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Gen 31,39f

2023, Academia

Zwei Vorschläge zur Deutung der Worte ’åḥāṭṭænnāh und hāyîtî in Gen 31,39f. werden gemacht: Beim ersten wird aus den Versionen und akkadischen Kognaten abgeleitet, dass es einen Straftatbestand ausdrückt, beim zweiten wird vorgeschlagen, es mit der vorangehenden Phrase zu verbinden. Angehängt sind zwei kurze Notizen zu Gen 31,52 und Gen 31,20.26. Two proposals for interpreting the words ’åḥāṭṭænnāh and hāyîtî in Gen 31:39f are made: The first proposal derives from the versions and Akkadian cognates, suggesting that the word expresses a criminal offense; the second proposal suggests connecting the word with the preceding phrase. Appended are two short notes regarding Gen 31:52 and Gen 31:20,26. Deux propositions sont avancées pour interpréter les mots ’åḥāṭṭænnāh et hāyîtî dans Gen 31:39f: La première proposition est déduite des versions et des cognats akkadiens, suggérant que le mot exprime une infraction criminelle; la deuxième proposition suggère de relier le mot à la phrase précédente.Sont jointes deux brèves notes concernant Gen 31:52 et Gen 31:20,26

Gen 31,39f. In Gen 31,39f. sieht man sich mit gleich zwei Cruces interpretum und einer Merkwürdigkeit konfrontiert: (A) Mit dem Wort ’åḥāṭṭænnāh, das man traditionell mit “ich habe ersetzt” überträgt, (B) mit dem Wort hāyîtî (“ich war”) zu Beginn von V. 40, bei dem man in den meisten Übersetzungen zur Verlegenheitslösung “so erging’s mir” greift und (C) mit den beiden genubeti von gānûb (“Geraubtes”), die man meist nach GK §90l als archaisierende feminine Partizipien mit Hireq compaginis deutet, die alternativ (und fernliegend) aber Rendsburg und Bompiani1 als aramaisierende Partizipien mit der Endung der 1. Pers. sg. erklärt haben: 39a Gerissenes brachte (Qatal) ich nicht zu dir |Zaqef 39b ich ’åḥāṭṭænnāh (Yiqtol) |Zaqef 39c aus meiner Hand hast du es jeweils gefordert (Yiqtol) |Athnach 39d genubetî des Tages und genubetî der Nacht |Silluq 40a hāyîtî 40b am Tag verzehrte mich Hitze und Kälte in der Nacht |Athnach 40c und mein Schlaf floh von meinen Augen. |Silluq Zu (A) und (B) will ich hier je einen Vorschlag machen; der zweite wird außerdem Implikationen für (C) haben. Davor sei jeweils kurz die aktuelle Diskussion um die fraglichen Wörter zusammengefasst. (A) ’åḥāṭṭænnāh (1) wurde früher meist und wird gelegentlich noch heute gedeutet als Form von ḥṭ’ (“sich etwas zuschulden kommen lassen”, im Piel “als Sündopfer darbringen” und als Piel privativum “sich ent-schulden”). So z.B. schon TgPsJ (s.u.), ibn Ezra;2 aktueller z.B. Buber / Rosenzweig: “stets habe ichs selber versühnt”. Objekt von ḥṭ’ Piel ist sonst aber stets das, was “als Sündopfer dargebracht wird” oder derjenige, der sich “entschuldet”. (2) Heute wählt man daher in der Regel stattdessen die Übertragung “bezahlen, ersetzen”, wofür z.B. Ges18 auf Loretz, Loewenstamm und Milgrom3 verweist und angibt, dies entspreche schon der Übersetzung von LXX und Vul. Diese drei leiten das Wort dafür ab vom akk. ḫiāṭu (u.a.: “[zur Zahlung] abwiegen” mit Zahlungsmitteln als Objekt, s. AHw I, S. 343, 4a), setzen danach eine sonst unbelegte Wurzel ḥīṭ mit ungefähr der gewünschten Bed. “Geld abwiegen” an und deuten Gen 31,39 dann als “ich habe es dir (abgewogen=) bezahlt”. Dafür muss zwar Scriptio defectiva des Jod angenommen werden, andererseits wird diese Annahme aber dadurch erleichtert, dass unserem Wort das bei einer Ableitung von ḥṭ’ zu erwartende Alef fehlt (dazu vgl. aber GK §23f). Entscheidend gegen diese Deutung spricht aber, dass es verwunderlich wäre, wenn gerade dieses hypothetische Wort verwendet Gary A. Rendsburg, “Morphological Evidence for Regional Dialects in Ancient Hebrew” in Linguistics and Biblical Hebrew, Hg. Walter R. Bodine (Winona Lake: Eisenbrauns) 65-88: 82-84; Brian Bompiani, “Style Switching in the Jacob and Laban Narratives” in HS 55 (2014) 43-57: 46. 