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Dummheit Und Witz Bei Kant

2009, Monströse Ordnungen

Abstract

ke u nd der Abg rund des Nichtwissens Als Kant in den Prologomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) behauptete, erst die Erinnerung an David Hume sei dasjenige gewesen, was »vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach« (V, 118) 1 , stellte er die Geburt der kritischen Philosophie zugleich als das Erwachen aus einem bösen Traum dar, der bisher alle metaphysischen Bemühungen scheitern ließ. Der Schlaf der Vernunft, von dem auch 1799 Goya bekanntlich annahm, er würde Monster gebären, 2 schien die Philosophie fest im Griff zu haben, und selbst ein so kluger Kopf wie Kant erklärt rückblickend, lange Zeit im dogmatischen Schlummer gelegen haben. Dass Hume den Schlummer nur unterbrechen konnte, lässt allerdings den Schluss zu, dass der Schlaf der Vernunft bis in das Herz der kritischen Philosophie reichen könnte. Auch die kritische Philosophie, so die Vermutung, beherbergt in ihrem Innern Monster. Kants Äußerungen zu Hume setzen ihn in ein zwiespältiges Verhältnis zur Tradition des englischen Empirismus überhaupt. Auf der einen Seite ist Kant bereit, in den Arbeiten John Lockes und David Humes einen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie anzuerkennen. Auf der anderen Seite urteilt er über Hume: Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden. (V, 115) 1 Immanuel Kant: »Werkausgabe«, Bd. V: »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1974, S. 118. Im Folgenden gibt im Text die römische Ziffer den Band, die arabische die Seitenzahl an. 2 Vgl. den Beitrag von Anja Lemke über »Zwitterhafter Zeichenmonster in Goyas ›Caprichos‹« in diesem Band.

DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT ACHIM GEISENHANSLÜKE 1 . Jo hn L o c k e u n d d e r A b g r u n d d e s N i c h tw i ss e n s Als Kant in den Prologomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) behauptete, erst die Erinnerung an David Hume sei dasjenige gewesen, was »vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach« (V, 118)1, stellte er die Geburt der kritischen Philosophie zugleich als das Erwachen aus einem bösen Traum dar, der bisher alle metaphysischen Bemühungen scheitern ließ. Der Schlaf der Vernunft, von dem auch 1799 Goya bekanntlich annahm, er würde Monster gebären,2 schien die Philosophie fest im Griff zu haben, und selbst ein so kluger Kopf wie Kant erklärt rückblickend, lange Zeit im dogmatischen Schlummer gelegen haben. Dass Hume den Schlummer nur unterbrechen konnte, lässt allerdings den Schluss zu, dass der Schlaf der Vernunft bis in das Herz der kritischen Philosophie reichen könnte. Auch die kritische Philosophie, so die Vermutung, beherbergt in ihrem Innern Monster. Kants Äußerungen zu Hume setzen ihn in ein zwiespältiges Verhältnis zur Tradition des englischen Empirismus überhaupt. Auf der einen Seite ist Kant bereit, in den Arbeiten John Lockes und David Humes einen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie anzuerkennen. Auf der anderen Seite urteilt er über Hume: Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden. (V, 115) 1 2 Immanuel Kant: »Werkausgabe«, Bd. V: »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1974, S. 118. Im Folgenden gibt im Text die römische Ziffer den Band, die arabische die Seitenzahl an. Vgl. den Beitrag von Anja Lemke über »Zwitterhafter Zeichenmonster in Goyas ›Caprichos‹« in diesem Band. 618 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Kant bedient sich in seiner Charakterisierung Humes der »absoluten Metapher«3 des Lichts, das im Zeitalter der Aufklärung unbestritten als Zeichen für die Erkenntnisfunktion des Subjekts gilt: Funken und glimmernder Zunder stehen in Kants Aussage für den Anspruch der Philosophie ein, kraft der Macht des Verstandes ein Gebiet zu erhellen, in dem vorher ein vollständiges Dunkel zu herrschen schien. Die Aufklärungsmetaphorik des Lichts, die Kant in den Prologomena bemüht, spielt schon bei dem Geburtsvater der empirischen Philosophie eine zentrale Rolle. Der dunkle Bereich, in den John Locke in seinem Versuch über den menschlichen Verstand aus dem Jahre 1690 vorstoßen möchte, ist »das Allerheiligste der Eitelkeit und Unwissenheit«.4 Die Kritik an den angeborenen Ideen, die Lockes Unterfangen zu der auch von Kant gewürdigten Überwindung des cartesianischen Rationalismus hat werden lassen, führt zu einer Neubestimmung des intuitiven Wissens, das für Locke »die klarste und sicherste«5 Erkenntnis ist, »unwiderstehlich«,6 »wie der helle Sonnenschein«.7 Locke lobt die Intuition, da allein sie sichere Erkenntnis ermögliche. Über den menschlichen Geist schreibt er: »Er läßt keinerlei Spielraum für ein Schwanken, Zweifeln oder Prüfen«.8 Um die Reichweite des Geistes zu bestimmen, unterscheidet Locke zwischen dem intuitiven und dem demonstrativen Wissen, das er zugleich als Scharfsinn bezeichnet. Während das intuitive Wissen einen direkten Zugang zu den Ideen findet, ist das demonstrative Wissen darauf angewiesen, scharfsinnig Zwischenideen zu konstruieren, um zur Erkenntnis zu gelangen. Zwar bleibt das demonstrative Wissen im Vergleich zur Intuition defizient: Es »fehlt ihr oft ein Teil von der strahlenden Augenscheinlichkeit und der vollen Gewißheit, die die Erkenntnis, die ich intuitive genannte habe, immer aufweist.«9 Trotzdem lässt Locke auch das demonstrative Wissen gelten. Um den Unterschied von intuitivem und demonstrativem Wissen zu erläutern, rekurriert er auf 3 4 5 6 7 8 9 Als »absolute Metaphern« bezeichnet Hans Blumenberg solche, die nicht bloß Restbestände auf dem Weg vom Mythos zum Logos sind, sondern zum Grundbestand der philosophischen Sprache gehören. ›Licht‹ zählt zweifellos zu den absoluten Metaphern. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main 1998, S. 10. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I: Buch I und II, Hamburg 2006, S. 12. Ders.: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. II: Buch III und IV, Hamburg 1988, S. 175. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 178. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 619 das Bild von Spiegeln, die sich zwar immer weiter vom Ursprung der Ideen entfernen, aber dennoch Erkenntnis einfangen können. Intuition und Demonstration verkörpern für Locke im Unterschied zu Glauben und Meinen, die kein Wissen im strengen Sinne des Wortes garantieren können, verschiedene Grade der Erkenntnis, die dem menschlichen Geist möglich sind. In dem Maße, in dem Locke allein Intuition und Demonstration als Grundlagen des Wissens anzuerkennen bereit ist, zieht er dem Bereich des menschlichen Wissens zugleich eine enge Grenze. Im vierten und abschließenden Buch seiner Abhandlung, das sich dem Wissen und der Wahrscheinlichkeit widmet, vertritt Locke die grundsätzliche These, »daß der Umfang unseres Wissens nicht nur hinter der Realität der Dinge, sondern sogar hinter dem Umfang unserer eigenen Ideen zurückbleibt«,10 da die Wahrnehmung, die auf Intuition und Demonstration beruht, nicht alle Ideen gleichermaßen erfassen könne. Locke folgert daher, »daß unsere Erkenntnis niemals alles umfassen würde«11. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu einer grundsätzlichen Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen: Da unser Wissen, wie ich gezeigt habe, ziemlich beschränkt ist, werden wir vielleicht über den jetzigen Zustand unseres Geistes ein wenig Licht erhalten, wenn wir einmal nach der dunklen Seite blicken und unsere Unwissenheit überschauen. Diese ist nämlich unendlich viel größer als unser Wissen. Es dürfte daher zur Beilegung von Streitigkeiten und zur Erweiterung nützlicher Kenntnisse wesentlich beitragen, wenn wir erst einmal feststellten, wie weit wir klare und deutliche Ideen besitzen, und unser Denken danach auf die Betrachtung derjenigen Dinge beschränkten, die für unsern Verstand erreichbar sind. Das wäre uns weitaus dienlicher, als daß wir in der Anmaßung, daß nichts unsere Fassungskraft übersteige, auf jenen Abgrund von Finsternis hinaussteuern, wo wir keine Augen zum Sehen und keine Fähigkeiten zum Wahrnehmen besitzen. Um uns von der Torheit einer solchen Selbstüberschätzung zu überzeugen, brauchen wir übrigens gar nicht weit zu gehen. Wer irgendetwas weiß, weiß vor allem, daß er nicht lange nach Beweisen für seine Unwissenheit zu suchen braucht. Die gewöhnlichsten und selbstverständlichsten Dinge, mit denen wir es zu tun haben, besitzen ihre dunklen Seiten, in die der größte Scharfblick nicht einzudringen vermag. Der klarste und umfassendste Verstand denkender Männer findet sich vor jeder Partikel der Materie am Ende seiner Kunst.12 Wie Kants aufklärerische Bemühungen in den Prologomena, so ist auch Lockes Darstellung ganz von dem metaphorischen Gegensatz zwischen 10 Ebd., S. 187. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 205. 620 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Licht und Finsternis bestimmt. Nicht auf dem Licht der Vernunft aber liegt der Akzent, sondern auf der dunklen Seite des Nichtwissens. Zwar besteht das Ziel seiner Ausführungen in der Sicherung der Möglichkeiten des Wissens. Die Akzentuierung des Dunkels mahnt jedoch zur Selbstbescheidung der Philosophie: Klare und deutliche Ideen, so Locke, können nur dort erlangt werden, wo der Verstand des Menschen auch hinreicht. Sinnlos wäre es entsprechend, direkt auf »den Abgrund von Finsternis« hinauszusteuern. Den Ausgangspunkt seiner grundsätzlichen Überlegungen bildet jedoch die Einsicht, dass das Nichtwissen »unendlich viel größer als unser Wissen« ist. Mangel an Ideen sei der Grund für die fundamentale Erfahrung der Unwissenheit, die das menschliche Erkenntnisvermögen trübe und in seiner Reichweite beschränke. In ähnlicher Weise argumentiert in der Nachfolge Lockes auch David Hume, wenn er 1748 in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand feststellt: Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen und empfängt als solches seine eigentümliche Speise und Nahrung von der Wissenschaft. Aber so eng sind die Schranken des menschlichen Verstandes, daß weder von der Ausdehnung noch von der Sicherheit seiner Errungenschaften auf diesem Gebiet viel Befriedigung erhofft werden kann.13 Hume, der »die erstaunliche Unwissenheit und Schwäche des Verstandes«14 hervorhebt, kommt daher zu einer ähnlichen Einschätzung des Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen wie Locke: Die vollkommenste Naturwissenschaft schiebt nur unsere Unwissenheit ein wenig weiter zurück, wie vielleicht die vollkommenste Geisteswissenschaft nur dazu dient, weitere Gebiete unserer Unwissenheit aufzudecken.15 Die Aufgabe der Philosophie, die Hume in der »Betrachtung der menschlichen Blindheit und Schwäche«16 erkennt, besteht zu wesentlichen Teilen in der Feststellung der eigenen Unwissenheit. Mit jedem Erkenntnisfortschritt setzt die Philosophie weitere Gebiete der Unwissenheit frei. Wie Locke hervorhebt, ist es daher grundsätzlich sinnvoll, den Umfang des Wissens dadurch zu bestimmen, dass er in ein Verhältnis zum ihn übergreifenden Reich des Nichtwissens gesetzt wird. Der Grund dafür liegt nicht allein in der räumlichen Ausdehnung des Nichtwissens, die über 13 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1993, S. 6. 14 Ebd., S. 92. 15 Ebd., S. 41. 16 Ebd. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 621 die des Wissens hinausreicht, sondern in dem prinzipiellen Verhältnis, das Wissen und Nichtwissen zueinander einnehmen. Denn von der strahlenden Augenscheinlichkeit des intuitiven Wissens lässt sich das Nichtwissen niemals vollständig erleuchten. Im Gegenteil: Dort, wo das Wissen wächst, verschwindet das Unwissen nicht einfach, es wächst mit.17 Der entscheidende Punkt in Lockes Argumentation ist die resignative Einsicht, dass der Bereich des Nichtwissens immer größer sein wird als der des Wissens. Wenn Ideenmangel den Grund für die Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntniskraft ausmacht, »dann enthüllt sich uns ein ungeheurer Abgrund von Unwissenheit«.18 Über diesen vermerkt Locke, »daß diese Ursache der Unwissenheit nahezu die gesamte intellektuelle Welt für uns in ein undurchdringliches Dunkel hüllt.«19 Die Fackel der Vernunft, mit deren Hilfe das aufklärerische Denken Licht in das Dunkel des Nichtwissens bringen will, setzt die Finsternis als eine Totalität voraus, in die sie nur punktuell eindringen kann. Locke beschränkt seine Einsicht in die Grenzen des Wissens zwar auf die traditionelle Definition von Wahrheit als Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideen mit dem Bewusstsein und den damit verbundenen Graden von Klarheit und Dunkelheit des Denkens. Seine metaphorische Darstellung eines finsteren Abgrundes des Nichtwissens, aus dem sich kleine Inseln des Wissens erheben, lässt sich aber dahingehend verstehen, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, den bekannten Bereich des Wissens auf den unbekannten, offenen Bereich des Nichtwissens zu beziehen, um überhaupt einen Fortschritt in der Erkenntnis erlangen zu können. Die Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft erläutert Locke im weiteren Verlauf seiner Argumentation an einem treffenden Beispiel: an dem des »Idioten«: Wenn ich behaupten wollte, daß gewisse Idioten, die volle vierzig Jahre gelebt haben, ohne einen Schimmer von Vernunft zu zeigen, ein Mittelding zwischen 17 Der Soziologe Peter Wehling vertritt die These, »dass mit dem Wachstum des Wissens und aufgrund dieses Wachstums auch das Nichtwissen (über die Konsequenzen, Reichweite, Grenzen, Zuverlässigkeit des Wissens) zunimmt«. Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage, »wie die Wissensgesellschaft (auch) vom Gegenbegriff des Nichtwissens her gedacht werden kann«. Peter Wehling: Im Schatten des Wissens? Perspektiven einer Soziologie des Nichtwissens, Konstanz 2006, S. 17. 18 J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch IV (s. Anm. 3), S. 207. 19 Ebd., S. 211. 622 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Mensch und Tier darstellen, so würde man das möglicherweise für ein kühnes Paradox, vielleicht sogar für eine höchst gefährliche Unwahrheit halten.20 Das Problem, vor das sich Lockes Auseinandersetzung mit dem »Idioten« gestellt sieht, ist das der Benennung. Die Frage nach der Vernunft des »Idioten« verbindet sich mit der nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Sprache und Erkenntnis. Lockes erkenntnistheoretische Prämisse, dass alles Wissen auf Wahrnehmung von Ideen beruhe, führt zu einer scharfen Unterscheidung zwischen den Aufgaben der Erkenntnis und dem Prinzip sprachlicher Benennung. »Es kommt darauf an, dass wir die Idee, die wir betrachten, von dem Zeichen trennen, das ihr entsprechen soll.«21 Locke etabliert eine strikte Trennung zwischen dem erkenntnistheoretischen Bereich der Ideen und dem der Sprache, die zugleich seine Verurteilung der rhetorischen Kunst der Beredsamkeit begründet.22 Mit Blick auf das Beispiel des »Idioten« bedeutet dies, dass die widersprüchliche Vorstellung, Menschen und Tiere bezeichneten verschiedene Arten, durch die bestimmte Idee des »Idioten« als eines Menschen ohne Vernunft außer Kraft gesetzt wird. Die Bezeichnung »Idiot« erhält in Lockes Sinne daher seine volle Berechtigung: »Wenn nun Idioten ein Mittelding zwischen Mensch und Tier sein sollen, was sind sie dann? Ich antworte: Idioten.«23 Das Wort »Idiot« ist Locke zufolge vollkommen legitim, da es ein Wesen ohne Vernunft meine, das aber kein Mensch mehr sei, sondern ein Tier. Als hybrides Wesen, das sich im Zwischenbereich von Mensch und Tier verortet wird, ist Lockes »Idiot« zugleich ein Monster. Auf die hybride Natur des Monstrums hat Hans Richard Brittnacher in seiner Ästhetik des Horrors hingewiesen: »Im körperlichen Extremismus des Monstrums verschränken sich die Sphären des Menschlichen und des Tierischen und wird die Idee eines in Arten geordneten Tierreichs revoziert.«24 Während das Monstrum in seiner ursprünglichen Bedeutung als Omen für kommende Ereignisse in der Antike in der Nähe des Sakralen steht, markiert der moderne Begriff des Monstrums Brittnacher zufolge die prekäre Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem: 20 Ebd., S. 226. 21 Ebd., S. 224. 22 Zu Lockes Kritik der Rhetorik vgl. die kritische Analyse von Paul de Man: »Epistemologie der Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 414-437, hier: S. 414-425. 23 J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch IV (s. Anm. 3), S. 227. 24 Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt/Main 1994, S. 183f. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 623 »Es bestimmt und bedroht zugleich die Gattungsnorm Mensch.«25 In diesem Sinne verkörpert das Monstrum bei Locke eine bedrohliche Ordnung, die vom Gattungsbereich des Menschen strikt zu trennen ist. Den Einwand, auch der »Idiot« sei von vernünftigen Eltern gezeugt, weist Locke mit dem Vergleich ab, »mißgestaltete und verunstaltete Wesen«26 würden allerorts getötet, da man in ihnen nichts anderes als Monstren erkenne. Ein solches Monstrum sei eben auch der »Idiot«: Was ist dann jedoch euer faselnder, stumpfsinniger, eigensinniger Idiot? Soll ein körperlicher Mangel ein Monstrum ausmachen, wenn ein Defekt im Geiste – dem weit edleren, und, wie man gewöhnlich behauptet, weit wesentlicheren Teil – es nicht tut?27 In Lockes Augen ist der »Idiot« ein Monster auf der Schwelle zwischen Mensch und Tier. Was damit letztlich in Frage steht, ist die Bestimmung des Menschen mit Blick auf sein äußeres Erscheinungsbild. An die Stelle des physiognomischen Urteils über das Monster, demzufolge der »wohlgestaltete Idiot«28 aus jeder Kategorie herausfallen müsse, tritt die Idee des »Idioten«, die diesen als ein hybrides Wesen kennzeichnet, das alle Kriterien des Monströsen erfüllt. Mit dem »Idioten« findet Locke ein treffendes Beispiel für eine körperliche und geistige Form der Unwissenheit, in die das Licht der Vernunft selbst nicht hereinzudringen vermag. Die Bezeichnung des »Idioten« als Monstrum führt daher zu einer Trennung zwischen dem geistigen Anspruch der Vernunft und allen natürlichen oder kulturellen Formen, die dieser aufgrund ihrer außerordentlichen Beschaffenheit nicht erfassen kann. Was die Vernunft in diesem Bereich leisten kann, ist alleine eine sprachliche Klassifikation der unterschiedlichen Formen der Unvernunft auf der Basis der Benennung. Die Locke zufolge angemessene sprachliche Bezeichnung des »Idioten« als Zwischenwesen aus Mensch und Tier verweist diesen so an eine Ordnung des Monströsen, die sich auf der Schwelle von Wissen zu Nichtwissen errichtet. Eine beispiellose Ausprägung findet eine solche Ordnungstafel der Unvernunft nicht bei Locke selbst, sondern bei Kant, dessen scharfsinnige Bestimmung der Urteilskraft zugleich eine Vielzahl von defizienten Formen des Denkens erfasst, die jenen Grenzbereich verkörpern, in dem die schlafende Vernunft ihre Monstren gebiert. 25 26 27 28 Ebd., S. 184. J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch IV, S. 230. Ebd. Ebd. 624 | ACHIM GEISENHANSLÜKE 2 . S tu m p f e K ö p f e – H e l l e K ö p f e D u m m h e i t u n d W i t z b e i K an t Über die Urteilskraft des Menschen hält schon Locke in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand fest: »Für die Fälle, in denen ein klares und sicheres Wissen nicht zu erlangen ist, hat Gott den Menschen als Ersatz die Urteilsfähigkeit verliehen.«29 Das Urteil ist Locke zufolge der Grund für die Zustimmung oder Ablehnung eines Sachverhalts, zugleich aber Quelle von Irrtümern und Missverständnissen. Auch für Kant spielt das Vermögen der Urteilskraft eine zentrale Rolle im Prozess des Erkennens. In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant die Urteilskraft als das Vermögen ein, »unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegeben Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.« (III, 184) Zugleich merkt er an, dass Urteilskraft »ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.« (III, 184) Kant fährt weiter fort: »Daher ist diese auch das Spezifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann« (III, 184). Führt Kant den Begriff der Urteilskraft mit dem des Mutterwitzes eng, so definiert er die Dummheit in einer Fußnote zugleich als den Mangel an Urteilskraft: Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, so gar bis zur Gelehrsamkeit, auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdenn auch an jenem (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche der Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel blicken lassen. (III, 185) Kants Ausführungen sind in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Auf der einen Seite definiert er Dummheit durch den Hinweis auf einen Mangel – eben den an Urteilskraft –, der durch nichts auszugleichen sei. Auf der anderen Seite führt er den Gegensatz von Dummheit und Witz ein. Denn die Urteilskraft bildet die Grundlage des Witzes. Nicht die Klugheit verkörpert das Gegenprinzip zur Dummheit, es sei denn, man möchte unter Klugheit Witz verstehen, wie es im 18. Jahrhundert durchaus noch üblich war. Dass der Witz auf eine reiche Begriffsgeschichte zurückblicken kann, hat Otto F. Best herausgearbeitet. Best hält einleitend den Bedeutungsreichtum des Wortes Witz fest: 29 Ebd., S. 341. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 625 Das Wort »Witz« bezeichnet teils eine geistige Fähigkeit im Sinne von »er hat viel Witz«, teils kollektiv die Äußerungen solcher Fähigkeit: »der jüdische Witz«, teils eine einzelne Äußerung: ein guter, ein schlechter Witz.30 Wie Best deutlich macht, ist der Begriff des Witzes geschichtlichen Veränderungen unterworfen, die vom lateinischen ingenium bis zur eingeschränkten modernen Bedeutung des Scherzwortes führen. Die Geschichte des Witzbegriffes kommt demnach einer Abwertung des Wortes gleich, dessen Bedeutung sich von der einer grundlegenden geistigen Fähigkeit – auf die sich noch Kant bezieht – auf die des Scherzwortes reduziert. Wie immer der Begriff des Witzes zwischen ingenium und Scherzwort aber genau zu bestimmen ist: Worauf Kant Wert zu legen scheint, ist die Möglichkeit, Gelehrtheit und Dummheit in Einklang bringen zu können. Der Grund dafür liegt in seiner These, dass der Witz eben nicht gelernt werden könne, weil er auf ein besonderes Talent zurückgehe, über das man verfüge oder nicht. Schon Cicero hatte den Witz als eine Naturgabe des Menschen verstanden, die sich in kein System bringen lässt: »Gewinnend und besonders nützlich sind aber oft Witz und Humor; sie setzen allerdings, auch wenn sich alles andere systematisch lehren läßt, besondere Gaben der Natur voraus und brauchen kein System.«31 Kant knüpft an die rhetorische Bestimmung des Witzes als ingenium an,32 um ihr zugleich eine kritische Wendung abzugewinnen. Ihm geht es darum, zwischen der erlernbaren Gelehrsamkeit und der Naturgabe des Witzes als dem richtigen Gebrauch der Urteilskraft zu unterscheiden. Ein schlagendes Beispiel für die Notwendigkeit der Unterscheidung von Gelehrsamkeit und Witz gibt er in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) . Hier stellt es fest: »Unwissenheit ist nicht Dummheit: wie eine gewisse Dame auf die Frage des Akademikers: ›Fressen die Pferde auch des Nachts?‹ erwiderte: ›Wie kann doch ein so gelehrter Mann so dumm sein?