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Comeback am Republic Day

2023, CARGO 58

Shah Rukh Khan, der größte Star des Hindi-Kinos und damit der Welt, kehrt nach fünf Jahren Absenz auf die Leinwand zurück. In "Pathaan" rettet er Indien vor einer gefährlichen Biowaffe und sagt dem Hindunationalismus den Kampf an – indirekt, aber unmisserverständlich

58 58 film medien kultur In Frankfurt am Main gab es kein ‹Provinzkino›. Es gab in der Stadt verschiedene kinematografische Provinzen mit unterschiedlichen Lagen und Geschmäckern – wie in den nahe gelegenen Rheintälern und ihren Weinbergen, deren Produkte man vor Ort verkostete und regelmäßig besuchen konnte. Der Filmkonsum war entsprechend promiskuitiv und launisch, ob ein neorealistischer Film in s/w und mit Untertiteln, ein … Gertrud Koch 7 www.cargo-film.de 15. Jg. Juni 2023 D 12,80 € EU 15,80 € Perivi Katjavivi Eines meiner Projekte ist eine Fernsehserie, die sich mit der Zeit um 1800 bis zum deutschen Kolonialismus beschäftigt. In mehreren Staffeln werden die gesellschaftlichen Veränderungen beleuchtet, die Deutschen kommen erst in Staffel 3. Ich würde mir gerne die ursprüngliche Buren-Eroberung ansehen, die Kriege zwischen den Namas und den Hereros. Das wäre dann im Stil von deadwood oder the wire. Eine soziologische … 42 Schon im Titel spielt notre corps auf das 1973 erstmals erschienene Buch Our Bodies, Our Selves des Boston Women’s Health Book Collective an (als Notre corps, nousmêmes ins Französische übersetzt). Frauengesundheitszentren, Selbstuntersuchungspraktiken und Geburtshäuser stellten und stellen Räume des Schutzes und der Selbstermächtigung gegen die etablierte und institutionalisierte gynäkologische Medizin dar. Diese … Claire Simon 10 Comeback am Republic Day Shah Rukh Khan, der größte Star des HindiKinos und damit der Welt, kehrt mit Pathaan nach fünf Jahren Absenz auf die Leinwand zurück Von Vinzenz Hediger D er «Republic Day» ist neben dem Tag der Unabhängigkeit am 15. August der wichtigste säkulare Feiertag in Indien. Am 26. Januar 1950 trat die indische Verfassung in Kraft, die unter Federführung des Philosophen und Juristen Bimrao Ramji Ambedkar erarbeitet wurde. Ambedkar war selbst ein Unberührbarer, ein Aktivist und Sozialreformer; zudem ein Alliierter Ghandis, aber in Kastenfragen oft auch sein Gegenspieler. Sein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften hatte Ambedkar an der London School of Economics erworben – und dann noch ein weiteres Mal promoviert, in Philosophie, bei John Dewey an der Columbia University. Die indische Verfassung hatte Ambedkar nicht zuletzt als Gegenentwurf zu den «Jim Crow»-Gesetzen des 22 amerikanischen Südens konzipiert, die er in seiner Zeit in den usa genau studierte. Von Dewey hatte Ambedkar das Konzept der «Endosmose» übernommen, die Idee einer dynamischen Verflüssigung festgefügter sozialer Unterschiede in einer lebendigen demokratischen Praxis. Seine indische Verfassung setzt sich ganz in diesem Sinne zum Ziel, eine inklusive Konzeption von Indien als einem Nationalstaat zu verwirklichen, der Hindus, Moslems und anderen religiösen Gruppen Raum gibt und mit einer Vielzahl von spezifischen Regelungen zur Überwindung der Kastengrenzen beiträgt. Den «Republic Day» begeht Indien als Feier der nationalen Selbstbehauptung – unter anderem mit einer großen Militärparade in Delhi. Erst am «Republic Day» 1950 wurde der englische König als cargo 58/2023 film | essay Staatsoberhaupt Indiens abgelöst, und mit der Demonstration militärischer Stärke sendet das Land zugleich ein Signal an