2 Hier und im Folgenden ist der Text von MT, Sam, LXX, Vul und Syr den einschlägigen kritischen Ausgaben entnommen; der der Targumim der Seite cal.huc.edu und der jüdischer Ausleger alhatorah.org. 3 Oswald Loretz, “Hebräisch ḥwṭ' ‘bezahlen, erstatten’ in Gen 31 39” in ZAW 87/2 (1975) 207f.; Samuel E. Loewenstamm, “‫ אָנֹכִי אֲ חַ טֶּ נָּה‬in ZAW 90/3 (1978) 410; Jacob Milgrom, “Leviticus 1-16. A New Translation with Introduction and Commentary” (New York u.a.: Doubleday, 1992) 1084. 1 1 würde: Wie sich aus altorientalischen Hirtenverträgen und Herdeninspektionsprotokollen klar ablesen lässt, zahlten Hirten geschuldete Tiere gerade nicht in erst abzuwiegendem Geld, sondern so, dass die geschuldeten Tiere mit den ihnen als Lohn zugerechneten Tieren verrechnet wurden.4 Vgl. auch LH 263:5 Verlorene Schafe sind vom Hirten durch gleichwertige Schafe auszugleichen. Für die Bed. “bezahlen” ohne das Denotat “abwiegen” stünden im Heb. mehrere Wörter zur Verfügung – z.B. šlm wie in Ex 22,10, das die Targumim auch hier ergänzen (s.u.). Zu LXX und Vul s. außerdem ebenfalls unten. (3) Mehr spricht daher für die Deutung von Finkelstein.6 Dieser hat darauf aufmerksam gemacht, dass die akk. Nomen ḫiṭum und ḫiṭītum (beide von ḫaṭû) in YBC 5944 und LH 267 jeweils grob für den Verlust von Tieren stehen: ḫiṭum konkreter für den Verlust dadurch, dass ein Hirtenknabe sich verabsentiert hat, ḫiṭītum dadurch, dass ein nachlässiger (īgūma) Hirte pissatum (“Räude”? S. aber FN 12) in der Viehhürde geschehen lassen hat. Danach setzt er für ḫaṭû die Bedeutung “einen Verlust ersetzen” (!) an und gibt diese Bedeutung auch unserem Wort: “I myself made good the loss”. Dagegen aber richtig Loretz: Diese Bedeutung lässt sich beim häufigen ḫaṭû nie nachweisen. (4) Frankena und Landau7 sind daher beim letzten Schritt Finkelsteins nicht mitgegangen und haben das heb. ḥṭ’ stattdessen so gedeutet, dass es stärker seinen akkadischen Kognaten entspricht: Landau orientiert sich dabei an ḫuṭṭû: “If I injured it, you held me liable for it”. Nach den in CAD VI s.v. ḫaṭû gelisteten sicheren Belegstellen bezeichnet ḫuṭṭû aber wahrscheinlicher speziell die “Schädigung” unbelebten Besitzes. (5) Wegen dem ähnlichen Kontext ist ohnehin wahrscheinlicher ḫiṭ(īt)um relevant für das Verständnis unseres Wortes als ḫuṭṭû. Von diesem Wort geht denn auch Frankena aus und deutet daher das heb. Wort als “fehlen” (wonach z.B. LH 267: ḫiṭīt pissatum = “fehlendes Tier wegen pissatum”). Ich rekonstruiere als seinen Übersetzungsvorschlag: “What was missing, you demanded from my hand.” Der Vorschlag unten wird letztlich auf einen Mittelweg zwischen Landau und Frankena hinauslaufen, dabei aber die Versionen anders auswerten als die beiden. Das Zeugnis der Versionen nämlich wurde m.E. missverstanden. Zwecks Übersichtlichkeit zunächst eine Zusammenschau der für das Folgende relevanten Versionen von V. 39, jeweils mit einer aktuellen Übersetzung: MT ZÜR ‫ְתי י֔ וֹם וּגְנֻ ֽב ִ ְ֖תי ָ ֽליְלָה׃‬ ֣ ִ ‫טְ ֵרפָ ה֙ א־הֵ ֵ ֣באתִ י אֵ ֔ ֶלי אָנ ִ ֹ֣כי אֲ חַ טֶּ֔ נָּה מִ יּ ִ ָ֖די תְּ בַקְ ֶ ֑שׁנָּה גְּנֻ ֽב‬ Was von Raubtieren gerissen war, durfte ich dir nicht bringen. Ich selbst musste es ersetzen, von mir hast du es gefordert, ob es mir am Tag geraubt wurde oder in der Nacht. Für ein Bsp. s. G. van Driel / K. R. Nemet-Nejat, “Bookkeeping Practices for an Institutional Herd at Eanna” in JCS 46 (1994) 47-58. 5 LAH jeweils zitiert nach M.E.J. Richardson, “Hammurabi’s Laws. Text, Translation and Glossary (Sheffield: Sheffield Academic Press, 2000) 6 J. J. Finkelstein, “An Old Babylonian Herding Contract and Genesis 31:38f.” in JAOS 88/1 (1986) 30-36. 7 R. Frankena, “Some Remarks on the Semitic Background of Chapters XXIX-XXXI of the Book of Genesis” in The Witness of Tradition. Papers Read at the Joint British-Dutch Old Testament Conference Held at Woudschoten, 1970. Hg. Martinus A. Beek u.a. (Leiden: E. J. Brill, 1972) 53-64: 58; Yael Landau, “Herding in Haran. A Note on Jacob's Claim in Genesis 31:39” in ZAR 25 (2019) 173-180: 176. 