Kardinaltugend

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Detail aus Die Kardinal- und Gottestugenden von Raffael, Fresko in den Stanzen des Raffael

Als Kardinaltugenden (von lateinisch cardo ‚Türangel, Dreh- und Angelpunkt‘) oder Primärtugend bezeichnet man seit der Antike eine Gruppe von vier Grundtugenden. Diese waren anfangs nicht bei allen Autoren dieselben. Eine Vierergruppe ist bereits im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. belegt und war wohl schon früher bekannt; die Bezeichnung „Kardinaltugenden“ wurde in der spätantiken Patristik durch den Kirchenvater Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert erstmals verwendet.[1]

Die Gruppe von vier Haupttugenden ist erstmals bei dem griechischen Dichter Aischylos belegt, in seinem 467 v. Chr. entstandenen Stück Sieben gegen Theben (Vers 610). Er scheint sie als bekannt vorauszusetzen; daher wird vermutet, dass sie schon im griechischen Adel des 6. Jahrhunderts v. Chr. geläufig waren. Aischylos charakterisiert den Seher Amphiaraos als tugendhaften Menschen, indem er ihn als

  • verständig (sóphron),
  • gerecht (díkaios),
  • fromm (eusebés) und
  • tapfer (agathós) bezeichnet.

Der Begriff agathós (gut) ist hier, wie in vielen Inschriften, im Sinne von tapfer (andreios) zu verstehen.

Platon übernahm in seinen Dialogen Politeia und Nomoi die Idee der Vierergruppe. Er behielt die Tapferkeit (bei ihm ἀνδρεία andreia), die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη dikaiosýne) und die Besonnenheit (σωφροσύνη sophrosýne) bei, ersetzte aber die Frömmigkeit (εὐσέβεια eusébeia) durch Klugheit (φρόνησις phrónesis) oder Weisheit (σοφία sophía). Dadurch wurde die Frömmigkeit aus dem Tugendkatalog verdrängt. Noch Platons Zeitgenosse Xenophon, der wie Platon ein Schüler des Sokrates war, schrieb Sokrates einen Kanon von nur zwei Tugenden zu, nämlich Frömmigkeit (die die Beziehungen zwischen Menschen und Göttern bestimmt) und Gerechtigkeit (die für die Beziehungen der Menschen untereinander maßgeblich ist).

Platon ordnet jedem der drei von ihm angenommenen Seelenteile und jedem der drei Stände in seiner Konzeption einer idealen Gesellschaftsordnung (πολιτεία politeía) eine Tugend zu, nämlich dem obersten Seelenteil bzw. Stand die Weisheit, dem zweitrangigen die Tapferkeit und dem niedersten die Verständigkeit oder Fähigkeit des Maßhaltens. Die Gerechtigkeit ist allen drei zugewiesen, sie sorgt für das rechte Zusammenwirken der Teile des Ganzen.

Nicht nur die Angehörigen der von Platon gegründeten Akademie, sondern auch die Stoiker übernahmen den Kanon der vier Tugenden; wohl aus stoischem Schrifttum gelangte die Vierergruppe auch in die rhetorischen Handbücher. Daher waren die Gebildeten der hellenistischen und römischen Welt mit ihr vertraut.

Auch im Judentum wurden dieselben vier Haupttugenden gelehrt; sie erscheinen zweimal in der Septuaginta (der griechischen Übersetzung des Tanach), nämlich im Buch der Weisheit (8.7) und im 4. Buch der Makkabäer (1.18). Der jüdische Philosoph Philon von Alexandria befasste sich ebenfalls damit; er deutete die vier Flüsse des Paradieses allegorisch als die vier Tugenden.

Marcus Tullius Cicero, der sich hier auf ein nicht erhaltenes Werk des Stoikers Panaitios stützte, vertrat die Lehre von den vier Haupttugenden. Er machte die römische Welt mit ihr vertraut. In seiner Schrift De officiis (Über die Pflichten) nennt und erörtert er die vier Tugenden:

  • Gerechtigkeit (iustitia),
  • Mäßigung (temperantia),
  • Tapferkeit und Hochsinn (fortitudo, magnitudo animi bzw. virtus) und
  • Weisheit oder Klugheit (sapientia bzw. prudentia).

Antike Tugendlehren schlagen sich mit der Rezeption der antiken Philosophie durch christliche Theologen wie Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Beda und Hrabanus Maurus in der Bibelauslegung nieder.[2] Im 4. Jahrhundert verfasste Ambrosius von Mailand eine Pflichtenlehre (De officiis ministrorum), in der er sich mit Ciceros Auffassung auseinandersetzt. Er verwendete erstmals den Begriff „Kardinaltugenden“ (virtutes cardinales); häufiger ist bei ihm aber der Ausdruck „Haupttugenden“ (virtutes principales). Er übernahm Philons Deutung der vier Paradiesflüsse als die vier Tugenden.

Eine erste systematische Ausformung erhält die Tugendlehre im Rahmen der Moral­lehre des Thomas von Aquin, der die Kardinaltugenden als Angel bezeichnet, an der alle anderen Tugenden befestigt sind:

Virtus aliqua dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur, sicut ostium in cardine.

