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Allergologie: Aus Fehlern lernen

2007, Swiss Medical Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum

SCHLAGLICHTER 2006 Schweiz Med Forum 2007;7:5–6 5 Allergologie: Aus Fehlern lernen Werner J. Pichler Allergologisch-immunologische Poliklinik, Klinik und Poliklinik für Rheumatologie und Klinische Immunologie/Allergologie, Inselspital Bern Einleitung Am 13. März 2006 nahmen acht junge männliche Freiwillige an einer doppelblinden randomisierten plazebokontrollierten Phase-I-Studie mit der Substanz TGN1412 teil. Es handelte sich um eine Kurzinfusion eines humanisierten monoklonalen Antikörpers, der gegen das kostimulatorische Molekül CD28 auf T-Zellen gerichtet war. Präklinische Studien hatten gezeigt, dass dieser Antikörper in der Lage ist, fast alle T-Zellen zu stimulieren. Konsequenterweise sprach man von einem superagonistischen Antikörper. Neuere Daten haben die Hoffnung genährt, dass TGN1412 bevorzugt regulatorische T-Zellen stimuliert und somit möglicherweise bei Autoimmunerkrankungen, bei denen das regulatorische System defekt zu sein scheint, eingesetzt werden könnte. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Studie wurde korrekt zugelassen und durchgeführt, der monoklonale Antikörper war nicht kontaminiert, es fand keine Verwechslung statt, die Dosis wurde mit einem Verhältnis von 1:500 zu derjenigen, welche zuletzt bei Tierversuchen eingesetzt worden war, korrekt berechnet. Und dennoch war das Ergebnis dramatisch: Innerhalb von einer Stunde reagierten alle sechs Studienteilnehmer, die das Verum erhalten hatten, mit starken Kopfschmerzen, Lumbalgien, Unruhe, Nausea, Erbrechen, Diarrhoe und hohem Fieber. Innerhalb von ein bis zwei Stunden kam es zu einem ausgedehnten Erythem, massiven Schwellungen im Kopfbereich, Hypotension und respiratorischem Versagen. Radiologisch konnten pulmonale Infiltrate festgestellt werden, zwei der sechs Probanden mussten intubiert werden. Alle sechs Patienten wurden innerhalb von einer Stunde mit Hydrocortison, Chlorpheniramin, Paracetamol, Ondansetron (HT3-Antagonist) und Metaraminol behandelt. Alle sechs Probanden entwickelten ein Multiorganversagen nach 12 bis 21 Stunden und konnten nur dank der sofortigen Notfallbehandlung gerettet werden. Auffällig waren eine extreme Lymphopenie und Monozytopenie, eine Nierenfunktionseinschränkung und ein sogenanntes «capillary leak syndrome». In den folgenden Wochen und Monaten wurde viel darüber diskutiert, wie es zu diesem fulminanten Krankheitsbild hatte kommen können. Es wurde bezweifelt, dass es sich um eine T-Zellvermittelte Reaktion handelte, da diese ja innerhalb von wenigen Stunden aufgetreten war – was gegen das bekannte Konzept des «verzögerten» Reaktionstyps sprach. Es wurde auch spekuliert, dass es sich um eine IgE-vermittelte Allergie handeln musste, aber die vorliegenden Daten sprachen eindeutig gegen diese Annahme [1]. Wirkungs-Nebenwirkungs-Spektrum von Biologicals Die sogenannten «Biologicals» – und der TGN1412-Antikörper ist ein typisches Vertreter dafür – können eine Reihe von Nebenwirkungen auslösen, die nicht allergischer Genese sind, sondern auf den immunologischen Wirkprinzipien der verabreichten Substanz beruhen. Einige dieser Nebenwirkungen sind relativ klar, nämlich dass Antikörper, die TNF-a neutralisieren, auch die wichtige Rolle von TNF-a in der Kontrolle intrazellulär ablaufender Infektionen aufhebt. Andere Biologicals mit immunstimulatorischer Wirkung können ein sogenanntes «cytokine release syndrome» auslösen: Darum handelt es sich auch bei diesem Zwischenfall. Innerhalb von kurzer Zeit kam es zu einem enormen Anstieg von TNF-a, gefolgt vom Anstieg anderer Zytokine (IFN-g, IL-8, IL-10, IL-6, IL-4, IL-2, IL-1 und IL-12). Man spricht von einem «cytokine storm». Ähnliche Symptome sind nach einer Anti-CD3-(OKT3)-Therapie bereits bekannt, wenn auch nicht im gleichen Ausmass. Das Krankheitsbild erinnert ebenfalls an eine der schwersten Medikamentenallergien, das sogenannte «drug hypersensitivity syndrome» (DHS) auch DRESS genannt (drug rash with eosinophilia and systemic symptoms), welches