‹ (XII, 516) Auch wenn Kant Unwissenheit und Dummheit unterscheiden möchte: Der Akademiker erscheint in den Augen der Dame von Welt als ein Dummkopf, dessen Leistungen allenfalls in seinem Spezialgebiet anzuerkennen sind – ein Bild, das bis heute zahlreiche Gelehrtensatiren genährt und zu der weit verbreiteten Meinung geführt hat, dass geniale Wissenschaftler zumeist lebensferne ›Trottel‹ 30 Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, Darmstadt 1989, S. 2. 31 Cicero: De oratore. Über den Redner. Übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1976, S. 345. 32 Vgl. Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und ingenium, München 2007. 626 | ACHIM GEISENHANSLÜKE seien, die zwar die chemische Zusammensetzung der Buttersäure erklären können, außerhalb ihrer wissenschaftlichen Laboratorien aber in jedes Fettnäpfen treten, das sich ihnen bietet. Das Bild des weltgewandten Wissenschaftlers hat jedenfalls Seltenheitswert, und noch Robert Musil fragt sich im Mann ohne Eigenschaften, warum der moderne Wissenschaftler nicht auch äußerlich dem Bild des von ihm repräsentierten technischen Fortschritts zu entsprechen versuche. »Warum gefällt es ihnen, Busennadeln mit Hirschzähnen oder kleinen Hufeisen in ihre Halsbinden zu stecken? Warum sind ihre Anzüge so konstruiert wie die Anfänge des Automobils?«33 Über die rhetorische Bestimmung des Witzes als ingenium hinaus weist Musil auf die ästhetische Bedeutung des Witzes hin. Während der akademisch Gelehrte sich im landläufigen Sinne als dumm erweisen kann, ist derjenige, der mit Witz begabt ist, notwendig ein kluger, im ästhetischen Sinn eleganter, wenn auch nicht unbedingt analytischer Kopf. Die Gegenüberstellung von Dummheit und Witz zwingt Kant daher dazu, im Kontext der die kritische Philosophie leitenden Verhältnisbestimmung von theoretischen, ethischen und ästhetischen Prämissen ein ganzes Kaleidoskop von Witzlingen und Dummköpfen zu erstellen, ein Herbarium der besonderen Art, das nicht in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wird, sondern im früheren Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764). 3 . F i g u r a ti o n e n d e r D u m m he i t : D u m m k ö p f e , T o r e n , N ar r e n u n d W a h n s i n n i g e i m V e r s u c h ü be r d i e K r a n k h e i t e n d e s K o p f e s Der Versuch über die Krankheiten des Kopfes ist der erste Text, in dem sich Kant systematisch mit dem Phänomen der Dummheit beschäftigt. Er bereitet die Definition von Dummheit als Mangel an Urteilskraft vor, auf der die Kritik der reinen Vernunft (1781) und die Anthropologie aufbauen. Im Rahmen seiner grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Vernunft erstellt Kant einen ganzen Katalog von Unterscheidungen, der nicht nur auf den Scharfsinn und Witz des eigenen Unterfangens hinweist, sondern zugleich die Grundlage für die späteren Klassifikationen der Dummheit in der Anthropologie bildet. Wie Kant einleitend schreibt, geht es ihm um »eine kleine Onomastik der Gebrechen des Kopfes« (II, 888), eine artistische Namenskunde, die so vielfältige Begriffe kennt wie die Dummheit und die Schelmerei, den stumpfen Kopf, 33 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 38. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 627 Tropf, Einfaltspinsel, den Toren und den Narren, den Blödsinnigen und das gestörte Gemüt, den Wahnsinn, Wahnwitz und Aberwitz, den Verrückten und den Phantasten, den Hypochonder und den Melancholiker, den Enthusiasten und den Fanatiker, Schwärmer oder Visionär, die Unsinnigkeit, Raserei, Tobsucht und Tollheit. Aus diesem schier unerschöpflichen Vorrat an Formen geistiger Mangelerscheinungen schöpft Kant, um die Aufgabe der Philosophie als eine Diätetik des Gemüts und ärztliche Kur der Narrheit darzustellen, was freilich voraussetzt, dass der Arzt selbst von den Gebrechen frei ist, die zu kurieren er sich vorgenommen hat. Dumm, einfältig, närrisch und töricht, so lässt sich Kants Ausführungen entnehmen, sind immer nur die anderen. Was aber, wenn der Arzt selbst von der Krankheit infiziert ist, die er kurieren möchte? Die Frage nach der Ansteckungsgefahr, die von der Dummheit ausgeht, scheint Kant zunächst fern zu liegen.34 Der Nachweis, wie tief die Dummheit in das Hoheitsgebiet der Philosophie eingreifen kann, bleibt den späteren Untersuchungen im Rahmen der ästhetischen Bestimmung der Urteilskraft vorbehalten. Kants Ausführungen im Versuch über die Krankheiten des Kopfes beginnen gleichwohl mit einem zart angedeuteten Lob der Dummheit. Er bemerkt, dass »jedermann weit eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die gute Eigenschaft des Willens ist« (II, 887), so dass die Wahl zwischen Dummheit und Schelmerei jedes Mal gleich ausfalle, da es niemandem gefallen könne, in der Öffentlichkeit als Dummkopf zu gelten. Die Kontur eines zwar einfältigen, gerade aufgrund seiner Einfalt aber im moralischen Sinne guten Menschen, skizziert Kant, um die eigenen Ausführungen von vornherein zu relativieren: Ihm geht es um eine Diagnostik der Krankheiten des Kopfes und weniger um eine moralische Rosskur, die aus den Verlegenheiten des Geistes ein für allemal heraushelfen könnte. Den Ausgangspunkt von Kants Überlegungen bildet – wie später in der Kritik der reinen Vernunft – der Gegensatz von Dummheit auf der einen und Witz und Verstand auf der anderen Seite: »Der stumpfe Kopf ermangelt des Witzes, der Dummkopf des Verstandes.« (II, 888) Im Versuch über die Krankheiten des Kopfes bezieht Kant die Dummheit nicht auf den Zusammenhang von Witz und Urteilskraft, sondern auf den Verstand. Er präzisiert seine Unterscheidung mit Blick auf die Besonderheiten des Witzes: 34 In ihrer Untersuchung zur Dummheit bemerkt Avital Ronell, »stupidity is often felt to be contagious«. Avital Ronell, Stupidity, Illinnois 2002, S. 55. 628 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Die Behendigkeit, etwas zu fassen und sich zu erinnern, imgleichen die Leichtigkeit, es geziemend auszudrücken, kommen gar sehr auf den Witz an; daher derjenige, welcher nicht dumm ist, gleichwohl sehr stumpf sein kann (II, 888). Im Unterschied zur ersten Kritik bezieht Kant die Dummheit unmittelbar auf den Verstand, den stumpfen Kopf aber auf die Urteilskraft als Grundlage des Witzes. In der gleichen Weise verfährt er in der Anthropologie, wo er festhält: »Dem es an Witz mangelt, ist der stumpfe Kopf (obtusam caput).« (XII, 515) Der stumpfe Kopf und der Dummkopf gelten ihm als unterschiedliche Ausprägungen eines fundamentalen Mangels, der die menschliche Verstandeskraft in ihrem Fortgang behindere. Auf eine keineswegs selbstverständliche Weise, die in der Folge jedoch Schule gemacht hat, definiert Kant Dummheit als eine Mangelerscheinung, als Abwesenheit von etwas. So bestimmt auch Jean Paul im Anschluss an Kant die Dummheit als einen spezifischen Mangel: »Der Dummkopf hat sich am meisten über den Mangel der Einbildungskraft zu beklagen.«35 Den Gegensatz des Dummkopfes erblickt Jean Paul im Unterschied zu Kant nicht im philosophischen Begriff des Verstandes, sondern im ästhetischen Begriff des Genies: »Eine feurige Einbildungskraft ist die sicherste Anlage zum Genie; eine untätige und tode das sicherste Kennzeichen der Dum[m]heit.«36 Jean Pauls Lob des Witzes kann sich auf die enge Beziehung berufen, die zwischen den Naturgaben des Witzes und des Genies bestehen. In Jean Pauls wie in Kants Ästhetik rückt das Genie in die Position des Witzes als Gegenteil der Dummheit. In diesem Sinne mangelt es dem stumpfen Kopf an Urteilskraft, dem Dummen hingegen an Verstand. Witz dagegen ist Auffassungsgabe und Ausdrucksfähigkeit in einem. Während der stumpfe Kopf nicht witzig sein kann, lässt Kant die Möglichkeit im Falle des Dummen offen: Denkbar ist seiner Meinung nach, dass jemand Verstand genug besitzt, diesen aber nicht angemessen zur Geltung bringen kann. Kant beruft sich auf das Beispiel des Jesuiten Clavius, der auf der Schule aufgrund seiner mangelnden sprachlichen Fertigkeiten zunächst als Dummkopf galt, bis sich seine herausragende mathematische Begabung erwies. Ihre volle Bedeutung entfaltet Kants These über den Zusammenhang von Dummheit und Witz aber wiederum in moralischen Fragen, wenn es um die Gegenüberstellung von Verschmitztheit und Einfalt geht. Der »liebenswürdige Mangel dieser so sehr gepriesenen Fähigkeit« (II, 889), so Kants Definition der Einfalt als Abwesenheit von Verschmitztheit, rückt den moralisch guten Menschen zwar in eine gefährliche Nähe zum Tropf und Einfaltspinsel, 35 Jean Paul: »Von der Dummheit«, in: Sämtliche Werke, Abt. II., Bd. 1.: Jugendwerke I, München 1974, S. 268. 36 Ebd. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 629 der sich durch eine nicht bloß habituelle, sondern dauernde Schwäche der Urteilskraft auszeichnet. Das Leitbild von Kants Kritik des Witzes bleibt aber derjenige, der zu dumm ist, um sich der unlauteren Mittel einer moralisch nicht kontrollierbaren Urteilskraft zu bedienen. Einfalt, in ihrer grundsätzlich positiven Bedeutung zu Kants Zeiten als »Blödigkeit«37 bezeichnet, zeichnet sich demnach durch den völligen Verzicht auf alle Kunstmittel des Verstandes aus, die dazu dienen könnten, den eigenen Vorteil zu sichern. Nicht der kluge Weltmann, der sich nach Balthasar Gracían durch die Kraft der prudentia auszeichnet, entspricht Kants Ideal, sondern der im moralischen Sinne gute Mensch Rousseaus, der auch dann nicht als Dummkopf gilt, wenn er den Anforderungen des Witzes nicht gerecht werden kann.38 Aber nicht allein auf das Phänomen der Dummheit richtet Kant seine Aufmerksamkeit im Versuch über die Krankheiten des Kopfes. Er wendet sich zugleich der Torheit zu, die er als den »Zustand der gefesselten Vernunft« (II, 889) definiert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Gegensatz zwischen Leidenschaft und Vernunft, der nicht nur das negative Menschenbild der französischen Klassik bestimmte, sondern auch auf der zeitgenössischen Bühne von Lessing bis Schiller eine neue Ausprägung erfuhr. Der Tor ist nach Kants Auffassung durchaus verständig, nur wird er von einer Leidenschaft beherrscht, gegen die die Verstandeskraft nichts ausrichten kann. Nur der Wille der Vernunft wäre dazu in der Lage, gerade er aber wird von der Leidenschaft beherrscht und in Fesseln gelegt. Als Beispiel der Torheit zitiert Kant zunächst die bühnenwirksame Liebesleidenschaft, dann aber auch Baugeist, Bilderneigung und Büchersucht. In jedem Fall ist es ein Exzess der Leidenschaft, der die Torheit begründet, kein Mangel, sondern ein Überschuss, der die Vernunft außer Kraft setzt. Schon Erasmus von Rotterdam hatte die Torheit in diesem Sinne als Tochter Plutos, des Reichtums,39 eingeführt und damit angedeutet, dass ihr Wesen der Verschwendung zuneige: Genährt wird die Torheit von der Bacchustochter Methe, der Trunkenheit, und der Tochter des Pans Apaedia, der Beschränktheit. Durchaus noch in der Tradition der Frühen Neuzeit stellt Kant der Torheit daher die Weisheit entgegen: »Dem Toren ist der gescheute Mann entgegengesetzt; wer aber ohne Torheit ist, ist ein Weiser.« (II, 890) Mit der Entgegensetzung von Torheit und Weisheit partizipiert Kant allerdings zugleich an einem Pro37 Vgl. Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. 38 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Kritik der Verstellung bei Rousseau und Kant Achim Geisenhanslüke: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006. 39 Vgl. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Stuttgart 1949, S. 10. 