den Nachbarn und lauernden Erbfeind Pakistan. Dessen Staatsgründung im Sommer 1947 ist verbunden mit der traumatischen, bis heute beide Länder prägenden Erfahrung der «Partition», jener territorialen Aufteilung, die mit Massakern an Hindus im heutigen Pakistan und Moslems im heutigen Indien einher ging, denen je nach Schätzung zwischen 200 000 und zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dieses Jahr war der «Republic Day», oder vielmehr schon der 25. Januar, Kino-Premieren-Tag. In ganz Indien, aber auch in Südostasien, vor allem in Malaysia und Indonesien, in den Golfstaaten und in vielen Großstädten cargo 58/2023 Europas, kam an diesem Tag pathaan ins Kino, der erste Film seit 2018 mit Shah Rukh Khan in der Hauptrolle. Produziert von Yash Raj, dem erfolgreichsten indischen Studio der letzten Jahrzehnte, das seit dem Tod des Firmengründers Yash Chopra 2012 (cargo 16) von dessen Sohn Aditya Chopra geleitet wird. Realisiert unter der Regie des Action-Film-Spezialisten Siddharth Anand, erzählt pathaan, wie der Titelheld, ein indischer Geheimagent, aus dem vorgezogenen Ruhestand zurückkehrt, um Indien vor der Bedrohung durch eine gefährliche Biowaffe zu retten. Den Anlass zu diesem Abenteuer bildet im Film eine reale Gegebenheit, eine der kontroversesten Maßnahmen der aktuellen hindu-nationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi. 23 Am 6. August 2019 hatte die Modi-Regierung den im Paragraphen 370 der Verfassung festgeschriebenen Sonderstatus der Provinz Jammu und Kashmir an der pakistanischen Grenze im Nordwesten Indiens aufgehoben und die ganze Provinz unter direkte Verwaltung der Zentralregierung gestellt. Die Provinz, die insbesondere das Kashmir-Tal umfasst, eine voralpine Landschaft und ein zentraler Schauplatz der indischen Mythologie, war in der Kolonialzeit ein sogenannter «Prinzenstaat» gewesen, ein teilautonomes Gebiet, in dem unter der Herrschaft eines hinduistischen Regenten eine muslimische Bevölkerungsmehrheit lebte. Kashmir bildete so das Gegenstück zu einem anderen wichtigen «princely state», Hyderabad, in dem eine hinduistische Mehrheit unter einer muslimischen Regentschaft lebte. Im Zuge der Staatsgründung von Indien wollte sich der Nizam von Hyderabad Pakistan anschließen. Durchkreuzt wurde der Plan von der neuen indischen Zentralregierung unter Jawaharlal Nehru, der Hyderabad ganz einfach militärisch annektieren ließ und in den Bundesstaat Andhra Pradesh umwandelte (Indien lässt sich hinsichtlich Genese und Fortbestand, wie der Politikwissenschaftler Partha Chaterjee jüngst anmerkte, vielleicht doch am besten als Imperium mit gewissen neo-feudalistischen Tendenzen verstehen). Jammu und Kashmir wiederum schlossen sich per Volksentscheid Indien an und erhielten dafür unter Paragraph 370 einen Sonderstatus mit einer stärkeren Autonomie gegenüber dem Zentralstaat. Kashmir blieb indes ein Konfliktherd, auch weil das Gebiet aufgrund der muslimischen Bevölkerungsmehrheit von Pakistan beansprucht wird. Dem über Jahrzehnte schwelenden Konflikt versuchte Modi mit der Aufhebung des Sonderstatus ein Ende zu setzen; tatsächlich wird die Provinz aber seit vier Jahren per Diktat und überaus repressiv von Delhi aus regiert. pathaan nun erzählt, wie ein terminal an Krebs erkrankter pakistanischer Offizier von Modis Staatsstreich in Kashmir erfährt und auf Rache sinnt. Eine hypereffiziente Biowaffe soll in Delhi und anderen Großstädten eingesetzt werden und einen großen Teil der indischen Bevölkerung vernichten. Umgesetzt wird der Plan von einem ehemaligen indischen Agenten namens