2006 Gruber Bionikinderarchitektur

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BIONIK IN DER ARCHITEKTUR

P. Gruber

Technische Universität Wien, Abteilung für Hochbau, Konstruktion, Installation und Entwerfen (HB 2),
[email protected]

KEY WORDS: Bionik, Biomimetics, natürliche Konstruktionen, Weltraumarchitektur, Traditionelle Architektur, Nias.

ABSTRACT: Die Strategien und Methoden der jungen Wissenschaftsdisziplin der Bionik (Biomimetics) finden auch in der
Architektur Anwendung. Lernen von der Natur für die Entwicklung architektonischer Lösungen in neuen Anwendungsgebieten wie
Weltraumarchitektur einerseits und die Erkenntnisse aus der empirisch über lange Zeiträume entwickelten traditionellen Architektur
andererseits zeigen die Vielfalt der Möglichkeiten und das Innovationspotential auf, das der Auseinandersetzung mit den natürlichen
Konstruktionen innewohnt.

2. BIONIK (BIOMIMETICS)
1. EINFÜHRUNG
Dem Begriff "Bionik" entspricht im englischen Sprachraum der
Ingenieure, Designer und Architekten sind es gewohnt, die Begriff "Biomimetics". Die Definition, die nach einer Tagung
Natur als Inspirationsquelle zu nutzen. Die Natur perfektioniert des VDI (Verein deutscher Ingenieure) 1993 beschlossen wurde
Lebewesen seit Milliarden von Jahren durch die Evolution. Sich lautet:
von ihren Schöpfungen inspirieren zu lassen ist ein sicherer Bionik als Wissenschaftsdisziplin befasst sich systematisch mit
Weg um Konstruktionen und Technologien zu finden, die der technischen Umsetzung und Anwendung von
effizient und verlässlich sind. Konstruktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien
biologischer Systeme. Dazu gehören auch Aspekte des
Bionik (engl. Biomimetics) - die Wissenschaftsdisziplin, die Zusammenwirkens belebter und unbelebter Teile und Systeme,
sich dem Lernen von der Natur verschrieben hat - bietet eine sowie die wirtschaftlich-technische Anwendung biologischer
Methode für unsere beständige Suche nach Innovation, um die Organisationskriterien.1
Qualität der Architektur zu verbessern. Die kurze und einfache Erklärung ist Lernen von der Natur für
Beispiele aus so voneinander entfernten Gebieten wie die Technik. Die auch im englischen Sprachraum für den
Weltraumarchitektur (Entwurfsprojekt "transformation Begriff "Biomimetics" verwendete Erklärung lautet:
structure/space") und die Dokumentation traditioneller Biomimetics is the abstraction of good design from nature.2
Architektur (am Beispiel von Nias, Indonesien) zeigen die Der seit den 60er Jahren existierende Begriff "Bionik" wird
Vielfalt der Möglichkeiten und das Innovationspotential auf, das heute interpretiert als Zusammensetzung der beiden Begriffe
der Auseinandersetzung mit den natürlichen Konstruktionen Biologie und Technik.
innewohnt. BIOlogie: die Wissenschaft vom Lebendigen.
Das Entwurfsprojekt “transformation structure/space” wurde TechNIK: konstruktives Schaffen von Erzeugnissen,
2004 gemeinsam mit Maga.arch. Barbara Imhof an der Vorrichtungen und Verfahren unter Benutzung der Stoffe und
Abteilung für HB2 durchgeführt. Das Konzept war, natürliche Kräfte der Natur und unter Berücksichtigung der Naturgesetze.
Phänomene zum Entwerfen von Weltraumarchitektur zu nutzen Im Gegensatz zur technischen Biologie, die Konstruktionen und
und so die Überlappungen der beiden Gebiete Verfahrensweisen der Natur unter Einbeziehung der Analysen-
Weltraumarchitektur und Bionik strategisch zu erforschen. Die und Deskriptionsverfahren von Physik und Technik untersucht
drei besten Projekte werden vorgestellt: und beschreibt, durchforstet die Bionik das Reservoir an
• Space Loggia Konstruktionen und Verfahrensweisen der Natur im Hinblick
• Spaceship Mars+ auf Anregungen für eigenständig-technisches Gestalten.3
• Mobile Mars Habitat – Triangle-Flex Mars Rover

Das seit 2005 laufende Forschungsprojekt über die traditionelle 3. NATÜRLICHE KONSTRUKTIONEN
Architektur in Nias, Indonesien, wird gemeinsam mit Dr. Ulrike
Herbig durchgeführt. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt Für den Bereich Architektur ist die Untersuchung der
auf der Anpassung der traditionellen Bautypen an die "natürliche Konstruktionen" viel versprechend und erlaubt eine
gegebenen Umweltbedingungen. Im Wintersemester 2005/06 Vielfalt an verschiedenen Interpretationen, die sich auf Materie,
wurde auf Basis der ersten Ergebnisse der Feldforschung von Verfahren oder Technologien beziehen kann.
der Autorin ein Entwurfsprogramm "surfresort nias" an der • unbelebte und belebte Strukturen der Natur, z.B.
Abteilung für HB2 durchgeführt, das beispielhaft die Lebewesen
Übersetzung der gewonnenen Erkenntnisse zeigt. • von Lebewesen gemachte Strukturen: Bauten von Tieren,
z.B. Spinnennetze, Termitenhügel etc.

1
NACHTIGALL, Bionik... S.XIII und S.293
2
Information des Centre for Biomimetics, Reading
3
nach NACHTIGALL, Bionik... S.5f
Seite 1
• von Menschenhand gemachte Konstruktionen, die • Änderung der zeitlichen Dimension, Entdeckung und
„natürlich“ sind, z.B. traditionelle Architektur, die im Sichtbarmachung von anderen Geschwindigkeiten des
empirischen Prozess optimiert worden ist Daseins
• Konstruktionen die auf irgendeine Weise „natürlich“ sind Die Existenz von konvergenten Entwicklungen in der belebten
was bestimmte Aspekte betrifft, z.B. Nachhaltigkeit, Natur, d.h. die Entstehung von morphologisch sehr ähnlichen
Ökologie, oder Phänomene aus der Natur anwenden wie Phänotypen, die nicht nahe miteinander verwandt sind, kann
z.B. Bewegung, Reizbarkeit etc. heute mithilfe der Genforschung nachgewiesen werden.