4 2 Sam ‫{ מידי ׃ גנבתי יוֹם וגנבת לילה ׃‬ʿāʾīṭinna} ‫טרפה לא הבאתי אליך ׃ אנכי אחטנה‬ nach ZÜR Was von Raubtieren gerissen war, durfte ich dir nicht bringen. Ich selbst musste es von mir ersetzen, ob es mir am Tag geraubt wurde oder in der Nacht. LXX θηριάλωτον οὐκ ἀνενήνοχά σοι, ἐγὼ ἀπετίννυον παρ᾽ ἐμαυτοῦ κλέμματα ἡμέρας καὶ κλέμματα νυκτός· NETS That which was caught by wild beasts I have not brought back to you; I would exact from myself what was stolen by day and what was stolen by night. Vul nec captum a bestia ostendi tibi ego damnum omne reddebam quicquid furto perierat a me exigebas Tusculum Und nicht <ein Tier>, das von einem wilden Tier gerissen wurde, habe ich dir gezeigt. Ich habe jeglichen Verlust beglichen. Alles was durch Diebstahl zugrunde gegangen war, hast du von mir eingefordert. Syr ‫ܘܕܬܒܝܪܐ ܠܐ ܐܝܬܿܝܬ ܠܟ܂ ܐܢܐ ܡܿܢܛܪ ܗܘܿܝܬ ܠܗܿ܂ ܕܡܢ ܐ̈ܝܕܝ ܬܒܿܥ ܗܘܼܝܬ ܠܗܿ܂ ܕܡܬܓܢܒ‬ ‫ܒܐܝܡܡܐ ܘܕܡܬܓܢܒ ܒܠܠܝܐ܂‬ Morrison I did not bring you one that was torn apart. I would take it as my own for you would exact it from my hands, whether it was stolen by day or stolen by night. TgO Grossfeld TgPsJ Maher TgN8 McNamara G-TgC ָ ‫דִ תב‬ ‫ִירא לָא אֵ יתִ יתִ י לָך דַ הו ָת שָ גי ָא מִ מִ ניָנָא מִ נִי אַת בָעֵ י לַה נְטַ ִרית בִימָ מָ א ו ֻנטַ ִרית ְבלֵילי ָא׃‬ That which had been torn apart I did not bring to you. That which was missing from the <total> number – from me you demanded it. I was on guard by day and I was on guard by night. ‫דתבירא מן חיות ברא לא אייתי לוותך דאין אנא חטי בה מן ידי הוית תבע יתה מה‬ ‫דמתגניב ביממא מבני נשא עלי הוה לאשלמא ומה דהוה מתגניב בלילייא מן חיות ברא עלי‬ ‫הוה למשלמא‬ What was torn by the beasts of the field I did not bring to you; for if I had sinned in this, you would have demanded it [from my hand]. What was stolen in the daytime by men I had to make good; and what was stolen at night by the beasts of the field I had to make good. ‫קטילא לא אייתית לוותך כל חדא מנהון דהוות ערקה מן מניינה אנה הוינא משלם יתה מני‬ ‫את תבע יתה מה דהוון גנביא גנבין באיממא וחיות ברא מתכלא בליליא אנה הוינא משלם‬ ‫יתהון׃‬ What was killed I did not bring to you. Every one of them that fled from the numbers I made good. From me you demanded it. What the thieves stole in the daytime, and what the wild beasts killed during the night, I made good. ‫קְ טֶ ילָא לָא אַי ְיתִ י ֵית ְלו ָתַ ו ְאַי ְדָ א דַּ הֲ ו ַת טָ עְ י ָא מֶ ן מִ נְי ָינָא מֶ ן י ְדַ יי הְ ו ִיתְּ תָּ בַע י ָתַ הּ י ַת מָ ה דַ הַ ווֹן‬ ‫ַגנָּ ַביָּיא ָגנְבִין בְּאִ ימָ מָ א אַנָא הַ ו ַינָא מְ שַ לֵּם וְי ַת מָ ה דַ הו ַת חֵ יו ַת בּ ָָרא מְ תַ ְכּלָא ְבלֵי ְלי ָא אַנָא הַ ו ֵינָא‬ ‫מְ שַ לֵּם‬ ≈ FTV, FTP, in FTP nur zusätzlich am Ende: “[with] the wages of my day’s labor and the watchfulness of my eyes at night.” 8 3 nach McNamara What was killed I did not bring to you. And what wandered away from the numbers – you demanded from my hand. What the thieves stole in the daytime, I made good, and what the wild beasts killed during the night, I made good. Am unsichersten ist das Zeugnis von LXX: Bei LXX entspricht der ganzen Wortfolge ’åḥāṭṭænnāh miyyādî tebāqšænnāh nur die Übersetzung “ich habe vom Meinigen bezahlt”. Das wird stets so ausgewertet, dass LXX miyyādî tebāqšænnāh (so z.B. Frankena) oder immerhin tebāqšænnāh (so z.B. BHQ) nicht vorliegen hatte. Normalerweise würde man aber, wenn man den hebräischen Text und die griechische Übersetzung übereinander legt, LXX eher nicht so deuten, sondern vielmehr so, dass sie unser Wort übergangen und stattdessen “du hast es aus meiner Hand gefordert” frei übersetzt hat – von dieser Phrase kennen wir schließlich diese Bedeutung,9 von ’åḥāṭṭænnāh nicht, und dass LXX grundsätzlich frei übersetzt hat, ist klar, weil sie auch das Objektsuffix entweder von ’åḥāṭṭænnāh oder von tebāqšænnāh ignoriert. Dass noch BHQ anders urteilt, liegt daran, dass Smr in der Tat tebāqšænnāh nicht bezeugt und miyyādî mit ’åḥāṭṭænnāh verbindet. Für LXX macht das diese Rekonstruktion aber nicht plausibler, solange die Bed. von ’åḥāṭṭænnāh ungewiss ist. Die alternative Rekonstruktion der Vorlage oder der Übersetzungslogik von LXX dagegen lässt sich mit Vul, Syr und den Targumim noch weiter plausibilisieren, s. gleich. Ist das richtig, ist LXX kein Beleg für ḥṭ’ = “erstatten”. Zu Vul: Bei ego damnum omne reddebam quidquid furto peribat a me exibas pflegt man ähnlich, reddebam als Entsprechung von ’åḥāṭṭænnāh zu nehmen. Legt