Jim, gespielt von John Abraham, der als Waisenkind aufwuchs, 24 für den Geheimdienst arbeitet und, nachdem er bei einem Einsatz allein gelassen wurde, aus Enttäuschung nun für Geld mitunter auch für den Feind arbeitet. Zwischen Pathaan und Jim steht Rubina Moshin, gespielt von Deepika Padukone, eine pakistanische Ärztin, die in Spanien lebt und sich im Lauf des Films als Doppelagentin entpuppt – und Pathaan schließlich unterstützt. Pathaan, der seinen Namen als Ehrentitel von einer afghanischen Dorfgemeinschaft erhalten hat, die er einst vor einem Angriff rettete, besorgt die Rettung Indiens, im Zusammenspiel mit Rubina, fast im Alleingang. Nur ganz am Ende ist er auf die Hilfe eines Freundes angewiesen, gespielt von Salman Khan, einem weiteren großen Star des Hindi-Kinos, der in einem Cameo-Auftritt den ermatteten Pathaan im Kampf gegen pakistanische Spezialeinheiten in einem fahrenden Zug mit Kopfschmerztabletten und frischem Kaffee versorgt und die Mission danach gemeinsam mit ihm zu Ende bringt. pathaan steht exemplarisch für die Transformation des Hindi-Kinos in den letzten fünfzehn Jahren. Dominierten in den 1990er und 2000er Jahren noch Romanzen und historische Epen mit üblicherweise nicht weniger als sechs Song-and-Dance-Nummern das Angebot, so sind die großen Produktionen nun Action-Filme. Unter dem Eindruck und Einfluss koreanischer und südindischer Produktionen, die in Indien seit den 1980er Jahren die Trends setzen, bilden nun cgi und Special Effects-Sequenzen die zentralen Schaustücke der Filme, die sich in der Länge dem internationalen Standard von zweieinhalb Stunden annähern (wobei die Aufteilung in zwei Teile mit Pausen immer noch beibehalten wird). In pathaan spielt die Musik nach wie vor eine wichtige Rolle, aber der Film umfasst nur zwei Songs, die jeweils am Ende der beiden Teile gezeigt werden. Der erste als Teil der Spanien-Episode, der zweite als Bonus im Abspann. Auch ist der Film deutlich auf ein Sequel angelegt. Jim, der Antagonist, kommt am Ende scheinbar zu Tode, aber es ist nicht auszuschließen, dass er in «Pathaan 2» noch einmal auftreten wird. Die verstärkte Ausrichtung auf die Konventionen und Formate des internationalen Kinomarktes zahlte sich bei pathaan aus. Der erfolgreichste Hindi-Film aller Zeiten bleibt mit rund € 220 Millionen Euro vorerst dangal cargo 58/2023 film | essay von 2016, ein Sport-Biopic über eine junge Wrestlerin mit Amir Khan in der Rolle des Vaters und Trainers, das außerhalb Indiens vor allem in China großen Zuspruch fand (wobei im Übrigen davon auszugehen ist, dass Ramesh Sippys sholay, eine indische Version von spiel mir das lied vom tod von 1975, und Mehboob Khans mother india von 1957, beides Filme, die ins Kino kamen, bevor Einspielergebnisse detailliert erfasst wurden, deutlich mehr Zuschauer:innen hatten – zumal wenn man bedenkt, dass mother india im ehemaligen Ostblock ebenfalls lange Jahre immer wieder im Kino gezeigt wurde). pathaan spielte im Kino weltweit über 120 Millionen € ein und ist damit der zweiterfolgreichste Hindi-Film – und der erfolgreichste in der Karriere von Shah Rukh Khan. Auch in Deutschland übertraf der Film die Erwartungen. In Frankfurt waren in der Premierenwoche nur wenige Vorführungen angesetzt (im Cinestar am Eschenheimer Tor). Schließlich lief der Film auch noch in zwei weiteren Kinos in Offenbach. In Delhi bildeten sich schon am Nachmittag des 25. Januar lange Schlangen vor den großen Kinos in der Innenstadt. Bereits am Premierentag zirkulierten auf twitter und anderen Plattformen Videos von Shah Rukh Khan-Fans, die in