Originally published in Figal,
G. & Gander, H.-H. (eds.):
Heidegger und Husserl. Neue
Perspektiven. Vittorio
Klostermann. Frankfurt am
Main, 2009, 73-99. Please
quote from original.
Dan Zahavi
Phänomenologie und
Transzendentalphilosophie
Gibt es so etwas wie eine phänomenologische Tradition? Darüber
scheiden sich die Meinungen. Manche behaupten, daß die Phänomenologie eine der dominierenden philosophischen Traditionen des
20. Jahrhunderts darstellt. Edmund Husserl war ihr Begründer und
so bekannte Namen wie Scheler, Heidegger, Fink, Sartre, MerleauPonty, Lévinas und viele andere folgten ihm.
Husserl ist der Gründungsvater der Phänomenologie, viele
behaupten aber, daß so gut wie alle, die seiner Lehre folgten, sich
in Wirklichkeit früher oder später von Husserls Grundprinzipien
distanzierten. Viele begreifen Husserls transzendentale Phänomenologie und Heideggers und Merleau-Pontys hermeneutische und
existentielle Ansätze als sich ausschließende Alternativen. Ein oft
genanntes Argument ist, daß erst die letztgenannten Denker Themen
wie Intersubjektivität, Sozialität, Leiblichkeit, Geschichtlichkeit,
Sprache und Interpretation in die Phänomenologie aufnahmen, was
zu einer entscheidenden Veränderung des Husserlschen Programms
führte. Einige gehen sogar so weit zu sagen, daß Husserl nicht nur
der Gründer der Phänomenologie war, sondern auch gleichzeitig ihr
einziger Ausübender. Folgt man dieser Sichtweise, muß man zu dem
Schluß kommen, daß sich die phänomenologische Tradition auf den
„Namen“ Phänomenologie beschränkt. Weder besteht eine einheitliche Methode, noch ein gemeinsames Forschungsprogramm.
Die gängige Husserl-Kritik
Es ist allerdings etwas rätselhaft, daß Heidegger und Merleau-Ponty
oft gemeinsam genannt werden, als ob ihre Kritik an Husserl sie
vereinen würde. Man wird leicht überrascht sein, wenn man nach
74
Dan Zahavi
der Lektüre von Sein und Zeit (oder Prolegomena zur Geschichte
des Zeitbegriffs) auf Merleau-Ponty stößt. Sowohl Heidegger als
auch Merleau-Ponty beziehen sich auf Husserl, aber ihre Darstellung ist so grundverschieden, daß man sich ab und zu fragen mag,
ob beide von demselben Autor sprechen. Niemand kann übersehen,
daß Merleau-Pontys Interpretation Husserls signifikant von derjenigen Heideggers abweicht. Sie ist wesentlich wohlwollender. Tatsächlich stellt sich Merleau-Ponty sehr oft gegen übliche Ansichten,
wenn er die Verdienste Husserls bzw. Heideggers bewertet. Dies ist
nicht nur in seiner berüchtigten Bemerkung auf der allerersten Seite
von Phénoménologie de la perception der Fall, wo er verkündet, daß
das gesamte Werk Sein und Zeit nur eine Artikulation von Husserls
Lebensweltkonzept ist, sondern auch – um ein weiteres Beispiel zu
nennen – in einer seiner Sorbonne-Vorlesungen, in der er schreibt,
Husserl nehme das Thema der Geschichtlichkeit weit ernster als
Heidegger.1
Angesichts Merleau-Pontys beständigen und relativ enthusiastischen (obwohl keineswegs unkritischen) Interesses an Husserl stellt sich die Frage, wie es kommt, daß sich viele Anhänger
Merleau-Pontys weigern, seine Husserl-Interpretationen ernst zu
nehmen? Angeblich kommt das daher, daß Merleau-Pontys Auslegungen Husserls nicht so sehr davon handeln, was Husserl gesagt
hat, sondern eher davon, was er Merleau-Pontys Ansicht nach
hätte sagen sollen, und daß diese Auslegungen infolgedessen eher
als eine Darstellung Merleau-Pontys eigener Gedanken, denn als
echte Husserl-Interpretationen gelesen werden müssen.2 Warum ist
man sich so sicher, daß die Philosophie der beiden gegensätzlich sei
und Merleau-Ponty Husserls Position, um ihr die Befremdlichkeit
zu nehmen, mehr oder weniger absichtlich falsch dargestellt habe?
Der Grund ist scheinbar, daß viele Interpreten davon überzeugt sind,
Husserl sei ein Cartesianer geblieben, ein Idealist und Solipsist bis
zum bitteren Ende, ungeachtet dessen, was Merleau-Ponty selbst
darauf entgegnet hätte. In der Tat, eine solche Husserl-Interpretation
wird nicht nur von Merleau-Pontianern, sondern auch, sogar mit
1
Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, Paris
1945; vgl. Maurice Merleau-Ponty, Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé
de Cours 1949–1952, Cynara 1988, 421–422.
2
Gary Brent Madison, The Phenomenology of Merleau-Ponty, Athens
1981, 170, 213 und 330; vgl. Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow, Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1983, 36; Martin C.
Dillon, Merleau-Ponty’s Ontology, Evanston 1997, 27.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
75
großer Vehemenz, von vielen Heideggerianern verteidigt. Lassen Sie
mich zwei Beispiele nennen.
1. Taylor Carman hat in mehreren Schriften die These vertreten, daß
die Philosophien von Husserl und Heidegger sowohl hinsichtlich
ihres Stils als auch hinsichtlich ihres Inhalts Welten voneinander
entfernt und ihre jeweiligen Absichten und Bestrebungen grundlegend verschieden sind.3 Er beharrt darauf, daß „Heidegger’s fundamental Ontology can not be understood as a mere supplement
or continuation, let alone ‚translation‘ of Husserl’s philosophy“.4
Laut Carman hat Heidegger im Gegenteil gezeigt, daß „Husserl’s
phenomenology is at once uncritical and incoherent: uncritical in
its appropriation of the Cartesian conception of the subject and the
platonic-aristotelian interpretation of being as presence (Anwesen);
incoherent because it proports to ground those prejudices in a rigorous philosophical method that can itself be made intelligible only
by taking them for granted. Husserl’s project is thus caught in a
vicious circle, for its results presuppose its methods and its methods
presuppose its results. Neither genuinely radical nor free of substantive presuppositions, Husserl’s phenomenology is simply not the
‚rigorous science‘ it claims to be“.5 Demnach läuft die hermeneutische Phänomenologie von Sein und Zeit laut Carman auf eine komplette Ablehnung von Husserls transzendentaler Phänomenologie
mit all ihrem Platonismus, Mentalismus und methodologischem
Solipsismus hinaus. Folglich ist es auch nicht verwunderlich, wenn
Carman ebenso behauptet, Heidegger hätte Husserls transzendentale Reduktion deswegen zurückgewiesen, weil diese nicht in der
Lage ist, den hermeneutischen Einsichten Rechnung zu tragen,
die notwendig sind, um menschliches Sein als In-der-Welt-sein zu
begreifen.6 Wie aber interpretiert Carman die phänomenologische
Reduktion? Er sagt folgendes: „The transcendental reduction […]
consists in methodically turning away from everything external to
consciousness and focusing instead on what is internal to it. The
reduction thus amounts to a special kind of reflection in which the
ordinary objects of our intentional attitudes drop out of sight, while
3
Vgl. Taylor Carman, Heidegger’s Analytic. Interpretation, Discourse and
Authenticity in Being and Time, Cambridge 2003, 54.
4
Carman, Heidegger’s Analytic, 65.
5
Carman, Heidegger’s Analytic, 54.
6
Vgl. Carman, Heidegger’s Analytic, 56.
76
Dan Zahavi
the immanent contents of those attitudes become the new objects of
our attention“.7 Folglich, für Husserl „intentionality is internal, the
world is external, and the transcendental reduction focuses on the
former to the exclusion of the latter“.8
2. Jean-Luc Marions Ansicht nach sei die Phänomenologie Husserls
naiv und ungenügend, da sie einer Metaphysik der Präsenz verhaftet bleibe. Man müsse Husserl zwar, so wird argumentiert, für
seinen Fokus auf verschiedene Weisen des Gegebenseins preisen,
aber bedauerlicherweise lasse er „ininterrogée la donation dont il
a pourtant accompli l’élargissement”.9 Mit anderen Worten, Husserl versäume es, die fundamentale Frage des Gegebenseins selbst
zu behandeln. Was heißt überhaupt „geben“, was kommt ins Spiel,
wenn man davon spricht, daß etwas „gegeben“ sei? Dieses Versäumnis habe weitreichende Konsequenzen. Anstatt sich in seinen
Untersuchungen an den Sachen selbst zu orientieren, sei Husserl von
traditionellen bzw. cartesianischen Vorraussetzungen und Entscheidungen geleitet. Aus diesem Grund bleibe Husserls Phänomenologie
im Endeffekt unphänomenologisch,10 oder sie sei nur teilweise phänomenologisch.11 Die Phänomenalität der Phänomene werde reduziert auf die Gewißheit ihrer aktuellen Gegenwärtigkeit,12 sie werde
reduziert auf Objektivität im Sinne der Sicherheit von Permanenz.
