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film medien kultur
In Frankfurt am Main gab es kein ‹Provinzkino›. Es gab in der Stadt verschiedene
kinematografische Provinzen mit unterschiedlichen Lagen und Geschmäckern
– wie in den nahe gelegenen Rheintälern
und ihren Weinbergen, deren Produkte
man vor Ort verkostete und regelmäßig
besuchen konnte. Der Filmkonsum war
entsprechend promiskuitiv und launisch,
ob ein neorealistischer Film in s/w und mit
Untertiteln, ein … Gertrud Koch 7
www.cargo-film.de
15. Jg. Juni 2023
D 12,80 € EU 15,80 €
Perivi Katjavivi Eines meiner Projekte
ist eine Fernsehserie, die sich mit der Zeit
um 1800 bis zum deutschen Kolonialismus
beschäftigt. In mehreren Staffeln werden
die gesellschaftlichen Veränderungen beleuchtet, die Deutschen kommen erst in
Staffel 3. Ich würde mir gerne die ursprüngliche Buren-Eroberung ansehen, die Kriege zwischen den Namas und den Hereros.
Das wäre dann im Stil von deadwood
oder the wire. Eine soziologische … 42
Schon im Titel spielt notre corps auf das
1973 erstmals erschienene Buch Our Bodies,
Our Selves des Boston Women’s Health
Book Collective an (als Notre corps, nousmêmes ins Französische übersetzt). Frauengesundheitszentren, Selbstuntersuchungspraktiken und Geburtshäuser stellten
und stellen Räume des Schutzes und der
Selbstermächtigung gegen die etablierte
und institutionalisierte gynäkologische
Medizin dar. Diese … Claire Simon 10
Comeback am
Republic Day
Shah Rukh Khan, der größte Star des HindiKinos und damit der Welt, kehrt mit Pathaan nach
fünf Jahren Absenz auf die Leinwand zurück
Von Vinzenz Hediger
D
er «Republic Day» ist neben dem Tag der Unabhängigkeit am 15. August der wichtigste säkulare
Feiertag in Indien. Am 26. Januar 1950 trat die indische
Verfassung in Kraft, die unter Federführung des Philosophen und Juristen Bimrao Ramji Ambedkar erarbeitet wurde. Ambedkar war selbst ein Unberührbarer,
ein Aktivist und Sozialreformer; zudem ein Alliierter
Ghandis, aber in Kastenfragen oft auch sein Gegenspieler. Sein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften hatte
Ambedkar an der London School of Economics erworben – und dann noch ein weiteres Mal promoviert, in
Philosophie, bei John Dewey an der Columbia University. Die indische Verfassung hatte Ambedkar nicht zuletzt als Gegenentwurf zu den «Jim Crow»-Gesetzen des
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amerikanischen Südens konzipiert, die er in seiner Zeit in
den usa genau studierte. Von Dewey hatte Ambedkar das
Konzept der «Endosmose» übernommen, die Idee einer
dynamischen Verflüssigung festgefügter sozialer Unterschiede in einer lebendigen demokratischen Praxis. Seine
indische Verfassung setzt sich ganz in diesem Sinne zum
Ziel, eine inklusive Konzeption von Indien als einem Nationalstaat zu verwirklichen, der Hindus, Moslems und
anderen religiösen Gruppen Raum gibt und mit einer
Vielzahl von spezifischen Regelungen zur Überwindung
der Kastengrenzen beiträgt. Den «Republic Day» begeht
Indien als Feier der nationalen Selbstbehauptung – unter
anderem mit einer großen Militärparade in Delhi. Erst
am «Republic Day» 1950 wurde der englische König als
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Staatsoberhaupt Indiens abgelöst, und mit der Demonstration militärischer Stärke sendet das Land zugleich ein
Signal an den Nachbarn und lauernden Erbfeind Pakistan. Dessen Staatsgründung im Sommer 1947 ist verbunden mit der traumatischen, bis heute beide Länder
prägenden Erfahrung der «Partition», jener territorialen
Aufteilung, die mit Massakern an Hindus im heutigen
Pakistan und Moslems im heutigen Indien einher ging,
denen je nach Schätzung zwischen 200 000 und zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Dieses Jahr war der «Republic Day», oder vielmehr
schon der 25. Januar, Kino-Premieren-Tag. In ganz Indien, aber auch in Südostasien, vor allem in Malaysia und
Indonesien, in den Golfstaaten und in vielen Großstädten
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Europas, kam an diesem Tag pathaan ins Kino, der erste
Film seit 2018 mit Shah Rukh Khan in der Hauptrolle.