4. HISTORISCHE ENTWICKLUNG 5. FORSCHER

Die Nachahmung von Konstruktionen aus der Natur gibt es Aus der grossen Zahl der Forscher die sich mit Bionik
schon seit der Frühzeit der Menschheitsgeschichte. beschäftigen, seien hier nur zwei Vertreter aus dem deutschen
Sprachraum genannt, in dem die Wissenschaft der Bionik vor
4.1 Das Fliegen allem an Naturwissenschaftlichen Instituten verankert ist.
• Prof. Werner Nachtigall, Saarbrücken
Eine besondere Stellung nimmt das Phänomen des Fliegens ein: Ausgehend von Analysen zur Bewegungsphysiologie und
von der griechischen Sagenwelt über Leonardo da Vinci bis in unzähligen anderen Forschungsarbeiten gelangte Nachtigall zu
die Gegenwart reichen die zahllosen Entwürfe und Versuche, einer umfassenden Darstellung der Bionik, die er in einer Reihe
der Qualität des Fliegens in der Natur mit technischen Geräten von Publikationen und als Leiter des Universitätsinstituts
nahe zu kommen. Technische Biologie und Bionik in Saarbrücken weitergab. Er
Der interdisziplinäre Ansatz und die Seriosität der ist auch Mitbegründer der Gesellschaft für technische Biologie
Auseinandersetzung, die für die Forschungsarbeit in der Bionik und Bionik, die versucht, ein Forum für alle Interessierten zu
nötig sind, wird z.B. in den technischen Zeichnungen, die Otto bieten und Plattform für interdisziplinären Austausch zu sein.
Lilienthal (1848-1896) von seinen lebenden Vorbildern machte, • Claus Mattheck, Karlsruhe
gut sichtbar. Lilienthal war einer der bekanntesten Pioniere des Entwickelt computerunterstützte Optimierungsverfahren SKO
Menschenfluges und unternahm mit verschiedenen Geräten über und CAO, (Soft Kill Operation und Computer Aided
3000 Flugversuche. Optimization) mit denen die technische Nachahmung des
Den Brüdern Wright gelang 1903 der erste bemannte Motorflug adaptiven Wachstums von Bäumen nach dem Prinzip der
mit einem Doppeldecker. Ihre Leistung leitete die schnelle konstanten Spannungen gelingt. In der Natur wachsen Bäume
Weiterentwicklung des Motorflugs ein. so, dass in ihren Verzweigungen keine Kerbspannungen
Prinzipien aus der Natur, die derzeit erforscht werden und mit auftreten, wie das bei technischen Bauteilen der Fall ist. Das
deren Umsetzung derzeit experimentiert wird 4 umfassen: erreichen sie durch spezifische Anlagerung von Material
• Übertragung des Prinzips der Handschwingen von Vögeln aufgrund der Belastung.7
zur Reduzierung des Strömungswirbels am Ende des Die Übersetzung dieser Art der Bauteiloptimierung ist in der
Flügels in technische Winglets oder Winggrids5 Autoindustrie bereits Standard.
• Verhinderung des Strömungsabrisses auf der Oberseite der
Flügel, Nachahmung des Aufstellens des Deckgefieders
durch verschiedene technische Massnahmen aktiver und 6. ARCHITEKTUR
passiver Natur
• Adaption der Flügel in Bezug auf Form und Anstellwinkel 6.1 Transformation
• Schlagflügelflug am Beispiel der Insekten 6

4.2 Vorbild Lebewesen

Die Untersuchung der Formen und Konstruktionen der Natur Abb. 1: Schema der bionischen Übertragung
war bis zur Entwicklung der Genetik auch die einzige
Das Schema zeigt idealisiert den Weg vom Vorbild aus der
Möglichkeit, Information über die Verwandtschaftsverhältnisse
Natur bis hin zur technischen Umsetzung. Der Auswahl des
in der belebten Natur zu erhalten. Der Zusammenhang der
natürlichen Phänomens kommt eine besondere Bedeutung zu,
Entwicklung des Individuums und der Entwicklung der Art
weil die intuitive Assoziation eines natürlichen Phänomens mit
wurde von dem berühmten Biologen Ernst Haeckel (1834-1919)
einem vorgegebenen Problem einen Teil der Arbeit an dessen
im "biogenetischen Grundgesetz" festgeschrieben, das in seinen
Lösung vorwegnehmen kann.
Grundzügen bis heute Gültigkeit besitzt.
In den Entwurfsübungen wird das Ziel, die technische
Die Zeichnungen Haeckels haben grosse Verbreitung gefunden
Anwendung, nicht vorgegeben, sondern mit Absicht offen
und auch viele Künstler seiner Zeit beeinflusst. An ihnen
gelassen um das Spektrum der Möglichkeiten nicht allzu früh
werden einige allgemeine Kriterien, die an der Untersuchung
einzuschränken.
von Lebewesen faszinierend sind, sichtbar:
In einer Analysephase wird das natürliche Vorbild erforscht,
• Änderung des Masstabs, Eintauchen in eine andere
bzw. existierendes Material zusammengetragen. Das wirksame
Dimension
Prinzip, das hinter dem Phänomen steht wird festgestellt. Diese
• Änderung des Mediums (Meerestiere)
Phase der Abstraktion entscheidet über den weiteren Verlauf
des Transformationsprozesses. Das wirksame Prinzip wird einer
technischen Übertragung zugeführt.
4
NASA morph_small.mov 2003
http://www.aero-space.nasa.gov/videos/morph_small.mov
5
BANNASCH, STACHE, TU Berlin,
http://www.bionik.tu-berlin.de/institut/s2vogel.html
6 7
NACHTIGALL, Insektenflug... S.207f. MATTHECK, Design... S.48f
Seite 2
Am Beginn des Entwurfsprojekts “transformation structure /
space” stand eine ausgedehnte Analysephase im Bereich
Weltraumdesign und ausgewählten Phänomenen aus der Natur.
Die Entwürfe inklusive der passenden Szenarios wurden im
Team durch die Integration beider Felder entwickelt. Vorbilder
aus der Natur wurden auch in späten Entwurfsphasen noch
herangezogen.
• Transformation bedeutet im Kontext dieses Projekts:
• Transformation von Konzepten aus der Natur,
Wissenschaft, Kunst, etc. in Architektur
• Transformation von Methoden einer Disziplin in eine
andere
• Transformation einer Idee in gebauten Raum

• Die Themen, die für die Analyse angeboten wurden sind:


• Leben und Arbeiten im Weltraum: Randbedingungen,
Bauen und der Alltag im Weltraum
• Erweiterte Realitäten: Ein Ansatz für Architektur im
Weltraum, die Raumtechnologisierung.
• Falttechniken und aufblasbare Habitate für den Weltraum
• Natürliche Materialien für extreme Bedingungen
• Fortbewegung in der Natur
• Antriebsmethoden in der Natur
• Robotik – funktionelle Morphologie und Sensorik
• Selbstorganisationsprinzip und mögliche technische
Anwendungen
Die Ergebnisse der Analyse wurden auf derzeit viel diskutierte
Themen der Weltraumarchitektur angewendet:
• Aufblasbare Habitats Abb.2: Visualisierung der Space Loggia an der ISS
• "human factors" bei Langzeitmissionen und deren
Einbeziehung in die Gestaltung von Raumhabitaten
• Mensch/Maschine-Schnittstellen
• Spin-in/Spin-off
Übertragung terrestrischer Bautechniken in den Weltraum
(Suche nach Wasserquellen, Mineralien, Überleben durch
Nutzung von Bodenressourcen) und Anwendung von
Raumfahrttechnologien auf die terrestrische Bauindustrie
(Katastrophenhilfe)
Abb.3: Space Loggia, Querschnitt
6.2 Weltraumarchitektur

Die Entwürfe umfassten einen oder mehrere der oben genannten


Themenbereiche. Experten der European Space Agency, der 6.2.2 Fallstudie: Spaceship Mars+ Melanie Klähn, Thomas
Luftfahrtfirma Alenia Spazio in Turin und des Center for Frings
Biomimetics in Reading standen als Konsulenten zur
Verfügung. Die drei besten Entwürfe werden im Folgenden Dieses Projekt beruht auf drei zentralen Konzeptideen:
vorgestellt. • Zu einer Architektur neuer Paradigmen zu gelangen, die
nicht nur aus spezifischen Missionszielen und
6.2.1 Fallstudie Space Loggia, Stefano Caneppele Umweltbedingungen abgeleitet ist, sondern auch aus
experimentellen Architekturformen, die terrestrische
Das Projekt Raumloggia entwirft eine Astronautenlounge als Stereotypen hinter sich lassen;
Freizeit- und Entspannungsbereich im Raumschiff. Das Gefühl, • Die Vorteile zu erkennen und zu nutzen, die sich aus dem
sich im Weltraum zu befinden, ist stärker als in einem Leben im schwerelosen Raum ergeben, und künstliche
herkömmlichen Modul der International Space Station ISS. Die Schwerkrafteinrichtungen für Langzeitmissionen
Erde ist dabei das Bezugsobjekt. Sie zu sehen, vermittelt ein vorzusehen;
Gefühl der Orientierung und Zugehörigkeit. Die • Einen Innenraum für menschliche Bedürfnisse in einer
Herausforderung des Projekts besteht darin, eine transparente Maschine – dem Raumschiff – für ein Umfeld zu schaffen,
Außenhaut herzustellen, die extremen Umweltanforderungen das seine Bewohner ständig mit Reizen versorgt, um so
widersteht, z. B. Temperaturveränderungen, Mikrometeoroiten, einen Gefühls-, Wohn- und Lebensraum zu erzeugen.
Strahlung. Das Konzept schlägt eine Mehrschichthaut aus
Gelatine- und Glas- bzw. Kunststoffstrukturen vor. Im
Ausgangsszenario werden die Fenster der Loggia durch eine
Flüssigkeit (z. B. Wasser) genährt, wodurch die mehrschichtige
Membran funktionsfähig gehalten wird.

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dazu das Bedürfnis nach Privatsphäre, Meditation und
Individualität
• Raumqualitäten, die sich aus der Erforschung, Evaluierung
und Interpretation des Umstandes ergeben, dass eine Reise
zum Mars mehrere Monate dauert – eine lange Zeit, die
fern der Erde wie eine Ewigkeit erscheinen mag
• Die scheinbar unmerkliche physische Bewegung des
Raumschiffs – Zeit und Entfernung
• Das Fehlen äußerer Einflüsse wie Veränderungen des
Wetters oder der Tageszeit
Der Biorhythmus und Veränderungen des architektonischen
Rahmens (der Atmosphäre) werden durch eine ständige Abfolge
innerer Umordnungen mittels einer Form der Kommunikation
zwischen Besatzung und Raumschiff ermöglicht. Dies sollte die
Lebenserfordernisse der Besatzung widerspiegeln und sich nicht
auf eine Anpassung des Raumvolumens (je nach Anzahl der
Beteiligten) beschränken, sondern auch die Bedingungen des
Abb. 4: Spaceship Mars + Alltagslebens reflektieren.

6.2.3 Fallstudie: Mobile Mars Habitat - Erkundungsfahrzeug


Flex-Triangle Mars Rover Thomas Reichart

Das Szenario definiert eine kleine Marsbasis auf einem Plateau


des Planeten im Jahr 2040. Die Forscher sind in dieser Basis
untergebracht und starten von hier aus zur Erforschung von
Regionen von wissenschaftlichem Interesse – die Berge und
Täler des Mars. Für diese Exkursionen in die extreme
Marstopografie wird die neue mobile Basis eingesetzt. Im
Gegensatz zu herkömmlichen Erkundungsfahrzeugen, die durch
eine begrenzte Anzahl von Rädern bewegt werden, bewegt sich
hier die gesamte Struktur wie ein einzelliger Organismus. Die
Struktur des mobilen Habitats besteht aus dreieckig
angeordneten Verstrebungen, die in der Bewegung ihre Länge
verändern. Die Verbindungsknoten lassen Verformung durch
Veränderung der Winkel zu, um auch auf extrem rauem Terrain
stets den bestmöglichen Kontakt mit der Planetenoberfläche
Abb. 5: Innenraum sicherzustellen.
Dem Projekt liegt folgendes Missionsszenario zu Grunde:
Der Mond ist seit 2045 besiedelt, seine Ressourcen werden
abgebaut und direkt an der Oberfläche verarbeitet. Im Jahr 2075
hat die Erforschung des Mars den nächsten Schritt erreicht, und
die Menschheit hat eine ständige Forschungsstation auf dem
Mars errichtet. Daher sind neue Transporttechnologien für den
Austausch von Besatzungen und Nachschub gefragt. Die
erforderlichen Raumschiffkomponenten werden auf der
Mondoberfläche erzeugt und in der Mondumlaufbahn
zusammengebaut. Von dort aus startet das Raumschiff mit einer
achtköpfigen Besatzung zum Mars.
Das Leben im schwerelosen Raum widerspricht dem
menschlichen Bedürfnis, da die Schwerkraft eine
Voraussetzung der menschlichen biologischen Physiologie
darstellt. Es kann also als Problem, aber auch als große Chance
begriffen werden. Die Wahrnehmung des schwerelosen Raums
definiert Innenräume und Innendimensionen ganz neu und stellt
die Raumschiffarchitektur vor eine große Herausforderung. Abb. 6: Flex-Triangle Mars Rover
Der vorgeschlagene Entwurf rechnet mit fortgeschrittenen
Antriebs- und Strahlenschutztechnologien und versucht ein
System zu entwickeln, in dem die Räume des Habitats in einem
funktionellen Zyklus analog einem biologischen
Kreislaufsystem miteinander verbunden sind.
Der primäre technische Antrieb ist in die architektonische
Anlage ebenso integriert wie andere, gleichermaßen wichtige
Antriebskräfte (z. B. sozialpsychologische Stressoren), d. h.:
• Das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft,
Kommunikation und Nähe sowie – in direktem Gegensatz