Dieser Fokus auf objektive Existenz (Subsistenz) gehe mit Husserls
Unvermögen einher, Nicht-Gegenwärtiges, Abwesendes zu behandeln.13 Aus diesem Grund sei das Phänomen im Sinne Husserls –
definiert als und beschränkt auf die Präsenz für das Bewußtsein – ein
flaches Phänomen, ein Phänomen ohne jegliche Tiefe.14 Letztendlich
behauptet Marion: 1) Der husserlschen Phänomenologie mangle es
an einer Thematisierung der Phänomenalität der Phänomene. 2) Sie
privilegiere ein aktiv konstituierendes Ich. 3) Sie werde dem spezifischen Sein des Bewußtseins nicht gerecht, indem sie dessen Sein
beharrlich als eine Form von objektivem Sein interpretiere. 4) Zu
7
Carman, Heidegger’s Analytic, 80.
Carman, Heidegger’s Analytic, 86.
9
Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la Phénoménologie, Paris 1989, 62.
10
Vgl. Marion, Réduction et donation, 78.
11
Vgl. Marion, Réduction et donation, 124.
12
Vgl. Marion, Réduction et donation, 81.
13
Vgl. Marion, Réduction et donation, 89.
14
Vgl. Marion, Réduction et donation, 90, 93 und 97.
8
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
77
guter Letzt habe die husserlsche Phänomenologie aufgrund der
Betonung objektiver Existenz nur einen Blick für die Präsenz und
vermöge es nicht, die Gegebenheit von Abwesendem bzw. NichtGegenwärtigem zu behandeln.
Lassen Sie mich gleich einräumen, daß es schwierig gewesen wäre,
die Gemeinsamkeiten von Husserl und Heidegger zu betonen,
wären diese Interpretationen korrekt. Wenn jene Kritiken gerechtfertigt sind, dann wäre es nur rechtens zuzugeben, daß Husserls Phänomenologie ernstzunehmenden Beschränkungen unterliegt und
daß folglich der Phänomenologie nach Husserl nichts anderes übrig
bleibt, als jene Rahmenbedingungen zu durchbrechen. Aber: Ist die
Kritik gerechtfertigt? Ich denke nicht. Meiner Meinung nach war
Husserl selbst offenkundig weit über das hinaus, was man eine flache, oberflächliche Phänomenologie nennen könnte. Wenn es etwas
an Tiefe fehlt, dann ist es nicht Husserls Phänomenologie, sondern
der gängigen Kritik an ihr.
Ich möchte keineswegs Carmans und Marions Kritik gleichstellen, aber sie haben trotzdem verschiedene Züge gemeinsam. Für beide
ist die Quelle der Kritik die gleiche, nämlich Heidegger. Der Einfluß
der Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs ist unleugbar. Beide
nehmen keine sonderliche Rücksicht auf die neue(ste) Husserl-Forschung, und endlich ist es auch auffällig, wie wenige von Husserls
eigenen Werken in Betracht gezogen werden. Die Hauptquellen sind
Logische Untersuchungen, Ideen I, Cartesianische Meditationen und
Krisis. Es fehlt jede Bezugnahme auf so zentrale Werke wie Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Zur Phänomenologie der
Intersubjektivität I-III oder auf jegliche andere Husserliana-Bände,
die in den letzten 30 Jahren erschienen sind. Dem läßt sich MerleauPontys Einstellung gegenüberstellen, dessen Interesse an Husserls
Forschungsmanuskripten bis zum Ende seines Lebens anhielt. Der
Grund dafür war zweifellos, daß er den wichtigsten Inhalt von
Husserls Werk als in diesen Manuskripten enthalten ansah. Wie
er in einem Brief von 1942 schrieb: „Après tout, la philosophie de
Husserl est presque entièrement contenue dans les inédits”.15 Eine
Bemerkung, die genau Husserls eigener Einschätzung entspricht.
Wie Husserl 1931 an Adolf Grimme schrieb: „In der Tat, der grösste
und wie ich sogar glaube, wichtigste Teil meiner Lebensarbeit steckt
15
Hermann Leo van Breda, Maurice Merleau-Ponty et les Archives-Husserl à
Louvain, in: Revue de Métaphysique et de Morale 67 (1962), 410–430, hier 420.
78
Dan Zahavi
noch in meinen, durch ihren Umfang kaum noch zu bewältigenden
Manuskripten“.16
Meines Erachtens besitzt die husserlsche Phänomenologie die
Ressourcen, viele der Standard-Einwände zu entkräften: Sie hat zum
Beispiel wiederholt betont, in welchem Ausmaß intentionale Aktivität Passivität voraussetzt. Sie hat den nicht-objektivierenden Modus
des Seins von Bewußtsein analysiert, und sie hat das Wechselspiel
von Präsenz und Abwesenheit in extenso diskutiert. Da es im folgenden nicht möglich sein wird, alle Kritikpunkte zu überprüfen,17
werde ich mich stattdessen auf einen zentralen Punkt konzentrieren,
nämlich auf Husserls Auffassung des Transzendentalen. Wie ich zeigen werde, versteht Husserl die Aufgabe der Transzendentalphilosophie anders als die klassische Tradition.
Die transzendentale Reduktion
Im Jahr 1925 schrieb Husserl einen Brief an Ernst Cassirer, in dem
er die Entwicklung seiner eigenen Wertschätzung Kants im Detail
beschrieb.18 Ursprünglich war Husserl stark beeinflußt von Brentanos negativer Beurteilung Kants, jedoch ließen ihn weiterführende
Studien die Ähnlichkeiten zwischen seinem eigenen und Kants Pro16
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektität. Texte aus
dem Nachlaß. Dritter Teil. 1929–1935, Husserliana XV, hrsg. von Iso Kern,
Den Haag 1973, LXVI.
17
Vgl. dazu Dan Zahavi, Husserl’s Phenomenology of the Body, in: Études
Phénoménologiques 19 (1994), 63–84; Dan Zahavi, Horizontal Intentionality and Transcendental Intersubjectivity, in: Tijdschrift voor Filosofie 59/2
(1997), 304–321; Dan Zahavi, The Fracture in Self-Awareness, in: Dan Zahavi
(Hrsg.), Self-Awareness, Temporality and Alterity, Dordrecht 1998, 21–40;
Dan Zahavi, Self-Awareness and Affection, in: Nathalie Depraz/Dan Zahavi (Hrsg.), Alterity and Facticity. New Perspectives on Husserl, Dordrecht
1998, 205–228; Dan Zahavi, Merleau-Ponty on Husserl. A Reappraisal, in:
Ted Toadvine/Lester M. Embree (Hrsg.), Merleau-Ponty’s Reading of Husserl, Dordrecht 2002, 3–29; Dan Zahavi, Husserl und das Problem des Vorreflexiven Selbstbewußtseins, in: Heinrich Hüni/Peter Trawny (Hrsg.), Die
erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin 2002, 697–724; Dan
Zahavi, Internalism, Externalism, and Transcendental Idealism, in: Synthese
160/3 (2008), 355–374.
18
Vgl. Edmund Husserl, Husserl an Cassirer, 3. IV. 1925 (Durchschlag), in:
Husserliana Dokumente III, Briefwechsel, Band V, Die Neukantianer, hrsg.
von Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, 3–6, hier 4.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
79
jekt erkennen. Natürlich gibt es eine Stelle, an der Kants Einfluß auf
Husserl sichtbar wird. Wie Husserl in Erste Philosophie I zugibt,
benutzte er einen von Kant stammenden Begriff, als er sich entschied,
seine eigene Phänomenologie als transzendental zu bezeichnen.19
Warum verdient Husserls Phänomenologie den Namen transzendental? Husserls Standardantwort darauf ist, daß die Phänomenologie deshalb transzendental ist, weil ihr Ziel in der Aufklärung
der Konstitution von Transzendenz besteht.20 Oder, wie er es in den
Cartesianischen Meditationen ausdrückt, sind die beiden Begriffe
Transzendenz und transzendental miteinander verknüpft und die
Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie besteht darin, weltliche Transzendenz durch eine systematische Aufklärung der konstituierenden Intentionalität zu erhellen.21 Husserl räumt ein, daß auch
die traditionelle Erkenntnistheorie mit dem Problem der Transzendenz konfrontiert war, nämlich in Form der Frage, wie Gewißheiten
und Evidenzen des immanenten bewußten Lebens objektive Gültigkeit gewinnen können.22 Einfacher gesagt, bestand das traditionelle
Problem darin, aus der Sphäre des Bewußtseins herauszukommen.
