arbeitsschritt einfacher machen würden.
Werkzeuge müssen gepflegt, gewartet und repariert werden. Oft bringt die
Routine der Wartung eine willkommene Pause in der ‚eigentlichen Arbeit‘.
Sensen müssen gewetzt oder gedengelt werden, Hobel geschärft, das Blatt der
Hacke festgeklopft. Solche geplanten Unterbrechungen schaffen oft eher neue
Möglichkeiten der Rhythmisierung als sie einzuschränken. Daneben gibt es aber
Zwischenfälle, in denen das Werkzeug versagt, zerbricht oder schartig wird.
Solche Zwischenfälle können wir zwar allgemein voraussehen, aber sie nicht in
unser konkretes Arbeitshandeln einplanen. Weil sie unseren Arbeitsrhythmus
durchbrechen und ungewollte Aufmerksamkeit verlangen, empfinden wir solche
Zwischenfälle als Störung. Das ist ein Hauptgrund dafür, dass verlässliche Werkzeuge für Arbeitende hohen Wert besitzen.
c. Die soziale Umwelt, in der wir arbeiten
In den allermeisten Arbeitskontexten übt die soziale Organisation der Arbeit den
größten Einfluss auf Möglichkeiten und Grenzen von Rhythmisierung aus.18 Ich
kann hier nur einige Grundthemen ansprechen, die damit zusammenhängen.
Rhythmen erleichtern die Koordination zwischen Arbeitenden. Gleich ob es
ums Rudern geht, darum, gemeinsam Lasten zu tragen, den Anker zu lichten
oder am Fließband arbeitsteilig eine Maschine zu produzieren: überall wird
gemeinsame Arbeit durch Rhythmen gegliedert, welche die Handlungen der
Einzelnen für die anderen Arbeiter vorhersagbar machen. Dabei erleichtern
Rhythmen die Zusammenarbeit oft auch, indem sie Unterschiede der Kraft und
Ausdauer einzelner Arbeitender ausgleichen. In vielen europäischen Bauerngesellschaften gab ein Mäher das Tempo für alle an und musste dabei darauf achten,
dass alle folgen konnten.19
18
19
Siehe auch Dobler, „Muße und Arbeit“.
Etwa Fél / Hofer, Geräte, 202 ff.
76
Gregor Dobler
Solche gemeinsamen Rhythmen machen Arbeitsteilung leichter, schränken
dabei aber die Freiheit der Einzelnen ein, ihren eigenen Rhythmus zu finden.
Arbeitsteilung erzeugt aber in vielen Arbeiten erst jene wiederholbaren Einzelschritte, die sich am leichtesten rhythmisieren lassen. Sie teilt einen komplexen
Arbeitsablauf in viele einfache Aufgaben auf, in denen der einzelne Arbeiter
rasch individuelle Kompetenz erwerben kann.
Daraus könnte man schließen, dass mechanisierte und sorgfältig zerteilte Arbeit am besten rhythmisierbar sei und damit am ehesten jene autonome Arbeitserfahrung ermögliche, in der Arbeit und Muße verschwimmen. In der Tat haben
zeitgenössische Soziologen, etwa Hellmut Hultzsch, genau diesen Aspekt fordistischer Fabrikarbeit hervorgehoben, die dem Arbeiter nur die Wiederholung
der Bewegungen, nicht aber ihren fein abgestimmten Rhythmus vorschreibe.20
Die Betrachtung unterschiedlicher Arbeitsrhythmen zeigt uns, dass dieses
Lob mechanischer Arbeit zwar auf einen wichtigen Punkt hinweist, aber für sich
genommen zu kurz greift. Hultzsch berücksichtigt nur den mechanischen, repetitiven Rhythmus einzelner Bewegungen. Er vernachlässigt damit den Rhythmus
der Abwechslung zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten, den Rhythmus von
Spannung und Entspannung und ganz entscheidend den Rhythmus zwischen
der Befriedigung der Tätigkeit und der Befriedigung einer abgeschlossenen Aufgabe. Wo jede einzelne Bewegung einfach, habitualisiert und repetitiv ist, ergänzen sich die einzelnen Bewegungen nicht mehr zu einer größeren Aufgabe, deren
Erfüllung einen Arbeitsprozess abschließt. Das einzige Maß des Arbeitserfolges
ist numerisch, und Arbeit als Ganzes wird tatsächlich abstrakt. Die Fabrik aggregiert die Arbeitskraft vieler Arbeiter, um mehr Nadeln zu produzieren; der
einzelne Arbeiter selbst aber hat keine einzige Nadel hergestellt.