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Die strukturellen Komponenten weisen Analogien mit
Tierskeletten und bewegten Gelenken auf; Von der
Konstruktionsseite her bleibt das Projekt jedoch auffallend
mechanisch.
Mit weiter gehenden, intensiveren Untersuchungen der
wissenschaftlichen, technischen und materiellen Aspekte
würden sich zusätzliche Diskussionsthemen ergeben.
Der dem Projekt Transformation innewohnende Prozess
unterschied sich signifikant von herkömmlichen Entwürfen für
Architekturprojekte: Die Studierenden waren längere Zeit mit
der Suche nach logischen Szenarien beschäftigt, da die
allgemeine Projektanordnung ja offensichtlich für die Zukunft
konzipiert war. Hier ergab sich die Frage nach den verfügbaren
Technologien: Welche Annahmen können wir für relevante
Zukunftstechnologien in der Raumfahrt treffen? Was könnten
die Kriterien für die korrekte Auswahl bestimmter
Technologien sein, die weitere Missionsszenarien und die
Abb. 7: Schnitt Projektgestaltung definieren? Mit Hilfe der Fachleute des ESA-
"Advanced Concepts Teams" konnten die meisten der sich
Die erste wichtige, der Natur entliehene Idee liegt in der Art der ergebenden Fragen beantwortet werden.
Bewegung: durch Verformung der flexiblen Dreiecksstruktur Projekte wie das hier vorgestellte müssen interdisziplinär
kann jeder Teil der seine Länge oder die Winkel verändern – entwickelt werden. Zur Stärkung dieses Ansatzes sollten
wie die Muskeln einer Schlange oder eines Wurms. Eine zweite wissenschaftliche Informationen für die interdisziplinäre
bionische Idee ist die Anordnung der Innenstruktur Nutzung leichter zugänglich gemacht werden. Dies würde es
(lebenserhaltende Systeme, Cockpit, Lagerraum, Experimente) anderen Disziplinen ermöglichen, spezielles Know-how von
als kompakte Teile auf der sich verformenden flexiblen einer Disziplin in eine technische Anwendung umzusetzen.
Dreiecksstruktur. In gewisser Weise ähnelt dies der Anordnung Eine weitere interessante Beobachtung ergab sich im Laufe des
und Verankerung von Organen im menschlichen Körper. Entwurfsprozesses: Die ursprünglich erforschten Themen
Drittens ist der Wechsel der Form ebenfalls eine natürliche Bionik und Biomimetics – wie etwa natürliche Materialien für
Strategie, um mit möglichst wenig Aufwand an Materie und extreme Bedingungen, Ortsveränderung oder Antriebsmethoden
Energie gute Bewegungseigenschaften zu erzielen. – dienten als Ausgangspunkt. Nach abgeschlossener
Verschiedene Konzepte zur technischen Bewältigung des Entwicklung des Hauptkonzepts und mit Beginn der
Konzepts der Knoten wurden untersucht. Ausarbeitung desselben traten jedoch ganz andere, neue
Probleme zu Tage (interessanterweise im Zusammenhang mit
6.2.4 Zusammenfassung bionischen Lösungsansätzen), was wiederum weitere
Forschungsarbeit erforderlich machte. So begannen neue
Verschiedene natürliche Aspekte erschienen in den Entwürfen: Untersuchungen. In diesem iterativen Prozess entwickelten sich
das Missionsszenario und die Entwürfe parallel.
• Space Loggia Der Prozess der ständigen Suche ohne die Erwartung
Interpretation eines Modells aus der Natur, eine interpretierte bestimmter Ergebnisse ist in der Erarbeitung architektonischer
Analogie zu natürlicher Haut impliziert ein hochtechnisches Entwürfe wohl bekannt, wird aber selten angewendet. Unser
intelligentes Material. In der Fallstudie Raumloggia nimmt ein Versuch mit dem Projekt Transformation führte zu
großes Fenster mit Blick auf die Erde, bestehend aus einer unvorhergesehenen und unkonventionellen Konzepten, obwohl
mehrschichtigen Membran, Bezug auf natürliche, transparente die Vorgehensweise zuerst ziellos und ungeordnet erschien. Die
Haut. Nur die Anforderungen an die Fenstermaterialien sind Entwürfe entwickelten sich an der Schnittstelle
bekannt. Das Szenario nimmt deshalb an, dass diese Materialien wissenschaftlicher Forschung, experimenteller architektonischer
in Zukunft existieren werden, weil Glas, Plexiglas, Aerogel und Ansätze und des konkreten Programms.
ihre Komposita bereits in wesentlichem Ausmaß
weiterentwickelt werden. 6.2.5 Ausblick

