Volume 2 | 2023
Review
Albert Gerhards (Hg.),
Kirche im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven
(Sakralraumtransformationen 1), Münster 2022
Jakob H. Deibl
exfonte.org
How to Cite
Deibl, Jakob H., Review: Albert Gerhards (Hg.), Kirche im Wandel. Erfahrungen
und Perspektiven (Sakralraumtransformationen 1), Münster 2022, in: Ex Fonte –
Journal of Ecumenical Studies in Liturgy 2 (2023) 311–318.
DOI
10.25365/exf-2023-2-13
Reviewer
Jakob Helmut Deibl is Tenure-Track-Professor for Religion and Aesthetics at the
Faculty for Catholic Theology at the University of Vienna and Scientific Manager
of the Research Centre Religion and Transformation in Contemporary Society. He is
Editor-in-Chief of the open-access Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society.
GND
135843561
ORCID
0000-0002-7820-0569
Reviewed Book
Editor
Albert Gerhards
Title
Kirche im Wandel
Subtitle
Erfahrungen und Perspektiven
Series
Sakralraumtransformationen 1
Place
Münster
Year
2022
Publisher
Aschendorff Verlag
Pages
375
ISBN
9783402212608
eISBN
9783402212615
Open Access |
Creative Commons CC-BY 4.0
exfonte.org
DOI 10.25365/exf-2023-2-13
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Albert Gerhards (Hg.), Kirche im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven
(Sakralraumtransformationen 1), Münster 2022
Jakob H. Deibl
Vorweg …
Die vorliegende Publikation stellt den ersten Band der neu begründeten
Reihe „Sakralraumtransformationen“ dar. Sie geht hervor aus dem von Albert Gerhards geleiteten DFG-Projekt Sakralraumtransformation. Funktion
und Nutzung religiöser Orte in Deutschland, das an den Standorten Bonn,
Köln, Wuppertal und Leipzig angesiedelt ist. Das Projekt untersucht, wie
der Leiter in der Einführung (9–17) darstellt, die „mit einer Nutzungsänderung [von Sakralbauten] verbundenen Transformationsprozesse sowohl
seitens des Gebäudes als auch seitens der mit ihm in irgendeiner Weise
in Verbindung stehenden Personen und Institutionen“ (12).
Der Sammelband ist die Publikation einer Tagung vom Juli 2021 und
„markiert ein erstes Etappenziel der Forschungsgruppe nach gut einem
Jahr gemeinsamer Forschung“ (13), greift dabei aber auf zum Teil schon
wesentlich länger zurückgehende Forschung der beteiligten Wissenschaftler:innen zurück. 28 Beiträge mit teilweise sehr unterschiedlicher Länge
(3–36 Seiten), verfasst von insgesamt 25 Personen, sind im Buch versammelt. Die meisten Beiträge sind in deutscher Sprache geschrieben, zwei
jedoch auf Englisch. Die Autor:innen stammen aus den akademischen
Disziplinen der Theologie, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte und
Architektur sowie aus den Praxisfeldern Pfarramt, Architektur und Immobilienwirtschaft (vgl. 371–375). Ich habe den Eindruck, dass sich die aus
unterschiedlichen Hintergründen stammenden Autor:innen sehr bewusst
an ein Lesepublikum aus verschiedenen Bereichen wenden, zumal sie auf
eine extensive Verwendung facheinschlägiger Termini aus den jeweiligen
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Disziplinen verzichten. Besonders hervorheben möchte ich, dass auch die
Stimmen jüngerer Wissenschaftler:innen zu Wort kommen.
Im Band finden sich als Rahmen allgemeine Reflexionen über Raum,
Öffentlichkeit, Sakralität und gesellschaftlichen Wandel (19–55, 357–
366), ein längerer Grundsatzartikel zur Vorstellung des Projektes (57–92),
sodann Beiträge mit engem Bezug auf die Teilprojekte des Forschungsprojektes, teilweise mit Response versehen (93–244), sowie praktisch
orientierte Fallbeispiele (297–331, 341–355). In geographischer Hinsicht
sind die Beiträge auf den Raum Aachen sowie Leipzig fokussiert, und
zwar auf die Sakralräume der katholischen und evangelischen Kirchen.
Ausblicke gibt es in die Niederlande (245–247), die Schweiz (275–295)
und nach Italien (249–273) bzw. auf orthodoxe Kirchen (333–340). Die
Texte werden durch viel Bildmaterial ergänzt, was erst eine Vorstellung
von den Sakralräumen, von denen jeweils gehandelt wird, ermöglicht.
Thema des Bandes
Die in aller Kürze vorgestellte Diversität und Fülle der Beiträge führt dazu,
dass man bei der kontinuierlichen Lektüre des Buches immer wieder mit
neuen Blickwinkeln konfrontiert wird. Das Grundthema, die systematische Erforschung der Transformationsprozesse, denen Sakralbauten im
öffentlichen Raum gegenwärtig unterliegen, geht dabei aber nie verloren.