Für Marx lag hier einer der Hauptgründe dafür, dass Fabrikarbeit den Menschen erniedrigt. Die unterschiedlichen Rhythmen einer Aufgabe werden nach
und nach abgeschafft, bis – in E. P. Thompsons Formulierung – clock time, der
Wechsel von Arbeit und Freizeit, als einzig strukturierende Kraft übrigbleibt.21
Der „Rhythmus des Problemlösens und Problemfindens“22 wird aufgebrochen
und als einzelne Aufgabe an die Arbeiter, die Entwicklungsabteilung oder das
Management delegiert. Soziologen wie Braverman oder Beynon haben klar gezeigt, wie starke und reale Entfremdungserfahrungen aus diesem Prozess resultieren können.23
20 Hellmut Hultzsch, Arbeitsstudien bei Ford, Dresden: Köhler 1926; siehe auch Dobler, „Arbeit und Muße“.
21
Edward Thompson, „Time, work discipline, and industrial capitalism“, in: Past and Present
38 (1967), 56–97.
22 Richard Sennett, The Craftsman, New Haven: Yale University Press 2008, 26.
23
Huw Beynon, Working for Ford, London: Penguin 1973; Henry Braverman, Labor and
Monopoly Capitalism: The Degradation of Work, New York: Monthly Review Press 1974.
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
77
Doch Thompsons Kontrastierung von aufgabenorientiertem und zeitraumorientiertem Zeitempfinden ist ebenso einseitig wie Hultzsch’ Analyse der Fabrikarbeit; Thompson betrachtet bäuerliche Arbeit ebenso undifferenziert wie
Hultzsch die Fabrikarbeit. Arbeit ist nie vollkommen frei gestaltbar und selten
vollkommen entfremdet. Menschen besitzen erstaunliche Fähigkeiten, wenn es
darum geht, auch die langweiligste Arbeit in eine eigene Aufgabe zu verwandeln.
„We are inclined to speak of workers on an assembly line as being subjected to the
regimen of clock time“, bemerkt Tim Ingold, „while forgetting that the mechanism of the clock drives only the hands on its face, not the hands of the workers
whose routine it allegedly controls“.24
Die Analyse von Rhythmisierungsprozessen gibt uns Werkzeuge an die Hand,
um die Beziehung zwischen „clock time“ und „task time“ zu analysieren. Aus der
Perspektive fester Zeiteinteilung ist Arbeit eine durch äußere Ziele getriebene
Tätigkeit, die Nutzen produziert und deshalb gemessen und verkauft werden
kann. Aus der Perspektive aufgabenorientierter Zeit ist Arbeit eine Handlung,
die zwar durch Notwendigkeit veranlasst sein kann, aber eine Eigenlogik gewinnt
und konkrete Binnenziele verfolgt, die sie als Handeln direkt motivieren.
Beide Prozesse, externe Motivierung und interne Handlungslogik, gehören für
die meisten Arbeitsprozesse zusammen. Arbeitsrhythmen sind eine der Größen,
die unsere Arbeitserfahrung verwandeln und fremdbestimmten Zwang zumindest teilweise in autonome Tätigkeit verwandeln können.
d. Körper und individueller Habitus
Rhythmische Arbeit steht immer in enger Verbindung mit dem Körper des Arbeitenden. Sie beruht auf einem körperlichen Habitus und einer Kompetenz, die
wir im Laufe von Arbeitsprozessen erworben haben und die wir oft am klarsten
spüren, wenn wir in den Flow rhythmischen Arbeitens geraten. Je größer unsere
Kompetenz für eine bestimmte Aufgabe ist, desto geschickter können wie die
Ansprüche der Arbeit spielerisch aufnehmen, den Arbeitsprozess für uns selbst
gliedern und körperliche Arbeitsbewegungen in eine Art spielerischen Tanz
verwandeln.
Die Grundlagen dafür werden in der allmählichen Formung eines körperlichen Habitus gelegt, für die gesellschaftliche Arbeitsteilung eine entscheidende
Größe ist. Regelmäßige Arbeit verändert uns auf je spezifische Weise. Die Wiederholung ähnlicher Bewegungen formt und strukturiert unsere Fähigkeiten
neu. Gerade spezialisierte körperliche Arbeit führt zur ungleichen Entwicklung
von Muskelgruppen; sie lässt Sehnen härter oder flexibler werden, schärft das
Gehör oder den Blick, privilegiert Koordination oder Stärke und Kraft oder Ausdauer. In diesem Prozess werden eine Art der Bewegung und oft ein bestimmter
24
Tim Ingold, The Perception of the Environment, London: Routledge 2000, 332.