Husserl stellt demgegenüber fest, daß bereits die Übernahme dieser
Problemdarstellung eine Lösung unmöglich macht. In der Tat ist dieses Problem ein Pseudo-Problem, das nur dann auftaucht, wenn man
die wahre Lektion der Intentionalität vergißt und die Subjektivität
als isolierte, von der Welt abgetrennte Einheit sieht. Es ist somit ein
entscheidender Fehler, Erfahrung als Verbindung zweier unabhängig voneinander veränderbarer Dimensionen zu betrachten, gerade
als ob Subjektivität und Welt nur per Zufall zusammenpaßten.23
Für Husserl bilden Subjektivität und Welt keine eigenständigen
Entitäten; sie sind vielmehr verflochten, grundlegend miteinander
verbunden.
19
Vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, Husserliana VII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag
1956, 230.
20
Vgl. Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 259.
21
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: Cartesianische
Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser,
Den Haag 1950, 41–193, hier 34 und 65.
22
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 116.
23
Vgl. Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921), Husserliana XXXVI, hrsg. von Robin Daryl Rollinger in
Verbindung mit Rochus Sowa, Dordrecht 2002, 30.
80
Dan Zahavi
Husserl behauptet oftmals, daß seine transzendentale Phänomenologie eher als ein Versuch der Einlösung denn als ein Versuch der
Verleugnung des Realismus der natürlichen Einstellung angesehen
werden kann. Tatsächlich behauptet Husserl, daß eine transzendentale Reflexion oder Methodologie dann erforderlich ist, wenn wir
den Realismus, der der natürlichen Einstellung immanent ist, verstehen und erklären wollen. Deshalb kann Husserl schreiben, daß
der transzendentale Idealismus den natürlichen Realismus in sich
birgt,24 da er eine Auslegung des Sinns ist, den die Welt „vor allem
Philosophieren“ für uns hat.25 Diese letztere Bemerkung paßt gut zu
Husserls wiederholter Betonung, es sei das Ziel seiner Forschung,
die Rechtmäßigkeit unseres Glaubens an die Realität zu verstehen
und zu verdeutlichen, und nicht, sie kritisch zu bewerten oder zu
begründen (eine derartige Begründung ist nämlich gar nicht notwendig). Lassen Sie mich drei Stellen, die diesen Punkt verdeutlichen,
zitieren:
„Die transzendente Welt, die Menschen, ihr miteinander und mit
mir als Menschen verkehren, miteinander erfahren, denken, wirken
und schaffen wird durch meine phänomenologische Besinnung nicht
aufgehoben, entwertet, geändert, sondern nur verstanden“.26
„Einen stärkeren Realismus kann es also nicht geben, wenn dieses Wort nicht mehr besagt als: ‚ich bin dessen gewiß, ein Mensch
zu sein, der in dieser Welt lebt usw., und ich zweifle daran nicht
im mindesten‘. Aber es ist eben das große Problem, diese ‚Selbstverständlichkeit‘ zu verstehen.“27 „Daß die Welt existiert, daß sie
in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit
zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben
ist, ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist es, diese Leben
und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen
und ihren Rechtsgrund aufzuklären.28 Deshalb kann Husserl expli24
Vgl. Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX,
hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, 254.
25
Edmund Husserl, Die Pariser Vorträge, in: Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag
1950, 1–39, hier 36.
26
Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 282.
27
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 190–191.
28
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
81
zit verneinen, daß die Durchführung der transzendentalen Reduktion irgendeinen Verlust impliziert, außer natürlich den Verlust der
Naivität. Der wahre Zweck der ἐποχή und der Reduktion ist nicht,
die Realität anzuzweifeln, zu vernachlässigen, aufzugeben oder
von unserer Forschung auszuschließen; das Ziel ist vielmehr, eine
bestimmte dogmatische Einstellung gegenüber der Realität aufzuheben, sie zu neutralisieren, indem wir uns darauf konzentrieren,
unsere Aufmerksamkeit enger und direkter auf die Realität zu richten, so wie sie uns gegeben ist. Anders gesagt: Der Vollzug der ἐποχή
und der Reduktion bedeutet keine Wende zur Innerlichkeit. Im
Gegenteil, die ἐποχή und die Reduktion erlauben es uns, die Realität
auf eine völlig neue Art und Weise zu untersuchen, nämlich in ihrer
Bedeutung und Manifestation für das Bewußtsein. Kurz: Die ἐποχή
ist mit einem Einstellungswechsel gegenüber der Realität verbunden
und nicht mit ihrem Ausschluß. In seiner Vorlesung Phänomenologie und Anthropologie, die er im Jahr 1931 in Frankfurt, Berlin und
Halle hielt, weist Husserl darauf hin, daß das Einzige, das die ἐποχή
ausschließt, eine gewisse Naivität ist, jene Naivität nämlich, die die
Welt einfach als wirklich hinnimmt und gleichzeitig den Beitrag des
Bewußtseins ignoriert.29 Husserl besteht in jener Vorlesung wiederholt darauf, daß die Wende von einer naiven Erforschung der Welt zu
einer reflexiven Erforschung jener eine Wende ist, die es uns erstmals
erlaubt, die Welt radikal zu untersuchen und zu verstehen.30 Obwohl
sich jene reflexive Erforschung von einer direkten Erforschung
unterscheidet, so ist und bleibt sie doch eine Erforschung der Realität; sie ist keine Untersuchung irgendeines außerweltlichen, mentalen Reichs. Nur eine verfehlte Sichtweise von Sinn und Erscheinung
kann zu solch einem Mißverstehen führen. So hat Husserl denn auch
in vielen seiner Texte betont, daß die Durchführung der ἐποχή und
die der Reduktion eine Entdeckungsfunktion haben und demnach als
eine Erweiterung des Forschungsgebietes gesehen werden sollen.31
nomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die
Fundamente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel,
Den Haag, 1952, 152–153.
29
Vgl. Edmund Husserl, Phänomenologie und Anthropologie (Vortrag in
den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle 1931), in: Aufsätze
und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, hrsg. von Thomas Nenon
und Hans Rainer Sepp, Dordrecht/Boston/London 1989, 164–181, hier 173.
30
Vgl. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, Husserliana XXVII,
178.
31
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 66; vgl. Hus-
82
Dan Zahavi
Wie er in der Krisis schreibt, kann die ἐποχή mit einem Übergang
von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Leben
verglichen werden.32 Husserl erscheint es sogar besser, wie er in Erste
Philosophie II anmerkt, den Terminus „Ausschaltung“ überhaupt zu
vermeiden. Er könnte uns leicht zu jener verfehlten Sicht der Dinge
verleiten, die die Welt nicht mehr als Thema der Phänomenologie
ansieht, obwohl die transzendentale Forschung in Wahrheit auch
„die Welt selbst, nach all ihrem wahren Sein“ 33 einschließt.
Diese Interpretation kann anhand von Material gestützt werden,
das in dem vor kurzem veröffentlichten Husserliana-Band XXXIV
Zur phänomenologischen Reduktion: Texte aus dem Nachlass zu
finden ist. In diesen zwischen 1926 und 1935 entstandenen Texten
weist Husserl darauf hin, daß die Rede von einer „Ausschaltung“ der
natürlichen Welt nichts anderes meint, als daß der Transzendentalphilosoph aufhören muß, die Welt naiv zu setzen.34 Dies impliziert
aber nicht, daß ich nicht weiterhin die Welt beobachten und thematisieren kann, Urteile über sie fällen kann, usw., sondern lediglich,
daß ich dies in einer reflexiven Art und Weise tun muß, die die Welt
als intentionales Korrelat betrachtet.35 Um es anders auszudrücken:
Die ἐποχή und die Reduktion durchzuführen bedeutet, eine thematische Umstellung herbeizuführen. Die Welt zeigt sich fortan als
Phänomen, und als solches bleibt sie im Fokus meiner phänomenologischen Forschung.36 Husserl sagt: „Welt als ‚Phänomen‘, als Welt
in der ἐποχή, ist doch nur ein Modus, in dem dasselbe Ich, das Welt
vorgegeben hat, sich auf diese Vorgegebenheit und was in ihr liegt,
besinnt und nicht etwa darum sie und ihre Geltung preisgegeben
oder gar einfach zum Verschwinden gebracht hat.“37
serl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 154.