Produziert von Yash Raj, dem erfolgreichsten indischen
Studio der letzten Jahrzehnte, das seit dem Tod des Firmengründers Yash Chopra 2012 (cargo 16) von dessen
Sohn Aditya Chopra geleitet wird. Realisiert unter der
Regie des Action-Film-Spezialisten Siddharth Anand,
erzählt pathaan, wie der Titelheld, ein indischer Geheimagent, aus dem vorgezogenen Ruhestand zurückkehrt, um Indien vor der Bedrohung durch eine gefährliche Biowaffe zu retten. Den Anlass zu diesem Abenteuer
bildet im Film eine reale Gegebenheit, eine der kontroversesten Maßnahmen der aktuellen hindu-nationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi.
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Am 6. August 2019 hatte die Modi-Regierung den im
Paragraphen 370 der Verfassung festgeschriebenen Sonderstatus der Provinz Jammu und Kashmir an der pakistanischen Grenze im Nordwesten Indiens aufgehoben
und die ganze Provinz unter direkte Verwaltung der
Zentralregierung gestellt. Die Provinz, die insbesondere das Kashmir-Tal umfasst, eine voralpine Landschaft
und ein zentraler Schauplatz der indischen Mythologie,
war in der Kolonialzeit ein sogenannter «Prinzenstaat»
gewesen, ein teilautonomes Gebiet, in dem unter der
Herrschaft eines hinduistischen Regenten eine muslimische Bevölkerungsmehrheit lebte. Kashmir bildete so
das Gegenstück zu einem anderen wichtigen «princely
state», Hyderabad, in dem eine hinduistische Mehrheit
unter einer muslimischen Regentschaft lebte. Im Zuge
der Staatsgründung von Indien wollte sich der Nizam
von Hyderabad Pakistan anschließen. Durchkreuzt wurde der Plan von der neuen indischen Zentralregierung
unter Jawaharlal Nehru, der Hyderabad ganz einfach militärisch annektieren ließ und in den Bundesstaat Andhra
Pradesh umwandelte (Indien lässt sich hinsichtlich Genese und Fortbestand, wie der Politikwissenschaftler Partha Chaterjee jüngst anmerkte, vielleicht doch am besten
als Imperium mit gewissen neo-feudalistischen Tendenzen verstehen). Jammu und Kashmir wiederum schlossen
sich per Volksentscheid Indien an und erhielten dafür unter Paragraph 370 einen Sonderstatus mit einer stärkeren
Autonomie gegenüber dem Zentralstaat. Kashmir blieb
indes ein Konfliktherd, auch weil das Gebiet aufgrund
der muslimischen Bevölkerungsmehrheit von Pakistan
beansprucht wird. Dem über Jahrzehnte schwelenden
Konflikt versuchte Modi mit der Aufhebung des Sonderstatus ein Ende zu setzen; tatsächlich wird die Provinz
aber seit vier Jahren per Diktat und überaus repressiv von
Delhi aus regiert.
pathaan nun erzählt, wie ein terminal an Krebs erkrankter pakistanischer Offizier von Modis Staatsstreich
in Kashmir erfährt und auf Rache sinnt. Eine hypereffiziente Biowaffe soll in Delhi und anderen Großstädten
eingesetzt werden und einen großen Teil der indischen
Bevölkerung vernichten. Umgesetzt wird der Plan von
einem ehemaligen indischen Agenten namens Jim, gespielt von John Abraham, der als Waisenkind aufwuchs,
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für den Geheimdienst arbeitet und, nachdem er bei einem Einsatz allein gelassen wurde, aus Enttäuschung
nun für Geld mitunter auch für den Feind arbeitet. Zwischen Pathaan und Jim steht Rubina Moshin, gespielt
von Deepika Padukone, eine pakistanische Ärztin, die
in Spanien lebt und sich im Lauf des Films als Doppelagentin entpuppt – und Pathaan schließlich unterstützt.