man aber Vul über die Targumim, erkennt man, dass dieses Wort wahrscheinlicher ergänzt wurde: TgPsJ, TgN und TgC ergänzen alle jeweils zweimal mšlm (TgO stattdessen: nṭryt), was exakt reddebam entspräche, und an TgPsJ und TgC (und TgO) lässt sich erkennen, dass dies nicht Entsprechung von ’åḥāṭṭænnāh ist. Weit wahrscheinlicher hat daher Vul reddebam mit den Targumim ergänzt, aber wie TgN und anders als TgPsJ und TgC nicht im letzten, sondern in einem zweiten Satz. Die Entsprechung von ’åḥāṭṭænnāh ist dann stattdessen damnum omne, das sonst keine Entsprechung hätte, und nicht reddebam (Vul entspricht TgN also auch in der Ergänzung von omne / kål). damnum ist dabei ein Terminus technicus aus dem Bereich des römischen Rechts und bezeichnet besonders nach dem Lex Aquilia den Straftatbestand schuldhaft herbeigeführter Vermögensverluste. Eigens genannt werden dort Sklaven und “vierbeinige Herdentiere” als solches Vermögen. Birks10 erläutert Begriff und Gesetz u.a. mit dem Fall von entlaufenem Vieh, der so fast exakt dem des abwesenden Hirtenknaben in YBC 5944 entspricht. Vgl. später sehr ähnlich ibn Balaam, der das Wort mit ’bdth wiedergibt (“ihr Verlust”, wie in Ex 22,8 vom veruntreuten Tier); ähnlich auch Saadja: “Das, was ich verlor” (’sthlkth’). Ähnlich schließlich ibn Attar, der denkt, Jakob spreche davon, dass er beim Gatter geschludert habe (vgl. damit LH 267: ḫiṭīt pissatum in der Viehhürde). Sind LXX und Vul damit richtig gelesen, gibt es außer dem Kontext und einem nicht zum Konsonantentext passenden Kognat also nichts, worauf man eine Deutung des Wortes als “erstatten” stützen könnte. Vgl. zum Ausdruck noch Shalom M. Paul, “Unrecognized Biblical Legal Idioms in the Light of Comparative Akkadian Expressions” in RB 86/2 (1979) 231-239: 237-239. 10 Peter Birks, “The Roman Law of Obligations” (Oxford: Oxford Univery Press, 2014) 211. 9 4 Die Entsprechungen von ’åḥāṭṭænnāh in TgO, TgN und TgC sind jeweils harmloser als die in Vul: “(Alles,) was von der Anzahl (der Tiere) fehlte/sich verirrte (šgy’) / floh (‛rqh) / fortwanderte (ṭ‛y’)”. Syr schließlich muss mit TgO erklärt werden: TgO übersetzt den “Tages-Raub und Nacht-Raub” in der nächsten Zeile mit “ich war wachsam (nṭryt) tags und nachts”, was Grossfeld11 gewiss richtig damit erklärt, dass damit der Eindruck vermieden werden sollte, Jakob könnte doch irgendeinen Fehler begangen haben. Mit dem selben Wort übersetzt Syr unseren Ausdruck: “ich mnṭr es”. Syr ist daher fast sicher nicht mit “I would take it as my own” (Morrison) und auch nicht mit “I threw it away” (Frankena) zu übersetzen, sondern mit “ich habe es bewacht” (so noch in der Londoner Polyglotte: ego custodiebam illud). Nimmt man das zusammen, haben wir hinsichtlich der Strategien, mit ’åḥāṭṭænnāh umzugehen, neben MT + Sam vier Gruppen: (1) LXX: Ø; (2) Vul: “allen schuldhaften Verlust”, Saadja + ibn Balaam: “was ich verlor”; (3) TgO: “was fehlte / sich verirrte”, TgN: “alles, was floh”, TgC: “was fortwanderte”; (4) Syr: “ich bewachte es”. Vergleicht man diese Gruppen, wird sehr wahrscheinlich, dass alle dasselbe Wort vorliegen hatten und dass dieses (zu) deutlich besagte, dass Jakob sich etwas Verwerfliches zuschulden kommen lassen hatte (s. Vul, Saadja, ibn Balaam). LXX übersetzt darum das Wort gar nicht, Syr lässt Jakob im Gegenteil sagen, er habe die Tiere bewacht, und TgO.N.C lassen die Tiere von selbst fortwandern. Zusätzlich ergänzt TgO direkt darauf ähnlich wie Syr, Jakob habe aber die die Tiere durchaus bewacht, während TgPsJ.N.C (und danach auch Vul) an unterschiedlichen Stellen ergänzen, dass Jakob seine Verluste in der Tat beglichen habe, und dafür das selbe Wort wählen, das in Ex 22,8 für die Abgeltung veruntreuter Tiere verwendet wird. Wenn man dies wiederum mit LH 267 und YBC 5944 in Verbindung bringt, lässt sich ḥṭ’ Piel im MT gut erklären als “durch Nachlässigkeit verlieren”. Dies nämlich lässt sich von ḫaṭû ableiten; s. AHw 1, S. 337: “nachlässig sein, vernachlässigen”, z.B. i.S.v. “sich nicht um die eigenen Felder kümmern”, “ein Grab nicht pflegen” etc., was auch gut zum nachlässigen Hirten und zum abwesenden Hirtenknaben passt.12 Die nächste Entsprechung von Bernard Grossfeld, “The Targum Onqelos to Genesis. Translated, with a Critical Introduction, Apparatus, and Notes” (Wilmington: Michael Glazier, 1994) 115. 