Stellt das Projekt zunächst viel sorgfältig recherchiertes Material für ein
noch junges Forschungsgebiet bereit, artikuliert es auch ein genuin theologisches Anliegen. Dies wird besonders am Ende des grundsätzlichen,
von mehreren Projektmitarbeiter:innen verantworteten Artikels Sakralraumtransformation – Einführung in die Untersuchungsbereiche des Forschungsprojekts (57–92) deutlich, wenn es heißt: Indem „der KirchenRaum überhaupt erst eine Debatte eröffnet, kann sich die ihm von der
Geschichte wie Gegenwart überwölbte Ekklesiologie auch verschieben,
und das regt eine andere Ekklesiologie an, in statu nascendi“ (92). Der
Sakralraum und dessen Inszenierung ist somit nicht bloß als Ausdruck
einer bestimmten Ekklesiologie und theologischen Haltung zu verstehen,
sondern die Arbeit mit dem Raum wird auch als generativ für die Ekklesiologie im Speziellen und die Theologie im Allgemeinen wahrgenommen.
Kann also der „transformierte Kirchenraum“ auch ein „transformierender
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Raum“ (343) werden? Wenn es gelingt, mit diesem Projekt eine Grundlage zu legen, um diesen Aspekt theologisch weiterzudenken, sich also der
Frage zu stellen, wie der von Gemeinden (und Menschen außerhalb der
Gemeinden) in Anspruch genommene, eröffnete, bewohnte und gestaltete Sakralraum Theologie verändern kann, wäre ein wesentliches Desiderat
theologischer Reflexion getroffen.
Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist nicht primär die Präsentation
von Resultaten, sondern die Erforschung von Prozessen, in denen die Kirchen Deutschlands gegenwärtig stehen. Es sind dies „Aushandlungsprozesse um ‚das Religiöse‘ in der Gesellschaft“ (188). Historische Wurzeln,
regionale und konfessionelle Besonderheiten sowie die Einbettung in gesellschaftliche Kontexte müssen dabei untersucht werden, aber weder
lässt sich ein Gesamtüberblick darüber erreichen noch eine eindeutige
Richtung der Veränderung bestimmen. Die Untersuchung der in konkreten
Kontexten stattfindenden Transformationsprozesse soll jedoch „paradigmatisch zu Ergebnissen führen, die auch auf andere Gebiete übertragbar
sind“ (92). Paradigmatisch ist der Band meines Erachtens vor allem dort,
wo er neben der Präsentation vieler anschaulicher Beispiele auch Kategorien entwickelt, die helfen können, das Phänomen der Sakralraumtransformation in einer differenzierteren Weise zu betrachten. Darauf werde ich
meine folgenden Bemerkungen beschränken.
Differenzierungen in einem unübersichtlichen Feld
Rob Plum gibt der Haltung, mit der die Beiträge des Bandes auf den zunächst einmal zu konstatierenden Bedeutungsverlust von Kirchen blicken,
einen schönen Ausdruck. Es gehe darum, „dass wir diesen Gebäuden jetzt
nicht den Rücken kehren“ und diese „konkreten Formen“ (51), in denen
sich der Glaube materialisiert hat (mit all den Emotionen, die dabei mitspielen, vgl. Dunja Sharbat Dar, 217–227), in ihrer Bedeutung überdenken.
Beginnt man den Prozess der Transformation zu gestalten, wolle man, mit
Jörg Siep gesprochen, die Tradition des Weiterschreibens von Bedeutungen der Sakralräume („Vermehrung von Signifikanten“, 38) nicht abreißen
lassen. Man steige dann ein in ein Spiel der Entdefinierung und Neudefinition, das den Sakralräumen selbst nicht fremd sei, lasse sich das Heilige doch niemals an einen Ort bannen und in seiner Bedeutung fixieren
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(vgl. 40). Damit ist eine entscheidende Weichenstellung für den gesamten Band ausgesprochen: Die Rede von der Neunutzung von Kirchen (vgl.
286 f.) ist dann nicht nur etwas, was diese schicksalhaft von außen ereilt, sondern kann auch eine Resonanz im Verständnis von Sakralräumen
selbst auslösen. Als Räume, die auf das Heilige verweisen, sind sie offen für die Aufweichung ihrer Bedeutung, fügen sie sich niemals gänzlich
einer Definition und lösen, solange sie Sakralraum sind, ein immer neues
Spiel an sie begleitenden Metaphern aus – zwischen Entleerung und Anreicherung, „Kenosis und Pleroma“ (24), wie Christian Bauer sagt.
