Soyinka, Wole: Das
autobiographische Werk
Dirk Naguschewski
Sprache englisch
Hauptgattung Epik / Prosa
Untergattung Memoiren / Biographie / Autobiographie
Das sogenannte ‚autobiographische‘ Werk des nigerianischen Literatur-Nobelpreisträgers umfasst
mittlerweile vier Bände: Aké. The Years of Childhood, 1981 (Aké. Eine Kindheit, I. Uffelmann,
1986), Isarà. A Voyage around Essay, 1989 (Isarà. Eine Reise rund um den Vater, I. Uffelmann,
1994), Ibadan. The Penkelemes Years. A Memoir:
1946–1965, 1994 (Ibadan. Streunerjahre 1946–
1965, I. Hölscher, 1998), You Must Set forth at
Dawn. A Memoir, 2006 (Brich auf in früher Dämmerung. Erinnerungen, 2008, I. Uffelmann). Dabei handelt es sich nicht um eine geschlossene
Autobiographie nach traditionellem literaturwissenschaftlichem Verständnis, sondern vielmehr
um komplexe Entwürfe persönlicher Erinnerungsräume, deren jeweilige Geltung sich über
begrenzte Zeiträume erstreckt. In der Zusammenschau aber – und unter Hinzuziehung von Teilen
Ursprünglich veröffentlicht unter © J.B. Metzler’sche
Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH
D. Naguschewski (*)
des essayistischen Werks sowie der beeindruckenden Tagebuchaufzeichnungen seines Gefängnisaufenthalts 1967/68, The Man Died. Prison Notes,
1975 (Der Mann ist tot. Aufzeichnungen aus dem
Gefängnis, U. Enzensberger/M. Walz, 1979) –
ergeben diese vier Prosabände die Lebensbeschreibung eines künstlerisch, intellektuell
und politisch reflektierten Autors, dem es erfolgreich gelang, sich im Gegen- und Miteinander von
afrikanischen und englischen Traditionen und im
Übergang von einer kolonialen zu einer postkolonialen Gesellschaft einzurichten.
Soyinka wurde 1934 im west-nigerianischen
Abeokuta geboren, einer Kleinstadt in der Nähe
der heutigen Metropole Ibadan. Nigeria war zu
jener Zeit britische Kolonie und Soyinkas Vater
als Schulleiter in deren Administration eingebunden. Selbst im Kreis der Familie wurde überwiegend Englisch gesprochen. Die zum christlichen
Glauben übergetretenen Eltern trugen gleichwohl
dafür Sorge, dass ihr Sohn durch wiederholte Besuche der Heimstatt seines Vaters auch mit den
spirituellen Traditionen der Yoruba vertraut wurde. Diese doppelte religiös-kulturelle Sozialisation sollte sich als prägend nicht nur für die autobiographischen Schriften erweisen.
In den ersten drei Bänden zeigt sich dabei
bereits an den Titeln, an deren Anfang stets der
Name eines für die jeweils beschriebene Lebensphase zentralen Ortes steht, dass es Soyinka im
Kern eher um eine Topographie denn um eine
Chronologie der Erinnerung geht: Aké bezeichnet
das Dorf, in dem die anglikanische Missionsstati-
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020
H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL),
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_21671-1
1
2
on liegt, in der Soyinka als Kind aufwuchs; Isarà
heißt die kleine, den Traditionen verhaftete
Yoruba-Gemeinde, der Soyinkas Vater entstammte; Ibadan schließlich ist die Universitätsstadt, in
der Soyinka als Professor wirkte. Während Aké
ohne Gattungsbezeichnung auskommt (und in der
deutschen Ausgabe sogar als Roman bezeichnet
wird), handelt es sich bei Isarà um ein literarisches Porträt des Vaters. Ibadan und You Must Set
forth at Dawn hingegen werden ausdrücklich als
Memoiren bezeichnet. Es ging Soyinka dabei
nicht so sehr um die Entwicklung der eigenen
Lebensgeschichte, sondern um die Darstellung
von wichtigen historischen Ereignissen und die
Porträtierung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vor allem Künstlern, Intellektuellen und Politikern.
Die Kindheitserinnerungen Aké gehören zu
den unbestrittenen Klassikern der modernen afrikanischen Literatur. Soyinka erzählt darin aus
Sicht des bereits arrivierten Schriftstellers von
den Jahren 1937 bis 1945. Seine Aufzeichnungen
setzen mit der Beschreibung seines Geburtsorts
ein und enden mit dem Abwurf der Atombombe
auf Hiroshima und Nagasaki – und der Aussicht
auf das erste Paar Schuhe. Die weltpolitischen
Ereignisse sind nur ein Streif am Horizont; die
Welt des Jungen wird vor allem von Familienmitgliedern getragen sowie von den Geistern, die
immer noch das Leben der Gemeinschaft prägen,
auch wenn diese bereits zum christlichen Glauben
übergetreten ist. Das Pfarreigelände wird als ein
Mikrokosmos erfahren, den der frühreife Junge
schrittweise für sich entdeckt, bis es ihn in die
Schule zieht, wo er seine Mitschüler schnell hinter
sich lassen wird. Soyinka hat diese Erinnerungen
eher assoziativ als chronologisch arrangiert; die
von ihm Porträtierten wechseln z. B. je nach der
sozialen Rolle, die sie gerade einnehmen, ihre
Namen. Bei aller persönlichen Nostalgie vermeidet Soyinka es jedoch, diese Welt in Form einer
paradiesischen Urszene zu beschwören.