78
Gregor Dobler
Rhythmus zu denjenigen, die uns am besten entsprechen und die sich natürlich
anfühlen. Auch das ist einer der Gründe, warum es sich gut anfühlt, unseren
eigenen Arbeitsrhythmus zu finden, und warum es schwierig sein kann, sich an
von außen festgelegte Rhythmen anzupassen: Wir können uns nicht mehr in der
Weise mit der Welt auseinandersetzen, die dem entspricht, der wir geworden
sind. Stattdessen erinnert uns jede Bewegung daran, dass Arbeit ein Ausdruck
unserer Nützlichkeit ist, nicht ein Beweis unserer Handlungsfähigkeit.
6. Arbeitslosigkeit
In der europäischen Geistesgeschichte sind die wohl paradigmatischen Mußesituationen Momente sporadischer Untätigkeit. Abseits der Arbeit erfahren
wir Freiheit von Zeitdruck, ohne dass sie zu Langeweile würde, erfahren Unbestimmtheit durch äußere Ziele, ohne dass sie in ein Gefühl von Sinnlosigkeit
umschlüge.
In diesem Aufsatz habe ich bisher Möglichkeiten geschildert, Muße in Arbeit zu
erfahren. Arbeit, die wir nach unserem eigenen Rhythmus durchführen und die
wir als unsere eigene, selbstbestimmte Tätigkeit verrichten, kann im Erleben auch
dann nahe an Muße sein, wenn die Zweckbestimmung der Arbeit im Hintergrund
präsent bleibt. So wie Muße außerhalb der Arbeit jederzeit durch die Erinnerung
an das Verstreichen der Zeit gestört werden kann (schon Hunger oder ein Blick
auf die Uhr können die konsekutive Zeit wieder in den Vordergrund unseres
Bewusstseins rücken), so kann auch die Aufmerksamkeit in der Arbeit sich leicht
wieder auf ihren äußeren Zweck verschieben. Je entfremdeter die Bedingungen
der Arbeit, desto häufiger und schneller werden wir im Normalfall daran erinnert
werden, dass unser Arbeitshandeln unter dem Diktat von Produktivität steht, und
werden die Möglichkeit verlieren, es als freie Tätigkeit zu erleben.
Was geschieht aber, wenn nicht die Arbeit allbestimmend wird, sondern die
freie Zeit? Im Dorf Odibo leben nicht nur Menschen, die in der Bauernarbeit ihre
Zukunft sehen. Die meisten jüngeren Frauen und Männer suchen nach Möglichkeiten, nicht nur ein tägliches Auskommen zu haben, sondern jenes Geld zu verdienen, das die Landwirtschaft nicht abwirft, und das für eine gleichberechtigte
Teilhabe an der namibischen Gesellschaft immer wichtiger wird. Viele von ihnen
haben längere Zeit in Windhoek oder einer anderen namibischen Stadt gelebt
und gearbeitet und sind, als sie die Arbeit verloren haben, nach einer Weile zu
ihren Verwandten aufs Land gezogen. Hier ist das Leben billiger, es gibt genug
Wohnraum, und es findet sich immer jemand, der etwa auf die Kinder junger
Frauen aufpasst. Die meisten dieser jungen Dorfbewohner sehen sich nicht als
Bäuerinnen und Bauern, sondern als temporär Arbeitslose, die nach einer Weile
durch Glück, Beziehungen oder Zufall eine Stelle bekommen und wieder in die
Stadt ziehen werden.
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
79
Das Muster der Arbeitsmigration zwischen dem Dorf, das Ort der familiären
Reproduktion und der Subsistenzproduktion ist, und der Stadt, die über die Arbeit Teilhabe am modernen Leben und Konsum ermöglicht, ist in Nordnamibia
schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden. Es wurde durch die
Passgesetze der Segregations- und Apartheidszeit künstlich reproduziert, die
für die im Dorf geborene namibische Mehrheitsbevölkerung die Erlaubnis, in
Städten zu leben, zumindest offiziell an eine stets temporär gedachte Arbeitsstelle knüpften. In diesem Muster haben sich heute die Vorzeichen umgekehrt:
Für die meisten jungen Menschen ist nicht mehr das Dorf, sondern die Stadt der
eigentliche Lebensmittelpunkt. Während bis mindestens in die 1960er Jahre die
Arbeitsmigration für die meisten jungen Männer eine Möglichkeit war, einen eigenen Haushalt auf dem Dorf zu gründen und in die Landwirtschaft zu investieren,25 sehen die jungen Arbeitslosen heute die Zeit auf dem Dorf als notwendige
Überbrückung und Vorbereitung eines zukünftigen sozialen Aufstiegs in der
Stadt. Entsprechend arbeiten die meisten von ihnen nur selten auf den Höfen
mit, in denen sie leben. Da auch Gelegenheitsarbeiten schwer zu finden sind,
sind sie den größten Teil des Tages damit beschäftigt, ihn vergehen zu lassen.