32
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
120.
33
Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Zweiter Teil. Theorie
der Phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von Rudolf
Boehm, Den Haag 1959, 432.
34
Edmund Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus
dem Nachlaß (1926–1935), Husserliana XXXIV, hrsg. von Sebastian Luft,
Dordrecht 2003, 12.
35
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
58.
36
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
204 und 323.
37
Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV, 223.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
83
Die Welt als Phänomen zu betrachten ist folglich keine Abstraktion, sondern vielmehr die Thematisierung einer ansonsten anonym
fungierenden Dimension, nämlich der Dimension der Gegebenheit.
Der Vollzug der Reduktion ist, wie Husserl es ausdrückt, gleichbedeutend damit, die Welt von einer verborgenen Abstraktion zu
befreien und sie in ihrer Konkretion als ein konstituiertes Sinngebilde zu enthüllen.38 Andererseits befreit die Reduktion das Ich
aber auch von den Einschränkungen seines natürlichen Seins. Mein
alltägliches, natürliches Leben ist laut Husserl ein Leben in Selbstentfremdung, da es nichts von seiner Transzendentalität weiß. Mittels der Reduktion können wir jene Scheuklappen loswerden, die
gewöhnlich den vollen und transzendentalen Charakter des Lebens
verdecken.39
Wenn wir die phänomenologische Einstellung einnehmen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegebenheit öffentlicher
Dinge (Bäume, Planeten, Gemälde, Symphonien, Zahlen, Sachverhalte, soziale Beziehungen, etc.). Doch wir konzentrieren uns nicht
einfach auf die Dinge, genau wie sie sind; sondern wir konzentrieren
uns auch auf die subjektive Seite des Bewußtseins und entdecken
dabei unsere subjektiven Fähigkeiten und die Intentionalität, die die
Dinge so erscheinen läßt, wie sie es tun. Wenn wir erscheinende Dinge
untersuchen, offenbaren wir uns als die Dative der Erscheinung, als
jene, denen die Dinge erscheinen. Das Thema der phänomenologischen Analysen ist folglich nicht ein weltloses Subjekt, und die Phänomenologie ignoriert die Welt nicht zugunsten des Bewußtseins.
Im Gegenteil, die Phänomenologie legt nach Husserls Darstellung
deshalb den Fokus auf das Bewußtsein, weil es die Welt enthüllt.
Phänomenologie sollte demnach als philosophische Analyse der
verschiedenen Arten von Gegebenheiten (wahrnehmend, imaginativ, erinnernd etc.) verstanden werden und in Verbindung damit als
reflexive Erforschung der Strukturen der Erfahrung und des Verstehens, die verschiedenen Gegenständen erlaubt, sich selbst als das,
was sie sind, zu zeigen. Die Phänomenologie ist an der Dimension
von Gegebenheit oder Erscheinung interessiert und versucht, deren
essentielle Strukturen und die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu
untersuchen. Eine derartige Untersuchung der Sphäre der Präsenz
38
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
225.
39
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
226.
84
Dan Zahavi
liegt jenseits der Trennung zwischen psychischer Innerlichkeit und
physischer Äußerlichkeit, da sie eine Untersuchung derjenigen
Dimension ist, in welcher sich jegliches Objekt – sei es intern oder
extern – überhaupt manifestieren kann.40
Die Tatsache, daß sich Husserls Phänomenologie als eine Form
der Transzendentalphilosophie qualifiziert, erfordert eigentlich
keine umfassende Argumentation – doch die Frage, ob sie der kantianischen Version der Transzendentalphilosophie ähnelt oder sich
von ihr unterscheidet, bedarf näherer Überlegungen und ich werde
gleich zu dieser Frage zurückkehren. Aber wie steht es mit Heidegger? Sowohl Heidegger als auch Husserl würden die Aufgabe der
Phänomenologie weder als genaue und akribische Beschreibung von
Dingen oder Erfahrungen noch als Untersuchung der Phänomene
in all ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit bezeichnen. Wie Scheler einst
bemerkte, wäre dies eine „Bilderbuchphänomenologie“.41 Nein, für
beide ist die wahre Aufgabe der Phänomenologie, die Dimension von
Erscheinung oder Gegebenheit zu untersuchen und ihre Struktur
sowie die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufzudecken. Laut Michel
Henry, und dies wird z. B. in L’essence de la manifestation ausführlich begründet, interpretiert man Heideggers Seinsfrage korrekterweise so, daß man sie als Frage nach dem Wesen des Erscheinens
betrachtet, als sich beziehend auf die Frage nach der Möglichkeit des
Erscheinens von Seiendem.42 Das Sein ist der Horizont, innerhalb
dessen das Seiende erscheinen kann, es ist die Bedingung der Möglichkeit für Manifestation, Verständlichkeit und Bedeutung. Aber
diese Bewegung von einer direkten metaphysischen oder empirischen
Erforschung von Dingen zu einer Untersuchung der Dimension von
Manifestation, einer Untersuchung der Rahmenbedingungen von
Bedeutung und Verständlichkeit, die eine solche direkte Erforschung
erst möglich machen, verlangt eine transzendentale Einstellung, die
jener, die in den positiven Wissenschaften vonnöten ist, völlig unähnlich ist. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Heidegger die Wissenschaft
des Seins als transzendentale Wissenschaft bezeichnet43 und daß er
40
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 554 und 555; Bernhard Waldenfels,
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt
am Main 2000, 217.
41
Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Halle 1927, VII.
42
Vgl. Michel Henry, L’essence de la manifestation, erster Band, Paris 1963,
67.
43
Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 23.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
85
behauptet, die Seinsweise des Daseins sei von solcher Art, daß sie
transzendentale Konstitution ermöglicht.44
Ich behaupte natürlich nicht, es gäbe einen reibungslosen Übergang zwischen Husserl und Heidegger, eine unproblematische
Kontinuität, als ob das Denken des Letzteren einfach als natürliche
Entwicklung jenes des Ersteren angesehen werden könnte. Es gibt
mehrere bedeutsame Unterschiede, und man sollte niemals vergessen, daß wir es hier mit unabhängigen Denkern, die von verschiedenen Persönlichkeiten der philosophischen Tradition beeinflußt
waren, zu tun haben. Dennoch findet Heideggers Kritik an Husserl
innerhalb eines Horizonts gemeinsamer Annahmen statt. Diese Kritik ist eine immanente, der Phänomenologie innewohnende Kritik,
und sie ist weder ein Bruch noch eine allgemeine Zurückweisung.
Aus den gleichen Gründen würde ich behaupten, daß ein genaues
Verständnis des husserlschen Programms unerläßlich ist, um den
phänomenologischen Aspekt in Heideggers Denken verstehen und
schätzen zu können. Anders ausgedrückt: Wenn man die Verbindung zwischen Husserl und Heidegger ignoriert oder herunterspielt,
ist es sehr gut möglich, daß man am Ende Heideggers Philosophie
fehlinterpretiert. Nehmen wir z. B. Mark Okrents kürzlich erschienenen Artikel Heidegger in America or How Transcendental Philosophy Becomes Pragmatic. Ausgehend von einer sehr cartesianischen
Lesart der Phänomenologie Husserls behauptet Okrent, daß Phänomenologie, Pragmatismus und Transzendentalphilosophie eine
inkonsistente Triade darstellen und daß insofern Heidegger ein pragmatischer Philosoph sei und auch als transzendentaler Pragmatist
ausgelegt werden könne, i. e. er deswegen kein Phänomenologe sei.45
Husserl, Kant und das Problem der Intersubjektivität
Wenn es um eine Würdigung von Husserls Phänomenologie geht,
kann eine Bezugnahme auf Kant als passend angesehen werden. Das
ist besonders dann der Fall, wenn es um den Vorwurf geht, die Husserlsche Phänomenologie sei bloß eine Form von Introspektionis44
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 601–602.
Vgl. Mark Okrent, Heidegger in America or How Transcendental Philosophy Becomes Pragmatic, in: Jeff Malpas (Hrsg.), From Kant to Davidson.
Philosophy and the Idea of the Transcendental, London 2003, 122–138, hier
137.
45
86
Dan Zahavi
mus – wie es Dennett gelegentlich zu denken scheint. Diesbezüglich
sollte man jedoch sehr vorsichtig sein und die entscheidenden Unterschiede zwischen Kant und Husserl nicht übersehen. Anders gesagt:
Es wäre ein Fehler anzunehmen, die Transzendentalphilosophie sei
immer von gleicher Gestalt, und damit zu übersehen, daß zwischen
der kantianischen Transzendentalphilosophie und der Transzendentalphilosophie der Phänomenologie ein Unterschied besteht.