Soyinkas Stil zeichnet sich dabei stets durch
ein literarhistorisch ausgebildetes und wortgewaltiges Englisch aus, in das immer wieder Vokabeln
und Wendungen aus dem Yoruba eingearbeitet
sind, wodurch auch sprachlich auf Soyinkas doppelte kulturelle Zugehörigkeit verwiesen wird.
D. Naguschewski
Anmerkungen und Glossare erläutern zusätzlich
den spezifischen kulturellen Kontext, der außerhalb Nigerias ja nur in sehr geringem Maße bekannt ist. Im Übrigen pflegt Soyinka einen eher
lyrischen Stil mit einer Vorliebe für impressionistisch anmutende Details, die weniger zu einem
stringenten Spannungsbogen führen, als vielmehr
zu einer dichten Beschreibung von Stimmung und
Atmosphäre beitragen.
Nachdem Soyinka 1986 den Nobelpreis für
Literatur erhielt, veröffentlichte er mit Isarà
(1989) eine Hommage an seinen Vater, der hier
Essay genannt wird, und schreibt damit einen Teil
der Vorgeschichte seines eigenen Lebens. Dabei
lassen sich Erfahrungswelten nachfühlen, die
noch auf mythischen Vorstellungen gründen und
damit auf die Zeit vor der Kolonisierung des Landes durch die Europäer zurückweisen: „Die Lebensführung, so scheint es, war derb, doch zugleich gekennzeichnet von der angestrengten
Suche nach einem Platz in der neuen Ordnung“,
schreibt Soyinka in seinem Vorwort.
Erst mit Ibadan (1994) knüpfte der mittlerweile zur Ikone eines unabhängigen Afrika gewordene Schriftsteller unmittelbar an den Schluss von
Aké an und berichtete von den Jahren 1946 bis
1965. Dieser Memoirenband erschien in Großbritannien in eben jenem Jahr, als Soyinka aufgrund
anhaltender Repressalien durch die nigerianischen Machthaber sein Heimatland verlassen
musste. Das Wort ‚Penkelemes‘ im Untertitel ist
eine phonetische Schreibung der nigerianischen
Aussprache von ‚peculiar mess‘ und bedeutet in
etwa ‚Schlamassel‘. Die Erinnerungen des nun im
Exil Lebenden beginnen mit einer ersten bedeutsamen Heimkehr nach Nigeria, die Soyinka als
Ausgangspunkt diente, verschiedene Zeitebenen
ineinander fließen zu lassen: In der unmittelbaren
Gegenwart verbinden sich die Erinnerungen an
Vergangenes mit der Hoffnung auf eine bessere
Zukunft.
Nigeria befand sich in dem beschriebenen Zeitraum in Aufbruchstimmung. Die britischen Kolonialherren zogen sich zurück, doch die einheimischen Eliten erwiesen sich schnell von der
Anstrengung, eines der bevölkerungsreichsten
Länder der Welt mit einer Vielzahl von einander
nicht immer wohlgesonnenen Ethnien zu regie-
Soyinka, Wole: Das autobiographische Werk
ren, hoffnungslos überfordert. Nach dem erfolgreichen Studium in England erhielt Soyinka einen
Ruf an die Universität der Provinzmetropole Ibadan. Voller Optimismus wollte er sein in der Ferne
erworbenes Wissen und Können dem gerade unabhängig gewordenen Nigeria zur Verfügung stellen. Doch Bespitzelungen, Einschüchterungen der
Opposition, Staatsstreiche waren an der Tagesordnung. Selbst an seiner Universität wurde die Meinungsfreiheit immer stärker eingeschränkt. All
dies, wie auch später der Biafra-Krieg, wird einer
kritischen, dabei aber stets auch subjektiv geprägten Revision unterzogen. Die Freiheit des Memoralisten erschwert dem Leser mitunter allerdings
das Verständnis für den zeitgeschichtlichen Kontext. Namen und Ereignisse werden vorrangig in
ihrer Bedeutung für Soyinkas zunehmende Politisierung gewichtet.
Das Hin und Her zwischen Afrika nach Europa, die Auflösung der Grenzen von Heimat und
Fremde, das nomadenhafte Wandern von einem
Kontinent zum anderen, ob gewollt oder erzwungen, ist typisch für die afrikanischen Intellektuellen aus Soyinkas Generation. Auch die Fortsetzung seiner Memoiren, You Must Set Forth at
Dawn (2006), ergibt eine subjektive politische
3
Geschichte des heutigen Nigeria. Soyinka nahm
seine Rückkehr aus dem Exil nach dem Tod des
Diktators Sani Abacha (1998) zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung der Entwicklungen seit
der Unabhängigkeit, vor allem der Gewalt, die
sich in Korruption, Putschen, Ermordungen und
Massakern ausdrückte. Zugleich widmete er politischen Freunden wie beispielsweise dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela und seiner Entwicklung als Schriftsteller den nötigen
Raum, um einmal mehr deutlich zu machen, wie
sehr die Entwicklung eines afrikanischen Schriftstellers vom Wechselspiel von Politik und Kunst
geprägt ist.
Bibliographie
Literatur
T. Döring/D. Naguschewski: Senghor und S. Sprachenfresser und Mythenmacher im postkolonialen Afrika, in:
Anglo-romanische Kulturkontakte von Humanismus
bis Postkolonialismus, Hg. A. J. Johnston/U. Schneider,
2002, 215–245.
O. Okome: Ogun's Children. The Literature and Politics of
W. S. since the Nobel, 2004.