12 ḫiṭīt pissatum wäre nach der üblichen Deutung von pissatum dann “der Schluder, der zur Räude führte”. Aber vgl. noch die Erwägung von David P. Wright, “Inventing God’s Law. How the Covenant Code of the Bible Used and Revised the Laws of Hammurabi” (Oxford: Oxford University Press, 2009) 271, pissatum bedeute nicht “Räude”, sondern etwas wie “Diebstahl”, wonach er sich offenbar nur deshalb dagegen entscheidet, weil in ḫiṭīt pissatum schon das Wort ḫiṭīt den Verlust bezeichnet. Dafür, dass pissatum so etwas meint, lässt sich gut argumentieren: Erstens tritt pissatum In LH 267 wie gesagt wegen der Nachlässigkeit eines Hirten auf, was für Räude kaum gelten kann; zweitens wird im Nachbar-Paragraphen 266 in LH ja gerade bestimmt, dass der Hirte bei Krankheiten nicht haftet, wonach hier die Rede von “Räude” sehr überraschte, und drittens bildet das Wort in vielen Hirtenverträgen ein Wortpaar mit ḫaliqtum = “Geflohenes” in der stereotypen Formel “der Hirte wird ḫaliqtum ersetzen und für pissatum verantwortlich sein” (s. AHw, CAD s.v.). Noch genauer müsste man dann aber pissatum wahrscheinlich entweder erklären als “Verschwinden” / “Verschwundenes” oder allgemein als “Fehlen” / “Fehlendes”: pissatum mit der Bed. “Räude” (o.Ä.) lässt sich etymologisch nicht erklären, mit der Bed. “Verschwinden” / “Fehlen” lässt es sich entweder verbinden mit pissatu(m) “Aufhebung, Auslöschung” (CAD 12, S. 426: “cancellation”), abzuleiten von pasāsu (CAD 12, S. 218: “to cancel, to annul”, z.B. von Inschriften, die “ausgelöscht” / “ignoriert” werden; vgl. Leonid Kogan u.a. (Hgg.), “Etymological Dictionary of Akkadian 1/1: Roots beginning with P and B. Preface, Introduction and Dictionary” (Boston / Berlin: De Gruyter, 2020) 401-403), oder erklären als terminus technicus aus der Hirtensprache für Tiere, die aus Herdeninventaren “ausgestrichen” werden müssen, weil sie fehlen. Ist das richtig, muss in LH 267 der Hirte dann, wenn er pissatum eintreten lassen hat, für ḫiṭīt pissatum = “das Verschludern von Fehlendem” zahlen, und zu 11 5 ’åḥāṭṭænnāh wäre dann im Deutschen wohl: “ich habe es verschludert”; natürlicher: “ich habe auf etwas nicht aufgepasst”. Die Sequenz Qatal – Yiqtol – Yiqtol in 39a-c und die beiden Zaqefim in 39ab legen dann nahe, dass 39b nicht zu 39a gehört, sondern zu 39c, und die Wortstellung S – V zeigt an, dass 39b Nebensatz ist. 39a-c ist dann zu übersetzen: 39a Gerissenes brachte ich nicht zu dir; 39b wann immer ich etwas / es (stattdessen) verschludert habe, 39c hast du es jeweils aus meiner Hand gefordert. Danach sprechen 39a von unverschuldeten und 39bc von schuldhaften Verlusten: Unverschuldete, die auf Labans Kosten geschehen wären, gab es nicht, und verschuldete hat Jakob stets bezahlt; Laban hatte also überhaupt keine Vermögenseinbußen (wie er auch deshalb keine hatte, weil seine Zibben nie Fehlgeburten hatten und Jakob seine Böcke nie gegessen hat, V. 38 – ebenfalls ein unverschuldeter und ein schuldhafter Verlust). (B) hāyîtî (1) wird selten kommentiert. Die meisten Übersetzungen greifen stillschweigend zur Verlegenheitslösung “so erging’s mir: …”, wofür es keine Parallen gibt. Einen Kommentar dazu habe ich nur bei Mathews13 gefunden – der darin aber nur das Verb auch noch als “frequentatives Perfekt” erklären will. (2) Dafür ist seine Inspiration offensichtlich Speiser: Auch dieser behauptet, das Verb “verleihe dem folgenden Satz durative oder iterative Bedeutung”.14 Dem folgt m.W. nur noch Alter,15 der dann ähnlich wie Speiser (und z.B. GNT, Fox, NAB, NJPS) übersetzt: “Often – by day the parching heat ate me up”. Als Belege nennt Speiser Gen 38,21f. und Gen 46,34. Gen 38,21f. ist aber nur ein Verbalsatz neben einem verblosen Satz: “Wo Ø die Qedesche, die bei Enajim an der Straße war?” – “Hier hāyetāh keine Qedesche” (Gen 38,21). Was Gen 46,34 belegen soll, ist mir unerklärlich: “Viehzüchter hāyû deine Knechte von Jugend