Damit verändert sich für sie die Frage der Rhythmisierung grundlegend. Ihr
Problem ist es nicht, fremdbestimmte Arbeit zu ihrer eigenen Sache zu machen,
sondern trotz der Abwesenheit äußerer Bestimmungen ihres Tageslaufs sich selbst
als sinnvoll und eigenständig Handelnde zu erfahren. Wie gestaltet man den Tag
und findet in ihm Sinn, wenn einem die äußere Struktur abhandengekommen ist?
Wir sind gewohnt, unsere Handlungsfähigkeit als Beweis unserer Selbstbestimmtheit zu erfahren. In aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt erleben wir uns
selbst als eine Größe, auf die es ankommt; als aktiv und in Grenzen autonom Handelnde. Wie können wir das Gefühl, dass es auf uns ankommt, bewahren, wenn
uns die alltäglich gewohnten Möglichkeiten praktischen Handelns wegbrechen?
Seit der klassischen Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal26 ist dieses
Thema in der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Arbeitslosigkeit sehr
präsent. Jahoda und Lazarsfeld haben gezeigt, dass nicht allein die ungewohnte
Armut die Arbeitslosen in der Fabriksiedlung Marienthal in Probleme stürzte. Es
überforderte sie, die ungewohnte Leere des Tages auszufüllen. Viele versuchten,
einen neuen regelmäßigen Tageslauf zu entwickeln, in dem etwa Gänge durch
die Stadt dabei helfen, die ungewohnte Leere auszufüllen. Ähnliche Erfahrung
machen nicht nur Fabrikarbeiter; zur gleichen Zeit thematisiert etwa Denis de
Rougemont im Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen seine Schwierigkeiten,
freie Zeit in Muße und erfüllende Arbeit umzusetzen, weil ihm die äußere Struktur des Arbeitstages und die Erfahrung des Gebrauchtwerdens fehlte.27 Alleine
25
Dobler, Traders and Trade; Kreike, Re-creating Eden.
Marie Jahoda / Paul Lazarsfeld / Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal, Leipzig:
Hirzel 1933.
27
Denis de Rougemont, Journal d’un Intellectuel au chômage, Paris: Albin Michel 1937.
26
80
Gregor Dobler
auf sich selbst und die eigene Fähigkeit zurückgeworfen zu sein, das Leben autonom zu gestalten, ist ungemütlicher, als es den Arbeitenden oft erscheinen mag.
Nicht nur entfremdete Arbeit, sondern auch ihre Abwesenheit kann Menschen die Strukturierungsmöglichkeit nehmen, die Voraussetzung für die Entstehung von Räumen der Muße ist. Nicht fehlende Selbstbestimmung der Arbeit
ist dann das Problem, sondern fehlende Partizipation an der Arbeitsgesellschaft
und damit verbunden fehlender Sinn alltäglichen Handelns. Diese Situation ist
in vielen Ländern des globalen Südens für das Leben einer wachsenden Zahl
junger Menschen bestimmend. In Namibia beträgt die offizielle Arbeitslosenquote 53 Prozent. Während die gut ausgebildeten und gut vernetzten Eliten
weiterhin sehr gut verdienen, hat ein großer Teil der Bevölkerung kaum eine
Chance, eine dauerhafte Arbeitsstelle zu finden. In anderen Ländern warten
selbst gut ausgebildete Universitätsabgänger oft jahrelang auf ihren Einstieg in
das Arbeitsleben.