Pathaan, der seinen Namen als Ehrentitel von einer afghanischen Dorfgemeinschaft erhalten hat, die er einst
vor einem Angriff rettete, besorgt die Rettung Indiens,
im Zusammenspiel mit Rubina, fast im Alleingang. Nur
ganz am Ende ist er auf die Hilfe eines Freundes angewiesen, gespielt von Salman Khan, einem weiteren großen
Star des Hindi-Kinos, der in einem Cameo-Auftritt den
ermatteten Pathaan im Kampf gegen pakistanische Spezialeinheiten in einem fahrenden Zug mit Kopfschmerztabletten und frischem Kaffee versorgt und die Mission
danach gemeinsam mit ihm zu Ende bringt.
pathaan steht exemplarisch für die Transformation
des Hindi-Kinos in den letzten fünfzehn Jahren. Dominierten in den 1990er und 2000er Jahren noch Romanzen
und historische Epen mit üblicherweise nicht weniger
als sechs Song-and-Dance-Nummern das Angebot, so
sind die großen Produktionen nun Action-Filme. Unter dem Eindruck und Einfluss koreanischer und südindischer Produktionen, die in Indien seit den 1980er
Jahren die Trends setzen, bilden nun cgi und Special
Effects-Sequenzen die zentralen Schaustücke der Filme,
die sich in der Länge dem internationalen Standard von
zweieinhalb Stunden annähern (wobei die Aufteilung in
zwei Teile mit Pausen immer noch beibehalten wird). In
pathaan spielt die Musik nach wie vor eine wichtige Rolle, aber der Film umfasst nur zwei Songs, die jeweils am
Ende der beiden Teile gezeigt werden. Der erste als Teil
der Spanien-Episode, der zweite als Bonus im Abspann.
Auch ist der Film deutlich auf ein Sequel angelegt. Jim,
der Antagonist, kommt am Ende scheinbar zu Tode, aber
es ist nicht auszuschließen, dass er in «Pathaan 2» noch
einmal auftreten wird.
Die verstärkte Ausrichtung auf die Konventionen und
Formate des internationalen Kinomarktes zahlte sich bei
pathaan aus. Der erfolgreichste Hindi-Film aller Zeiten
bleibt mit rund € 220 Millionen Euro vorerst dangal
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von 2016, ein Sport-Biopic über eine junge Wrestlerin
mit Amir Khan in der Rolle des Vaters und Trainers, das
außerhalb Indiens vor allem in China großen Zuspruch
fand (wobei im Übrigen davon auszugehen ist, dass
Ramesh Sippys sholay, eine indische Version von spiel
mir das lied vom tod von 1975, und Mehboob Khans mother india von 1957, beides Filme, die ins Kino kamen,
bevor Einspielergebnisse detailliert erfasst wurden, deutlich mehr Zuschauer:innen hatten – zumal wenn man
bedenkt, dass mother india im ehemaligen Ostblock
ebenfalls lange Jahre immer wieder im Kino gezeigt wurde). pathaan spielte im Kino weltweit über 120 Millionen
€ ein und ist damit der zweiterfolgreichste Hindi-Film
– und der erfolgreichste in der Karriere von Shah Rukh
Khan. Auch in Deutschland übertraf der Film die Erwartungen. In Frankfurt waren in der Premierenwoche nur
wenige Vorführungen angesetzt (im Cinestar am Eschenheimer Tor). Schließlich lief der Film auch noch in zwei
weiteren Kinos in Offenbach.
In Delhi bildeten sich schon am Nachmittag des 25.
Januar lange Schlangen vor den großen Kinos in der
Innenstadt. Bereits am Premierentag zirkulierten auf
twitter und anderen Plattformen Videos von Shah Rukh
Khan-Fans, die in die Kinos drängen. Zum Maßstab und
Merkmal des Zuspruchs wurden aber rasch Videos, die
zeigten, wie das Publikum am Filmende den Kino-Bühnenraum stürmte und zum Song Jhoome Jo Pathaan tanzte. Zeigten diese Videos anfangs nur Kinos in Indien, so
kamen bald solche hinzu, die in Europa gedreht wurden.