Schon in den Logischen Untersuchungen hat Husserl Kant dafür
kritisiert, daß es ihm nicht gelungen sei, eine mit Metaphysik kontaminierte Erkenntnistheorie zu vermeiden. Zudem äußerte er, daß
metaphysische Theorien fehl am Platz seien, wenn es darum geht,
das Verhältnis zwischen den Gesetzen der Natur und den Gesetzen der Vernunft zu verstehen. Benötigt werden nicht Erklärungen,
sondern phänomenologische Klärungen des Bedeutens, Denkens
und Wissens.46 Später wird Husserl auch behaupten, daß Kant kein
schlüssiges Konzept des a priori dargelegt hat, daß er mit einer zu
starken Unterscheidung zwischen Empfinden und Verstehen arbeitete, daß er sich zu nahe an den Naturwissenschaften orientierte,
daß er noetische und noematische Analysen miteinander verwechselte und daß es ihm an methodologischer Strenge fehlte.47 Bezüglich
des Unterschieds in der Methodik kann eine klare Aussage in einem
Manuskript aus dem Jahre 1920 gefunden werden, in dem Husserl
folgendes schreibt: „Kants Deduktion ist ein Meisterstück einer
transzendentalen Beweisführung von oben her. Von allen phänomenologischen Analysen hält sie sich fern.“ Und dann fügt er noch
hinzu, daß eine solche Deduktion von Phänomenologen nur mit
46
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis,
Husserliana XIX/2, hrsg. von Ursula Panzer, 729 und 732.
47
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 198–199, 235 und
282; Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
420–421; Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie,
Husserliana XXIV, hrsg. von Ullrich Melle, Den Haag 1984, 729 und 732;
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 128; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in
die reine Phänomenologie. Erster Halbband, Husserliana III.1, hrsg. von
Karl Schumann, Den Haag 1976, 246; Husserl, Cartesianische Meditationen,
Husserliana I, 48.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
87
einem „Kopfschütteln“ bedacht werden kann.48 In Kant und die Idee
der Transzendentalphilosophie, einem seiner längsten Texte zu Kant,
den er zu dessen Gedenkfeier zum 200. Geburtstag geschrieben und
präsentiert hat, schreibt Husserl, daß Transzendentalphilosophie auf
der systematischen Beschreibung und Analyse des Bewußtseins und
all seiner Modalitäten basieren sollte.49 Husserl distanziert sich von
jeglicher Art regressiver transzendentaler Argumentation und kritisiert Kants Methode als regressiv-konstruktiv. Es fehle ihr eine intuitive Basis und sie sei untauglich, uns eine angemessene Beschreibung
des Bewußtseins zu geben. Dagegen besteht die Phänomenologie auf
einer tiefgehenden Untersuchung des Bewußtseins, was, wie Husserl abschließend aufzeigt, eine Erweiterung von Kants Konzept des
Transzendentalen erfordert. Es erweist sich als notwendig, die Geisteswissenschaften und die Mannigfaltigkeit der menschlichen Sozialität und der menschlichen Kultur in die transzendentale Analyse mit
einzubeziehen.50 Diese Kritik wird ein paar Jahre später verstärkt,
wenn Husserl schreibt, daß die Möglichkeit einer transzendentalen Erhellung von Subjektivität und Welt dann verloren ist, wenn
man der kantianischen Tradition folgt, transzendentale Subjektivität als isoliertes Ego zu betrachten und deswegen das Problem der
transzendentalen Intersubjektivität ignoriert.51 Demnach ist es kein
Zufall, daß Husserl sein eigenes Projekt manchmal als soziologische
transzendentale Philosophie bezeichnete.52 Letztendlich, und das
ist etwas, das erst seit wenigen Jahren gewürdigt wird, kann Husserls spätere Phänomenologie als eine explizite Verteidigung dessen
bezeichnet werden, was man eine intersubjektive Transformation
der Transzendentalphilosophie nennt.53
48
Edmund Husserl, Manuskript F I 28, Sommersemester 1920, 281 und 282,
zitiert in: Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung zu Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964, 104.
49
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 234–235.
50
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 282.
51
Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband, Husserliana XXIX,
hrsg. von Reinhold Nikolaus Smid, Dordrecht 1993, 120.
52
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 539.
53
Vgl. Dan Zahavi, Husserl’s Intersubjective Transformation of Transcendental Philosophy, in: Journal of the British Society for Phenomenology
27/3 (1996), 228–245; Dan Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, in: Phenomenologica 135 (1996).
88
Dan Zahavi
Oft wurde behauptet, daß Intersubjektivität als Lackmustest
für Husserls transzendentale Phänomenologie dient. Dem stimme
ich zu, doch aus meiner Sicht ist es der falsche Weg, zunächst ein
besonderes Verständnis der Transzendentalphilosophie vorauszusetzen, um dann ihre Anwendbarkeit auf Husserls Theorie der
Intersubjektivität zu testen. Man sollte vielmehr das Gegenteil tun.
Der wirkliche Sinn von Husserls transzendentaler Phänomenologie
kann nur enthüllt werden, wenn die Theorie der Intersubjektivität
in Betracht gezogen wird. Diese Umkehr scheint auch von Husserl
selbst bestätigt zu werden, schreibt er doch, seine Überlegungen zur
Intersubjektivität hätten den vollen und sachgemäßen Sinn der transzendentalen Phänomenologie erstmals verständlich gemacht.54
Die Verbindung zwischen der Rolle der Intersubjektivität und
dem Status der Transzendentalphilosophie wird von Husserl immer
wieder bestätigt. Er schreibt wiederholt, seine phänomenologische
Behandlung der Intersubjektivität habe das Ziel, seine konstitutive
Analyse zu einem Abschluß zu führen – einem Abschluß, der genau
in der Einsicht kulminiert, daß transzendentale intersubjektive Sozialität die Basis ist, in der alle Wahrheit und alles wahre Sein ihre
intentionale Quelle haben.55 In der Tat, Husserls Intersubjektivitätsanalyse ist vor allem eine Analyse des transzendentale, das heißt, der
konstitutiven Leistung der Intersubjektivität, und sein Ziel besteht
darin, eine Theorie der transzendentalen Intersubjektivität zu entwickeln, und nicht darin, eine genau Untersuchung des Ich-Du Verhältnisses zu liefern. Es ist offensichtlich, daß Husserl den Begriff
einer Mehrheit transzendentaler Subjekte für widerspruchsfrei hielt,
und also für möglich. Letztendlich würde er diese These sogar noch
radikaler fassen und behaupten, daß diese Mehrheit notwendig ist,
insofern „Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie ist:
konstitutiv fungierendes Ich”.56 Die Behauptung, daß die Subjektivität allein in ihrer Beziehung zu anderen sich vollständig als konstitutive und somit transzendentale entfalten kann, steht in auffälligem
Gegensatz zu jedem traditionellen kantianischen Verständnis der
transzendentalen Subjektivität.
54
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 176.
Vgl. Husserl, Die Pariser Vorträge, Husserliana I, 35. vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 182; Husserl, Erste Philosophie II,
Huesserliana VIII, 449; Husserl, Phänomenoloische Psychologie, Husserliana IX, 295, 344 und 474.
56
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 175.
55
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
89
Tatsächlich verlangt nicht nur der Abschluß, sondern auch die
Realisierung transzendentaler Phänomenologie eine Analyse der
Intersubjektivität.57 Wie wir bereits gesehen haben, ist Phänomenologie genau deswegen transzendental, weil sie sich mit dem Problem, wie die Transzendenz der Objektivität konstitutionsanalytisch
verstanden werden kann, befaßt. Wie Husserl wiederholt feststellt,
ist diese Klärung nur durch eine Analyse der Intersubjektivität möglich.58 In den kürzlich veröffentlichten C-Manuskripten schreibt er
auch: „Die Transzendenz, in der die Welt konstituiert ‚ist‘, besteht
darin, daß sie sich mittels der anderen und der generativ konstituierten Mitsubjektivität konstituiert und ihren Seinssinn als unendliche
Welt dadurch gewinnt.“59 Jede wirkliche Transzendenz, jedes wirkliche Hinausgehen einer Subjektivität über sich selbst beruht somit
auf Fremderfahrung, welche, indem sie mein Eigenwesentliches
transzendiert, die Quelle aller Transzendenz ist: „Hier ist die allein
eigentlich so zu nennende Transzendenz, und alles, was sonst noch
Transzendenz heißt, wie die objektive Welt, beruht auf der Transzendenz fremder Subjektivität“.60 So nennt Husserl das andere Ich
das an sich erste Fremde61 und schreibt – polemisch gegen Scheler –,
daß erst die konstitutive Phänomenologie dem Problem der Fremderfahrung seinen wahren Sinn und seine wahre Reichweite gegeben
hat; nämlich insofern sie erkannt hat, wie sich die Fremdheit des
Anderen auf die ganze Welt als ihre Objektivität überträgt und ihr
diesen Sinn erst gibt.62
Wie Husserl es in Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III
klarstellt, meint die Reduktion auf die transzendentale Subjektivität gleichzeitig eine durch sie erreichbar gemachte Reduktion hin
57
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 69; Husserl,
Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 345; Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 464.