Alcinda Honwana hat ihre Situation als „Waithood“ beschrieben – institutionalisiertes Warten darauf, dass sich, durch Glück, Beziehungen oder Gottes
Segen, die eigene Situation ändert.28 Ihr Leben ist häufig von Langeweile gekennzeichnet, und im Alltag changieren die Arbeitslosen zwischen Hoffnungslosigkeit und grundlosem Optimismus.29 Warten prägt einen immer größeren Teil
des Lebens einer immer größeren Anzahl von Menschen, denen zunehmende
Arbeitsteilung und globale Ungleichheiten die Möglichkeiten nehmen, ihr Leben
eigenständig zu gestalten, ohne dabei auf äußere Veränderungen ihrer Situation
angewiesen zu sein.30 „Waithood“ schafft dabei nicht nur das Problem gesellschaftlicher Teilhabe, sondern stellt auch ganz konkrete Anforderungen an die
Gestaltung des Tages. Wie gestaltet man das Warten darauf, dass sich etwas
ändert? Für indische jungen Männer ist „timepass“ zu einem eigenen Verb geworden, das einen Großteil ihres Tagesablaufs beschreibt: die Tätigkeit, die Zeit
zu vertreiben, während man darauf wartet, dass sich etwas ändert.31
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage, wie Arbeitslose im Norden Namibias ihre Tage gestalten, systematischeren Charakter. Können unproduktive
Wartezeiten, kann erzwungene Langeweile Möglichkeiten für Muße öffnen? Falls
ja, was unterscheidet sie von struktureller Leere eines Lebens in Wartestellung?
Nach Muße in der Arbeitslosigkeit zu fragen, verschiebt die Betonung in der
Untersuchung produktiver Unproduktivität. Während ich in der ersten Hälfte am
28 Alcinda Honwana, The Time of Youth: Work, Social Change, and Politics in Africa, Sterling:
Kumarian Press 2012.
29 Adeline Masquelier, „Teatime: Boredom and the temporalities of young men in Niger“, in:
Africa 83,3 (2013), 470–491; Daniel Mains, Hope is Cut: Youth, Unemployment and the Future
in Urban Ethiopia, Philadelphia: Temple University Press 2010.
30 Jean-Francois Bayart, Global Subjects: A Political Critique of Globalization, Cambridge:
Polity Press 2007.
31
Craig Jeffrey, Timepass: Youth, Class and the politics of waiting in India, Stanford, University Press 2010.
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
81
Beispiel der Arbeitsrhythmen gefragt habe, warum produktive Tätigkeit in der
Erfahrung nicht immer durch die Produktivität bestimmt ist, geht es nun um die
Frage, ob es sporadisch gelingt, unproduktiven Tätigkeiten so viel Produktivität
zuzuschreiben, dass sie sich in der Erfahrung von abwartendem zu erfülltem
Nichtstun wandeln.
Der Alltag von Arbeitslosen im Norden Namibias ist dabei grundsätzlich von
Erfahrungen geprägt, wie sie in der Literatur beschrieben werden: Sie haben zu
viel Zeit und versuchen, ihre Tage zu strukturieren, möglichst sinnvoll zu verwenden oder zumindest sich der Erfahrung von Sinnlosigkeit zu entziehen. Die
individuellen Formen des Umgangs mit Arbeitslosigkeit unterscheiden sich hier
stark. Im Folgenden beschreibe ich eher ein kulturelles und gesellschaftliches
Repertoire verschiedener Umgangsweisen, auf die einzelne Arbeitslose in ganz
unterschiedlicher Mischung zurückgreifen.
Zunächst gibt es auf dem Land eher als in der Stadt Möglichkeiten, mit anzupacken und in Arbeit Beschäftigung zu suchen. Junge Männer arbeiten dabei,
selbst wenn sie auf einem Hof leben, nur sehr selten bei den alltäglichen Aufgaben im landwirtschaftlichen Anbau mit; eher kümmern sie sich um das Vieh
von Verwandten (klassischerweise eher eine Männeraufgabe), reparieren Häuser
und Zäune oder roden Büsche im Feld. Auch junge Frauen aus der Stadt helfen
eher beim Kochen oder der Kinderbetreuung mit als bei der Feldarbeit. Nur
wenige suchen aktiv nach Möglichkeiten der Mitarbeit; viele lassen sich eher
widerwillig von den Haushaltsvorständen zu einer Arbeit verpflichten, die sie
nicht als die ihre ansehen.
Deshalb haben die meisten Arbeitslosen selbst auf dem Land jeden Tag viel
zu viel Zeit, die nicht durch äußere Zwecke verplant ist. Der Rhythmus ihrer
Aktivität unterscheidet sich oft sehr deutlich von den Tagesrhythmen ihrer Verwandten, die auf dem Hof arbeiten, aber auch von ihrem eigenen Rhythmus in
den Zeiten, in denen sie Arbeit haben.