die Kinos drängen. Zum Maßstab und Merkmal des Zuspruchs wurden aber rasch Videos, die zeigten, wie das Publikum am Filmende den Kino-Bühnenraum stürmte und zum Song Jhoome Jo Pathaan tanzte. Zeigten diese Videos anfangs nur Kinos in Indien, so kamen bald solche hinzu, die in Europa gedreht wurden. Ein Video aus Deutschland etwa zeigte eine junge blonde Frau, die allein auf der Bühne tanzte. Manche deutschen twitter-Nutzer empörten sich und bezichtigten die Frau der kulturellen Appropriation, während indische Nutzer voll der Anerkennung für die Qualität ihrer dance moves waren. pathaan wurde zum Familienereignis. Das Kino Delite in Delhi ist am Rande von Old Delhi gelegen, der Altstadt, die hauptsächlich von Muslimen bewohnt ist. Das Delite ist eines der letzten großen Kinos mit nur einer Leinwand, ein Haus mit einem historischen Innenausbau im Art Nouveau-Stil, das von der Besitzerfamilie gepflegt und in Stand gehalten wird und seit den 1950er Jahren auch als Premierenkino dient. Von der staatspolitischen Bedeutung des Hauses zeugen nicht cargo 58/2023 nur die vielen Fotografien von Filmstars des klassischen Hindikinos bei ihren Delite-Besuchen, sondern auch von Nehru und anderen politischen Honoratioren. Die Vorführung, die ich einige Tage nach der Premiere besuchte, war ausverkauft, und die typische Besuchergruppe bestand aus Drei- bis Vier-Generationen-Haushalten inklusive Kleinkindern, wobei die letzteren lärmend auf dem Balkon herumrannten, was aber bei der Klangkulisse des Films nicht wirklich störte. Deutlich wird bei einer solchen Vorführung, dass die Tanzeinlagen des Publikums am Ende – auch in dieser Vorführung stürmte das Publikum am Ende die Bühne – keineswegs eine Transgression darstellen. Vielmehr sind die Filme von vornherein auf eine Interaktion mit dem Publikum und eine aktive Kommentierung durch die Zuschauer:innen angelegt. Bei seinem ersten Auftritt präsentiert Shah Rukh Khan, der ungeachtet seiner mittlerweile 57 Jahre sehr gut trainiert ist, seinen wohlgestalteten Oberkörper lange genug direkt der Kamera, um dem Publikum Zeit für einen anerkennenden Begeisterungssturm zu geben. Einen weiteren Höhepunkt der Partizipation stellte die Reaktion auf den Cameo-Aufritt von Salman Khan dar; auch hier ist das Timing so, dass ein Moment des Innehaltens dem Publikum Gelegenheit gibt, sich akustisch zur Geltung zu bringen. Diese partizipative Familienfeier im Kino kurz nach dem «Republic Day» war nicht nur eine cinephile Feierstunde, sondern auch ein politisches Ereignis. Das Kino, so schrieb der Filmhistoriker Ashis Rajadyaksha einmal, sei der einzige Ort in Indien, an dem Ambedkars Verfassungsideal der Endosmose, der Aufhebung aller ethnischen, religiösen und Kastendifferenzen in der gelebten Demokratie, je vollständig Wirklichkeit geworden sei – wenn auch nur für die Dauer der Vorführung und damit sehr vorübergehend. Das Kino in Indien ist so gesehen immer schon ein politischer Ort, ein «Emblem der Demokratie», aber in einem Sinn, der durchaus über das hinausgeht, was Alain Badiou mit dieser Formulierung im Sinn hatte. Indien ist ein Land, in dem Politiker stets die Nähe von Filmstars suchen, um ihren Machtansprüchen populäre Legitimität zu verleihen. Amitabh Bachchan etwa, der wichtigste männliche Star der 1970er und 1980er Jahre und Protagonist des «Angry Young 25 Man»-Filmzyklus, stand Indira Gandhi und ihrer Famile nahe; Bachchans Vater, der Dichter Harivanshrai Bachchan, hatte schon zu Nehrus engen Freunden gehört. Auch der aktuelle Premierminister Narendra Modi sucht die Nähe von Filmstars. So