58
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 465; Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, 259; Husserl, Ideen I,
198; Husserl, Die Pariser Vorträge, 10.
59
Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die
C-Manuskripte, Materialienband VIII, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht
2006, 393.
60
Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 495, Anm. 2; vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 560.
61
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 137; Husserl,
Formale und Transzendentale Logik, Husserliana XVII, 248.
62
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 173; Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 17, 73 und 403.
90
Dan Zahavi
zur transzendentalen Intersubjektivität. In der Tat, die Einführung
der intersubjektiven Dimension bedeutet keine Art externer Erweiterung transzendentaler Subjektivität, sie drückt eher ein besseres
Verständnis der Subjektivität an sich aus. So heißt es später im selben Band: „Ich muss scheiden: die jetzt transzendental-phänomenologisierende Subjektivität (als wirkliches ego – Monade) und die
transzendentale Subjektivität schlechthin; diese erweist sich als die
transzendentale Intersubjektivität, welche die transzendental phänomenologisierende in sich fasst.“63
Diese Idee findet sich in der Tat recht oft bei Husserl. In Erste
Philosophie II schreibt Husserl zum Beispiel, daß die volle Universalität und der volle Umfang der transzendentalen Subjektivität die
transzendentale Allsubjektivität ist, und daß nur sie als das konstitutive Korrelat der Welt bezeichnet werden darf.64 Somit ist jedes Ego
nur, was es ist, als socius einer Sozialität, als Gemeinschaftsglied in
einer Totalgemeinschaft.65 Allein die Iche in ihrer Gemeinschaft sind
die absoluten Träger der Welt.66 Diese Überlegungen führen Husserl
schließlich zur Einsicht, daß das absolute Sein – Sein eines transzendentalen Subjekts – Sein als Glied der transzendentalen Intersubjektivität heißt. Die transzendentale Subjektivität ist in ihrer vollen
Universalität eben die Inter-Subjektivität.67
Man kann die weitreichenden Auswirkungen hiervon gar nicht
genug betonen. Ich glaube, Stephan Strasser hatte zumindest teilweise recht, als er 1975 schrieb, die Veröffentlichung der Husserliana
XIII-XV, Husserls Forschungsmanuskripte über Intersubjektivität, habe Material freigegeben, das alle gängigen Ansichten über
Husserls Philosophie unzulänglich mache.68 Die Einführung der
Intersubjektivität ist nicht bloß eine marginale Ergänzung des transzendentalphilosophischen Programms, sondern impliziert dessen
ganz grundlegende Änderung. Zur Erklärung:
63
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV,
74–75.
64
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 480.
65
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 193.
66
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 505.
67
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 480.
68
Vgl. Stephan Strasser, Grundgedanken der Sozialontologie Edmund Husserls, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), 3–33, hier 33.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
91
Wenn man Husserls Überzeugung annimmt, Realität sei intersubjektiv gültig und meine wirklichkeitssetzenden Akte hingen von
der Erfahrung anderer ab, muß man nicht nur den Konsens, sondern
auch den Dissens der welterfahrenden Subjekte ernst nehmen. Husserls ausgedehnte Analysen dieses Problems ließen ihn schließlich
Felder betreten, die traditionell für die Psychopathologie, Soziologie, Anthropologie und Ethnologie reserviert waren. Während die
ursprüngliche kantianische Transzendentalphilosophie solche empirischen Bereiche als ohne jede transzendentale Relevanz angesehen
hätte, war Husserl aufgrund seines Interesses an transzendentaler
Intersubjektivität dazu gezwungen, sie von einem transzendentalen
Standpunkt aus zu betrachten.69 Deshalb glaube ich, daß Husserls
spätes Denken von einer entscheidenden Ausdehnung der transzendentalen Sphäre bestimmt ist; eine Ausdehnung, die von seinem Interesse an der Intersubjektivität bewirkt wurde und die ihn schließlich
dazu zwang, die transzendentale Bedeutung der Generativität, Tradition, Geschichtlichkeit und Normalität zu berücksichtigen.
Lassen Sie mich kurz auf das Problem der Normalität, mit dem
sich Husserl intensiv in mehreren Zusammenhängen beschäftigte
und das er als zentrales Herzstück betrachtete, eingehen. Grundsätzlich vertritt Husserl die Meinung, daß unsere Erfahrungen von
der Erwartung der Normalität geleitet sind. Wir begreifen, erfahren und konstituieren in Übereinstimmung mit normalen und typischen Strukturen, Modellen und Mustern, die frühere Erfahrungen
in unserem Bewußtsein sedimentiert haben.70 Wenn das, was wir
erfahren, mit unseren früheren Erfahrungen kollidiert, erfahren wir
Anormalität, die in der Folge zu einer Modifikation unserer Erwartungen führt.71 Ursprünglich erforschte Husserl diesen Prozeß in
Zusammenhang mit seiner Analyse der passiven Synthesis, doch
kann diese nicht als Leistung eines einsamen Subjekts verstanden
werden. Husserl führt aus, daß ich, solange ich denken kann, von
Menschen umgeben bin und meine Antizipationen deshalb von den
intersubjektiv vermittelten Strukturen der Apperzeption abhängig sind.72 Normalität ist auch Konventionalität, die in ihrem Sein
69
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 391.
70
Vgl. Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, Husserliana XI,
hrsg. von Margot Fleischer, Den Haag 1966, 186.
71
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Husserliana
XV, 438.
72
Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte
92
Dan Zahavi
das Individuum transzendiert.73 Folglich verwies Husserl bereits in
Ideen II auf die Tatsache, daß, neben den von anderen Personen
erzeugten Absichten, auch eine unbestimmte, generelle Vorgabe
besteht, die ihren Grund in Brauch und Tradition hat: „Man“ urteilt
so, „man“ hält die Gabel so-und-so usw.74 Was normal ist, lerne ich
von anderen (und als erstes und am allermeisten von meinen nächsten Verwandten, das heißt den Menschen, die mich großziehen und
unterrichten)75 und dadurch bin ich in eine allgemeine Tradition eingebunden, die durch eine Kette von Generationen bis in die dunkle
Vergangenheit zurückreicht.
Wie gerade erwähnt, besteht eine Konsequenz von Husserls
Beschäftigung mit der Intersubjektivität darin, daß er auch die
Unstimmigkeiten zwischen welterfahrenden Subjekten berücksichtigen muß. Wenn meine Konstitution von Objektivität davon
abhängt, daß andere dasselbe wie ich erfahren oder erfahren können,
ist es problematisch, wenn sie behaupten, etwas anderes zu erfahren – obwohl es bereits eine Gemeinsamkeit darstellt, daß wir uns
darüber einig sein können, uns uneinig zu sein.76 Husserl betont
jedenfalls in diesem Zusammenhang, daß nur die (Un)einigkeit zwischen normalen Mitgliedern einer Gemeinschaft relevant ist. Wenn
es heißt, daß wirkliches Sein von jedem erfahrbar sein muß, dann
haben wir es mit einer bestimmten Durchschnittlichkeit und Idealisierung zu tun.77 „Jeder“ ist die Person, die zu einer Normalität von
Subjekten gehört und die normal nur in und durch die Gesellschaft
ist.78 Nur mit ihr streiten wir über Wahrheit und Falschheit, Sein
und Nichtsein unserer gemeinsamen Lebenswelt. Nur das Normale wird als mitkonstituierend wahrgenommen,79 während meine
aus dem Nachlaß. Zweiter Teil. 1921–1928, Husserliana XIV, hrsg. von Iso
Kern, Den Haag 1973, 117 und 125; Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 136.
73
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 611.
74
Vgl. Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 269.
75
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 428–429, 569 und 602–604.
76
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 47.
77
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 141, 231 und 629.
78
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 142.
79
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
93
Nichtübereinstimmung mit dem Abnormalen (fürs erste) als folgenlos erachtet wird.