Viele nutzen Schlaf oder Dämmerzustände des Ausruhens, um ihre Tage zu
strukturieren und zu verkürzen. Sie stehen später auf als sonst, schlafen in der
heißen Zeit des Nachmittags und verbringen manchmal halbe Tage in ihrer Hütte im Wechsel von Schlaf, Musikhören und ziellosen Gedanken. Solche Zeiten
haben wenig mit Muße zu tun, noch nicht einmal viel mit Erholung. Allenfalls
im Urlaub von der Arbeit in der Stadt beschreiben Menschen dieses dämmernde
Vergehenlassen der Tage als Erholung und Ausruhen, das neue Kräfte schenkt.
Die Arbeitslosen sehen diese Dämmerzustände eher als Notwendigkeit an, die
sie aber gleichzeitig von ihrer Umwelt und der aktiven Auseinandersetzung mit
ihr abschneidet. „Aber was will man hier auf dem Dorf schon machen? Wenn
Du nicht schläfst, sind die Tage noch langweiliger“, kommentierte ein junger
Mann lakonisch.
In den letzten Jahren sind solche privaten Rückzugszeiten auch zu Momenten
der Kommunikation geworden. Die große Mehrheit der Arbeitslosen im Dorf
82
Gregor Dobler
hat Zugang zu Handys und kann, solange das Guthaben reicht, über Whatsapp,
Facebook und SMS abwesende Freunde mit in den Tag holen, soziale Beziehungen fortführen oder zumindest simulieren und sich trotz des lähmenden Wartens
als zählender Teil der Gesellschaft wahrnehmen. Die Zeitstruktur dieser Kommunikation unter Abwesenden ist weniger förderlich für Muße als das Briefeschreiben früherer Jahrhunderte. Während das Schreiben von Briefen in einem
klaren Zeitabschnitt Selbstreflexion und Imagination voraussetzt und fördert,
verhindert die Form medialer Kommunikation namibischer Arbeitsloser das
Entstehen solcher Zeiträume eher. Die Nachrichten sind eher auf direkte Beantwortung angelegt als auf Selbstreflexion; ihr Rhythmus ist rascher, ihre Inhalte
kleinteiliger, und in ihrer Form beweisen sie eher die eigene Anwesenheit im
sozialen Feld als Individualität zu konstituieren.
Handykommunikation ist damit eher eine Form der Geselligkeit unter Abwesenden als ein Mittel der Selbstreflexion. Geselligkeit, ob medial vermittelt
oder nicht, ist überhaupt das wichtigste Mittel, das unklare Warten erträglich
zu machen und den Tag zu strukturieren. In den Zeiten, die nicht der Ruhe
und der medialen Kommunikation gewidmet sind, versuchen junge Arbeitslose vor allem, andere zu treffen, die in einer ähnlichen Situation sind. Solche
Treffen finden selten auf den Höfen selbst statt, die als private Räume angesehen
werden und in denen die Haushaltsvorstände mehr zu sagen haben als die jungen
temporären Gäste.
Fast alle Treffpunkte, die es gibt, sind Shebeens – kleine informelle Kneipen, in
denen vor allem Bier ausgeschenkt wird (entweder, als billigere Alternative, lokal
gebrautes Hirsebier, oder, teurer, aber beliebter, Flaschenbier namibischer oder
südafrikanischer Brauereien).32 Geselligkeit ist deshalb fast immer mit Alkoholkonsum verbunden. Man sitzt gemeinsam im Schatten vor dem Shebeen, lässt
Plastikgefäße mit lokalen Bier herumgehen oder teilt große Flaschen Brauereibier in Plastikbecher miteinander, redet von diesem und jenem und lässt
die Zeit verstreichen. Diese Form der Geselligkeit ist keineswegs auf Arbeitslose beschränkt; auch viele Bauern oder Mitglieder der ländlichen Elite – etwa
Lehrer, Händler oder Beamte – finden in diesen Treffpunkten ein oder zweimal
pro Woche sozialen Austausch über ihren Hof oder ihr Dorf hinaus. Für sie
können Shebeens zu Mußeorten werden, an denen Entspannung vom Alltag und
Zweckfreiheit sich mit dem wichtigsten Kommunikationsraum der politischen
dörflichen Öffentlichkeit verschränken. Für viele Arbeitslosen dagegen werden
Shebeens selbst zu Orten des Alltags. Auch Alkoholkonsum, der für sporadische
Shebeenbesucher ein außeralltägliches Verhältnis zur Welt markiert, greift für
viele Arbeitslose in den Alltag über.