ließ er sich 2019 vom Bollywood-Schauspieler Akshay Kumar fürs Fernsehen interviewen und vermittelte dabei faszinierende Einblicke in seine ganz eigene Art, Mangos zu essen. Indien ist aber auch das Land, in dem Fanklubs zu Parteien werden und Filmstars zu Politikern. Der Filmstar M. G. Ramachandran regierte von 1977 bis 1987 den Bundesstaat Tamil Nadu im Süden. Nach seinem Tod folgte ihm seine ehemalige Film- und Lebenspartnerin Jayalalithaa nach und regierte den Staat mit Unterbrüchen von 1991 bis zu ihrem Tod 2016. Mani Ratnam, der wichtigste Regisseur des tamilischen Kinos der letzten dreißig Jahre, der auch auf das Hindi-Kino stilprägend wirkte, widmete Ramachandrans Aufstieg einen seiner besten Filme, iruvar von 1997, in dem die ehemalige Miss World Ayshwaria Ray als Jayalalithaa ihre erste Hauptrolle spielte. So evident ist die Verbindung von Kino und Politik, dass sich auch die Geschichte der indischen Wirtschaftspolitik seit der Unabhängigkeit in Filmen erzählen lässt. Der Ökonom Ashoka Mody hat jüngst in seinem Buch India is Broken aufgezeigt, wie durchwegs alle indischen Regierungen seit 1947 es versäumten, in die Grundschulbildung und das Gesundheitswesen zu investieren, wie dies Japan nach 1886 und Süd-Korea nach 1945 getan hatten. Stattdessen wurde in Prestigeprojekte von Industrie und Forschung investiert, die nur wenige Arbeitsplätze schufen und einer flächendeckenden Korruption Vorschub leisteten. In jedem seiner Kapitel erläutert Mody die Lage und Entwicklung des Landes anhand populärer Filme, die, ob sie nun von Raj Kapoor oder Satyajit Ray stammen, die Konflikte und Problemlagen ihrer Zeit jeweils bündig zum Ausdruck bringen. Die politische Bedeutung von pathaan geht aber über diese allgemeine Allianz von Kino und Politik noch deutlich hinaus. Viele der tweets über den Enthusiasmus des Publikums in der Premierenwoche des Films hatten etwas Triumphierendes: Der Erfolg von pathaan war auch ein Sieg über seine politischen Gegner. Tatsächlich hatten in den Wochen vor der Premiere Anhänger des 26 Premierministers in den sozialen Medien zum Boykott des Films aufgerufen. Die «bhakts», die «Gläubigen», stehen der hindu-nationalistischen Idelogie von Modi und seiner Partei, der Bharatya Janata Party (bjp) sowie deren Milizorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (rss) nahe. Verkürzt gesagt bestehen der Kern und die Konsequenz der hindu-nationalistischen Ideologie der Hindutva darin, dass nur Hindus vollwertige Inder:innen sein können, was auch impliziert, dass die rund 215 Millionen Muslime unter den mittlerweile bald 1,4 Milliarden Indern nur Bürger:innen zweiter Klasse sind. Die «bhakts» heißen aber auch so, weil sie online sehr aktiv sind und alle Informationen, die ihren weltanschaulichen Präferenzen entsprechen, treugläubig zum Nennwert nehmen und weiter verbreiten. Das hat mitunter tödliche Folgen: Die so in Umlauf gebrachten Videos stacheln zur Gewalt gegen Muslime an und haben in den religiös motivierten Pogromen der letzten Jahre oft eine Rolle gespielt. Die Filmindustrie war in den letzten Jahren zu einer wichtigen Zielscheibe der «bhakts» geworden. Wer sich nicht auf ihrer und der Linie der bjp bewegte, musste mit Boykottdrohungen und -aufrufen rechnen. Einige dieser Boykotte schienen auch Erfolg zu haben, und es war nicht auszuschließen gewesen, dass dies auch bei pathaan der Fall sein würde. Den Zorn der «bhakts» hatte pathaan bereits im Herbst 2022 auf sich gezogen, als das Musikvideo zum ersten Song, Besharam Rang, vorab veröffentlicht wurde. Der Refrain lautet