Ein Video aus Deutschland etwa zeigte eine junge blonde
Frau, die allein auf der Bühne tanzte. Manche deutschen
twitter-Nutzer empörten sich und bezichtigten die Frau
der kulturellen Appropriation, während indische Nutzer
voll der Anerkennung für die Qualität ihrer dance moves
waren. pathaan wurde zum Familienereignis.
Das Kino Delite in Delhi ist am Rande von Old Delhi
gelegen, der Altstadt, die hauptsächlich von Muslimen
bewohnt ist. Das Delite ist eines der letzten großen Kinos mit nur einer Leinwand, ein Haus mit einem historischen Innenausbau im Art Nouveau-Stil, das von der
Besitzerfamilie gepflegt und in Stand gehalten wird und
seit den 1950er Jahren auch als Premierenkino dient. Von
der staatspolitischen Bedeutung des Hauses zeugen nicht
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nur die vielen Fotografien von Filmstars des klassischen
Hindikinos bei ihren Delite-Besuchen, sondern auch von
Nehru und anderen politischen Honoratioren. Die Vorführung, die ich einige Tage nach der Premiere besuchte,
war ausverkauft, und die typische Besuchergruppe bestand aus Drei- bis Vier-Generationen-Haushalten inklusive Kleinkindern, wobei die letzteren lärmend auf
dem Balkon herumrannten, was aber bei der Klangkulisse des Films nicht wirklich störte. Deutlich wird bei
einer solchen Vorführung, dass die Tanzeinlagen des
Publikums am Ende – auch in dieser Vorführung stürmte das Publikum am Ende die Bühne – keineswegs eine
Transgression darstellen. Vielmehr sind die Filme von
vornherein auf eine Interaktion mit dem Publikum und
eine aktive Kommentierung durch die Zuschauer:innen
angelegt. Bei seinem ersten Auftritt präsentiert Shah
Rukh Khan, der ungeachtet seiner mittlerweile 57 Jahre
sehr gut trainiert ist, seinen wohlgestalteten Oberkörper
lange genug direkt der Kamera, um dem Publikum Zeit
für einen anerkennenden Begeisterungssturm zu geben.
Einen weiteren Höhepunkt der Partizipation stellte die
Reaktion auf den Cameo-Aufritt von Salman Khan dar;
auch hier ist das Timing so, dass ein Moment des Innehaltens dem Publikum Gelegenheit gibt, sich akustisch zur
Geltung zu bringen.
Diese partizipative Familienfeier im Kino kurz nach
dem «Republic Day» war nicht nur eine cinephile Feierstunde, sondern auch ein politisches Ereignis. Das Kino,
so schrieb der Filmhistoriker Ashis Rajadyaksha einmal, sei der einzige Ort in Indien, an dem Ambedkars
Verfassungsideal der Endosmose, der Aufhebung aller
ethnischen, religiösen und Kastendifferenzen in der gelebten Demokratie, je vollständig Wirklichkeit geworden sei – wenn auch nur für die Dauer der Vorführung
und damit sehr vorübergehend. Das Kino in Indien ist so
gesehen immer schon ein politischer Ort, ein «Emblem
der Demokratie», aber in einem Sinn, der durchaus über
das hinausgeht, was Alain Badiou mit dieser Formulierung im Sinn hatte. Indien ist ein Land, in dem Politiker
stets die Nähe von Filmstars suchen, um ihren Machtansprüchen populäre Legitimität zu verleihen. Amitabh
Bachchan etwa, der wichtigste männliche Star der 1970er
und 1980er Jahre und Protagonist des «Angry Young
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Man»-Filmzyklus, stand Indira Gandhi und ihrer Famile
nahe; Bachchans Vater, der Dichter Harivanshrai Bachchan, hatte schon zu Nehrus engen Freunden gehört.