Es ist notwendig, hier zwischen zumindest zwei fundamentalen
Arten der Normalität zu unterscheiden. Zum einen sprechen wir von
Normalität, wenn wir es mit einer reifen, gesunden und rationalen
Person zu tun haben. Das Abnormale dagegen wäre hier das Kleinkind, der Blinde oder Schizophrene. Zum anderen sprechen wir von
Normalität, wenn es um unsere Heimwelt geht. Die Abnormalität
wird hingegen dem Fremden zugerechnet, der wiederum, wenn
bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, als Mitglied einer fremden
Normalität wahrgenommen werden kann.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Uneinigkeit eine grundlegende Bedeutung. Nach Husserl führt die Erfahrung der Uneinigkeit zwischen normalen Subjekten (die Erfahrung einer Vielfalt
von Normalitäten, von denen jede ihre eigene Auffassung davon hat,
was wahr ist) nicht bloß zu einem komplexeren Weltverständnis,
insofern wir einen reicheren Einblick erlangen können, wenn es uns
gelingt, unsere Standpunkte zu vereinen. Uneinigkeit kann ebenso
als Motivation dafür dienen, wissenschaftliche Objektivität anzustreben, insofern wir danach streben, eine für uns alle gültige Wahrheit
zu finden.80 Demnach wird es schließlich notwendig, zwischen 1)
„normaler“ Objektivität, die mit einer begrenzten Intersubjektivität
verbunden ist (eine Gesellschaft normaler Subjekte) und 2) „strenger“ Objektivität, die mit der unbegrenzten Totalität aller Subjekte
verbunden ist, zu unterscheiden.81
Wir können also feststellen, daß Husserl an eine Korrelation
zwischen verschiedenen Ebenen der Normalität und der Objektivität glaubte.82 Sogar absolut objektives Sein und absolut objektive
Wahrheit ist mit einer subjektabhängigen Normalität korreliert: der
Normalität rationaler Subjekte.83
XV, 162 und 166; Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX,
497.
80
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
324.
81
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II, Husserliana
XIV, 369–374; Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 38 und 349.
82
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 155.
83
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 35–36.
94
Dan Zahavi
Wie hier deutlich wird, darf man unter keinen Umständen Husserl so verstehen, als ob sein Begriff von Intersubjektivität ein Ersatz
für den Begriff der Subjektivität wäre. Für Husserl hat es nur Sinn,
von Intersubjektivität zu sprechen, wenn es eine (mögliche) Mehrheit von Subjekten gibt, und die Intersubjektivität kann deshalb
weder der Individualität und Verschiedenheit der einzelnen Subjekte
vorangehen noch sie begründen. Daher kann man sich nach Husserl nicht auf den Begriff der Intersubjektivität berufen, ohne sich in
irgendeiner Form zu einer Philosophie der Subjektivität zu bekennen. Der Begriff der Intersubjektivität stellt hier also eine Ergänzung
dar und keine Alternative.
Husserl ist zweifellos ein Transzendentalphilosoph. Aber meiner
Ansicht nach vertritt er eine Form der Transzendentalphilosophie,
die sich der Endlichkeit des transzendentalen Subjekts bewußt ist.
Dies wird nicht nur durch Husserls Berufung auf die Pluralität
transzendentaler Subjekte klar, sondern auch durch seine Betonung
des fortlaufenden und unvollendeten Charakters der transzendentalen Reflexion. In Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III
bemerkt Husserl z. B., daß insofern die Vernunft, die das Korrelat
des wahren Seins ist, auch eine Struktur der Normalität darstellt,
nämlich diejenige der Vernunftsubjekte,84 dann auch das Sein und
die Wahrheit in Form absoluter Objektivität einer subjektrelativen
Normalität entsprechen85 und ihre Konstitution läßt sich als die Kulmination der Entwicklung der transzendentalen Intersubjektivität
verstehen, die eben als eine Entwicklung in der Ausbildung immer
neuer und in immer höheren Stufen sich vereinheitlichender Normsysteme zu begreifen ist.86 Immer neue Generationen kooperieren
auf transzendentaler Ebene bei der Konstitution immer neuer Strukturen der Gültigkeit der objektiven Welt, die eine durch Tradition
überlieferte Welt ist.87 Es gibt, wie Husserl schreibt, keine feste Welt:
Die Welt ist vielmehr, was sie für uns ist, nur in der Relativität von
Normalitäten und Abnormalitäten.88 Normalität ist eine an Tradi84
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 36.
85
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 35.
86
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 421.
87
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 463.
88
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
95
tionen gebundene Klasse von Normen. Ich lerne von anderen, was
als normal gilt, und ich bin dadurch Teil alltäglicher Traditionen.
Deshalb spricht Husserl auch von normalem und generativem Leben
und bemerkt, daß jedes (normale) menschliche Wesen dadurch historisch ist, daß es als Mitglied einer historisch beständigen Gesellschaft
betrachtet wird.89 In einem Manuskript aus den 1920er Jahren drückt
er es folgendermaßen aus: „Was ich von mir aus original (urstiftend)
erzeuge, ist das Meine. Aber ich bin ‚Kind der Zeit‘, ich bin in einer
weitesten Wir-Gemeinschaft, die ihre Tradition hat, die wieder in
neuer Weise Gemeinschaft hat mit den generativen Subjekten, mit
den nächsten und fernsten Vorfahren. Und sie hat auf mich ‚gewirkt‘,
ich bin, was ich bin, als Erbe. Was ist nun mein wirklich originales
Eigene, wiefern bin ich wirklich urstiftend? Nun, ich bin es auf dem
Untergrund der ‚Tradition‘, all mein Eigenes ist fundiert, teils durch
diese Vorfahrentradition, teils durch Mitfahrentradition.“90 Es kann
auch auf andere Art gezeigt werden, daß Husserl der Transzendentalphilosophie eine historische Dimension hinzuzufügen versuchte.
In einer früher zitierten Passage schreibt Husserl, daß die Transzendenz der Welt durch andere und durch die generativ konstituierte
Mitsubjektivität konstituiert ist. Genau dieses Konzept generativer
Intersubjektivität91 zeigt, daß Husserl nicht länger die Geburt und
den Tod des Subjekts als bloße kontingente Tatsachen ansah, sondern vielmehr als transzendentale Möglichkeitsbedingungen der
Weltkonstitution.92 Wie Husserl in der Krisis schreibt, gehört die
Einbettung in den Einheitsstrom einer Geschichtlichkeit, bzw. in
einen generativen Zusammenhang mit Geburt und Tod, genau so
untrennbar zum Ich wie die Form der Wahrnehmungsgegenwart.93
Man kann darüber diskutieren, ob Husserls Versuch, eine intersubjektive Transformation der Transzendentalphilosophie durchzuführen ein fruchtbarer Ansatz oder ein letztes aporetisches Konzept
XV, 212 und 381.
89
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 138–139 und 431.
90
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II, Husserliana XIV,
223.
91
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 199.
92
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 171.
93
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
256.
96
Dan Zahavi
war. Daß Husserl keine klassische cartesianisch-kantianische Subjektphilosophie vertrat und daß er kein Solipsist war, sondern im
Gegenteil Intersubjektivität als transzendentalphilosophischen
Begriff von äußerster Wichtigkeit behandelte, sollte jedoch aufgezeigt worden sein.
Ein neues Verständnis des Transzendentalen
Wozu führt uns eine Bewertung von Husserls Begriff des Transzendentalen? Ein Kommentator behauptete kürzlich, daß Husserl
während der 1920er und 1930er Jahre „increasingly wide-reaching,
even baroque, in his conception of the transcendental”94 wurde.
Aber anstatt Husserls Verständnis des Transzendentalen barock zu
nennen, wäre es eher angebracht zu erkennen, daß er die Idee des
Transzendentalen einer weitreichenden Transformation unterworfen hat. Wie ich anderswo festgestellt habe, ist Husserls spätere Phänomenologie dadurch charakterisiert, daß er versuchte, die statische
Opposition zwischen dem Transzendentalen und dem Mundanen,
zwischen Konstituierendem und Konstituiertem zu überwinden.95
Vor diesem Hintergrund sollte man beispielsweise diejenigen Aussagen aus den Cartesianischen Meditationen verstehen, die besagen,
daß die Konstitution der Welt eine Mundanisierung des konstituierenden Subjekts impliziert96 – das heißt, daß die konstitutive
Erfahrung des Subjekts mit der Erfahrung seines eigenen weltlichen
Seins Hand in Hand geht. Tatsächlich behauptete Husserl schließlich, daß die transzendentale Subjektivität sich notwendigerweise
als weltliches Wesen begreifen muß, wenn sie eine objektive Welt
konstituieren möchte, da Objektivität nur von einem Subjekt, das
sowohl leiblich als auch sozialisiert ist, konstituiert werden kann.97
Diese Erkenntnis gewann Husserl nicht erst am Ende seines Lebens.