in etwa «Die Welt hat meine richtigen Fragen noch nicht gesehen», was in der entsprechenden Szene als vieldeutige Anspielung auf den Doppelagentenstatus der Figur von Deepika Padukone gelesen werden kann. Die Szene ist an einem Pool an der spanischen Küste gedreht und zeigt Padukone umgeben von einer Tanzgruppe und in Interaktion mit Shah Rukh Khan. Dabei wechseln die Outfits von Einstellung zu Einstellung und werden immer knapper und gewagter. Den Höhepunkt bildet schließlich eine kurze Einstellung, die Deepika Padukone in einem orangefarbenen Bikini zeigt, eng angeschmiegt an Shah Rukh Khan, der ein dunkelgrünes Hemd trägt; im Vordergrund spritzt die Gischt durchs Bild. Es war diese Einstellung, um die sich die Kontroverse drehte. Die «bhakts» sahen in dem «saffron bikini» eine cargo 58/2023 film | essay schamlose Entwürdigung der indischen Nationalfarbe Orange und forderten alle anständigen Inder dazu auf, den Film nicht anzuschauen. Man kann die Einstellung natürlich auch anders lesen: Nämlich als Darstellung der Flagge des säkularen Indien. Padukone, von Haus aus Hindu, trägt die Farbe Orange, die in der indischen Flagge für den hinduistischen Bevölkerungsteil steht, Shah Rukh Khan, von Haus aus Muslim, trägt die Farbe Grün, die in der indischen Flagge für dem muslimischen Bevölkerungsteil steht; die Gischt repräsentiert den weißen Mittelteil, in dem auf der Flagge das Spinnrad Gandhis zu sehen ist, als Symbol des «swadesh», der ökonomischen Selbstbehauptung im Kampf gegen die koloniale Ausbeutung. An den divergierenden Semantiken des orangen Bikini lässt sich der eigentliche politische Konflikt festmachen, um den es in pathaan geht. Kritiker:innen warfen dem Film vor, nur eine andere Form des Nationalismus zu vertreten. Das ist gewiss nicht falsch. Das Premierendatum hat, angesichts der Tatsache, wie der «Republic Day» jeweils öffentlich begangen wird, seine besondere Bewandtnis, und in dem Film selbst geht es zentral um die Frage der Loyalität zum indischen Staat – und um die Bereitschaft, diesen wenn nötig mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Die Kritik am vermeintlichen militaristischen Nationalismus des Films erinnert dabei an die entsprechenden Überlegungen des bengalischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore (1861– 1941), der Autor sowohl der indischen wie der bengalischen Nationalhymne ist. Tagore wollte dem aggressiven europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts nicht einen eigenen indischen Nationalismus entgegen stellen. Vielmehr warb er – gleichsam in Vorwegnahme entsprechender post- und dekolonialer Positionen – für ein Gemeinschaftsverständnis jenseits des Nationalstaates, konnte sich damit aber gegen Vordenker der indischen 8.6.–2.7.23 Screenings Ausstellung Symposium www.arsenal-berlin.de Unabhängigkeitsbewegung wie Nehru nicht durchsetzen. Es war schließlich die Idee eines – wie auch immer komplexen und in seinem Zusammenhalt prekären – indischen Nationalstaats, die der Unabhängigkeitsbewegung ihre politische Durchschlagkraft verlieh. Die entscheidende Frage im aktuellen politischen Klima Indiens ist denn wohl auch eher, welchen Nationalismus ein Film wie pathaan schließlich vertritt: den inklusiven, der nicht zuletzt in der Verfassung Ausdruck gefunden hat, oder den exklusiven der Hindutva-Bewegung. In dieser Frage bezieht Shah Rukh Khan schon durch seine Herkunft Stellung. Wie alle der drei großen Superstars des Hindi-Kinos der letzten dreißig Jahre – die anderen beiden sind Amir Khan und Salman Khan – ist Shah Rukh Khan seinem