630 | ACHIM GEISENHANSLÜKE blem, das schon das Denken der Frühen Neuzeit beherrschte: Während die Torheit und die ihr benachbarte Narrheit eine ganze Fülle von sinnlich fassbaren Figuren ausprägen, bei Erasmus etwa Eigenliebe, Schmeichelei, Vergessen, Trägheit, Vergnügen, Ergötzen, Ausgelassenheit und Siebenschläfer,40 kann die Weisheit nur negativ als Abwesenheit der Torheit bestimmt werden. Kants These, Dummheit sei im Wesentlichen durch eine Form des Mangels gekennzeichnet, erweitert sich gerade auf ihren Gegenbegriff: Die Torheit geht auf das Zusammenspiel von rauschhaftem Überfluss und Beschränktheit zurück, auf ein Zuviel an Leidenschaft, während die Weisheit in der Negation verbleibt. Die einzige Bestimmung, die sich zur positiven Kennzeichnung der Weisheit anbietet, ist der Anspruch auf die eigene Vernunftbestimmtheit. Der Weise – so wird aus Kants Ausführungen deutlich – zeichnet sich dadurch aus, dass er die Überwältigung durch die Leidenschaften vermeidet, indem er die Vernunft walten lässt. Darin unterscheidet er sich zugleich vom Unempfindlichen, der nach Kant »durch seine Dummheit wider Torheit gesichert« (II, 890) sei: Dumm ist der Unempfindliche, weil er sich in Übereinstimmung mit der antiken Temperamentenlehre durch die gänzliche Abwesenheit der Leidenschaft als ein phlegmatischer Geist kennzeichnen lässt. Nicht die sinnliche Unempfindlichkeit des Phlegmatikers (die in der Kritik der Urteilskraft eine ungleich größere Rolle spielen wird) verkörpert im Versuch über die Krankheiten des Kopfes Kants Ideal, sondern die souveräne Beherrschung der Leidenschaft durch die Vernunft, die bereits Descartes in seiner Spätschrift über die Passions de l’âme (1649) gefordert hatte. Einen höheren Grad an Dummheit als der Tor, der an sich durchaus verständig sein kann und nur einer Leidenschaft unterliegt, verkörpert nach Kant der Narr. Im Unterschied zur Torheit als gefesselter Vernunft bestimmt Kant die Narrheit als »Zustand der verkehrten Vernunft« (II, 890). Er greift damit auf ein Motiv zurück, das seit Sebastian Brants Erfolgsbuch Das Narrenschiff (1497) bekannt ist. Im Narrenschiff wird die Figur der Narrheit durchgängig als eine innere Verkehrung der Weisheit dargestellt, der Brant in moralisch-pädagogischer Absicht den Spiegel vorhalten will: »Den Narrenspiegel ich dies nenne, / In dem ein jeder Narr sich kenne; / Wer jeder sei, wird dem vertraut, / Der in den Narrenspiegel schaut.«41 Schon zu Beginn seines Buches greift Brant auf die Entgegensetzung von Narr und Weisen zurück, um die Weisheit als überlegene Einsicht in das eigene Narrentum darzustellen: »Denn wer sich selbst als Narr eracht’t, / Der ist zum Weisen bald gemacht«42. Brants 40 Ebd., S. 12. 41 Sebastian Brant: Das Narrenschiff, Stuttgart 1998, S. 8. 42 Ebd. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 631 Narrenschiff liegt insofern ein Anspruch zugrunde, der auf vergleichbare Art und Weise auch Kant leiten wird: Durch die Vielfalt der Narrenfiguren, die das Buch vorstellt, soll der Leser zur Weisheit geführt werden, die zugleich nur negativ als Abwesenheit der Narrheit charakterisiert werden kann. Zwar lässt Sebastian Brant den Narren am Ende seines Buches in der Engführung mit der christlichen Figur des Sünders spektakulär Schiffbruch erleiden: Dieweilen ertrinken Narren viel, Sei der Weisheit Ufer unser Ziel, Jeder nehme das Ruder in die Hände, Damit er wisse, wo er lände; Wer klug ist, kommt ans Land mit Fug: Es gibt doch ohnedies Narrn genug! Der Klügste ist, wer selber wohl Weiß, was man tun und lassen soll, Den man nicht braucht zu unterweisen, Der Weisheit tut von selber preisen; Der ist auch klug, wer andre hört, Wenn man ihn Zucht und Weisheit lehrt; Wer aber davon allzumal Nichts weiß, gehört zur Narrenzahl.43 Brants Narrenschiff schließt mit einem generellen Lob der Weisheit. Gerade seine Allgemeinheit schränkt aber die Reichweite der Würdigung der Weisheit ein. Die gut gemeinte Aufforderung, dem Narrentum zu entsagen und sich der Vernunft zuzuwenden, strandet an der völligen Unbestimmtheit des zugrunde gelegten Weisheitsbegriffs. Der überwältigenden Anzahl von Narren, die Brant in seinem Buch vorstellt, steht mit dem Ideal des Weisen die Abwesenheit aller Narrheit als einzig mögliche Bestimmung der Vernunft gegenüber. Die ihm eigene Unbestimmtheit lässt den Weisen im Meer der Narren ertrinken. Scheint Kant in seiner Bestimmung des Narren im Versuch über die Krankheiten des Kopfes auch an Brant anzuschließen, so liegt der wesentliche Unterschied zwischen beiden Denkern in der Begründung des Narrentums und des Gegenkonzepts der Weisheit: Während Brant den Narren mit dem Sünder identifiziert, der gegen die christlichen Gebote verstößt, bezieht Kant die Narrheit auf das moralische Prinzip der Vernunft. Zwar nennt auch Kant die christlichen Kardinalsünden Hochmut und Geiz als Ursprung der Narrheit. Sie gelten ihm jedoch in ähnlicher Weise wie die Liebe als Leidenschaften, die die Vernunft nicht nur fes43 Ebd., S. 414. 632 | ACHIM GEISENHANSLÜKE seln, sondern in sich verkehren: Im Unterschied zum Toren ist sich der Narr über sein eigenes Handeln nicht im Klaren. Als Beispiel zitiert Kant Nero, der sich in völliger Selbsttäuschung befangen und gegen alle Evidenz vor allem als Dichter wissen haben wollte. Während der Tor von seiner Leidenschaft durchaus zu heilen ist, da sich nur ein Teil von ihm der Unvernunft überantwortet hat, sieht Kant für den Narren keine Rettung: »Man darf nicht gänzlich verzweifeln, daß ein Tor noch einmal gescheut werden könne, wer aber einen Narren klug zu machen gedenkt, wäschet einen Mohren.« (II, 891) Kants Ausführungen lassen Dummheit, Torheit und Narrheit zwar als Defizite des Verstandes und der Vernunft erscheinen, die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist aber begrenzt: Weder Dummkopf noch Tor oder Narr stellen eine Bedrohung für die menschliche Gemeinschaft dar. In einem zweiten Schritt leitet Kant dagegen zu den Formen der Krankheiten des Kopfes über, die nicht einfach als menschliche Schwächen hingenommen werden können, sondern juristische oder medizinische Maßnahmen erfordern. An den Beginn seiner Überlegungen stellt er die Unterscheidung zwischen der Ohnmacht, die er als Blödsinnigkeit definiert, und der Verkehrtheit, die er dem gestörten Gemüt zuordnet. Die Blödsinnigkeit bestimmt Kant als »Ohnmacht des Gedächtnisses, der Vernunft und gemeiniglich auch so gar der sinnlichen Empfindungen« (II, 892), ohne ihr allerdings weiter nachzugehen. Kant konzentriert sich vielmehr auf diejenige Krankheit, die er das gestörte Gemüt nennt. In seiner Klassifizierung folgt er der allgemeinen Einteilung der Gemütskräfte in sinnliche Erfahrung, Urteilskraft und Verstand sowie Vernunft. Die Verkehrtheit der sinnlichen Erfahrung nennt er Verrücktheit, die der Urteilskraft und des Verstandes Wahnsinn, die der Vernunft Wahnwitz. Die Verrückung bezieht er im Wesentlichen auf den Zusammenhang von Schlaf und Traum. Wie Kant ausführt, geschieht im Wachen das gleiche wie im Traum: die unwillkürliche Verknüpfung von sinnlichen Eindrücken, ohne dass eine klare Regel ausmachbar wäre, nach der die Verknüpfungen bestimmt werden könnten. Der Unterschied zwischen Traum und Wachen sei in Bezug auf die sinnlichen Eindrücke allenfalls ein gradueller und die wirklichen Eindrücke nur lebhafter als die geträumten. Kant zufolge kann allerdings auch eine bloß eingebildete sinnliche Empfindung den Anschein höchster Wirklichkeit erwecken, so dass der Verrückte ihr den gleichen Wahrheitsgehalt zuerkennt. In diesem Fall spricht Kant von einer Chimäre,44 ohne allerdings auf den mythologischen Hintergrund 44 Kant versteht unter der Chimäre ein Trugbild. In der antiken Mythologie verkörpert die Chimäre ein feuerspeiendes Ungetüm, ein hybrides Wesen, gezeugt von Typhon und Echidna, das drei Köpfe besitzt: vorn den eines Löwen, im Nacken den einer Ziege, als Schwanz schließlich den einer DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 633 seines Beispiels näher einzugehen, der wie schon bei Locke in den Bereich des Monströsen verweist. Die Verrücktheit besteht demzufolge darin, dass zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden kann: »Der Verrückte ist also ein Träumer im Wachen.« (II, 894) Von der vollständigen Vertauschung von Traum und Wirklichkeit, die der Verrücktheit zugrunde liegt, unterscheidet Kant die Phantasterei, die auf eine wirkliche Empfindung zurückgeht und nur zum Teil dem Blendwerk der Sinne geschuldet sei. Als besondere Form der Phantasterei nennt er die Hypochondrie, die sich über den Zustand des eigenen Körpers täuscht, und die Melancholie, die ebenfalls in den Bereich der Phantasterei gehöre, jedoch nicht auf den eigenen Körper, sondern in allgemeiner Weise auf die Übel des Lebens bezogen sei. Ebenfalls in den Kontext der Phantasterei stellt Kant den Enthusiasmus als einen moralischen Effekt, der nützliche Folgen hat, sowie den Fanatismus als defizitäre Form des Enthusiasmus. All den unterschiedlichen Formen der Verrücktheit gesteht Kant jedoch eine gewisse Harmlosigkeit zu, da es sich in jedem Fall nur darum handelt, Trugbildern Glauben zu schenken. Anders verhält es sich mit dem Wahnsinn. Hatte Kant die Verrücktheit auf den Bereich der sinnlichen Erfahrungen beschränkt, so bestimmt er den Wahnsinn als Verkehrtheit des Verstandesurteils. Übertroffen wird sie noch durch den Wahnwitz als eine Verkehrung der Vernunft, die bis zur Raserei, Tobsucht und Tollheit reichen kann. Ihre Ursache sieht Kant in den modernen bürgerlichen Verhältnissen, die sich vom ursprünglichen Naturzustand weit entfernt haben und allen denkbaren Formen der Krankheiten des Kopfes mehr Raum gewähren, als dies in früheren Zeiten der Fall gewesen sei. »In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gärungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl zu unterhalten und zu vergrößern dienen.« (II, 899) Das Gegenmittel bestünde Kant zufolge dementsprechend in der Rückkehr zu der Einfalt der Natur und dem ›gesunden‹ Menschenverstand, der vom Witz der Urteilskraft nichts weiß, weil er seine Bedürfnisse an der ihm vorliegenden Erfahrungswelt ausrichtet. Kant verbindet seine Onomastik der Gebrechen des Kopfes mit einer Theorie und Geschichte der Kultur, der zufolge der zivilisatorische Fortschritt zugleich die Möglichkeiten der Krankheiten des Kopfes erhöhe. Der eigentliche Gegenentwurf zu Dummheit, Narrheit, Torheit, Verrücktheit und Wahnsinn besteht in dem Rousseauschen Ideal einer natürlichen Einfalt des Herzens, die vor allen geistigen Erkrankungen schütze. Das bestätigt noch die späte Anthropologie Kants, die mit ähnlichen Vorgaben wie der Versuch über die Krankheiten des Kopfes arbeitet. Schlange. Besiegt wird die Chimäre durch Bellerophon mithilfe des von ihm gezähmten Dichterpferdes Pegasus. 634 | ACHIM GEISENHANSLÜKE 4 . D u m m h e i t u n d E i n f al t: A n t h r o p o l o g i e i n p r ag m at i s c h e r H i n s i c h t In der gleichen Weise wie im Versuch über die Krankheit des Kopfes bestimmt Kant die Urteilskraft in der Anthropologie als iudicum, als die Fähigkeit zur Unterscheidung, ob etwas ein Fall der Regel sei, und wie in seinen frühen Untersuchungen geht er von einem inneren Zusammenhang zwischen Urteilskraft und Witz aus, den er als ingenuim definiert, als die Fähigkeit, zum Besonderen das Allgemeine zu finden. Auch seiner frühen Definition folgt er, wenn er unter der Dummheit den Mangel an Urteilskraft versteht: Der Mangel an Urteilskraft ohne Witz ist Dummheit (stupiditas). Derselbe Mangel aber mit Witz ist Albernheit. – Wer Urteilskraft in Geschäften zeigt, ist gescheut. Hat er dabei zugleich Witz, so heißt er klug. – Der, welcher eine dieser Eigenschaften bloß affektiert, der Witzling sowohl als der Klügling, ist ein ekelhaftes Subjekt. – Durch Schaden wird man gewitzigt; wer es aber in dieser Schule so weit gebracht hat, dass er andere durch ihren Schaden klug machen kann, ist abgewitzt. (XII, 516) Wie im Versuch über die Krankheiten des Kopfes, so erstellt Kant ein scharfsinniges Klassifikationssystem der Dummheit, das zugleich dem Witz eine besondere Bedeutung einräumt. Er betont weiterhin, dass Dummheit keine Kategorie sei, die im Bereich der praktischen Vernunft greife. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Vergleich von Einfalt und Dummheit. »Einfältig ist der, welcher nicht viel durch seinen Verstand auffassen kann; aber er ist darum nicht dumm, wenn er es nicht verkehrt auffasst.« (XII, 516) Die Einfalt ist Garant für eine Form der Beschränktheit des Kopfes, die sich nicht unter die Dummheit subsumieren lasse. Kant beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Gemeinplatz, der Ehrliche sei der Dumme: »Ehrlich aber dumm […] ist ein falscher und höchsttadelhafter Spruch. Er ist falsch: denn Ehrlichkeit (Pflichtbeobachtung aus Grundsätzen) ist praktische Vernunft.« (XII, 516) Die Unterscheidung von Dummheit und Einfalt geht auf moralische Gebote zurück. Die Ehrlichkeit, die jemanden dazu bringen kann, gegen seinen Vorteil zu handeln, ist nicht Dummheit, sondern Achtung des moralischen Gesetzes. Der angeblich dummen Ehrlichkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nicht auf den eigenen Vorteil aus ist, stellt Kant daher Verschlagenheit, Verschmitztheit und Schlauigkeit als scheinbar kluge, in Wirklichkeit aber moralisch verderbliche Formen des Betrugs gegenüber. Nicht die erkenntnistheoretische Definition der Dummheit als Mangel an Verstand bildet den Maßstab seiner Überlegungen, sondern die Rückführung der Einfalt auf Gebote der praktischen Vernunft. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 635 Das gilt nicht allein für die Bestimmung der Dummheit, sondern ebenso für die des Witzes. Kant begreift den Witz in Übereinstimmung mit seinen früheren Überlegungen als Talent, als eine Naturgabe, die nicht gelehrt werden kann. Die natürliche Anlage des Witzes stellt er in die Nähe von Sagazität und Originalität im Denken, die das Genie ausmache. Insofern greift er auf die enge Verbindung zwischen Witz und Genie zurück, die bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts dazu führt, dass der Begriff des Witzes in seiner ursprünglich weiten Bedeutung allmählich durch den des Genie verdrängt werden wird.45 Den Witz unterscheidet Kant wiederum in zwei verschiedene Formen: Auf der einen Seite steht der vergleichende Witz, auf der anderen Seite der ›vernünftelnde‹ Witz. Gemeinsam ist ihnen die Fähigkeit, Heterogenes miteinander zu verbinden: »Der Witz paart (assimiliert) heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetz der Einbildungskraft weit auseinander liegen« (XII, 537f.). Insofern bezeichnet Kant den Witz auch als »Verähnelungsvermögen« (XII, 538), das im Unterschied zur Strenge der schematischen Urteilskraft, die das Allgemeine auf das Besondere anwende, vom Besonderen zum Allgemeinen schreite. Jean Paul nimmt Kants Überlegungen auf, wenn er meint, der Witz sei als »eigentlich anschaulicher Verstand oder sinnlicher Scharfsinn«46 zu bezeichnen, weil er sich auf eine Form des Vergleichs bezieht: »daher kommt das Wort Witz, als die Kraft zu wissen, daher ›witzigen‹, daher bedeutete er sonst das ganze Genie; daher kommen in mehreren Sprachen dessen Ich-Mitnamen Geist, esprit, spirit, ingeniosus.«47 Jean Paul führt den Witz auf die rhetorische Wurzel des ingenium zurück, um zugleich das Genie an seine Stelle zu setzen.48 Wie Kant, so bezieht Jean Paul den Witz auf das metaphorische Prinzip der Ähnlichkeit, um es im gleichen Zuge in eine Beziehung zum Scharfsinn und zum Tiefsinn zu setzen: Der Witz im engern Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unabmeßbarer) Größen, d.h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und 45 Vgl. O.F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip (s. Anm. 30), S. 43-45. 46 Jean Paul: »Vorschule der Ästhetik«, in: Sämtliche Werke, Abt. I., Bd. 5, München 1974, S. 122. 47 Ebd., S. 171. 48 Vgl. Marianne Schuller: »Der Witz oder die ›Liebe zum leersten Ausgange‹«, in: Fragmente 46. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse. Heilloses Lachen. Fragmente zum Witz, Kassel 1994, S. 11-28, hier: S. 13. 636 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Geisterwelt (z.B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen.49 In der Ähnlichkeit gründet die Nähe von Witz und Metapher, die das poetische Genie auszeichne.50 Der Scharfsinn beruht nach Jean Paul dagegen auf der Trennung des Ähnlichen und Tiefsinn auf der Einheit dessen, was der Witz verbunden und der Scharfsinn getrennt hat. Das Verhältnis von Witz und Scharfsinn fasst Jean Paul zusammen, wenn er »Witz den sinnlichen Scharfsinn […] und folglich Scharfsinn den abstrakten Witz.«51 nennt. Mit der Unterscheidung von Witz und Scharfsinn schließt Jean Paul an die Poetik der Aufklärung an. Wie Gottfried Gabriel hervorgehoben hat, verkörpert der Scharfsinn in der Aufklärung ein logisches, der Witz hingegen ein vorwiegend ästhetisches Vermögen: »Witz« (als Übersetzung von lat. »ingenium«, das auch der Ursprung des deutschen Wortes »Genie« ist) und Scharfsinn (als Übersetzung von lat. »acumen«) benannten in der Erkenntnistheorie der Aufklärung (von Christian Wolff über Alexander Gottlieb Baumgarten bis zu Immanuel Kant) zwei gegensinnige Erkenntnisvermögen, deren Unterschied so bestimmt wurde, daß der Witz Ähnlichkeiten im Verschiedenen, der Scharfsinn dagegen Verschiedenheiten im Ähnlichen entdeckt.52 Als logisches Vermögen ermöglicht der Scharfsinn einen Reichtum an Unterscheidungen zwischen ähnlichen Größen, während der Witz das Unterschiedene miteinander verbindet. Der Scharfsinn bleibt demnach der Philosophie vorbehalten, der Witz findet seinen eigentlichen Ort in der Poesie. Die Neuentdeckung des Genies in der Poetik des 18. Jahrhunderts geht zu wesentlichen Teilen auf den Begriff des Witzes zurück, den Kant und Jean Paul als ein ästhetisches Vermögen fassen, das als Verähnelungsvermögen dazu prädestiniert ist, Metaphern zu bilden. Schon Aristoteles hatte ja auf den inneren Zusammenhang von Ähnlichkeit und Metapher hingewiesen: »Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag.«53 Was das Ver- 49 J. Paul: »Vorschule der Ästhetik«, S. 172. 50 Vgl. Thomas Hecken: Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 51 J. Paul: »Vorschule der Ästhetik« (s. Anm. 47), S. 175. 52 Gottfried Gabriel: Ästhetischer ›Witz‹ und logischer ›Scharfsinn‹. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Erlangen/Jena 1996, S. 1. 53 Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 77. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 637 ähnelungsvermögen des Witzes leiste, sei, so Kant, die Erzeugung von Lust durch eine frei gesetzte Urteilskraft: Es ist angenehm, beliebt und aufmunternd, Ähnlichkeiten unter ungleichartigen Dingen aufzufinden und so, was der Witz tut, für den Verstand Stoff zu geben, um seine Begriffe allgemein zu machen. (XII, 539) Verweist Kants zunächst vor allem erkenntnistheoretisch bestimmter Begriff der Dummheit durch die Vermittlung der Einfalt zugleich auf den Bereich der praktischen Vernunft, so der des Witzes auf den ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft. »Verstand ist erhaben, Witz ist schön« (II, 829), schreibt er in den Beobachtungen über das Gefühl der Schönen und Erhabenen (1764). Der Witz geht mit einer Freiheit einher, die sich allein in der Ästhetik finde: Witzig (im Reden oder Schreiben) zu sein, kann durch den Mechanismus der Schule und ihren Zwang nicht erlernt werden, sondern gehört, als ein besonderes Talent, der Liberalität der Sinnesart in der wechselseitigen Gedankenmitteilung […]; einer schwer zu erklärenden Eigenschaft des Verstandes überhaupt – gleichsam seiner Gefälligkeit –, die mit der Strenge der Urteilskraft (iudicium discretivum) in der Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere (der Gattungsbegriffe auf die der Spezies) kontrastiert, als welche das Assimilationsvermögen sowohl, als auch den Hang dazu, einschränkt. (XII, 538) Der Strenge der Urteilskraft, die der Fähigkeit, Ähnlichkeiten unter ungleichartigen Dingen aufzufinden, Grenzen setzt, steht mit dem Witz ein liberales Vermögen entgegen, das sich durch eine für Kant offenbar ebenso schwer erklärbare wie anziehende Form der Gefälligkeit auszeichnet. Was aber genau ist anziehend, nicht erlernbar und doch so schwer erklärbar, dass es sich Kants scharfsinnigem Klassifikationssystem einzufügen und zugleich zu entziehen scheint? Nimmt man Jean Pauls Engführung von Witz und poetischem Genie ernst, so scheint es sich eben um das poetische Vermögen des Dichters zu handeln. Findet die Unterscheidung von Dummheit und Einfalt ihren Grund in Kants Theorie der Sittlichkeit, so ist daher die Ästhetik der Ort, an dem das erkenntnistheoretische Klassifikationssystem der Krankheiten des Kopfes eine innere Grenze findet, die insbesondere durch das Erhabene markiert wird, das in der Kritik der Urteilskraft ein Prinzip verkörpert, in dem all das seinen Platz findet, was aus dem Muster der Rationalität herausfällt. 638 | ACHIM GEISENHANSLÜKE 5 . S c h ö n e r W i t z u n d e r h ab e n e s P hl e g m a : K a n t s Ä s th e ti k In Kants Philosophie verkörpern Dummheit und Witz gegenläufige Prinzipien, die sich wechselseitig auszuschließen scheinen. In Jean Pauls Augen gilt das Gleiche für den Witz und das Erhabene. In seiner Vorschule zur Ästhetik macht er unter dem Begriff des Lächerlichen zunächst auf das grundsätzliche Fehlen einer Ästhetik des Witzes in der Philosophie aufmerksam: »Das Lächerliche wollte von jeher nicht in die Definitionen der Philosophen gehen«54. In Anknüpfung an den bekannten Satz, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei es nur ein Schritt, begreift Jean Paul das Lächerliche als Gegenprinzip zum Erhabenen. »Kurz, der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche«55. Die Unterscheidung, die die Abgrenzung des Lächerlichen vom Erhabenen ermöglicht, liegt im mathematischen Prinzip der Größe beschlossen. Während das Erhabene ein Prinzip der Größe verkörpert, entspricht dem Lächerlichen das Kleine: »Dem unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt«,56 hält Jean Paul fest, um zu dem Schluss zu gelangen: »Folglich ist das Lächerliche das unendlich Kleine«.57 Als unendlich Kleines versteht auch Kant das Lächerliche in der Kritik der Urteilskraft. In einer wirkungsmächtigen Definition fasst er das Lachen als Verwandlung von etwas in nichts: Es muß in allem, was ein lebhaftes erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Widersinniges sein (woran also der Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts. Eben diese Verwandlung, die für den Verstand gewiß nicht erfreulich ist, erfreuet doch indirekt auf einen Augenblick sehr lebhaft. Also muß die Ursache in dem Einflusse der Vorstellungen auf den Körper und dessen Wechselwirkung auf das Gemüt bestehen; und zwar nicht, sofern die Vorstellung objektiv ein Gegenstand des Vergnügens ist (denn wie kann eine getäuschte Erwartung vergnügen?), sondern lediglich dadurch, daß sie, als bloßes Spiel der Vorstellungen, ein Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper hervorbringt. (X, 273) Kant findet im Lachen etwas Widersinniges, das auf einer komplexen Dialektik von Lust und Unlust beruht. Obwohl die Verwandlung einer Erwartung in nichts dem Verstand nicht gefallen kann, wird das Lachen 54 55 56 57 J. Paul: »Vorschule der Ästhetik« (s. Anm. 47), S. 102. Ebd., S. 105. Ebd., S. 109. Ebd., S. 105. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 639 doch als eine Lust empfunden, die auf einem freien Spiel der Vorstellungen beruht, das zugleich das Gefühl der Gesundheit des Körpers garantieren soll. Die Erschütterung, die das Lachen bewirkt, und die damit verbundene Dialektik von Lust und Unlust, die es erregt, verweist auf eine geheime Verwandtschaft zwischen dem Lächerlichen und dem Erhabenen, das in der Kritik der Urteilskraft ebenfalls auf eine Erschütterung des Subjekts zurückgeht, die Kant zugleich als negative Form der Lust begreift.58 Dass dem Witz wie dem Lachen ein spielerisches Prinzip zugrunde liegt, das sich den strengen Vorgaben des Verstandes zu entziehen weiß, verdeutlich Kant in der Anthropologie, indem er die liberale Denkungsart des Witzes von der strengen Denkungsart der Urteilskraft zu unterscheiden sucht: »Witz hascht nach Einfällen; Urteilskraft strebt nach Einsichten.« (XII, 539) Mit diesen Worten benennt Kant pointiert die Unterscheidung zwischen der Liberalität des Witzes und der Strenge der Urteilskraft. In seinen Augen korrespondiert dem Witz das ästhetische Spiel, der Urteilskraft hingegen der moralische Ernst. Stellt der Witz »eine Blüte der Jugend« (XII, 539) dar, so die Urteilskraft »eine reife Frucht des Alters.« (XII, 539) In ähnlicher Weise wie in seiner Onomastik der Krankheiten des Kopfes führt Kant eine Fülle von Gestalten ein, die mit dem Witz in Zusammenhang stehen. So neigt der Witz zur Frivolität, zur Kunst der bon mots, die Kant mit »Witzwörter« (XII, 539) übersetzt. Der Witz erzeugt den seichten Kopf, der sich jeder Mode zuneigt. Schal und pedantisch, launig und gründlich kann der Umgang mit der Urteilskraft sein, die den Witz ermöglicht. Indem Kant den Witz auf diese Weise in die Form eines freien Spiels der Einbildungskraft verlegt, die Urteilskraft hingegen als eine Macht definiert, die die tendenziell überschäumende Kraft des Vergleiches von allem mit jedem einschränkt, greift er zugleich auf die Unterscheidung zwischen dem Schönen und Erhabenen zurück, die er bereits 1764 seiner Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zugrunde gelegt hat. Im Anschluss an die sensualistische Ästhetik Edmund Burkes, der seine Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful aus dem Jahre 1757 auf den Unterschied zwischen dem Schrecken zurückführt, der dem Erhabenen zukommt, und dem Vergnügen, welches das Schöne auszeichnet,59 geht Kant in seiner Untersuchung 58 Zum Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der Erschütterung bei Kant vgl. Werner Hamacher: »Das Beben der Darstellung«, in: David E. Wellbury (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, München 1985, S. 149-173. 59 Vgl. Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989. 640 | ACHIM GEISENHANSLÜKE vor allem auf die Gegensätzlichkeit beider Prinzipien ein: »Das Erhabene rührt, das Schöne reizt.« (II, 827) Mit der Rührung oder Erschütterung, die dem Erhabenen zukommt, und dem Reiz, den er dem Schönen zuspricht, verbindet Kant eine Fülle von weiteren Unterscheidungen. Wie vor ihm Burke und nach ihm Jean Paul, so betont er die Größe des Erhabenen, während das Schöne klein sei. Dem Erhabenen korrespondiert das moralische Gefühl der Hochachtung, dem Schönen die Liebe. Das Trauerspiel ist erhaben, das Lustspiel schön; der Melancholiker neigt dem Erhabenen zu, der Sanguiniker hingegen dem Schönen. Erhaben sind die Männer, schön die Frauen. Unter den Nationen zeichnen sich Italiener und Franzosen durch das Gefühl des Schönen aus, Deutsche, ›Engländer‹ und Spanier durch das Gefühl des Erhabenen. Allein der ›Holländer‹, der Kant als »ein sehr phlegmatisierter Deutsche« (II, 875) gilt, fällt aus dem artistischen System heraus. An keiner Stelle seiner Abhandlung aber ordnet Kant den Gegensatz von Dummheit und Witz ein. Zwar scheint der Witz eindeutig dem Schönen zuzuneigen, erstaunlich ist aber, dass Kant nirgends näher auf die Dummheit eingeht. Das gleiche gilt für das phlegmatische Temperament, das im Unterschied insbesondere zum Sanguiniker und Melancholiker in der Schrift kaum eine Berücksichtigung findet. Das Phlegma markiert eine bemerkenswerte Leerstelle innerhalb von Kants Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen: Da in der phlegmatischen Mischung keine Ingredienzien vom Erhabenen oder Schönen in sonderlich merklichem Grade hineinzukommen pflegen, so gehörte diese Gemütseigenschaft nicht in den Zusammenhang unserer Erwägungen.« (II, 845) Aus Kants früher Ästhetik wird das Phlegma ausdrücklich ausgeschlossen. Ähnliches gilt unausgesprochen für die Dummheit: Weil der Dumme weder schön noch erhaben sein kann, scheint er nicht in den Zusammenhang von Kants Erwägungen zu gehören. So eindeutig der Zusammenhang zwischen dem Sanguiniker, dem Schönen und dem Witz in Kants Unterscheidung des Schönen und Erhabenen zu sein scheint, so wenig kümmert er sich um einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Phlegma, dem Erhabenen und der Dummheit.60 60 Über den Zusammenhang zwischen Phlegma und Dummkopf notiert Ernst Weiß: »Der phlegmatische Dummkopf ist dem melancholischen oder sanguinischen weit voraus. Dagegen ist fast jedem Dummchen sein cholerisches Blut von Vorteil; viele gewaltige Dinge gelingen dem Dummen im Zorn. Aber sonst: eiserne Ruhe. Das bedeutet kein Gehirn, keine Reue, kein Herz. Aber auch kein Zweifel, keine Qual des Gewissens – und alle DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 641 Das ändert sich in der Kritik der Urteilskraft, in der das Phlegma im Vergleich zu den frühen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen eine spektakuläre Aufwertung erfährt. Kant stellt den Phlegmatiker dort direkt neben den Enthusiasten. Mit dem Enthusiasmus, den er als die »Idee des Guten mit Affekt« (X, 198) bezeichnet, geht Kant zugleich auf die antike Definition des Erhabenen als eine Beseelung des Menschen durch einen Gott zurück. Weil der rhetorische Begriff des Enthusiasmus aber die Überwältigung sowohl des Redners als auch des Hörers von derjenigen Macht voraussetzt, die den Menschen beseelt, verbannt Kant den Enthusiasmus aus dem Bereich des Erhabenen, dem er die moralische Kategorie der Vernunft zuordnet. Wie schon im Falle der Einfalt lässt sich Kant von sittlichen Überlegungen leiten. Im moralischen Sinne ist der Enthusiasmus nicht erhaben, da sich der Mensch in ihm von einem Affekt regieren lasse. Ästhetisch aber, so setzt Kant hinzu, »ist der Enthusiasmus erhaben, weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ideen ist, welche dem Gemüte einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorstellung.« (II, 199) Eröffnet Kant damit die Möglichkeit einer Wiederaufwertung des Enthusiasmus trotz dessen moralischer Disqualifikation, so stellt er ihm auf überraschende Weise den Phlegmatiker zur Seite: Aber (welches befremdlich scheint) selbst Affektlosigkeit (apatheia, phlegma in significatu bono) eines seinen unwandelbaren Grundsätzen nachdrücklich nachgehenden Gemüts ist, und zwar auf weit vorzüglichere Art, erhaben, weil sie zugleich das Wohlgefallen der reinen Vernunft auf ihrer Seite hat. Eine dergleichen Gemütsart heißt allein edel: welcher Ausdruck nachher auch auf Sachen, z.B. ein Gebäude, ein Kleid, Schreibart, körperlichen Anstand u.d.gl. Angewandt wird, wenn diese nicht sowohl Verwunderung (Affekt in der Vorstellung in der Neuigkeit, welche die Erwartung übersteigt), als Bewunderung (eine Verwunderung, die beim Verlust der Neuigkeit nicht aufhört) erregt, welches geschieht, wenn Ideen in ihrer Darstellung unabsichtlich und ohne Kunst zum ästhetischen Wohlgefallen zusammenstimmen. (X, 199) Das Phlegma im guten Sinne stellt Kant noch über den Enthusiasmus, weil es sich in Übereinstimmung mit den Geboten der Vernunft befindet. Affektlosigkeit nennt er edel, weil sie eine Form der Bewunderung errege, die wie das Erhabene keine Grenzen kenne außer die der Anerken- Kraft gehört einem Ziel. Die Dummen erreichen oft das Ziel der Klugen, ohne es zu wissen.« Ernst Weiß: »Von der Wollust der Dummheit«, in: Peter Engel/Volker Michels (Hg.): Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur. Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt/Main 1982, S. 130. 642 | ACHIM GEISENHANSLÜKE nung durch die Vernunft. Während das Phlegma im schlechten Sinne auf eine Unempfindlichkeit des Charakters zurückgehe, die diesen dem stumpfen Kopf annähere, der des Witzes ermangelt, ohne doch notwendig als dumm zu gelten, so erscheint die Affektlosigkeit des edlen Charakters als eine moralische Tugend, die aufgrund ihrer Respekt erheischenden Größe kaum übertroffen worden könne. Noch über dem erhabenen Melancholiker steht die Apathie des Phlegmatikers, der sich dem Ansturm der Affekte zu widersetzen weiß und damit alle Begriffe moralischer Vollkommenheit erfüllt. Hatte Kant das Phlegma aus seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen noch ausgeschlossen, so wird es in der Kritik der Urteilskraft zum Garanten des inneren Zusammenhangs, der zwischen dem Erhabenen und der sittlichen Vernunft existiert. Damit stellt sich über Kants eigene Bestimmungen hinaus zugleich die Frage, wie sich das Erhabene durch die Vermittlung des Phlegmas zum Phänomen der Dummheit verhält. Im Versuch über die Krankheiten des Kopfes und der Anthropologie hatte Kant die Dummheit als den Mangel an Urteilskraft oder Verstand dem Witz entgegengesetzt. In der Anthropologie ist darüber hinaus deutlich geworden, dass der Witz eine Affinität zum Schönen besitzt, die Jean Paul zur Grundlage seiner Ästhetik gemacht hat. So gewiss, wie von Apathie und Phlegma gesagt werden kann, dass sie sich dem Witz verschließen, so sehr rücken beide in die Nähe des Erhabenen, das Kant generell als ein Versagen von Einbildungskraft und Verstand definiert, welches zugleich den unendlichen Bereich der Vernunftideen öffnet. Ist das Schöne als das freie Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand an den Witz der Urteilskraft gebunden, so entmächtigt das Erhabene den Witz und die damit einhergehende Liberalität der Denkungsart, um dem Ernst der Vernunft Platz zu machen: In der Tat läßt sich ein Gefühl für das Erhabene der Natur nicht wohl denken, ohne eine Stimmung des Gemüts, die der zum Moralischen ähnlich ist, damit zu verbinden; und, obgleich die unmittelbare Lust am Schönen der Natur gleichfalls eine gewisse Liberalität der Denkungsart, d.i. Unabhängigkeit des Wohlgefallens vom bloßen Sinnengenusse, voraussetzt und kultiviert, so wird dadurch doch mehr die Freiheit im Spiele, als unter einem gesetzlichen Geschäfte vorgestellt, welches die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist, wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß, nur daß im ästhetischen Urteile über das Erhabene diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als einem Werkzeuge der Vernunft, ausgeübt vorgestellt wird. (X, 194) Im Unterschied zur Liberalität des Schönen verweist der Ernst des Erhabenen auf ein moralisches Gefühl, das Kant zugleich als Indikator für die Kul- DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 643 turfähigkeit des Menschen im allgemeinen wertet. Kant hält fest, dass »das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als über das Schöne)« (X, 190), weil es zwar auf eine natürliche Anlage zurückgeht, zugleich aber die Anlage des Menschen für die Zwecke der Vernunft offenbare. In seinen Überlegungen markiert das Erhabene einen Fortschritt, der von der Natur zur Kultur führt, indem er die Ohnmacht des Menschen als Naturwesen durch seine Vernunftbegabung ersetzt. Gerade die Ignoranz der natürlichen Ordnung der Affekte, die den Phlegmatiker auszeichnet, kann so zum Garanten für die Freiheit der Vernunft werden, über die der Mensch als Kulturwesen verfügt. In dem Maße, in dem die Apathie, die den Witz aus ihrem Herrschaftsbereich ausschließt, jedoch zugleich auf eine Form der Unempfindlichkeit verweist, die sich ästhetisch den Formen der Dummheit und der Einfalt