an bis jetzt.” Worin unterscheidet sich dieses Verb von anderen Qatal-Verben? Vgl. ebenso Jer 3,25 (“Wir haben gesündigt gegen unseren Gott JHWH – wir und unsere Väter – von unserer Jugend an bis heute”); Ez 4,14 (“Aas und Gerissenes habe ich nicht gegessen von meiner Jugend an bis jetzt”); auch Ps 71,17 (“Du hast mich gelehrt von Jugend an”); Jes 47,12 (“Du hast dich abgemüht von deiner Jugend an”) – alle mit Qatal-Verben und ohne hāyāh, das dem Satz erst “Durativität verliehe”. Um dem Satz “Iterativität zu verleihen”, wie Mathews und auch Speiser und Alter (“often”) ja genauer annehmen, wäre ohnehin gerade nicht Qatal idiomatisch, sondern man hätte den Satz mit dem Weqatal wehāyāh + Zeitangabe eingeleitet und danach Yiqtol-Vollverben verwendet. (3) Die meisten Kommentatoren verweisen auf GK §143 n1, wo der Satz als eine Art verbloser Satz mit Verb erklärt wird: unterscheiden ist dann: ḫaliqtum = “Ausgerissenes”, ḫiṭ(īt)um = “Schluder / Verschludertes” und pissatum = nach Option 1: “Verschwundenes”, nach Option 2: “Minus-Schaf in der Herdenbilanz”. 13 Kenneth A. Mathews, “Genesis 11:27-50:26” (Nashville: Broadman & Holman Publishers, 2005) 529. 14 Ephraim A. Speiser, “Genesis. Introduction, Translation, and Notes” (New York: Doubleday & Company, Inc, 1982) 247: “[T]he verb imparts here a durative or iterative denotation to the rest of the clause; cf. xxxviii 21 f., xlvi 34 fo a similar extension into the past.” 15 Robert Alter, “Genesis. Translation and Commentary” (New York / London: W. W. Norton & Company, 1996) 173. 6 Ein zusammengesetzter Satz (§140d) entsteht durch die Nebeneinanderstellung eines (allezeit vorangehenden, s. litt. c) Subjekts und [anderen Wörtern. …] Ge 31,40 erscheint statt des Subjekts ein Verbalsatz ([...] ich war), der dann durch einen anderen Verbalsatz expliziert wird. Ähnlich auch schon Ewald §128a (“Ich war tags von Hitze und nachts von Kälte gefressen”), dem Dillmann16 folgt. Keiner der drei und auch kein GK folgender Ausleger nennt Parallelen für eine solche Ersetzung von Pronomina durch flektierte Verben und auch ich habe keine gefunden. (4) Ball17 erwägt eine Deutung als Anakoluth, will dann aber lieber das Verb in den nächsten Vers verschieben. Als Anakoluth deuten auch Hoberg18 und unkommentiert offenbar Goldingay19 (“I became – by day heat consumed me, and frost by night.”). An den hebräischen und samaritanischen Lesezeichen lässt sich das jedenfalls nicht ablesen: Im MT trägt hāyîtî Darga, in Sam sind in Schorchs Handschriften D1 zwar ein Fasaq und in C4 ein Neged bezeugt, in allen anderen Handschriften fehlt aber ein solches Interpunktionszeichen. (5) HKL III §344c; 383a schließlich deutet als Hauptsatz + asyndetischer Nebensatz: “Ich war einer, den am Tage Hitze und in der Nacht Kälte verzehrte”.20 Ähnlich auch Ehrlich;21 ich rekonstruiere als seinen Übersetzungsvorschlag: “Ich war in dem Zustand, dass mich am Tage die Hitze verzehrte”. In seinem Genesis-Band verweist er dafür als Parallele noch auf Jes 47,1, in seinem Jesaja-Band entscheidet er sich dort dann aber dagegen. Nach beiden Varianten fehlt dann freilich gerade das Stützwort für den Relativsatz. Dennoch ist dies m.E. noch die tragfähigste Erklärung; zur Not ließe sich hiermit vielleicht sogar die verbreitete Übersetzung (1) begründen. Weil das alles so wenig zufrieden stellt, schlage ich vor, den Silluq nach hāyîtî zu verschieben. Dann störte erstens der verblose genubetî yôm ûgenubetî laylāh (“Tagesraub und Nachtraub”) nicht mehr, das nach der masoretischen Akzentuierung unverbunden auf 39c folgt. Zweitens würde so 39c sehr glatt durch 40b entfaltet. Drittens würde erklärlich, warum für den “Raub” das “archaische”22 Partizip mit Hireq compaginis verwendet wird, das so sehr an das Suffix 1. Pers. Sg. erinnert, dass Rendsburg und Bompiani wirklich so gedeutet haben: weil gerade der von sich sprechende Jakob der “Tagesraub und Nachtraub” ist: August Dillmann, “Die Genesis” (Leipzig: Verlag von S. Hirzel, 1882) 335. Charles J. Ball, “The Book of Genesis” (Leipzig u.a.: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung u.a., 1896) 89. 