Auch der aktuelle Premierminister Narendra Modi
sucht die Nähe von Filmstars. So ließ er sich 2019 vom
Bollywood-Schauspieler Akshay Kumar fürs Fernsehen
interviewen und vermittelte dabei faszinierende Einblicke in seine ganz eigene Art, Mangos zu essen. Indien ist
aber auch das Land, in dem Fanklubs zu Parteien werden
und Filmstars zu Politikern. Der Filmstar M. G. Ramachandran regierte von 1977 bis 1987 den Bundesstaat Tamil Nadu im Süden. Nach seinem Tod folgte ihm seine
ehemalige Film- und Lebenspartnerin Jayalalithaa nach
und regierte den Staat mit Unterbrüchen von 1991 bis zu
ihrem Tod 2016. Mani Ratnam, der wichtigste Regisseur
des tamilischen Kinos der letzten dreißig Jahre, der auch
auf das Hindi-Kino stilprägend wirkte, widmete Ramachandrans Aufstieg einen seiner besten Filme, iruvar von
1997, in dem die ehemalige Miss World Ayshwaria Ray
als Jayalalithaa ihre erste Hauptrolle spielte.
So evident ist die Verbindung von Kino und Politik,
dass sich auch die Geschichte der indischen Wirtschaftspolitik seit der Unabhängigkeit in Filmen erzählen lässt.
Der Ökonom Ashoka Mody hat jüngst in seinem Buch
India is Broken aufgezeigt, wie durchwegs alle indischen
Regierungen seit 1947 es versäumten, in die Grundschulbildung und das Gesundheitswesen zu investieren, wie
dies Japan nach 1886 und Süd-Korea nach 1945 getan hatten. Stattdessen wurde in Prestigeprojekte von Industrie
und Forschung investiert, die nur wenige Arbeitsplätze
schufen und einer flächendeckenden Korruption Vorschub leisteten. In jedem seiner Kapitel erläutert Mody
die Lage und Entwicklung des Landes anhand populärer
Filme, die, ob sie nun von Raj Kapoor oder Satyajit Ray
stammen, die Konflikte und Problemlagen ihrer Zeit jeweils bündig zum Ausdruck bringen.
Die politische Bedeutung von pathaan geht aber über
diese allgemeine Allianz von Kino und Politik noch
deutlich hinaus. Viele der tweets über den Enthusiasmus
des Publikums in der Premierenwoche des Films hatten
etwas Triumphierendes: Der Erfolg von pathaan war
auch ein Sieg über seine politischen Gegner. Tatsächlich
hatten in den Wochen vor der Premiere Anhänger des
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Premierministers in den sozialen Medien zum Boykott
des Films aufgerufen. Die «bhakts», die «Gläubigen», stehen der hindu-nationalistischen Idelogie von Modi und
seiner Partei, der Bharatya Janata Party (bjp) sowie deren
Milizorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (rss)
nahe. Verkürzt gesagt bestehen der Kern und die Konsequenz der hindu-nationalistischen Ideologie der Hindutva darin, dass nur Hindus vollwertige Inder:innen sein
können, was auch impliziert, dass die rund 215 Millionen
Muslime unter den mittlerweile bald 1,4 Milliarden Indern nur Bürger:innen zweiter Klasse sind. Die «bhakts»
heißen aber auch so, weil sie online sehr aktiv sind und
alle Informationen, die ihren weltanschaulichen Präferenzen entsprechen, treugläubig zum Nennwert nehmen
und weiter verbreiten. Das hat mitunter tödliche Folgen:
Die so in Umlauf gebrachten Videos stacheln zur Gewalt
gegen Muslime an und haben in den religiös motivierten Pogromen der letzten Jahre oft eine Rolle gespielt.
Die Filmindustrie war in den letzten Jahren zu einer
wichtigen Zielscheibe der «bhakts» geworden. Wer sich
nicht auf ihrer und der Linie der bjp bewegte, musste mit
Boykottdrohungen und -aufrufen rechnen. Einige dieser Boykotte schienen auch Erfolg zu haben, und es war
nicht auszuschließen gewesen, dass dies auch bei pathaan
der Fall sein würde.