Familiennamen nach erkennbar muslimischer Herkunft. Sein Vater Taj Mohammed Khan wurde in Peshawar, im heutigen Pakistan geboren und kämpfte in den 1940er Jahren als Teil des Kongresses für die indische Unabhängigkeit; seine Familie floh nach der Partition wie viele andere, wenn auch vorwiegend hinduistische Familien nach Delhi – eine Stadt, die bis heute in vielen Teilen von den Geflohenen geprägt wird. Im Unterschied etwa zu Amitabh Bachchan, der sich in den 1990er Jahren von der Kongresspartei ab- und der Shiv Sena Partei zuwandte – einer zunehmend hindunationalistischen Regionalpartei im Bundesstaat Maharashtra, wo mit Mumbai auch das Zentrum der HindiFilmindustrie liegt –, vermied Shah Rukh Khan jede Nähe zur aufstrebenden bjp und hielt sich insbesondere auch nach der Wahl von Narendra Modi zum Premierminister 2014 von diesem fern. Der Preis für diese Zurückhaltung war, dass Shah Rukh Khan und seine Familie zur Zielscheibe der Regierung und ihrer Anhänger wurden. Khans Kinder sahen sich mit dem Vorwurf des Drogenmissbrauchs konfrontiert, wobei das entsprechende Verfahren aus Mangel an Beweisen schließlich eingestellt wurde. Zudem wurden Khans Filme zum Gegenstand von Boykottaufrufen. Vor diesem Hintergrund ist der Erfolg von pathaan in der Tat auch ein politischer: ein Votum des Kinopublikums für eine säkulare, integrative Vision Indiens und gegen den Hindu-Nationalismus. Shah Rukh Khan verzichtete in seinen öffentlichen Aussagen zu pathaan auf jegliche direkten politischen 28 Aussagen, aber er ließ an seinen Überzeugungen und der Stoßrichtung des Films dennoch keinen Zweifel. Insbesondere wies er in einem Interview auf die Tatsache hin, dass im Cast alle wichtigen Religionen Indiens vertreten sind: Er selbst ist Muslim, Deepika Padukone ist Hindu, und John Abraham, der aus dem Staat Kerala im Südosten stammt, wo die größte christliche Bevölkerungsgruppe in Indien lebt, ist Christ. pathaan, so Shah Rukh Khan, sei der «Amar Akbhar Anthony» der Gegenwart – ein Bezug zu einem Film von Manmohan Desai aus dem Jahr 1977, dessen Hauptfiguren ebenfalls je ein Hindu, ein Muslim und ein Christ waren. Ob es hilft? Die erste wichtige Wahl seit der Premiere von pathaan fand Anfang Mai im Teilstaat Karnataka im Süden statt, dessen Hauptstadt Bangalore das Zentrum der indischen Tech-Industrie ist. Die bjp hatte bislang im Süden kaum Resonanz gefunden. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen vom höheren Bildungsniveau im Süden bis zu der Tatsache, dass die dravidischen Sprachgebiete im Bundesstaat Indien mit einem Hindu-Nationalismus, der auch mit einem hegemonialen Anspruch der Verkehrssprache Hindi einher geht, wenig anfangen können. Karnataka war allerdings die Ausnahme: Hier konnte Narendra Modi, der 2024 als Premierminister zur Wiederwahl antritt, aufgrund der letzten Wahlergebnisse von 2018 auf den großen Durchbruch und eine Regierungsmehrheit hoffen. Entsprechend stark engagierte sich Modi persönlich im Wahlkampf, wobei anti-muslimische Topoi wie gewohnt ein zentrales Element seiner Wahlkampfrhetorik bildeten. Seine Botschaft wurde indes nicht gehört. Die säkulare vormalige Staatspartei, der Kongress, gewann die Wahl nicht nur, sondern holte sich eine solide absolute Mehrheit im Regionalparlament und wird künftig auch den Chief Minister stellen. Korrelation ist nicht Kausalität, aber gefreut haben sich über dieses Resultat nicht zuletzt dieselben Leute, die in der «Republic Day»-Woche schon zum Feiern im Kino waren. g Pathaan ist in Europa ab dem 4. August 2023 auf DVD und BluRay erhältlich cargo 58/2023