18 Gottfried Hoberg, “Die Genesis. Nach dem Literalsinn erklärt. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage” (Freiburg i. Br. u.a.: Herdersche Verlagsbuchhandlung, 1908) 305. 19 John Goldingay, “Genesis” (Grand Rapids: Baker Academic) 490 des Ebooks. 20 Üs. nach seinem Kommentar: Eduard König, “Die Genesis. Eingeleitet, übersetzt und erklärt” (Gütersloh: C. Bertelsmann, 1919) 601. 21 Arnold B. Ehrlich, “Randglossen zur hebräischen Bibel. Textkritisches, Sprachliches und Sachliches. Erster Band: Genesis und Exodus” (Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1908) 158; Ders, “Randglossen zur hebräischen Bibel. Textkritisches, Sprachliches und Sachliches. Vierter Band: Jesaja, Jeremia.” (Leipzig, J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1908). 171. 22 Jan P. Fokkelman, “Narrative Art in Genesis. Specimens of Stylistic and Structural Analysis” (Assen: Koninklijke Van Gorcum & Comp. B.V., 1975) 175. 16 17 7 39d+40a Raub des Tages und Raub der Nacht – war (stattdessen) ich: 40b Am Tag verzehrte mich Hitze und Kälte in der Nacht; 40c und mein Schlaf floh von meinen Augen. Die Wortstellung von 39d-40a und das Femininum der Partizipien dienen dann dem Überraschungseffekt, erklären aber gleichzeitig, warum im MT und den Versionen die Syntax anders gedeutet wurde. Ergänzt sei noch: Will man hier nicht mitgehen und präferiert bei (B) eine der oben aufgezählten Deutungen, sollte man sich die Tatsache, dass 39d zwischen “Tagesraub” und “Nachtraub” unterscheidet, gewiss nicht damit erklären, dass Hirten für durch Nachtraub verlorene Tiere nicht belangt wurden,23 sondern damit, dass Schlafmangel aus Angst vor Nachtraub noch häufiger als bemerkenswertes Merkmal des Hirtenberufs erscheint: “[Enkidu] nahm seine Waffe, griff die Löwen an; / es legten sich die Hirten jetzt nachts zum Schlafen. / Die Wölfe erschlug er, er überwältigte die Löwen, / es schliefen die großen Hüter.” (Gilg 109-112, nach TUAT III/4, S. 651); “Löwe und Wolf vernichten die Herde Schakkans, / der Hirte kommt wegen seines Kleinviehs Tag und Nacht nicht zur Ruhe, er fleht dich an.” (Ischum und Erra 86f., nach TUAT III/4, S. 786). Auch hiernach stimmt die Zeile mit ihrer Stoßrichtung also schon mehr mit dem folgenden Vers zusammen, in dem Jakob nicht mehr von Tierverlusten spricht, sondern sich grundsätzlich über sein hartes Hirtendasein beklagt. Statt eines Schlusses seien hier noch eine kurze Notiz zu Gen 31,52 angebracht und eine alte Auslegung von Gen 31,20.26 mitgeteilt, die m.E. zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist: In Gen 31,52 wird allem Anschein nach dazu aufgefordert, die Grenze zum jeweils anderen durchaus im Bösen zu überschreiten; die Logik von V. 50-52 ist nach dem masoretischen Text und fast allen Versionen augenscheinlich: “Wenn du meine Töchter bedrückst, dann gnade dir Gott! Und wenn du und ich nicht die Grenze des jeweils anderen überschreiten zum Bösen, dann gnade uns Gott!” (1) Wenham24 will daher auch diesen Vers als Anakoluth deuten. An seiner Übersetzung lässt sich das nicht ablesen; übersetzte man nach seinem Vorschlag, würden die Verse zu Deutsch lauten: “Zeuge sei dieser Haufen und Zeugin sei die Mazzebe: Wenn ich… – Ich will nicht überschreiten zu dir diesen Haufen! Und wenn du… – Du sollst nicht überschreiten zu mir diesen Haufen und diese Mazzebe zum Bösen!” Wieder spricht mindestens die samaritanische Interpunktion dagegen.25 (2) Raschi und Radak wollen ’im mithilfe von Gen 24,19 die Bedeutung “dass” geben. Dort (und nur dort) steht das Wort aber in der Fügung ‛ad ’im, die offenbar gleichbedeutend ist mit alleinigem ‛ad (“bis”): “Ich will auch für deine Kamele (Wasser) schöpfen, ‛ad ’im sie genug getrunken haben.” Weil ‛ad häufiger mit še- oder ’ašer kombiniert ist, folgern sie, dass ’im in Gen 24,19 offenbar wie sonst še- verwendet wird, und dies soll die Deutung als “dass” in So Finkelstein, “Old Babylonian”: 36; Gordon J. Wenham, “Genesis 16-50” (Nashville: Thomas Nelson Publishers, 1994) 277. 24 .Wenham, “Genesis 16-50” 277. 