Eine wichtige Voraussetzung sämtlicher Beitrage scheint mir, „Kirche
als öffentlichen Raum“ (294) zu betrachten und die Transformation der
Nutzung von Sakralräumen damit nicht als eine bloß kirchen- oder gemeindeinterne Frage anzusehen: Kirchengebäude sind „Teil der Stadtlandschaft“ (95), Veränderungen ihrer Nutzung müssen in den Kontext der
Stadtentwicklung eingebunden werden (vgl. dazu Svien Bienert 211–215)
und stellen vor die Frage, was ihr „Dienst an der gesamten Gesellschaft“
(143) sein könne. Dafür gibt der Band zahlreiche Beispiele, etwa die Umwandlung von Sakralräumen in Kolumbarien, wo das „kommunikative
Gedächtnis der Familie und Angehörigen“ (149) mit dem kulturellen Gedächtnis, wie es Sakralräume weitertragen, verbunden werde (vgl. dazu
Sieglinde Klie, 137–149), oder die Einrichtung von Räumen der Stille, die
als „Freiraum eines alternativen Zeiterlebens“ (200) auch von Einzelpersonen ohne Gemeindebezug aufgesucht werden können (vgl. dazu Stephan
Wahle, 191–202). Die Transformation von Sakralräumen müsse diese,
folgt man Karin Berkemann (93–106), als Orte der Öffentlichkeit (vgl. 105)
ansehen, die in eine als multiperspektivisch verstandene Moderne gehören und Teil des Kulturerbes sind. Sie würden, wie Johannes Stückelberger (275–295) ausführt, „der Gesamtgesellschaft gehören“, weshalb sie
auch „weiterhin der Gesamtgesellschaft zur Nutzung zur Verfügung stehen“ sollten und „auch für nichtkirchliche Zwecke genutzt werden“ (294)
dürften. In diese Richtung geht auch Mariateresia Giametti in ihrem eindrucksvollen Beitrag (249–273), wenn sie über religiöse Architektur sagt,
sie gehöre „to the history of all people, to their tradition and culture“ (250).
Eine weitere Gemeinsamkeit, welche die Beiträge verbindet, ist ein
„baukulturell-nachhaltiger Ansatz, der die ‚graue Energie‘ […] als architektonische Qualität ansieht und mit dieser Ressource-schonend und mit dem
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Verständnis des ‚Reduce – Reuse – Recycle‘ arbeitet“ (117 f.), wie das
Stefanie Lieb in ihrem Beitrag beschrieben hat (107–123). Sie weist auf
darauf hin, wie „widerstandsfähig, ‚immun’ und gleichzeitig empfänglich
sowie flexibel in der Integration von neuen Raumidealen und Nutzungskonzepten“ (119) Sakralräume sein können, ohne dabei ihre Identität zu
Markte zu tragen. Dies kann den Weg zur „Wiederentdeckung historischer
Multifunktionalität“ (180, vgl. auch 158) wecken, wie besonders Alexander
Deeg und Kerstin Menzel (171–189) in ihrem Beitrag ausführen, in welchem sie auch eine bemerkenswerte Differenzierung des vielgebrauchten Wortes hybrider Nutzung von Sakralräumen geben: Erstens stünden
Kirchenräume auch bisher schon einer grundsätzlich mehrdimensionalen
Nutzung offen. Jede Gemeinde nutze sie in unterschiedlicher Weise. Zweitens würde ihre Rezeption zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung
oszillieren, die beide mit Formen von Transzendenz verbunden seien, die
sich in den Sakralräumen wechselseitig durchdrängen. Drittens gäbe es
die Nutzung ein und desselben Kirchenraums seitens unterschiedlicher –
kirchlicher und nicht-kirchlicher – Akteure (vgl. 173–179).
Ausblick
Alle Beiträge des Bandes gehen davon aus, dass die Sakralräume, welche
die Landschaft Deutschlands in einem starken Maße prägen, hinsichtlich
ihrer künftigen Nutzung in einem Prozess der Transformation begriffen
sind. Es wäre wünschenswert, würden auch in anderen Diözesen Deutschlands und anderen Ländern Projekte entstehen, die sich dieser drängenden Frage widmen. Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass Österreich
im Band nicht vorkommt. Sicherlich ist die Diskussion um die Neunutzung
von Kirchen in Österreich noch nicht so angekommen wie in Deutschland,
allerdings gibt es mit Jessica Wehdorns 2006 veröffentlichter Studie Kirchenbauten profan genutzt. Der Baubestand aus Österreich1 beispielhafte
Vorarbeiten, die man aufgreifen könnte. Dies steht der Einschätzung aber
nicht entgegen, dass der Band äußerst informativ, innovativ und lesenswert ist.
1
Vgl. Jessica Wehdorn, Kirchenbauten profan genutzt. Der Baubestand in Österreich, Innsbruck 2006.
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Beginnt man den Prozess der Transformation zu gestalten, können Kirchen vielleicht „als offenes und vielfach vernetztes Zukunftslaboratorium
einer Stadtgesellschaft“ (24) verstanden werden, wie Christian Bauer im
Eröffnungsbeitrag des Bandes (19–32) sagt. „Neu zu nutzende Kirchengebäude“ werden dann nicht als „Last, sondern als Chance“ (210) angesehen, wie Jörg Beste ausführt (203–210). Ich möchte mit einem Zitat aus
dem Band schließen: „Unsere Städte und Dörfer brauchen andere Räume
im Sinne von Räumen, die nicht zweckorientiert sind, von Räumen, in denen andere Gesetzmäßigkeiten gelten, von Freiräumen.“ (294)
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