• Spaceship Mars+ Zukünftige Habitate – auf der Erde wie im Weltraum – werden
Gesamtkonzept eines komplexen Systems: Im Projekt die technischen Fortschritte ihrer Zeit praktisch umsetzen.
Raumschiff Mars+ spielt der Biorhythmus der Besatzung eine Struktur, Form und Art des Lebens in solchen „Bauten“ werden
große Rolle, da er im „Verhalten“ des Raumschiffs umgesetzt sich radikal verändern. Innovativer Input und neue Konzepte
wird. Dies impliziert auch, dass die Außenhaut des Raumschiffs sind also gefragt. Die Einbeziehung der Bionik liefert den
anpassungsfähig und reaktiv sein muss. Das Fehlen äußerer Nutzern viele Vorteile im Rahmen der gestalteten Systeme.
Einflüsse wie Veränderungen des Wetters oder der Tageszeit Existierende und evolutionär effektive Bedingungen, Prozesse
wird neu interpretiert und in die Technologie des Raumschiffs und Prinzipien dienen als Modelle für technologisierte
eingebunden. Die Anlage des Raumschiffs insgesamt wird Interpretationen und Umsetzungen.
analog einem Organismus interpretiert, was den Raum, die Insbesondere in der Robotik entwickeln zahlreiche renommierte
Anordnung von Funktionsorganen, Verteiler- und Institutionen wie das MIT (Massachusetts Institute of
Kreislaufsysteme beeinflusst. Technology) derzeit Erkundungsfahrzeuge auf Grundlage
natürlicher Konzepte.8 Schließlich wird der bionische Ansatz zu
• Mobile Mars Habitat – Flex-Triangle wirtschaftlicheren Lösungen führen, da Energieeffizienz ein
In der Fallstudie zum Flex-Triangle wurden Bewegung und Art Hauptziel der Natur darstellt.
der strukturellen Verformung natürlichen Modellen entnommen
und im Konzept für ein bewohnbares Marsfahrzeug umgesetzt. 8
MIT Leglab http://www.ai.mit.edu/projects/leglab/
Seite 5
In diesem Kontext war das Projekt Transformation das erste
seiner Art im Rahmen der Architektur und Entwicklung von
Weltraumhabitaten.
Allgemeine Ansätze und Konzepte zukünftiger Strukturen für
menschliche Siedlungen im Weltraum müssen auf neuen
Paradigmen für die Abwicklung von Weltraumprojekten sowie
auf Interesse und Unterstützung durch die Öffentlichkeit
(Kommerzialisierung), einem wirtschaftlichen Konzeptansatz,
allgemeiner Experimentierbereitschaft und vielen anderen
Faktoren sowie schließlich auf einer größeren, umfassenderen
Vision fussen. Das Projekt „Transformation” ist eindeutig ein
kleiner Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel.

6.3 Traditionelle Architektur

Ebenso wie Prinzipien aus der Natur können auch traditionelle Abb. 8: Haus in Nordnias
Bauweisen als Innovationsquelle für Architektur dienen.
Traditionelle Bauweisen sind durch empirische Methoden
entwickelt worden und bergen das Wissen über die regionalen • Verwendung der Materialien
Verhältnisse. In den entstandenen Typologien sind vielfältige Die traditionellen Häuser waren mit Ausnahme der
Einflüsse aus meist langen Zeiträumen umgesetzt und so Fundamensteine aus lokal vorhandenen nachwachsenden
gespeichert worden. Das betrifft sowohl die Einflüsse aus der pflanzlichen Baustoffen gebaut, d.h. aus verschiedenen Hölzern
entsprechenden Umwelt auf das Bauwerk als auch das und Palmblättern für die Dachdeckung. Es wird keinerlei Metall
Vorhandensein der Materialien und Technologien. Manches ist verwendet. Die für die Unterkonstruktion und die wichtigsten
heute noch ablesbar. Die Bedeutung traditioneller Gebäude als Träger verwendeten Harthölzer sind heute in Nias nicht mehr
Innovationsquelle wird heute nur unzureichend erkannt und erhältlich. Die Verwendung von weicherem Holz für
genützt. Die hervorragende Anpassung an die verschiedenen konstruktiv untergeordnete Teile lässt vermuten dass die harten
Umweltbedingungen dient bei dieser Studie als Ausgangspunkt Hölzer schon seit langem rar und teuer sind. Das Erdbeben hat
für die Untersuchung und die potentiellen Übertragungen. den grossen Mangel an gutem Bauholz noch weiter verschärft.

6.3.1 Traditionelle Architektur auf Nias, Indonesien und die • Tektonische Situation
Anpassung an die Unweltbedingungen Wie bei vielen anderen indonesischen Haustypen findet man bei
den Häusern in Nias eine vertikale Zonierung in drei
Nias liegt in Indonesien und ist eine kleine Insel 120 Kilometer verschiedene Ebenen, von denen jede ihr eigenes strukturelles
westlich von der Küste Sumatras. Bis vor kurzem war sie nur System besitzt und unterschiedliche Funktion besitzt. Die
wenigen Leuten als perfekter Surfspot bekannt. Nach dem unterste Ebene besteht bei allen Typen aus einer Anordnung
verheerenden Tsunami, der die West- und Nordküste der Insel von vertikalen Pfosten, die auf Fundamentsteinen ruhen. Das
verwüstet hat, wurde Nias am 28. März 2005 von einem starken besondere an den niassischen im Gegensatz zu den anderen
Erdbeben getroffen, das unzählige Gebäude zerstört und so über indonesischen Haustypen ist die mit Diagonalen ausgesteifte
900 Menschen getötet und tausende heimatlos gemacht hat.9 Unterkonstruktion, die als Anpassung an die prekäre tektonische
Die beiden Katastrophen haben Nias einer breiten Öffentlichkeit Situation zu verstehen ist. Beim Nord- und Mittelniashaus
bekannt gemacht. werden die Diagonalen noch zusätzlich mit Steinen beschwert.
Nias ist Teil einer geologisch äusserst aktiven Zone. Die Insel Diese dreidimensionale Struktur bietet guten Widerstand gegen
liegt auf der Subduktionszone zwischen der Eurasischen und der Horizontalschub aber hat die erforderliche Elastizität weil keine
Indo-Australischen tektonischen Platte. Die regelmässig kraftschlüssige Verbindung mit dem Untergrund besteht.
auftretenden starken Erdbeben haben die Bevölkerung dazu Der Raum dieser untersten Ebene wird nur als Stall und
veranlasst Nias auch "tanzende Insel" zu nennen.10 Lagerraum benutzt.
Wegen der Lage weitab von den Fernverbindungswegen und
der schlechten Erreichbarkeit hat sich auf Nias eine einzigartige
Kultur erhalten, die sich auch in der besonderen Architektur
ausdrückt. Die eindrucksvollen Holzbauten sind in vielerlei
Hinsicht perfekt an ihre Umgebung angepasst. Diese
Anpassung betrifft die Konstruktion und die Technologien, die
für den Hausbau nötig sind.