annähert, öffnet sich ein innerer Zusammenhang zwischen dem Phlegma, dem Erhabenen und der Dummheit als dem Mangel an Urteilskraft oder Verstand. Im Herzen von Kants Theorie über den Zusammenhang von Vernunft und Kultur im Erhabenen residiert mit dem Phlegma eine positiv gewertete Form der geistigen Beschränktheit. Auf der einen Seite verkörpert die mit dem Phlegma verbundene Beschränktheit des Kopfes die geistige Ohnmacht des Menschen, die im Erhabenen bewältigt werden soll. Auf der anderen Seite erscheint der Triumph der Vernunft über die Macht der Natur selbst als ein blinder Akt des Nichtwissens, der Bewunderung erregt, indem er den Menschen als Herren über die Natur einsetzt. Der Prozess der Zivilisation ist bei Kant ein Fortschritt der Vernunft und des Nichtwissens zugleich. Die Ambivalenz, die dem Erhabenen als dem symbolischen Ort zukommt, an dem die Vernunft ihre Herrschaft begründet und der Verstand aussetzt, findet ihr Äquivalent in dem Begriff des Monströsen, der das Prinzip einer deformierten Vernunft verkörpert, die aus der klaren und distinkten Ordnung der Rationalität heraus fällt und doch zugleich in ihrem Herzen beheimatet ist. 6 . K an t u n d C u s a n u s: D a s E r h ab en e u n d d a s M o n st r ö s e Bereits in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen hatte Kant in der Tradition Burkes dem Schönen das Kleine und dem Erhabenen das Große zugeordnet. In der Kritik der Urteilskraft nimmt er die Unterscheidung wieder auf, wenn er einleitend betont, das Erhabene sei »auch an einem formlosen Gegenstand zu finden, sofern Unbegrenztheit« (X, 165) und zugleich Totalität an ihm zu finden sei. Während das Schöne den Reiz der spielenden Einbildungskraft für sich in Anspruch nehmen kann, ist das Erhabene mit dem Reiz unvereinbar 644 | ACHIM GEISENHANSLÜKE und kann allenfalls »negative Lust« (X, 165) genannt werden. Für Kant zeichnet sich das Erhabene durch eine Größe aus, die auf der einen Seite den unendlichen Vernunftideen korrespondiert, auf der anderen Seite aber die Vorstellung einer monströsen Ordnung mit sich führt, die alle Größenvergleiche sprengt. Den inneren Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der Größe führt Kant insbesondere in seiner Analyse des MathematischErhabenen aus. Der Unterschied zwischen dem Mathematisch- und dem Dynamisch-Erhabenen ergibt sich ihm durch das Verhältnis, das die Einbildungskraft im einen Fall an das Erkenntnis- und im anderen Fall an das Begehrungsvermögen verweist: Das Mathematisch-Erhabene ist bei Kant auf den Verstand und Fragen der Erkenntnis bezogen, das Dynamisch-Erhabene auf die Vernunft und Fragen der Moral. Zwar verweisen sowohl das Mathematisch- als auch das Dynamisch-Erhabene auf einen bestimmten Mangel der Urteilskraft, den die Vernunft zu kompensieren sucht. In dem Maße, in dem das Mathematisch-Erhabene in der Kritik der Urteilskraft aber auf den Verstand bezogen bleibt, verweist es auf ein grundsätzliches Fehlen der Einbildungskraft, das es in eine Nähe zur Dummheit zu rücken scheint. Den Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der Größe stellt Kant gleich an den Anfang seiner Definition des MathematischErhabenen: »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.« (X, 169) Schlechthin groß nennt Kant das Erhabene, weil es mit nichts anderem als mit sich selbst zu vergleichen ist. Was über allen Vergleich groß ist und damit aus jeder Relationsbestimmung heraus fällt, ist »eine Größe, die bloß sich selber gleich ist.« (X, 171) Kant greift damit zugleich auf Burke zurück, der dem Erhabenen die Riesigkeit zugeordnet hatte: »Größe der Dimension ist eine andere mächtige Quelle des Erhabenen.«61 Noch auf eine andere Tradition aber verweist der Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der Größe, der Burke und Kant verbindet: auf die Analyse der Monstrosität, die Nikolaus von Kues im Zeichen seiner Wissenschaft vom Nichtwissen vorgelegt hat. In seiner Schrift Von der Wissenschaft des Nichtwissens (De docta ignorantia) aus dem Jahre 1440 rühmt Nikolaus von Kues zu Beginn rhetorisch versiert die Torheit der eigenen Überlegungen, die er begeht, wenn er es wage seine »laienhaften Stümpereien (meas barbaras ineptias)« zu veröffentlichen.62 Der Beginn der Ausführungen des Kirchenlehrers erfüllt das rhetorische Kriterium des aptum. Die Unüberlegtheit und 61 E. Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (s. Anm. 60), S. 108. 62 Nicolaus von Kues: Philosophisch-Theologische Werke, Bd. 1: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, Hamburg 2002, S. 3. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 645 Ungereimtheit, die er hervorhebt, passen sich dem Gegenstand an, über den er sprechen möchte. Nikolaus von Kues sieht in seinem Werk nur eine ungereimte Schrift, betont aber zugleich den »kühnen Versuch«, der mit der Idee einer Wissenschaft des Nichtwissens verbunden sei, und das damit einhergehende »Erstaunen«,63 das seit Aristoteles für den Anfang der Philosophie gilt. Damit trägt er von Anfang an einem Missverhältnis Rechnung, dass zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstand besteht: In dem Maße, in dem Gott eine Form der absoluten Größe repräsentiert, die sich jedem Vergleich entzieht, kann der Verstand nur ein negatives Wissen von ihm haben. Die sokratische Einsicht in die Unwissenheit des Verstandes aber entspringt der Vernunft, die das Nichtwissen zwar nicht aufheben kann, den Weg durch das Nichtwissen jedoch als negative Annäherung an das Unbegreifliche legitimiert. Seine Überlegungen zum Nichtwissen stellt Nikolaus von Kues zunächst in den Kontext des Monströsen als des Ungereimten. »Das Ungewöhnliche lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn es sich in der Form von Abnormitäten (monstra) zeigt«,64 hält der Kirchenlehrer einleitend fest. Den Begriff der Monstrosität, den Cusanus im Unterschied zur antiken Bestimmung des Begriffs als Warnzeichen nur auf den Bereich des Sichtbaren beschränkt, definiert er über den der mathematischen Größe: »Ist nämlich im Gegenstande mehr, so ist er ein Monstrum; ist in ihm weniger, so ist der Gegenstand nicht.«65 Das Monströse ist das, was jedem Vergleich aufgrund eines unbestimmten Zuviels widerspricht. Ihm entspricht die »Formlosigkeit (informitas)«, die Nikolaus von Kues mit dem Monströsen verbindet und die Kant seinem Begriff des Mathematisch-Erhabenen zugrundelegt. Den Begriff der Größe gewinnt Nikolaus von Kues entsprechend aus der Mathematik. Erkenntnis definiert er als das Setzen von Beziehungen und Vergleichen. Für ihn ist jede Forschungsleistung des Verstandes ein mathematischer Vergleich, der seine Grenze am Begriff des Unendlichen als einer absoluten Größe findet: »Das Unendliche als Unendliches ist deshalb unerkennbar, da es sich aller Vergleichbarkeit entzieht.«66 Da jeder proportionale Vergleich auf eine unendliche Größe bezogen sei, die die Möglichkeiten der Erkenntnis bei weitem übersteigt, besteht die Möglichkeit des menschlichen Wissens allein im Wissen des Nichtwissens. Anhand der Vorbilder von Sokrates, Salomo und Aristoteles führt Nikolaus von Kues die Idee einer Wissenschaft des Nichtwissens ein: 63 64 65 66 Alle Zitate ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 33. Ebd., S. 9. 646 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Gelingt uns die vollständige Erfüllung dieser Absicht, so haben wir die belehrte Unwissenheit (doctam ignorantiam) erreicht. Auch der Lernbegierigste wird in der Wissenschaft nichts Vollkommeneres erreichen, als im Nichtwissen, das ihm seinsgemäß ist, für belehrt befunden zu werden.67 In ähnlicher Weise wie später Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelt Nikolaus von Kues vor diesem Hintergrund seinen Begriff des Nichtwissens mit Blick auf die mathematische Ordnung der Größe: »Unter dem Größten aber verstehe ich das, dem gegenüber es nichts Größeres geben kann.«68 Mit dem Begriff des Größten, dem bei Kant die unendlichen Vernunftideen entsprechen, das Erhabene gerade im Scheitern der Urteilskraft zutage fördert, verbindet Nikolaus von Kues Gott, das Universum und den Erlöser Jesus Christus. Ihre unfassbare Größe zeigt zugleich die Grenzen des Verstandes auf. »Der Geist also, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt die Wahrheit niemals so genau, daß sie nicht ins Unendliche immer genauer erfaßt werden könnte. Er verhält sich zur Wahrheit wie das Viereck zum Kreis.«69 Wiederum ist es ein mathematischer Begriff, mit dessen Hilfe Nikolaus von Kues seinen Begriff der Wissenschaft des Nichtwissens zu begründen versucht. Denn in dem Maße, in dem sich Gott allen Vergleichen entzieht, kann das Wissen von ihm nur ein negatives sein. Für den Menschen, so schließt Nikolaus von Kues mit Sokrates, gilt daher, dass er letztgültig nur wissen kann, dass die Wahrheit für ihn nicht zur freien Verfügung steht: »Es ist also deutlich, daß wir über das Wahre nichts anderes wissen, als daß wir es in seiner Genauigkeit, so wie es ist, als unbegreiflich wissen.«70 Die Idee von der Unerfassbarkeit der Größe Gottes, die die Wissenschaft in den Kontext des Nichtwissens rückt, verbindet Nikolaus von Kues in seinen Ausführungen mit einer zweiten Idee: der Unaussprechlichkeit Gottes. Ihm stellt sich die Frage nach dem Namen des Größten, nach dem Namen Gottes, »der für uns als unaussprechbar gilt und das Tetragramm ist«71. Unerfassbarkeit und Unaussprechlichkeit der vier Buchstaben des Namens ›Gott‹ sind die beiden Säulen der Wissenschaft des Nichtwissens. »Die heilige Unwissenheit (sacra ignorantia) hat uns die Unaussprechlichkeit Gottes gelehrt, und zwar wegen seiner unendlichen Erhabenheit über alles, was sich benennen läßt.«72 Nikolaus von Kues fasst vor diesem Hintergrund zusammen: 67 68 69 70 71 72 Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 111. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 647 Wir ziehen daraus den Schluß, daß die genaue Wahrheit im Dunkel unserer Unwissenheit in der Weise des Nichtwissens aufleuchtet. Das ist die belehrte Unwissenheit, die wir gesucht haben. Durch sie allein vermögen wir, wie gezeigt, dem größten dreieinigen Gott in seiner unendlichen Güte je nach dem Rang der Wissenschaft von der Unwissenheit nahe zu kommen, um ihn aus all unserer Kraft immerdar dafür zu preisen, daß er uns sich selbst als unfaßbar gezeigt hat.73 Die Unbegreiflichkeit Gottes ist die einzig angemessene Art und Weise, auf der dieser sich dem Menschen offenbart. Insofern ist die gelehrte Unwissenheit auch die einzig adäquate Grundlage der Wissenschaft, die an der absoluten Größe Gottes ihre Grenze und zugleich ihre Wahrheit findet. Ignoranz im Sinne von Nichtwissen ist nach Nikolaus von Kues Quelle und Ziel der Wissenschaft. Zwar orientiert sich Kant keineswegs explizit an der Lehre von der Wissenschaft des Nichtwissens, die Nikolaus von Kues entwickelt hat. Seiner Darstellung des Mathematisch-Erhabenen liegt aber eine ähnliche Argumentation zugrunde. Auch er geht davon aus, dass der Verstand den Begriff des schlechthin Großen selbst nicht erfassen kann, sondern »allemal nur einen Vergleichsbegriff liefern könnte.« (X, 169) Gerade aufgrund der Tatsache, dass sich die absolute Größe allen Vergleichsbegriffen entzieht, beweist sie ihre Überlegenheit gegenüber dem Verstand, eine Überlegenheit, die allein die Vernunft zu fassen vermag: Wenn wir aber etwas nicht allein groß, sondern schlechthin-, absolut-, in aller Absicht (über alle Vergleichung) groß, d.i. erhaben, nennen, so sieht man bald ein: daß wir für dasselbe keinen ihm angemessenen Maßstab außer ihm, sondern bloß in ihm zu suchen verstatten. Er ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist. (X, 171) Dasselbe hätte sicherlich Nikolaus von Kues von Gott gesagt: Er ist eine Größe, die nur sich selbst gleich ist, und damit zugleich in gewisser Weise monströs, oder, wie Kant sagt, ungeheuerlich: Ungeheuer ist ein Gegenstand, wenn er durch seine Größe den Zweck, der den Begriff desselben ausmacht, vernichtet. Kolossalisch aber wird die bloße Darstellung eines Begriffs genannt, die für alle Darstellung beinahe zu groß ist (an das relativ Ungeheure grenzt); weil der Zweck der Darstellung eines Begriffs dadurch, daß die Anschauung des Gegenstandes für unser Auffassungsvermögen beinahe zu groß ist, erschwert wird.