Den Zorn der «bhakts» hatte pathaan bereits im Herbst
2022 auf sich gezogen, als das Musikvideo zum ersten
Song, Besharam Rang, vorab veröffentlicht wurde. Der
Refrain lautet in etwa «Die Welt hat meine richtigen Fragen noch nicht gesehen», was in der entsprechenden Szene als vieldeutige Anspielung auf den Doppelagentenstatus der Figur von Deepika Padukone gelesen werden
kann. Die Szene ist an einem Pool an der spanischen Küste gedreht und zeigt Padukone umgeben von einer Tanzgruppe und in Interaktion mit Shah Rukh Khan. Dabei
wechseln die Outfits von Einstellung zu Einstellung und
werden immer knapper und gewagter. Den Höhepunkt
bildet schließlich eine kurze Einstellung, die Deepika
Padukone in einem orangefarbenen Bikini zeigt, eng angeschmiegt an Shah Rukh Khan, der ein dunkelgrünes
Hemd trägt; im Vordergrund spritzt die Gischt durchs
Bild. Es war diese Einstellung, um die sich die Kontroverse drehte. Die «bhakts» sahen in dem «saffron bikini» eine
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schamlose Entwürdigung der indischen Nationalfarbe
Orange und forderten alle anständigen Inder dazu auf,
den Film nicht anzuschauen.
Man kann die Einstellung natürlich auch anders lesen:
Nämlich als Darstellung der Flagge des säkularen Indien.
Padukone, von Haus aus Hindu, trägt die Farbe Orange,
die in der indischen Flagge für den hinduistischen Bevölkerungsteil steht, Shah Rukh Khan, von Haus aus Muslim, trägt die Farbe Grün, die in der indischen Flagge für
dem muslimischen Bevölkerungsteil steht; die Gischt repräsentiert den weißen Mittelteil, in dem auf der Flagge
das Spinnrad Gandhis zu sehen ist, als Symbol des «swadesh», der ökonomischen Selbstbehauptung im Kampf
gegen die koloniale Ausbeutung.
An den divergierenden Semantiken des orangen Bikini lässt sich der eigentliche politische Konflikt festmachen, um den es in pathaan geht. Kritiker:innen warfen
dem Film vor, nur eine andere Form des Nationalismus
zu vertreten. Das ist gewiss nicht falsch. Das Premierendatum hat, angesichts der Tatsache, wie der «Republic
Day» jeweils öffentlich begangen wird, seine besondere
Bewandtnis, und in dem Film selbst geht es zentral um
die Frage der Loyalität zum indischen Staat – und um
die Bereitschaft, diesen wenn nötig mit militärischen
Mitteln zu verteidigen. Die Kritik am vermeintlichen
militaristischen Nationalismus des Films erinnert dabei
an die entsprechenden Überlegungen des bengalischen
Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore (1861–
1941), der Autor sowohl der indischen wie der bengalischen Nationalhymne ist. Tagore wollte dem aggressiven
europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts nicht
einen eigenen indischen Nationalismus entgegen stellen.
Vielmehr warb er – gleichsam in Vorwegnahme entsprechender post- und dekolonialer Positionen – für ein
Gemeinschaftsverständnis jenseits des Nationalstaates,
konnte sich damit aber gegen Vordenker der indischen
8.6.–2.7.23
Screenings
Ausstellung
Symposium
www.arsenal-berlin.de
Unabhängigkeitsbewegung wie Nehru nicht durchsetzen. Es war schließlich die Idee eines – wie auch immer
komplexen und in seinem Zusammenhalt prekären – indischen Nationalstaats, die der Unabhängigkeitsbewegung ihre politische Durchschlagkraft verlieh. Die entscheidende Frage im aktuellen politischen Klima Indiens
ist denn wohl auch eher, welchen Nationalismus ein Film
wie pathaan schließlich vertritt: den inklusiven, der
nicht zuletzt in der Verfassung Ausdruck gefunden hat,
oder den exklusiven der Hindutva-Bewegung.
In dieser Frage bezieht Shah Rukh Khan schon durch
seine Herkunft Stellung. Wie alle der drei großen Superstars des Hindi-Kinos der letzten dreißig Jahre – die
anderen beiden sind Amir Khan und Salman Khan – ist
Shah Rukh Khan seinem Familiennamen nach erkennbar muslimischer Herkunft. Sein Vater Taj Mohammed
Khan wurde in Peshawar, im heutigen Pakistan geboren
und kämpfte in den 1940er Jahren als Teil des Kongresses
für die indische Unabhängigkeit; seine Familie floh nach
der Partition wie viele andere, wenn auch vorwiegend
hinduistische Familien nach Delhi – eine Stadt, die bis
heute in vielen Teilen von den Geflohenen geprägt wird.