Abb. 9: Unterkonstruktion Nordnias Haus

9
Die mittlere Ebene, der erste Stock, ist das eigentliche
IOM, Post... S. 4 Wohngeschoss, eine in sich sehr stabile, schachtelartige
10
HÄMMERLE, Nias... S.15
Seite 6
Konstruktion. Auch wenn die unterste Ebene versagt, bleibt Nias liegt nahe am Äquator, das Klima ist sehr heiss und sehr
diese Struktur kohärent. Die Nutzung, der Grundriss ist feucht, es regnet durchschnittlich an 270 Tagen im Jahr.11
zumindest beim Nordniashaus variabel und an die jeweilige Das steile Dach der Häuser garantiert das schnelle Abfliessen
Familiensituation angepasst. Die dritte Eben, das hohe steile der grossen Wassermengen, und bietet ein ausreichend grosses
Dach, ist eine sehr leichte Konstruktion, die entweder auf Luftvolumen um den darunter liegenden Wohnraum angenehm
Hauptstützen oder wie in Südnias auf Seitenwänden aufgelagert zu temperieren. Die natürliche Belüftung erfolgt durch die
ist. Die Gesamtkonstruktion ist so gut an die Erdbeben grossen Fassadenöffnungen, die durch wenige horizontale
angepasst, dass in sämtlichen von uns besuchten Dörfern Holzlamellen gegliedert sind, und durch die klappenartigen
niemand aufgrund eines kollabierten traditionellen Hauses Dachfenster. Das Raumklima in den Häusern ist trotz des
gestorben ist. unangenehmen heissfeuchten Aussenklimas überraschend
Die Holzverbindungen sind gesteckt und verzapft. Diese Art der angenehm.
Verbindung besitzt die Flexibilität, die das Versagen der
Bauteile verhindern kann. Die keilförmigen Zapfen erlauben
auch eine nachträgliche Stabilisierung des jeweiligen Details.
So ist die Deformation der Tragstruktur im Fall eines Erdbebens
möglich und reversibel.

Abb. 12: Innenraum eines Südnias Hauses

• Topographie
Die traditionellen Dörfer liegen nie direkt am Meer, sondern im
Landesinneren, in Südnias meistens auf Hügelkuppen, die gute
Aussicht ins Umfeld und offenbar einen tektonisch guten
Untergrund bieten. Im Gegensatz dazu liegen die jüngeren,
Abb. 10: Detailausbildung neuen Siedlungen meistens in der Nähe der Küste an
Flussmündungen, auf Schottergründen, die Erdbebenwellen
noch verstärken können.
Der Grund, warum trotz dieser guten Anpassung der
Konstruktion viele traditionelle Häuser dem grossen Erdbeben
zum Opfer gefallen sind, ist der schlechte Erhaltungszustand der
Häuser. Die Entwicklungen unserer Zeit und damit die
Veränderungen in der Gesellschaft bringen es mit sich dass die
Erhaltung der Häuser für die Bewohner heute sehr schwierig ist.

Abb. 13: Orahili, Dorf in Südnias

Die traditionellen Siedlungen sind vor allem in Südnias


beeindruckend. Diese Dörfer können aus mehreren hundert
Häusern bestehen, die entlang von befestigten, bis zu 100 Meter
Abb. 11: durch das Erdbeben zerstörte Häuser in Südnias langen Strassen angeordnet sind. Der Anfangs lineare
Grundriss der Siedlung kann L oder T förmig erweitert
werden.12 Die Befestigung der Strassen in den niassischen
• Klima

11
HUMANITARIANINFO, Nias... S. 4
12
VIARO, Urbanisme... S. 20f
Seite 7
Dörfern ist eine Besonderheit, die normalerweise in nicht- dem Ende der politischen Struktur der Monarchie sind auch die
urbanen Siedlungsformen nicht vorkommt. Königshäuser fast verschwunden und die vier noch
Die Ausrichtung der Dörfer erfolgt meist entlang der Grate der existierenden akut vom Verfall bedroht.
Hügel, und somit orthogonal zur Ausrichtung des grossen
Gebirgszuges im Süden der Insel.
Aufgrund der erhöhten Lage der Siedlungen oben auf den
Hügelkuppen müssen diese mit grossen Stiegenanlagen an das
einfache Wegenetz zwischen den Dörfern angebunden werden.

Abb. 15: Königshaus, "Omo sebua"

• Zuordnung des Raums


Die Haustypen in Nord-, Mittel- und Südnias korrespondieren
mit den Siedlungsstrukturen. Die grossen freistehenden ovalen
Häuser in Nordnias sind in Streusiedlungen entlang der Strassen
zu finden. In Südnias existieren dem kleineren Reihenhaustyp
entsprechend geschlossene Häuserzeilen entlang von befestigten
Dorfstrassen. Die Häuser in Mittelnias besitzen meist drei freie
Fassadenflächen. Sie stehen frei oder gekoppelt, mit zwei
seitlichen oder einem mittleren Eingang.

Abb. 14: Stiegenanlage in Orahili, Südnias

Abb. 16: Mittelnias Haus


• Gesellschaftliche und soziale Situation
Die Dörfer waren unabhängige Einheiten, die sich regional zu
einer Art Bezirk zusammengeschlossen haben. Die Basis der Die Zuordnung der Innen- und Aussenräume der Häuser und
Gesellschaftsstruktur sind die Verwandtschaftsverhältnisse, die Siedlungen spiegelt auf eindrucksvolle Weise die
Grossfamilie oder Sippe. Alle Niasser führen ihre Herkunft auf Sozialstrukturen der niassischen Gesellschaft wieder.
gemeinsame Ahnen in Mittelnias zurück. Das traditionelle Der Übergang von Privatem zu öffentlichem Raum lässt sich
Recht, Adat, regelt alle Bereiche des Lebens. Der Häuptling besonders gut an den Dorfstrukturen in Südnias untersuchen.
oder König ist das Oberhaupt des Dorfes und der Sippe. Die
Gesellschaft ist in drei Schichten gegliedert: Sklaven, normale
Bürger und Adelige. Die Niasser waren als kriegerische
Kopfjäger gefürchtet. Aspekte der Verteidigung waren für die
Anlage der Dörfer und auch das Design der Häuser
massgeblich.
In Mittelnias geben sogar Schnitzereien an den Fassaden der
Häuser Auskunft über die Familiensituation, z.B. die Anzahl der
Frauen, die im Haus leben.
Die Vormachtstellung des Königs oder Häuptlings lässt sich
sowohl an der Lage der Königshäuser im Zentrum der Dörfer
als auch an ihrer Grösse und Ausbildung ablesen. Heute gibt es
in den Dörfern gewählte Bürgermeister und Versammlungen
der Bürger, in denen Entscheidungen getroffen werden. Mit

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• Moderne Architektur
Im Zuge der Feldforschung13 sind die verschiedenen Haustypen
dokumentiert worden und werden auch in Zusammenarbeit mit
Ingenieuren untersucht. Es wäre wünschenswert, dass die
gefundenen Prinzipien und Qualitäten in neue architektonische
Entwürfe einfliessen. Derzeit werden vor allem die formalen
Elemente beim Bau neuer Häuser übernommen und finden dort
oft unangemessene Anwendung. Interessant an diesen
Transformationen ist aber die Verwendung der Symbolik, und
der sehr offensichtliche Stolz der Niasser auf ihre Häuser, der
hoffen lässt dass sich das Verschwinden dieser Zeugnisse
vergangener Zeiten noch etwas hinauszögern lässt.

