Unser Alltag ist geprägt von moralischen Konflikten, d.h. von Auseinandersetzungen mit den Normen und Werten der überkommenen und von uns gelebten Alltagsmoral. Wir befinden uns, wenn nicht permanent, so doch regelmäßig in Situationen, in...
moreUnser Alltag ist geprägt von moralischen Konflikten, d.h. von Auseinandersetzungen mit den Normen und Werten der überkommenen und von uns gelebten Alltagsmoral. Wir befinden uns, wenn nicht permanent, so doch regelmäßig in Situationen, in denen wir mit der Frage konfrontiert sind, welche der sich uns bietenden Handlungsoptionen die moralisch richtige oder wenigstens die moralisch am wenigsten verwerfliche ist. Ein (fast schon klassisches) Beispiel ist die Frage, ob wir verpflichtet sind, einem Familienmitglied aus einer Situation zu helfen, in die es sich selbst durch moralisch falsches Verhalten gebracht hat -und ob dies die Erlaubnis oder sogar die Pflicht einschließt, selbst moralisch falsch zu handeln, etwa zu lügen. Ein anders gelagertes Beispiel sind die zahlreichen Situationen, in denen wir uns mit anderen im Dissens darüber befinden, welche Normen wir alle gleichermaßen als moralisch richtig anerkennen sollen. Man darf von einer annehmbaren Moralphilosophie an dieser Stelle zweierlei erwarten: Erstens eine gehaltvolle Phänomenologie, wenigstens aber einen belastbaren Begriff moralischer Praxis, der uns erklärt, wie diese und andere Konflikte zustande kommen. Zweitens sollte sie uns Lösungen für die entsprechenden Konflikte aufzeigen. Diese Lösungen, die ja im Zweifelsfalle auf eine Reform unserer moralischen Praxis hinauslaufen, müssen allerdings realisierbar sein. Das bedeutet, dass die von der jeweiligen Moralphilosophie geforderte legitime moralische Praxis nur solche Anforderungen stellen darf, die von Lebewesen wie uns praktisch erfüllt werden können -und die nicht an der moralischen Leistungsfähigkeit von Engeln orientiert sind. Letzteres ist vor allem für diejenigen Moralphilosophien bedeutsam, die nur ein minimales Set an Rechten und Normen als Grundlage einer legitimen moralischen Praxis, also weniger eine Reform als vielmehr eine Revision unserer gegebenen moralischen Praxis fordern, wie dies vor allem bei dem moralischen Kontraktualismus der Fall ist. Verschärft wird das Problem in diesem Falle noch dadurch, dass sowohl Peter Stemmer (2000, 84-85, 104) als auch David Gauthier (1987, 163-164) als herausragende Vertreter dieses Ansatzes explizit Hobbes' Vorschlag zurückweisen, die gelungene Umsetzung der minimalen Moral durch die Errichtung einer politischen Ordnung, d.h. durch die Ersetzung der moralischen Praxis durch eine Rechtspraxis zu garantieren. 1 Damit aber müssen beide behaupten, dass sich eine moralische Praxis realisieren lässt, die den von ihnen formulierten normativen Ansprüchen gerecht wird. 2 Die Kernthese dieses Aufsatzes ist, dass der moralische Kontraktualismus diesem (zweiten) Anspruch an eine annehmbare Moralphilosophie (den Stemmer und Gauthier mit ihrer Abgrenzung von Hobbes m.E. anerkennen) letztlich nicht oder doch nur sehr ungenügend gerecht wird. Es ist vielmehr so, dass Hobbes' Modell der Ersetzung der moralischen Praxis durch eine Rechtspraxis die zwar ebenfalls nicht unproblematische, aber dennoch überzeugendere Alternative ist angesichts der vom Kontraktualismus geforderten minimalen Moral. Es geht mir also nicht um eine Kritik der interessebasierten Rechtfertigung moralischer Normen, der Tragfähigkeit des Vertragsmodells in moralphilosophischen Argumentationen o.ä. (siehe dazu beispielhaft die Beiträge in Leist 2003). 1 Das ist z.B.der Unterschied zu Mackie, der Hume folgend davon auszugehen scheint, jede moralische Praxis schließe Elemente positiven Rechts ein (dies legt zumindest sein affirmativer Rückgriff auf Hobbes nahe, siehe Mackie 1983, 144, 231-233, 235), ohne die Unterschiede zwischen moralischen und Rechtsnormen (siehe unten Abschnitt 5) zu thematisieren. 2 Allgemeiner formuliert müsste die Frage lauten: Wie minimal oder genauer: wie revisionär darf eine Moral sein, ohne den Anspruch auf Realisierbarkeit einzubüßen? (Ich möchte einem anonymen Gutachter für diese Hinweis danken.) Der moralische Kontraktualismus ist aufgrund seiner extrem begrenzten normativen Forderungen (siehe unten) hierfür allerdings das Paradebeispiel. Dass eine Moral, die praktisch nicht realisierbare Forderungen aufstellt, selbst als "Ideal" eher schädlich als nützlich ist, hat u.a. Mackie (1983, 166) betont: "Die Moral mit irgend etwas gleichzusetzen, dem man gewiß nicht folgt, ist die sicherste Art und Weise, sie in Verruf zu bringen -sie praktisch in Verruf zu bringen, denn damit kann eine theoretische Hochachtung sehr leicht einhergehen."