25 Die masoretischen Akzente sind hier nicht hilfreich, da ’āttāh und ’ānî wegen der Wortstellung S – V in jedem Fall einen Trenner haben müssen. 23 8 unserem Vers rechtfertigen. Aber ‛ad ’im muss man zusammennehmen mit ‛ad ’ašer ’im in Gen 28,15; Num 32,17; Jes 6,11 (ebenfalls jeweils nur “bis”). Welche Funktion ’im in dieser Fügung hat, ist ganz unklar, jedenfalls aber sicher nicht dieselbe wie še- / ’ašer. (3) BHS und z.B. Conklin26 optieren daher dafür, stattdessen lo’ zu streichen. Doch das ist beliebig; alle Versionen bezeugen das Wort beide Male. Daher hier ein neuer Vorschlag: Jub 29,7 bezeugt offenbar eine zweite Vokalisierung von lr‛h. Die Stelle lautet: “Jakob schwur dem Laban an diesem Tag und auch Laban dem Jakob, dass nicht der Eine den Anderen in böser Absicht (አሐዱ ካልኦ በእከይ) über das Gebirge Gilead hinaus überschreiten wolle.”27 Hinter “der Eine den Anderen in böser Absicht” steht sicher die doppelte Vokalisierung von lr‛h als lere‛eh lerā‛āh, wobei dann lere‛eh (“zum Freund”, s. Spr 27,10) wie in der häufigen Formel ’îš lere‛ehû (“einer den anderen” wie ähnlich in V. 49) als “zum Anderen” gedeutet und daher um “der Eine” ergänzt wurde.28 Gehen wir auch beim MT von dieser Vokalisierung aus, ist das Lamed am besten i.S.v. “als” / “um … zu sein” zu nehmen wie in Jer 52,16 (“jemanden als Gärtner und Landwirt zurücklassen”); Ex 21,7; Dtn 28,68; Est 7,4; Ps 105,17 (“jemanden als Knecht / Magd verkaufen”); Jes 14,2 (“Menschen als Knechte und Mägde nehmen”). Danach ist zu übersetzen: 52a Zeuge sei dieser Haufen 52b und Zeugin sei die Mazzebe: 52c Wenn ich nicht zu dir überschreite diesen Haufen 53d und wenn du nicht zu mir überschreitest diesen Haufen und diese Mazzebe als Freund: 53a dann richte der Gott Abrahams und der Gott Nahors zwischen uns, der Gott ihrer Väter! Die übliche Deutung des Verses als Nichtangriffspakt ist dann korrekt, aber die Syntax ist anders zu deuten. In Gen 31,20.26 fasst man den Ausdruck “Jakob hat Labans Herz gestohlen” heute sehr einheitlich als “er hat ihn getäuscht / überlistet”, weil das Herz nach israelitischer Vorstellung Sitz des Verstandes war. Weil “er hat ihm das Gehirn gestohlen” aber keine sehr erwartbare Wendung für “er hat ihn getäuscht” ist (besser noch Vatablus: “Wissen vorenthalten”),29 halte ich die Deutung von Aloisius Lipomanus30 immerhin für bedenkenswert: Dieser orientiert sich bei der Deutung des “Herzens” an Mt 6,21 = Lk 12,34 (“wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz”) und hält danach “Herz” für eine Synekdoche für das, “woran jemandes Herz hängt”. Was genau in unserem Kapitel damit gemeint ist, wäre dann anfangs noch nicht klar: “Jakob stahl das Herz des Aramäers, [indem] er ihm nicht von seiner Flucht erzählte” in V. 20 könnte sich darauf beziehen, dass er Laban seine Töchter “gestohlen” hat, was dann Laban in V. 26 zu Beginn seiner Rede selbst andeutet: “Was hast du getan – hast mein Herz gestohlen, meine Töchter wie Kriegsgefangene weggeführt!?” Das Selbe könnte er dann Blane Conklin, “Oath Formulas in Biblical Hebrew” (Winona Lake: Eisenbrauns, 2011) 17. Übersetzung nach Littmann, die entscheidende Stelle aber wörtlicher. Zum Text vgl. am ausführlichsten James C. Vanderkam, “The Book of Jubilees” (Leuven: E. Peeters, 1989) 185f. 28 Vgl. ähnlich z.B. kurz darauf in Gen 33,18 / Jub 30,2: šlm > šālom šālem, “in Frieden nach Salem”. 29 Benito Arias Montano / Franciscus Vatablus, “Sacra Biblia Hebraice, Graece Et Latine…” (Heidelberg: Ex officina Commeliniana, 1599) 71: facere aliquid eo nesciente, “etwas ohne jemandes Wissen tun”. 30 Luigi Lippomano, “Catena in Genesim ex authoribus ecclesiasticis …” (Paris: C. Guillard, 1546), 319B 26 27 9 auch noch in V. 27 meinen, wenn er fragt: “Warum hast du verborgen, dass du fliehen willst, und mich bestohlen!?” Und erst der letzte Satz seiner Rede – “warum hast du meine Götter gestohlen!?” – offenbarte dann: Tatsächlich ging es Laban wirklich primär um seine Terafim – wie das auch schon die Aufeinanderfolge von Vv. 19f. nahegelegt hatte: “Rahel stahl die Terafim, die ihrem Vater gehörten. Und [so] stahl Jakob das Herz Labans, [weil] er ihm nicht erzählte, dass er fliehen wolle.” 10