• Entwurfsprojekt "surfresort nias"


Die Weiterentwicklung und Umsetzung der Prinzipien, die bei
den traditionellen Häusern angewandt werden, wurde im
Abb. 17: Dorfstrasse in Hiliamaeta, Südnias Entwurfsprojekt "surfresort nias" im Wintersemester 2006
versucht. Zum Zeitpunkt des Vortrages in der Reihe
Der rückwärtige Teil des Hauses ist der privateste Bereich, der "Architektur transdisziplinär" waren diese Entwürfe noch im
von Fremden normalerweise nicht betreten wird. Der Raum Stadium des Konzepts. Trotzdem sei ein erfolgreiches Beispiel
vorne an der Dorfstrasse ist eine Art Wohnzimmer mit hier vorgestellt, weil es die inhaltliche Weiterführung des
Fensterfront über die gesamte Hausbreite. Das ist der Forschungsprojekts illustriert.
Der Strand von Lagundri im Süden der Insel Nias ist unter
Repräsentationsraum, in dem Besucher empfangen werden, und
Surfern seit Jahrzehnten für seine gleichmässigen und lang
von dem aus die Dorfstrasse gut überblickt werden kann. Der
gezogenen Wellen bekannt. Sorake Beach ist weltweit bekannt
enge Eingangsbereich und die Stiege zwischen den Häusern
werden mit dem Nachbarhaus geteilt, das heisst dieser Bereich als Surfspot für eine der besten rechtsbrechenden Wellen. Das
gehört zwei Familien. Das weit auskragende Dach bietet Schutz Planungsgebiet liegt streifenförmig zwischen Strand und Straße
vor dem Regen und somit einen halböffentlichen Bereich, der und grenzt an eine große Hotelanlage, die zu Beginn der 90er
von den Hausbewohnern oft als Arbeitsplatz genutzt wird. Jahre für eine Surfweltmeisterschaft errichtet wurde. Die
Anschliessend an diese Zone ist die Entwässerungsrinne mit bestehende Bebauung ist derzeit sehr unstrukturiert und
kleinteilig mit Pensionen, Wohnhäusern und Hütten bebaut, die
Querungen vor den Hauseingängen. Direkt danach gibt es einen
zum Großteil für Tourismus und Wohnen genutzt werden.
schmalen Streifen Land, der den Megalithen vorbehalten ist.
Diese oft riesigen fein bearbeiteten Steine repräsentieren die
Stellung der Hausbewohner im Dorf, und werden bei
zeremoniellen Festen aufgestellt. Die schönsten Megalithen
stehen vor den Häuptlingshäusern.
Der Bereich, der sich an diese Repräsentationszone anschliesst
bis zum wirklich öffentlichen Weg in der Mitte der Dorfstrasse
ist ein erweiterter Arbeitsbereich für die Hausbewohner, die
selbst für die Befestigung und Erhaltung dieses Feldes
zuständig sind. Dieser Bereich wird vor allem zum Trocknen
von Wäsche und landwirtschaftlichen Produkten genutzt. Nach
dem Erdbeben wurde diese Fläche zum Aufstellen der
Ausweichquartiere, der Zelte und Hütten, verwendet.

Abb. 19: Entwurfsprogramm "surfresort nias", Projekt von


Catrin Huber, Modellfoto

Der Entwurf - eine Hotelanlage vorwiegend für Surfer - soll


einerseits eine homogene Struktur bilden, anderseits
individuelle Räume zur Verfügung stellen. Jedes der Zimmer ist
für sich eigenständig, zusammenhängend bilden sie jedoch eine
homogene Struktur, sodass die Bebauung zwar feingliedrig
bleibt, aber doch geordnet wirkt. Wichtige Parameter für die
Planung waren grösstmögliche Autonomie und Adaption an die
vorhandenen natürlichen Umweltbedingungen und an die
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation auf der Insel.
Ziel war die Entwicklung eines Entwurfes, der die Potentiale
des Ortes ausschöpft und die vorhandene Architektursprache
neu interpretiert.
Abb. 18: Hilinawalö Madsinö, Blick aus dem Häuptlingshaus

13
August 2005, gemeinsam mit Dr. Ulrike Herbig
Seite 9
Entscheidungen zu treffen. Die Auseinandersetzung mit
Architekturtraditionen und mit den komplexen
Zusammenhängen, in die alle Phänomene der Natur eingebettet
sind, schärft das Bewusstsein für die Umwelt und die
Veränderungen und Eingriffe, die durch die Architektur
stattfinden. Die Verwendung der Bionik als Methode alleine ist
kein Garant für Nachhaltigkeit und ökologisches Design. Der
Anspruch, verantwortungsvoll und angemessen mit natürlichen
Ressourcen in jeder Hinsicht umzugehen, muss als
eigenständige Zielsetzung existieren.
Eine Vision des künstlichen Paradieses sei hier beispielhaft
vorgestellt: die transparente Kuppel über die hochverdichtete
Stadtlandschaft von Manhattan von Richard Buckminster Fuller
aus dem Jahr 1950.
Überkuppelte Städte haben einen aussergewöhnlichen
wirtschaftlichen Vorzug. Eine Kuppel von zwei Meilen
Durchmesser, dazu bestimmt, Midtown Manhattan zu
überdecken, ist von uns gerechnet worden...
(Sie) besitzt eine Oberfläche von nur 1/85 der gesamten
Abb. 20: surfresort nias, Grundriss Oberfläche all der Gebäude, die sie überwölben würde.
Sie würde die Energieverluste auf 1/85 vermindern ... Die
Kostenersparnis würde die Kuppel innert zehn Jahren
amortisieren. Überkuppelte Städte werden für die Besiedelung
der Arktis und Antarktis wesentlich werden. Utopia or Oblivion,
1969 14
Diese und andere Visionen autarker Stadteinheiten sind nach
mehr als einem halben Jahrhundert nicht Realität geworden,
haben aber das Idealbild das wir verfolgen entscheidend
mitgeprägt.