32 Gregor Dobler, „License to drink. Between liberation and inebriation in northern Namibia“, in: Steven van Wolputte / Mattia Fumanti (Hg.), Beer in Africa. Drinking spaces, states and
selves, Münster: LIT 2010, 167–191; Dobler, Traders and Trade.
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
83
Aus diesem Alltag herausgehoben sind dann oft die Wochenenden, vor allem
die Freitag- und Samstagabende, an denen man sich in größeren, formelleren
Kneipen im Dorf und in naheliegenden Kleinstädten trifft. Anders als in den
Shebeens läuft hier meist laute Musik; im Satellitenfernsehen sind Fußballspiele
der europäischen Ligen zu sehen; Schüler, Arbeitslose und Mitglieder der lokalen
Elite treffen sich und markieren feiernd den Ablauf der Woche. Gegenüber den
ruhigen, ereignisarmen Nachmittagen im dörflichen Shebeen gewinnen diese
Abende eher den Charakter von Festen – laut, ereignisreich, sozial und schnell in
allgemeiner Betrunkenheit. Für viele junge Leute wird auch Sexualität an solchen
Abenden zum realen oder erträumten Ausweg aus der Tristesse des Alltags und
zu einer der wenigen Möglichkeiten, sich selbst zumindest temporär als selbstbestimmt zu erfahren.
Diese Muster des Alltags junger Arbeitsloser sind erwartbar und weit verbreitet. Sie stellen Versuche dar, mit der Unproduktivität im Alltag und der
Unproduktivität des Alltags zurechtzukommen; was ihnen zur Muße fehlt, sind
nicht Ruhe und Selbstbestimmtheit, sondern jene Handlungsmöglichkeit, die
Selbstbestimmung erst als Freiheit erlebbar macht. Wo Alltag von der Abwesenheit nützlicher Tätigkeit geprägt ist, ist eine solche Potentialität nicht leicht zu
erlangen. Am ehesten findet sie ihren Ort in klar abgegrenzten, durch sinnvolle
Tätigkeit gekennzeichneten sozialen Situationen, in denen auch der Produktivitätszwang nicht im Mittelpunkt steht.
Junge Männer besuchen manchmal andere bei ihrer Arbeit und sitzen eine
Weile bei einem Automechaniker oder Müller oder auch im Büro eines städtischen Angestellten, schauen ihm beim Arbeiten zu und unterhalten sich mit ihm.
Das bringt die Situation für beide Seiten näher an produktive Unproduktivität:
Für die Arbeitenden beweist es, dass die Arbeit nicht allein entscheidend ist, für
die Arbeitslosen lenkt die Binnenstruktur der Tätigkeit auch dann vom Warten
auf das Verstreichen der Zeit ab, wenn sie ihr nur zusehen.33
Junge Frauen flechten einander regelmäßig die Haare. Zu modischen Frisuren
gehören meistens künstliche Elemente, etwa elaborierte Zöpfe aus eingeflochtenem Echt- oder Kunsthaar, die oft mit Bändern oder Perlen verziert werden.
Solche Frisuren müssen regelmäßig erneuert werden. Wer dafür Geld hat, geht
dazu in einen der unzähligen kleinen Salons in den kleineren und größeren
Städten der Gegend; alle anderen flechten einander die Haare. Das geschieht oft
am Wochenende im Schatten und markiert die vielleicht klarste regelmäßige
Mußesituation im Leben junger arbeitsloser Frauen. Die Tätigkeit der Flechtenden wie das Nichtstun der Frisierten ist durch einen äußeren Zweck produktiv
gemacht. Dieser Zweck aber wird nicht als fremdbestimmt erlebt, sondern als
direkt mit der eigenen Person verbunden: es geht um Gestaltung und Schönheit.
Die Flechtende schafft langsam ein Werk; die Frisierte genießt es, umsorgt und
33
Dobler, „Arbeit und Muße“.
84
Gregor Dobler
gestaltet zu werden. Die Beschäftigung der Hände wie das Umsorgtwerden ermöglichen die konstruktive Erfahrung tätiger Ruhe.
7. Zusammenfassung
Muße in Arbeit beruht auf dem Außerkraftsetzen von Produktivitätslogik, nicht
auf ihrer Abwesenheit. Die Arbeit erhält ihren Sinn weiterhin aus der Produktivität, aber unsere Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr auf diese Zweckbestimmung. Damit öffnet das Zurücktreten der Produktionslogik im Erleben
einen Möglichkeitsraum, in dem wir unsere Tätigkeit als frei empfinden, obwohl
sie zweckgebunden bleibt.