« (X, 175) 73 Ebd., S. 113. 648 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Monströs, ungeheuer oder kolossalisch:74 Die Konfrontation mit einer Größe, die über alle Vergleichsbestimmungen hinausweist, offenbart die Unangemessenheit der menschlichen Erkenntniskraft, die bei Kant auf doppelte Weise ausgeglichen wird: durch eine »ästhetische Größenschätzung« (X, 178), die dem Subjekt die Unangemessenheit der eigenen Bemühungen zu spüren gibt, und die damit einhergehende moralische Einsicht, dass die Unangemessenheit nicht allein der natürlichen Größe, sondern zugleich den Vernunftideen durchaus angemessen ist. Die an sich monströse, das Subjekt überwältigende Größe der Natur, die jede Vergleichsgröße überschreitet, erweist sich als klein im Vergleich zu den Ideen der Vernunft und die Unlust, die die Ohnmacht des Verstandes auslöst, als klein im Verhältnis zur Lust an der übersinnlichen Macht der Vernunft. Physisch ist der Mensch der Natur gegenüber ohnmächtig, geistig aber ihr Herr. Der monströsen Macht der Natur antwortet das moderne Subjekt mit der Gewalt der Vernunft, die nicht minder monströs anmutet als die der Natur. 7 . D er S c h a r fs i n n d e r P hi l o s o p hi e und der Witz der Poesie Kants Analyse des Erhabenen offenbart damit das Aussetzen all dessen, was die Liberalität des Witzes verkörpert. Angesichts der erhabenen Macht der Natur ist der Versuch der geschäftigen Urteilskraft, alles mit jedem zu vergleichen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil der einzig zulässige Vergleich in ein Reich führt, das ihm verschlossen ist, in das Reich der Vernunft. Was sich mit dem Erhabenen nicht vereinbaren lässt, sind die wiederum auf eigene Art und Weise mit dem Monströsen verbundenen Formen des Lachens und des Witzes. In seiner Abhandlung Über den Redner hält schon Cicero mit Blick auf das Lächerliche fest: Der Ort und gleichsam das Gebiet des Lächerlichen […] ist wesentlich bestimmt von einer gewissen Häßlichkeit oder Mißgestalt. Denn man lacht ja ausschließlich oder ganz besonders über das, was etwas Häßliches auf eine Weise, die nicht häßlich ist, bezeichnet und beschreibt.75 Bei Cicero erscheinen Lachen und Witz als Ergebnis der Konfrontation mit einem Prinzip der Monstrosität, das sich in der Hässlichkeit oder der Missgestalt niederschlägt. Wenn Cicero unterstreicht, dass »Witz in ver- 74 Zum Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und dem Kolossalen bei Kant vgl. Jacques Derrida: »Le colossal«, in: ders.: La vérité en peinture, Paris 1978, S. 136-168. 75 Cicero: De oratore (s. Anm. 31), S. 359. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 649 schrobenen und gleich mißgestalteten Dingen liegt«,76 dann legt er nahe, dass dem Witz die Bewältigung einer Angst zu Grunde liegt, welche aus der Begegnung mit dem Monströsen erwächst. Der Witz erscheint als eine literarische Strategie, mit deren Hilfe auch negative Affekte wie Angst bewältigt werden können. In diesem Sinne wäre die Fülle von scharfsinnigen Unterscheidungen, die Kant im Versuch über die Krankheiten des Kopfes und der Anthropologie trifft, zugleich eine Form der Abwehr der für die philosophische Vernunft bedrohlichen Allgegenwart der Dummheit und des Nichtwissens. Die Möglichkeit, der Dummheit und ihren benachbarten Formen wie Torheit, Narrheit und Wahnsinn durch den Witz der Urteilskraft Bezeichnungen zu geben, schützt vor der Unordnung, die die Verkehrungen der Vernunft mit sich bringen. Das Mittel, mit dessen Hilfe die Überwindung der Dummheit gelingen soll, ist der Witz als das Vermögen, Ähnlichkeiten zu erkennen, und der Scharfsinn als das Vermögen, Unterscheidungen zwischen den ähnlichen Größen vornehmen zu können. In der Anthropologie definiert Kant den Witz daher auch als die Fähigkeit, heterogene Vorstellungen zu assimilieren, als ein ›Verähnelungsvermögen‹, das er zunächst dem Verstand und im zweiten Schritt der Urteilskraft zuordnet: Der Witz sei ein Vermögen, »welches dem Verstande (als dem Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen), so fern er die Gegenstände unter Gattungen bringt, angehört. Er bedarf nachher der Urteilskraft, um das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen, und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden.« (XII, 538) Wenn Kant den stumpfen Kopf, dem es am Witz mangelt, vom Dummkopf unterscheidet, dem es bloß an Urteilskraft mangelt, dem witzigen Kopf dagegen das Zusammenspiel von Verstand und Urteilskraft zuordnet, dann unternimmt er eine Einschränkung, die sich nicht allein auf die Dummheit, sondern zugleich auf den Witz erstreckt: Der stumpfe Kopf, so Kant, »kann übrigens, wo es auf Verstand und Vernunft ankommt, ein sehr guter Kopf sein; nur muß man ihm nicht zumuten, den Poeten zu spielen« (XII, 515). Während den stumpfen Kopf der unaufhebbare Mangel an Witz kennzeichnet, scheint der Witz auf umgekehrte Weise den Poeten auszuzeichnen. In diesem Sinne wäre die Literatur ein direkter Abkömmling des ›Verähnelungsvermögen‹ und genuin witzig. Wenn Kant in seiner Darstellung des Witzes auf den Zusammenhang von Ähnlichkeit und Metapher als einer der Grundlagen der Literatur zurückgeht, dann weist er die Dichtkunst jedoch zugleich in die Schranken von Verstand und Vernunft: Der stumpfe Kopf kann nicht zum Poeten werden, da es ihm am Witz fehlt, der Poet aber sehr wohl zum Wahnsinnigen, wenn es ihm an Verstand oder Vernunft fehlt. Die Engführung von Poesie und Witz verweist so noch ein76 Ebd., S. 367. 650 | ACHIM GEISENHANSLÜKE mal auf die in der Kritik der Urteilskraft entfaltete Theorie des Erhabenen und des Enthusiasmus, wo Kant den »Enthusiasmus mit dem Wahnsinn« vergleicht, weil in beiden »die Einbildungskraft zügellos« (X, 202) sei. Während Dummheit und Vernunft in Kants Lehre der praktischen Vernunft durchaus miteinander einhergehen können, gilt das im gleichen Maße für die Literatur und den Wahnsinn, in denen die Fesseln der Vernunft gelöst werden.77 Schon Platon hatte den Enthusiasmus entsprechend als eine Form der Vernunftlosigkeit beschreiben können, welche die dichterische Inspiration auf die Besessenheit des Menschen durch einen Gott zurückführt.78 Für Kant existieren demnach zwei Formen von Witz, von denen er nur eine legitimieren will: Der scharfsinnige Witz des Philosophen, der sich jederzeit von Verstand und Vernunft leiten lässt und sich dem antiken Ideal des Weisen annähert, und der ästhetische Witz des Poeten, der in die Nähe des Wahnsinns rückt, weil die Urteilskraft ohne Leitung des Verstandes agiert. In der Poesie droht der Witz zügellos zu werden. Geist als belebendes Prinzip im Menschen will Kant daher auch nicht mit dem französischen esprit übersetzen, weil es zu nahe am Witz steht. Ihm schwebt eher »das französische Wort Génie« (XII, 544) vor. Die Unterscheidung zwischen dem philosophischen Witz der Vernunft und dem poetischen Witz der Einbildungskraft dient zugleich der Abwehr der mit ihnen verbundenen Formen der Dummheit und des Wahnsinns. Die Gefahr der Philosophie liegt für Kant darin, im Mangel an Witz stumpf oder im Übermaß an Witz wahnsinnig zu werden. In Kants Ästhetik ist das Erhabene demnach zugleich der Ort, an dem ein Kampf zwischen Philosophie und Literatur ausgetragen wird. Das Erhabene beraubt den Menschen seiner Verstandeskraft, entdeckt aber zugleich das Vermögen der Vernunft in ihm. Wenn das Erhabene zum unendlichen Reich der Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott führt, dann ist es eines ganz und gar nicht: im poetischen Sinne witzig. Obwohl es doch geistreich (im Sinne des génie) sein soll, kann das Erhabene nicht witzig (im Sinne von esprit) sein. Denkbar wäre Witz in Kants Analytik der Urteilskraft allein als Antidoton zum Erhabenen als einem Vermögen, das die erhabene Macht der Vernunft bloß stellt. In diesem Sinne ist Kants Ästhetik scharfsinnig, wenn sie Wahnsinn, Wahnwitz und Aberwitz trennscharf unterscheidet, aber ganz und gar nicht witzig, 77 Zum Verhältnis von Literatur und Wahnsinn vgl. neben den Ausführungen von Michel Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft«, vor allem Shoshana Felman: La folie et la chose littéraire, Paris 1978. 78 In »Ion« bestimmt Sokrates den Dichter als ein Wesen, das »nicht eher vermögend zu dichten, bis es begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.« Platon: »Ion«, in: Sämtliche Werke 1, Hamburg 1957, S. 103. DUMMHEIT UND WITZ BEI KANT | 651 wenn sie nur den Ernst der Sittlichkeit als Gesetz über die im ästhetischen Sinne freigesetzte Urteilskraft zulassen will. Der Zusammenhang von Witz und Metapher, den Jean Paul zur Geltung bringt, verweist dagegen auf eine andere, genuin literarische Darstellungsform, die sich zur Kantischen Onomastik der Gebrechen des Kopfes tendenziell subversiv verhält. »The failure of cognition is the province of literary language«,79 notiert schon Avital Ronell in ihrer Abhandlung über die Dummheit. In der Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik haben sich drei Formen abgezeichnet, die ihren Ort weniger im Scharfsinn der Philosophie als vielmehr im Witz der Poesie finden: die Einfalt, die zugleich den inneren Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in Kants System verkörpert, das Monströse, das auf die Konfrontation des Menschen mit der furchterregenden Größe der Natur zurückgeht, und das Phlegma, das eine eigentümliche Leerstelle zwischen dem ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft und den ethischen Ansprüchen der Vernunft markiert. Die drei Begriffe der Einfalt, des Monströsen und des Phlegmas verkörpern eine Ambivalenz von Natur und Vernunft, ästhetischem Spiel und moralischem Ernst, Witz und Dummheit, die Kant nur in ein philosophisches System einfangen kann, indem er ihre bedrohliche Seite suspendiert. Wie Jean Paul zeigt, ist die Literatur der Ort, an dem sie eine andere Sprache finden. L i t e r at u r Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 77. Best, Otto F.: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, Darmstadt 1989. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/ Main 1998. Brant, Sebastian: Das Narrenschiff, Stuttgart 1998. Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt/Main 1994. Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989. Cicero: De oratore. Über den Redner. Übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1976. 79 A. Ronell: Stupidity (s. Anm. 34), S. 6. 652 | ACHIM GEISENHANSLÜKE Derrida, Jacques: »Le colossal«, in: ders.: La vérité en peinture, Paris 1978, S. 136-168. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Stuttgart 1949. Felman, Shoshana: La folie et la chose littéraire, Paris 1978. Gabriel, Gottfried: Ästhetischer »Witz« und logischer »Scharfsinn«. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Erlangen/Jena 1996. Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006. Hamacher, Werner: »Das Beben der Darstellung«, in: David E. Wellbury (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen von Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹, München 1985, S. 149-173. Hecken, Thomas: Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 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