Klimaexperte über Kipppunkte: „Das Risiko ist inakzeptabel hoch“
Die Klimakrise treibt die Eisschmelze an. Süßes Tauwasser strömt ins salzige Meer und bringt die Strömung durcheinander, sagt Forscher Stefan Rahmstorf.
taz: Herr Rahmstorf, die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC) steht möglicherweise durch die Klimakrise vor einem Kipppunkt, zeigt die Studie eines niederländischen Forscherteams. In Europa könnten die Temperaturen demnach teils um bis zu 30 Grad sinken. Viele Menschen kennen dieses Szenario aus dem Weltuntergangsfilm „The Day after Tomorrow“. Wird es hierzulande in Zukunft doch kälter statt wärmer?
wurde 1960 in Karlsruhe geboren. Er gehört zu den weltweit führenden Klimaforschern und ist am renommierten Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung tätig.
Stefan Rahmstorf: Nein, das kann man so nicht sagen. Beim Zusammenbruch der AMOC handelt es sich um ein Risiko. Ein Risiko, welches vom Weltklimarat zuletzt noch mit weniger als 10 Prozent eingestuft wurde. Im Lichte von vier neuen Studien würde ich sagen, dass das Risiko doch deutlich größer ist. Demgegenüber stehen jedoch gesicherte Folgen der Erderwärmung. Zum Beispiel, dass sie weitergeht, solange wir Treibhausgase ausstoßen, dass es mehr Wetterextreme geben wird oder dass die Meeresspiegel steigen. Das ist alles gesichert. Beim Kipppunkt der Nordatlantik-Zirkulation reden wir hingegen von einem Risiko und nicht von einer gesicherten Folge des Klimawandels. Der Hauptpunkt ist aber: Angesichts der katastrophalen Folgen, die ein solches Ereignis hätte, halte ich dieses Risiko für inakzeptabel hoch.
30 Grad Abkühlung klingt tatsächlich sehr bedrohlich.
Diese Zahl muss man etwas relativieren. In der Modellsimulation wurde die AMOC allein durch die Zufuhr von Süßwasser in den Nordatlantik zum Versiegen gebracht, ohne einen gleichzeitigen CO2-Anstieg. In der Realität gäbe es aber eine Überlagerung von globaler Erwärmung und dem Abreißen der AMOC, wenn das denn dann tatsächlich passieren sollte. Trotzdem gäbe es eine massive Abkühlung.
Klimaforscher rechnen mit Erdsystemmodellen. Sie speisen so viele Informationen wie möglich in das Programm ein und beobachten, wie es reagiert. Inwieweit kann das denn in der Realität im Atlantik nachgemessen werden?
Dafür müssen wir auf den Süßwassertransport der AMOC schauen. Schafft die Zirkulation das Süßwasser aus Regen und schmelzendem Eis aus dem Atlantik hinaus oder importiert sie gar welches? Das ist ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Wenn sie sich abschwächt und dann weniger Süßwasser abtransportiert als normal, was wir derzeit auch beobachten können, dann sammelt sich Süßwasser an und verdünnt das Meerwasser, was dessen Dichte verringert und eine weitere Abschwächung bedeutet. Das ist genau dieser selbstverstärkende Rückkopplungseffekt, der dann den Kipppunkt auslöst und nicht mehr aufzuhalten ist.
Seit 1950 hat sich die Strömung Messungen zufolge bereits um 15 Prozent abgeschwächt. Kann die Klimawissenschaft in Zukunft einen Prozentsatz definieren, ab wann der Kipppunkt tatsächlich eintritt?
Das ist etwas, was ich schon seit den neunziger Jahren versucht habe. Das Problem ist aber, dass es von ganz subtilen Unterschieden im Salzgehalt und Niederschlagsmengen im ganzen Atlantik abhängt, sodass es bisher nicht gelungen ist, eine konkrete Zahl anzugeben. Das ist also nach wie vor sehr unsicher. Das heißt aber nicht, dass wir das Problem einfach ignorieren können. Angesichts der katastrophalen Folgen, die ein AMOC-Kollaps bringen würde, sollten wir ihn besser mit 99,9 Prozent Sicherheit ausschließen können.
Welche Lehren sollte die Weltgemeinschaft aus diesen neuen Ergebnissen ziehen?
Im Grunde verstärkt es noch mal die Dringlichkeit, das Pariser Abkommen strikt einzuhalten. Das ist etwas, was die Weltgemeinschaft ohnehin versprochen hat. Die Studie verdeutlicht noch mal, dass die Risiken des Klimawandels sehr groß sind und der Zusammenbruch der AMOC ist ja nur ein Risiko unter vielen anderen. Es gibt also sehr gute Gründe, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Aber leider passiert das ja bisher nicht. Wir kriegen in Deutschland, als einem der wichtigsten Akteure weltweit, nicht mal ein Tempolimit hin, was eine völlig kostenlose und wirksame Maßnahme wäre.
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Haben Sie noch Hoffnung, dass die globale Gemeinschaft den Klimawandel bekämpft bekommt?
Es gibt ja durchaus hoffnungsvolle Entwicklungen und gute Ansätze der Bundesregierung. Wenn wir zum Beispiel den Ausbau der erneuerbaren Energie anschauen oder das viel gescholtene Heizungsgesetz. Es ist einfach sinnvoll, Wärmepumpen einzubauen, das habe ich auch getan. Es gibt vieles, was bereits im Gange ist – in der Wirtschaft, im Finanzsektor oder der Politik. Diese neue Studie ist einfach ein weiterer Grund, um dieser Entwicklung die höchste Priorität beizumessen.
Abschließend: Es gibt Anlass zu großer Sorge, aber auf ein Szenario wie in „The Day after Tomorrow“ müssen wir uns nicht einstellen.
Ja, dieses Szenario war auf jeden Fall überzogen. Ich habe mit dem Drehbuchautor des Films, Jeffrey Nachmanoff, gesprochen, als der Film rauskam. Er wusste das und sagte: Wenn wir Filme für ein paar Millionen Zuschauer machen würden, würden wir uns an die Gesetze der Physik halten. Da wir aber Filme für ein paar hundert Millionen Zuschauer machen, gelten die Gesetze von Hollywood.
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