Im Unterschied etwa zu Amitabh Bachchan, der sich
in den 1990er Jahren von der Kongresspartei ab- und der
Shiv Sena Partei zuwandte – einer zunehmend hindunationalistischen Regionalpartei im Bundesstaat Maharashtra, wo mit Mumbai auch das Zentrum der HindiFilmindustrie liegt –, vermied Shah Rukh Khan jede
Nähe zur aufstrebenden bjp und hielt sich insbesondere
auch nach der Wahl von Narendra Modi zum Premierminister 2014 von diesem fern. Der Preis für diese Zurückhaltung war, dass Shah Rukh Khan und seine Familie zur
Zielscheibe der Regierung und ihrer Anhänger wurden.
Khans Kinder sahen sich mit dem Vorwurf des Drogenmissbrauchs konfrontiert, wobei das entsprechende Verfahren aus Mangel an Beweisen schließlich eingestellt
wurde. Zudem wurden Khans Filme zum Gegenstand
von Boykottaufrufen. Vor diesem Hintergrund ist der
Erfolg von pathaan in der Tat auch ein politischer: ein
Votum des Kinopublikums für eine säkulare, integrative
Vision Indiens und gegen den Hindu-Nationalismus.
Shah Rukh Khan verzichtete in seinen öffentlichen
Aussagen zu pathaan auf jegliche direkten politischen
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Aussagen, aber er ließ an seinen Überzeugungen und der
Stoßrichtung des Films dennoch keinen Zweifel. Insbesondere wies er in einem Interview auf die Tatsache hin,
dass im Cast alle wichtigen Religionen Indiens vertreten
sind: Er selbst ist Muslim, Deepika Padukone ist Hindu,
und John Abraham, der aus dem Staat Kerala im Südosten stammt, wo die größte christliche Bevölkerungsgruppe in Indien lebt, ist Christ. pathaan, so Shah Rukh
Khan, sei der «Amar Akbhar Anthony» der Gegenwart –
ein Bezug zu einem Film von Manmohan Desai aus dem
Jahr 1977, dessen Hauptfiguren ebenfalls je ein Hindu,
ein Muslim und ein Christ waren.
Ob es hilft? Die erste wichtige Wahl seit der Premiere
von pathaan fand Anfang Mai im Teilstaat Karnataka im
Süden statt, dessen Hauptstadt Bangalore das Zentrum
der indischen Tech-Industrie ist. Die bjp hatte bislang im
Süden kaum Resonanz gefunden. Die Gründe dafür sind
vielfältig und reichen vom höheren Bildungsniveau im
Süden bis zu der Tatsache, dass die dravidischen Sprachgebiete im Bundesstaat Indien mit einem Hindu-Nationalismus, der auch mit einem hegemonialen Anspruch
der Verkehrssprache Hindi einher geht, wenig anfangen
können. Karnataka war allerdings die Ausnahme: Hier
konnte Narendra Modi, der 2024 als Premierminister zur
Wiederwahl antritt, aufgrund der letzten Wahlergebnisse von 2018 auf den großen Durchbruch und eine Regierungsmehrheit hoffen. Entsprechend stark engagierte
sich Modi persönlich im Wahlkampf, wobei anti-muslimische Topoi wie gewohnt ein zentrales Element seiner Wahlkampfrhetorik bildeten. Seine Botschaft wurde
indes nicht gehört. Die säkulare vormalige Staatspartei,
der Kongress, gewann die Wahl nicht nur, sondern holte
sich eine solide absolute Mehrheit im Regionalparlament
und wird künftig auch den Chief Minister stellen.
Korrelation ist nicht Kausalität, aber gefreut haben
sich über dieses Resultat nicht zuletzt dieselben Leute,
die in der «Republic Day»-Woche schon zum Feiern im
Kino waren. g
Pathaan ist in Europa ab dem 4. August
2023 auf DVD und BluRay erhältlich
cargo 58/2023