nach einer Antiepileptikatherapie oder nach der Gabe von Allopurinol, Minocyclin usw. auftreten kann. Bei diesem Syndrom findet man ebenfalls stark erhöhte Zytokinwerte im akuten Stadium, wenn auch nicht im selben Ausmass wie beim TGN1412-induzierten Zwischenfall. Aber «capillary leak», Nierenversagen, Lungeninfiltrate und ein respiratorisches Versagen sowie Hepatitis sind auch im Rahmen von DRESS/DHS beschrieben [2]. Was können wir aus diesem Zwischenfall lernen? Eine unmittelbare Folge wird sein, dass es zu einer strengeren Kontrolle der Phase-I-Studien mit Biologicals kommen wird. Sicherlich ist es SCHLAGLICHTER 2006 Korrespondenz: Prof. Dr. med. Werner J. Pichler Allergologisch-immunologische Poliklinik Klinik und Poliklinik für Rheumatologie, Klinische Immunologie und Allergologie Inselpital Freiburgstrasse 14 CH-3010 Bern [email protected] sinnvoll, dass die erste Dosis nur einem Individuum verabreicht wird und nicht gleichzeitig mehreren Probanden. Wahrscheinlich wird man auch versuchen, aus präklinischen Daten eher auf mögliche Nebenwirkungen zu schliessen. Die im Tiermodell mit TGN1412 selten aufgetretenen Lymphknotenschwellungen werden retrospektiv doch als eher bedeutsam angesehen, was eigentlich bei einem «superagonistischen» Antikörper zu erwarten gewesen wäre. Vor allem aber sollte man sich fragen, wieso ein zuvor als superagonistisch gehandelter Antikörper plötzlich als präferentieller Stimulator von regulatorischen T-Zellen angepriesen wird, und ob die zulassenden Behörden diese feine Unterscheidungen kennen und darauf hätten reagieren müssen … Das einzig Gute an diesem Zwischenfall sind wahrscheinlich die verblüffenden Einblicke in die praktische humane Immunologie: Das fulminante schwere Krankheitsbild illustriert die enorme Wirksamkeit gewisser Biologicals. Immerhin wurde die Substanz nur in einem Mengenverhältnis von 1:500 der relativ gut tolerierten Dosis bei Tieren eingesetzt – man war also vorsichtig! Die Zielstruktur, ein bestimmtes Epitop des Moleküls CD28, unterscheidet sich bei den gewählten Tieren allerdings etwas vom Menschen, was – wie man seit dem Zwischenfall weiss – bei einem Antikörper, dessen potente Eigenschaft von der Interaktion mit einer bestimmten Epitop auf der Zielstruktur abhängt, wichtig zu sein scheint. Eindrücklich war auch die Geschwindigkeit des Auftretens der Symptome: Im Gegensatz zur Lehrbuchmeinung traten diese T-Zell-vermittelten Reaktionen ohne Verzö- Schweiz Med Forum 2007;7:5–6 6 gerung auf. Die Aktivierung der T-Zellen erfolgte unmittelbar, die freigesetzten Zytokine zeigten ihre Wirkung sofort, die Patienten waren innerhalb von zwei Stunden schwer krank. Wie es aufgrund der hohen Zytokinmengen zu einem Multiorganversagen kam, muss noch abgeklärt werden. Die Immunologie hält Einzug in den ärztlichen Alltag Insgesamt illustriert der Zwischenfall wohl sehr gut, dass unser praktisches Wissen – gerade im Bereich der Immunologie und Medikamentennebenwirkungen – der technologischen Entwicklung hinterherhinkt. Es herrscht eine grosse Unsicherheit bei der Industrie, den Zulassungsbehörden und nicht zuletzt bei den Ärzten – was sich möglicherweise auch in nicht sehr gut überlegten Massnahmen äussern könnte. Wichtig wäre zu erkennen, dass mit den Biologicals die Immunologie in die tägliche Praxis Einzug hält! Was früher ein etwas seltsames, sich ständig änderndes Randgebiet der Medizin war, wird nun Alltag, ein gewisses Verständnis der immunologischen Prozesse wird nötig sein, um diese neuen Medikamente einzusetzen. Die Biologicals werden immer wichtiger – man rechnet damit, dass sie bis zum Jahr 2012 ein Viertel der zuzulassenden Medikamente ausmachen werden! Es sind oft hocheffektive Medikamente, und wir alle werden «nachsitzen» müssen, um ihre Wirkungen und die damit zusammenhängenden Nebenwirkungen besser zu verstehen. Literatur 1 Suntharalingam G, Perry MR, Ward S, Brett SJ, CastelloCortes A, Brunner MD, et al. Cytokine storm in a phase 1 trial of the anti-CD28 monoclonal antibody TGN1412. N Engl J Med. 2006;355:1018–28. 2 Pichler WJ. Adverse side-effects to biological agents. Allergy. 2006;61:912–20.