In einem zwischen 1914 und 1915 geschriebenen Text, der unlängst
94
Dermot Moran, Making Sense. Husserl’s Phenomenology as Transcendental Idealism, in: From Kant to Davidson, 48–74, hier 51.
95
Vgl. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität; Dan Zahavi, Husserl’s Phenomenology, Stanford 2003.
96
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130.
97
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130; vgl. Husserl, Ideen III, Husserliana V, 128; Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Husserliana XVI, hrsg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973,
162.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
97
in Band XXXVI der Husserliana erschienen ist, ist zu lesen, daß
aktuelles Sein oder das Sein aktueller Wirklichkeit nicht einfach eine
Beziehung zu irgendeinem formalen erkennenden Subjekt voraussetzt, sondern daß das in Frage stehende konstituierende Subjekt
notwendigerweise ein leibliches und situiertes Subjekt sein muß.
Demnach sagt Husserl bereits in dieser Periode, daß das Subjekt
notwendigerweise leiblich in der Welt, die es konstituiert, situiert
sein muß, um sie konstituieren zu können.98 Fortfahrend erläutert er,
daß die Konstitution einer objektiven Welt es eben fordere, daß das
Subjekt in einer essentiellen Beziehung zu einer offenen Pluralität
von anderen leiblichen und situierten Subjekten steht.99
All diese Feststellungen lassen sich nur schwer mit der Idee
vereinbaren, daß Husserl ein methodologischer Solipsist war, ein
prototypischer Internalist, der die Subjektivität als eine Art selbstgenügendes, konstituierendes Prinzip sah. Tatsächlich ist es enttäuschend, daß es vielen genügt, Husserl als handlichen Prügelknaben
zu benutzen, dem sie die Brillanz nachfolgender Phänomenologen
wie Heidegger oder Merleau-Ponty gegenüberstellen können.
Aber lassen Sie mich zum phänomenologischen Verständnis des
Transzendentalen zurückkehren. In Les mots et les choses behauptet Foucault, daß Phänomenologie eine Form modernen Diskurses
darstellt, die in ihrer Erforschung der Erfahrung versucht, das Empirische und das Transzendentale sowohl auszusondern als auch zu
integrieren. Es ist eine Erforschung der Erfahrung, die die verlorene
Dimension des Transzendentalen zurückzubringen versucht hat,
aber gleichzeitig Erfahrung konkret genug gemacht hat, um sowohl
Leib als auch Kultur zu integrieren. Für Foucault ist es ziemlich
klar, daß diese moderne Form der transzendentalen Reflexion von
der kantianischen Form abweicht, da sie ihren Ausgangspunkt eher
im Paradoxon der menschlichen Existenz als in der Existenz der
Naturwissenschaft sieht. Obwohl es Husserl scheinbar gelang, das
cartesianische Thema des cogito mit dem transzendentalen Motiv
Kants zu vereinen, veränderte er in Wirklichkeit die wahre Natur
der transzendentalen Analyse. Wenn man die transzendentale Subjektivität in der fundamentaleren Dimension der Zeit lokalisiert,
ist die strikte Trennung zwischen dem Transzendentalen und dem
Empirischen gefährdet. Fragen nach der Gültigkeit und der Genese
verstricken sich ineinander. Es ist diese Verwandlung, die nach Fou98
99
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 133.
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 135.
Dan Zahavi
98
caults Ansicht darin resultierte, daß die Phänomenologie in einer
Nähe zu empirischen Analysen des Menschen steht, die zugleich
vielversprechend und bedrohlich ist.100
Ich halte Foucaults Diagnose für korrekt, obwohl ich seine
nachfolgende Kritik an der Phänomenologie nicht teile. Anders
gesagt glaube ich, daß man den Unterschied zwischen der phänomenologischen Transzendentalphilosophie und der Transzendentalphilosophie Kants erkennen muß. Die Ansprüche von Husserls
Transzendentalphilosophie sind meines Erachtens bescheidenere.
Die Tatsache, daß die transzendentale Phänomenologie mit einer
erweiterten Auffassung des Transzendentalen arbeitet, sowie die
Tatsache, daß sie Themen wie Leiblichkeit und Intersubjektivität in
ihre transzendentale Analyse integriert, verschafft ihr einen Vorteil
gegenüber der traditionellen kantianischen Form der Transzendentalphilosophie. Dennoch muß man fairerweise sagen, daß diese Veränderung auch neue Probleme hervorruft. Wenn die transzendentale
Untersuchung die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens nicht
ignorieren kann, wenn sich transzendentale Strukturen mit der Zeit
entwickeln und unter dem Einfluß von Erfahrung verändert werden
können, besteht die Gefahr des Relativismus.
Konklusion
Viel mehr könnte gesagt werden, aber ich denke, daß es schon klar
sein sollte, warum ich einen guten Teil der üblichen heideggerianischen Kritik an Husserl für unbegründet halte. Oftmals wird angenommen, Heideggers Kritik an Husserl, wie er sie in persönlichen
Briefen, in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs und in Sein und Zeit ausdrückte, sei ein privilegiertes, maßgebendes und endgültiges Urteil über Husserls Phänomenologie. Aber
diese Haltung ist offen gesagt grotesk. Die Interpretation Heideggers
basiert nicht nur auf einer sehr begrenzten textlichen Grundlage – sie
bezieht sich im großen und ganzen nur auf die Logischen Untersuchungen und die Ideen I –, es gibt außerdem andere Ursachen dafür,
die Verläßlichkeit dieser Interpretation in Frage zu stellen. Heidegger hatte seine eigenen Absichten, und er hatte Gründe, seine eigene
Originalität gegenüber dem alten Lehrer hervorzuheben.101
100
101
Vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, 331–336.
Vgl. Dan Zahavi, How to Investigate Subjectivity. Heidegger and Natorp
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie
99
Wenn die Phänomenologie auch weiterhin im 21. Jahrhundert
eine wichtige Rolle im philosophischen Leben spielen soll, müssen
wir uns unbedingt auf das Gemeinsame der phänomenologischen
Unternehmung konzentrieren und es weiterentwickeln, anstatt uns
auf sektiererische Auseinandersetzungen, die die Geschichte der
Phänomenologie bedauerlicherweise belastet haben, einzulassen.
Selbstverständlich müssen wir Husserl kritisieren. Eine solche Kritik
gehört zu dem anhaltenden Versuch, über die Grundprinzipien der
Phänomenologie weiterzudenken. Doch wenn die Kritik intellektuell ehrlich sein soll, erfordert sie es, sich nicht mit einer karikierten
Fassung von Husserls Phänomenologie zu begnügen. Sie setzt es
nicht nur voraus, mit dem Umfang von Husserls Schriften, also mit
den verschiedenen Bänden der Husserliana, vertraut zu sein, sondern auch mit den neuesten Forschungsergebnissen. Einfach Heideggers Kritik aus den frühen 1920er Jahren zu übernehmen – und
dabei die Husserl-Forschung der vergangenen 80 Jahre zu ignorieren – ist schlicht inakzeptabel. Es versteht sich von selbst, daß auch
Husserl dieser Pointe zustimmen würde. Wie er in einer Beilage zur
Krisis bemerkt: „Im voraus meint man schon zu wissen, um was es
sich handelt […]. Man hat günstigstenfalls meine Schriften gelesen
oder, was noch häufiger ist, sich bei meinen Schülern, die, als von
mir selbst belehrt, doch zuverlässige Auskunft geben können, Rat
geholt; so orientiert man sich nach Interpretationen und Kritiken
von Scheler, von Heidegger und anderen und erspart sich das allerdings sehr schwierige Studium meiner Schriften. Auf meine Proteste
dagegen hat man seine Antwort: das Alter versteift sich auf seine
eingefahrenen Gedankenbahnen und wird unempfänglich für jede
widerlegende Kritik […]. Ich fordere hier am Eingang nur dies eine,
daß man seine diesbezüglichen Vorurteile, sein vermeintliches Imvoraus-Wissen, was die von mir mit völlig neuem Sinn ausgestatteten
Worte: Phänomenologie, transzendental, Idealismus […] meinen, in
seiner Brust fest verschlossen halte […]. Zunächst höre und sehe
man, was vorgelegt wird, man gehe mit und sehe zu, wohin das führen mag und was damit getan werde.“102
on Reflection, in: Continental Philosophy Review 36/2 (2003), 155–176.
102
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
439–440.