Was Arbeitslosen fehlt, ist nicht die Möglichkeit des Nichtstuns, sondern
sinnstiftende Produktivität. Die Möglichkeit von Muße in der Langeweile des
arbeitslosen Alltags beruht deswegen darauf, dass bestimmte Zeiten aus dem
unstrukturierten Verstreichen des Tages herausgenommen werden. Die Geltung
der Sinnlosigkeit des abwartenden Alltags wird dann auf Zeit außer Kraft gesetzt.
Dadurch lässt sich in diesem Binnenraum so viel Handlungssinn gewinnen, dass
Zeit nicht mehr vertrieben werden und Zeitbewusstsein nicht betäubt werden
muss.
In beiden Fällen entsteht eine spezifische Zeitstruktur der Simultaneität. Der
Ablauf der Zeit kann dabei nicht außer Kraft gesetzt werden. Wir atmen auch
in der Muße weiter, werden mit der Zeit hungrig und leben auf unseren Tod zu;
Konsekutivität bleibt stets kopräsent. Auch der Eindruck von Simultaneität ist
als eine besondere Form des Bewusstseins für das Verstreichen der Zeit ja auf
dessen Kopräsenz angewiesen. Das Bewusstsein der Konsekutivität steht aber
nicht mehr im Vordergrund des Erlebens, sondern tritt in den Hintergrund des
Bewusstseins.
In der Arbeit, vor allem in entfremdeter Arbeit nehmen Arbeitende Gegenwart häufig als bloßen Schritt in einem zweckbestimmten Ablauf wahr; in der
Arbeitslosigkeit erscheint sie Arbeitslosen als zu überwindende Last. Rhythmen
der Arbeit und Strukturierungen des arbeitslosen Alltags helfen, beide mit einer
vom Vergehen der Zeit entlasteten Dauer zu ersetzen, die es möglich macht,
Gegenwart als Möglichkeit zu erleben.
Die Beschreibung von Muße als „produktive Unproduktivität“ ist also mehr als
nur eine paradoxe Figur. Sie ist die Bestimmung eines im Moment unbestimmt
gehaltenen Verhältnisses zwischen zwei Arten der Bewusstseinsspannung. Fehlt
eine der beiden Arten – die sinngebende Zweckbestimmung oder die möglichkeitsgebende Freiheit –, oder gerät eine der beiden situationsbedingt zu sehr in
den Vordergrund, so kippt das Erleben in die eine oder andere Richtung um.
Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes standen Möglichkeiten, das Verhältnis von
Produktivität und Unproduktivität zu gestalten. In der Arbeit steht normaler-
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus
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weise – durch ihren Charakter als Arbeit, aber auch durch ihre gesellschaftliche
Organisation – die Produktivität so stark im Mittelpunkt, dass das Gegenteil
erklärungsbedürftig ist. Rhythmen sind eine der Möglichkeiten, Arbeit zur eigenen, autonomen Handlung zu machen und damit einen Gegenpol zur Bestimmung durch die Zwecke zu schaffen. In der Arbeitslosigkeit entstehen zwar
Handlungsräume ohne äußere Zweckbestimmung, aber mit diesem Zweck fehlt
auch der Anstoß, in der konstruktiven Reaktion darauf die eigene Handlungsfähigkeit zu erfahren. Das muss durch klare Rahmungen und die Abgrenzung in
sich strukturierbarer sozialer Situationen überwunden werden.
Das bedeutet nicht, dass durch Rhythmisierungen oder Strukturierungen Arbeit oder Arbeitslosigkeit sich in Muße verwandeln würden. Die Abgrenzungen
und Übergänge zwischen ihnen sind aber weniger klar, als es zunächst erscheint.
Ihre Untersuchung kann deshalb die Voraussetzungen für Muße klarer machen.
Muße braucht einen erlebten Möglichkeitsraum, der durch eine spezifische Mischung residualer Produktivität und erlebter Freiheit von Bestimmungen charakterisiert ist, in der keine Seite völlig die Oberhand gewinnt. Die Mischung kann,
etwa im Studierzimmer des Poeten, durch äußere Rahmung gefestigt werden; sie
kann aber auch durch die Handlungsstruktur erzeugt werden. In entfremdeter
Arbeit wie in sinnentleerender Arbeitslosigkeit verstärken sich äußere Rahmung
und innere Handlungsstruktur gegenseitig; aber selbst dort behalten Menschen
Reste der Möglichkeit, sich in produktiver Unproduktivität als eigenständig und
frei Handelnde zu erfahren.