Abb. 21: surfresort nias, Schnitt


WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Im Entwurf von Catrin Huber sind einige Qualitäten der
traditionellen Architektur in zeitgemässer Form umgesetzt Bionik und Leichtbau
worden:
• Erdbebensicherheit durch die Dreieckstruktur BEUKERS, Adriaan; VAN HINTE, Ed; 010 Publishers (Hg.):
• Leichtbaukonstruktion, geringer Materialaufwand Lightness, The inevitable renaissance of minimum energy
• Aufständerung vom Boden und damit Benutzbarkeit des structures
Erdgeschosses als Lager und Durchgangsbereich 010 Publishers, Rotterdam, 1998
• Orientierung zur Durchlüftung: Passive Klimatisierung
durch intelligente Belüftungsöffnungen DANIELS, Klaus: Low-Tech Light-Tech High-Tech, Bauen in
• gute Raumqualität durch vertikale Zonierung der Informationsgesellschaft
• Anlieferungsmöglichkeit im Container, Fertigsystem das in Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin, 1998
kurzer Zeit errichtet werden kann
FULLER, Richard Buckminster; KRAUSSE J.;
Die Vorgaben des Entwurfsprogramms waren an die LICHTENSTEIN C. (Hg.): Your private sky, R.Buckminster
Gegebenheiten in Sorake Beach angepasst. Tourismus ist eine Fuller, Design als Kunst einer Wissenschaft, 2.Auflage
realistische Möglichkeit auf der Insel Geld zu verdienen, und
sollte in nachhaltiger Form stärker in den Regionen Verlag Lars Müller, Baden, Schweiz, 2000
implementiert werden, die sowieso schon seit einigen
Jahrzehnten von Touristen besucht werden. Die Infrastruktur für GORDON, J.E.(übers. Bewersdorff, Axel): Strukturen unter
den Tourismus ist aber immer noch denkbar schlecht, ebenso Stress
die Versorgungslage und das Vorhandensein von Baumaterial Spektrum der Wissenschaften Verlagsges.mbH & Co,
und ausgebildeten Arbeitern zum Bau von Häusern. Deshalb Heidelberg, 1989
scheint der Lösungsansatz bei diesem Projekt ein vorgefertigtes
Bausystem zu benutzen kurzfristig ein sehr guter zu sein (die HORDEN, Richard; BLASER, Werner: light tech, towards a
traditionelle Bauweise mit den Steckverbindungen ermöglicht light architecture
ebenso einen Ab- und Wiederaufbau des Hauses). Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin, 1995
Das Interesse der Touristen an der niassischen Kultur und
Architektur ist eine der wenigen Möglichkeiten, damit Geld zu ISLER, Heinz; RAMM, SCHUNK, Universität Stuttgart (Hg.):
verdienen und einen Anreiz für die Bevölkerung zu schaffen um Heinz Isler, Schalen, Katalog zur Ausstellung
ihr eigenes kulturelles Erbe zu erhalten. Karl Krämer Verlag, Stuttgart, 1986

7. ZUKUNFTSVISION

Visionen über unser zukünftiges Leben und die Architektur, in 14


FULLER, Your private sky S.434
der es sich abspielen wird sind notwendig um in der Gegenwart

Seite 10
LEBEDEW, Juri.S: Architektur und Bionik SCHRÖDER, E.E.W.Gs.: Nias.,
Verlag MIR, VEB Verlag für Bauwesen , Moskau, Berlin, Brill E.J. Leiden 1917
1.Auflage 1983
TJAHJONO, G. (Ed.): Indonesian Heritage: “Architecture”
MATTHECK, Claus: Design in der Natur, Der Baum als Archipelago Press, Editions Didier Millet, 1998
Lehrmeister
Rombach GmbH Druck- und Verlagshaus, Freiburg, 1997 VIARO, Alain M.: Urbanisme et architecture traditionels du
sud de líle de Nias, Etablissements humains et environnement
NACHTIGALL, Werner: Bionik, Grundlagen und Beispiele für socio-culturel UNESCO 1980
Ingenieure und Naturwissenschaftler
Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 1998 KONTAKT

NACHTIGALL, Werner: Insektenflug, Petra Gruber ist Architektin an der Technischen Universität
Konstruktionsmorphologie, Biomechanik und Flugverhalten Wien, Abteilung für Hochbau 2.
Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 2003 Ihre Spezialgebiete sind Hochbau und Bionik.
Sie kann über ihr Büro hotpen, [email protected] oder
OTTO, Frei u.a.; Natürliche Konstruktionen, Formen und [email protected] kontaktiert werden.
Strukturen in Natur und Technik und Prozesse ihrer Entstehung. Zentagasse 38/1, A-1050 Wien
Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart, 2. Auflage 1985 Phone: +43 699 19678151

PATZELT, Otto: Wachsen und Bauen, Konstruktionen in Natur


und Technik.
VEB Verlag für Bauwesen, Berlin, 2.Auflage 1974

RICE, Peter: Peter Rice, An Architect Imagines


ellipsis, London, 1994

RUDOFSKY, Bernard: Architektur ohne Architekten


Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 2.Auflage 1993

STATTMANN, Nicola; Rat für Formgebung (Hg.): Handbuch


Material-Technologie
avedition GmbH Verlag für Architektur und Design,
Ludwigsburg, 2000

TEICHMANN, Klaus und Wilke, Joachim (Hg.):


Prozess und Form „Natürlicher Konstruktionen“
Der Sonderforschungsbereich 230
Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH,
Berlin, 1996

Nias

BEATTY, Warren: Society and Exchange in Nias,


Clarendon Press, Oxford, 1992

BRENNER-FELSACH, Joachim;
MITTERSAKSCHMÖLLER, Reinhold (Hg.): Eine Reise nach
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FELDMAN, Jerome: Fragile Traditions, Indonesian Art in


Jeopardy,
University of Hawaii Press Honolulu 1994

HÄMMERLE, Johannes Maria: Nias - eine eigene Welt


Academia Verlag Sankt Augustin 1999

HUMANITARIANINFO: Nias Island Livelihoods: An


Overview
http://www.humanitarianinfo.org/sumatra/reliefrecovery/livelih
ood/docs/doc/SCHEAProjectNias-Overview-220306.pdf

IOM: Post Desaster Damage Assessment on Nias and Simeulue


Island, June 20, 2005,
The International Organisation for Migration

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ABBILDUNGEN

1 Petra Gruber
2 Stefano Caneppele
3 Stefano Caneppele
4 Melanie Klähn und Thomas Frings
5 Melanie Klähn und Thomas Frings
6 Thomas Reichart
7 Thomas Reichart
8 Petra Gruber / Ulrike Herbig
9 Petra Gruber / Ulrike Herbig
10 Petra Gruber / Ulrike Herbig
11 Petra Gruber / Ulrike Herbig
12 Petra Gruber / Ulrike Herbig
13 Petra Gruber / Ulrike Herbig
14 Erich Lehner
15 Petra Gruber / Ulrike Herbig
16 Petra Gruber / Ulrike Herbig
17 Petra Gruber / Ulrike Herbig
18 Petra Gruber / Ulrike Herbig
19 HB2
20 Catrin Huber
21 Catrin Huber

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