„Eine Tugend heißt Kardinal- bzw. Haupttugend, weil an ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel.“[3]

Immanuel Kant lässt in Bezug zu den Sekundärtugenden nur eine Primärtugend gelten: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ Fehle dieser, können alle anderen Tugenden „auch äußerst böse und schädlich werden“.[4]

Der deutsche Philosoph Johann Friedrich Herbart nennt als Kardinaltugenden:[5]

Der Philosoph Josef Pieper macht in der Tradition von Thomas von Aquin die folgenden christlichen Kardinaltugenden aus:

Dabei räumt er der Klugheit den ersten Rang ein. Aus ihr heraus werden alle anderen Tugenden geboren. Die Klugheit ist das Maß der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Mäßigung.[6] In der orientierungslosen Nachkriegszeit fasste er diesen christlichen Glaubensgrundsatz prägnant zusammen:

„Keinen Satz der klassisch-christlichen Lebenslehre gibt es, der dem Ohr des heutigen Menschen, auch des Christen, so unvertraut, ja so fremd und verwunderlich klingt wie dieser: daß die Tugend der Klugheit die ‚Gebärerin‘ und der Formgrund aller übrigen Kardinaltugenden sei, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Mäßigung; daß also nur, wer klug sei, auch gerecht, tapfer und maßvoll sein könne; und daß der gute Mensch gut sei kraft seiner Klugheit.“

Josef Pieper[7]

Die fünf konfuzianischen Kardinaltugenden (chin. 五常, wŭcháng) sind:

beziehungsweise nach Mengzi entsprechend

  • Innigkeit (, qīn) zwischen Vater und Sohn
  • Rechtes Handeln (, ) zwischen Fürst und Untertan
  • Trennung (, bié) zwischen Gatte und Gemahlin
  • Reihenfolge (, ) zwischen Alt und Jung
  • Wahrhaftigkeit (, xìn) zwischen Freund und Freund

Yoga und Hinduismus

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5 Yamas:

5 Niyamas:

Allegorische Darstellung der Kardinaltugenden

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Allegorische Darstellungen der Kardinaltugenden sind typische Elemente repräsentativer Grabanlagen der Renaissance und des Barock, vor allem an Grabmonumenten für Päpste, Bischöfe oder weltliche Herrscher, wie die Dogen von Venedig.

Beispiel

Grab des Papstes Clemens II. im Bamberger Dom:

Darstellung der Tugenden an der repräsentativen barocken Fassade (1737) der Gesuati-Kirche in Venedig sollen zum Ruhm der Dominikaner, Auftraggeber von Kirche und Fassade, dienen.

Die allegorischen Darstellungen der Tugenden sind immer weiblich, gemäß dem Genus des Begriffs im Lateinischen. Beigefügte Inschriften oder Attribute helfen dem Betrachter, die jeweiligen Tugenden zu identifizieren.

Weltliche Tugenden

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Klugheit (Prudentia) mit zwei Gesichtern und Spiegel, Detail aus den Kardinal- und Gottestugenden von Raffael, Fresko in den Stanzen des Raffael
Gerechtigkeit (Justitia) mit Waage, Schwert und Krone, Medaillon an der Decke der Stanza della Segnatura in den Stanzen des Raffael

Christliche Tugenden

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Giottos Darstellung der drei theologischen Tugenden

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Im Neuen Testament kommt der Kanon der vier Tugenden nicht vor. Der Apostel Paulus führte drei Theologische Tugenden ein (vgl. 1 Kor 13,13 EU):

Die nachfolgende Darstellung ist in der Cappella degli Scrovegni in Padua zu finden.

Zusammen ergibt das die Siebenzahl:

Sie werden im Katechismus der Katholischen Kirche den sieben Todsünden (Hauptlastern) gegenübergestellt.

  • Maria Becker: Chresis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, Bd. 4: Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius: De officiis, Schwabe, Basel 1994, ISBN 3-7965-0953-3.
  • Carl Joachim Classen: Der platonisch-stoische Kanon der Kardinaltugenden bei Philon, Clemens Alexandrinus und Origenes. In: Adolf Martin Ritter (Hrsg.): Kerygma und Logos. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979, ISBN 3-525-55369-2, S. 68–88.
  • Albrecht Dihle: Der Kanon der zwei Tugenden, Westdeutscher Verlag, Köln 1968.
  • Sibylle Mähl: Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit. Böhlau, Köln 1969.
  • Josef Pieper: Das Viergespann – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. München 1998, ISBN 3-466-40171-2.
  • Eduard Schwartz: Ethik der Griechen. Koehler, Stuttgart 1951.
  • Ulrich Klein: Kardinaltugenden. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I–K. Schwabe, Basel 1976, Sp. 695–696, ISBN 3-7965-0115-X.
Wiktionary: Kardinaltugend – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  1. Martin Biermann: Die Leichenreden des Hl. Ambrosius von Mailand. 1995, S. 62, Anm. 47 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. HWB der Philosophie. Bd. 4. Sp. 695.
  3. Thomas von Aquin: De virtutes 1. 12–14. Zitiert nach HWB d. Philosophie.
  4. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Anaconda Verlag, 2008.
  5. Kardinaltugenden. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 9, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig/Wien 1885–1892, S. 507.
  6. Thomas von Aquin: Summa theologica I,II, 64 – Quaestiones disputate de virtutibus in communi, 13
  7. Josef Pieper: Traktat über die Klugheit. München 1949, S. 11.
  8. Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole. Hrsg.: Gerhard Riemann. Bertelsmann, Gütersloh 1989, S. 451.