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HEINRICH WÖLFFLIN
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DAS ERKLÄREN
VON KUNSTWERKEN

MIT EINEM NACHWORT

DES VERFASSERS

UB Heidelberg

VERLAG E. A. SEEMANN LEIPZIG


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BIBLIOTHEK
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3. AUFLAGE

KLEINE BÜCHEREI ZUR GEISTESGESCHICHTE BAND 1

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

COPYRIGHT 1940 BT E. A. SEEMANN • PRINTED IN GERMANT


INHALT

Vorwort des Verlages. 5


Das Erklären von Kunstwerken. 7
Erläuterungen. 25
Nachschrift 1940. 39
Die erste Auflage dieser kleinen Schrift er-
schien im Jahre 1921 als erstes Heft der von
dem Verlag E. A. Seemann herausgegebenen
„Bibliothek der Kunstgeschichte“. Sie sollte
richtunggebend sein für die Behandlung der ein-
zelnen kunstwissenschaftlichen Gegenstände
in den Heften der „Bibliothek“. Im Hinblick
auf ihre große grundsätzliche Bedeutung und
die andauernde Nachfrage erwog der Verlag
schon seit langem eine Neuauflage außerhalb
der nicht mehr erscheinenden Serie. Jetzt wird
ihm endlich die Freude zuteil, das Werk wieder
an die Spitze einer neuen, nicht mehr ausschließ-
lich kunstwissenschaftlich eingestellten Schrif-
tenreihe setzen zu können. Im Hinblick auf die
Geschlossenheit der Form seiner kleinen Schrift
hat der Verfasser darauf verzichtet, sie umzu-
arbeiten. Sie erscheint also in der alten Gestalt,
doch hat der Verfasser, um, nach seinen eige-
nen Worten, „doch auch etwas Frisches zu bie-
ten“ (S. 39), die Freundlichkeit gehabt, ein
Nachwort hinzuzufügen, in dem die Grund-
fragen, auf die es ihm ankommt, „auf die Form
gebracht worden sind, die er heute verant-
worten zu können glaubt“.
DER VERLAG
Müssen denn Kunstwerke erklärt werden?
Ist es nicht das Besondere der anschau-
lichen Kunst, daß sie sich von selbst erklärt, daß
jeder sie ohne weiteres lesen kann? Sofern es
sich freilich um den sachlichen Inhalt handelt,
ist die Forderung ja selbstverständlich. Ein Bild
stellt etwas vor, ein Bau dient einem Zweck, ein
Mal hat einen Sinn; das muß erklärt werden.
Aber die Form (von der hier allein die Rede sein
soll), spricht sie nicht für sich selbst? Um eine
japanische Zeichnung zu verstehen, muß ich
nicht japanisch gelernt haben. Eine Figur des
Mittelalters sagt jedem ganz unmittelbar etwas,
trotz der Jahrhunderte, die uns von ihr trennen.
Ja man wird ein Bildwerk im allgemeinen als
eine viel bestimmtere Mitteilung empfinden als
das geschriebene Wort, dem doch in höherem
Grade etwas Vieldeutiges anhaftet. Er stehe vor
einem Abgrund, sagt Schiller gelegentlich, wenn
er an die Unbestimmtheit des sprachlichen Aus-
drucks denke.
Zugegeben, daß dem so sei, so ist das Sehen
doch etwas, was gelernt werden muß. Es ist
durchaus nicht natürlich, daß jeder sieht, was da
ist. Ein Bildwerk erklären in dem Sinne, daß das
Auge geführt wird, ist daher an sich schon ein
notwendiger Teil kunstgeschichtlicher Unter-

7
Weisung. Das Wort hat aber noch andere Bedeu-
tungen. Erklären heißt auch, die vereinzelte Er-
scheinung in ihren geschichtlichen Zusammen-
hang hineinstellen, wodurch sie erst eigentlich
deutlich werden kann. Und ist das geschehen, so
fragt man, warum an dieser Stelle gerade diese
Kunstform sich gebildet hat, und dieses War-
um? verlangt noch einmal eine besondere Er-
klärung, die in der bloßen Beschreibung der Si-
tuation nicht gegeben ist. Und endlich steht
noch das Wertproblem im Eiintergrund, die
Beantwortung der Frage, die jeder naive Mensch
zu stellen pflegt: warum denn dies schön sei
oder wTarum das eine Werk besser sei als das
andere ?

Je weniger diese „Bibliothek der Kunstge-


schichte“ ihrer Anlage nach gleichmäßig auf
solche Fragen sich einlassen kann, um so mehr
mag es zweckdienlich sein, wenigstens einlei-
tend daran zu erinnern, was für Aufgaben eine
systematische Formerklärung einschließt.

i.

Denkt man an ein altes Bild, das dem moder-


nen Betrachter gar keine fühlbaren Schwierig-
keiten macht, etwa an eine Landschaft von Ja-
cob Ruysdael, so wird man schon da die Erfah-
rung machen, daß eine gewisse Erziehung dazu
gehört, um die Form so aufzufassen, wie sie auf-
gefaßt sein will. Das Einzelne sieht jeder, die
Schwierigkeit liegt im Zusammensehen des
Ganzen: daß man nicht den einzelnen Lichtfleck
sieht, sondern den Rhythmus des Lichtgangs im
großen; nicht den einzelnen Baum, Teich oder
Hügel, sondern das gesamte Formgefüge, was
für eine Figur Himmel und Erde zusammen
machen und wie diese Figur im Rahmen drin
steht. Auch in bezug auf Farbe versagt zunächst
das Auge vor der Forderung, die Farbengesamt-
heit aufzufassen, das System der gegenseitig sich
stützenden und steigernden Töne, die farbigen
Entsprechungen und Widersprechungen, wie
sie durch das Bild im ganzen durchgehen. Und
nun liegt ja Farbe, Licht und zeichnerischeForm
nicht als etwas Gesondertes nebeneinander, son-
dern alles entspringt aus einem und demselben
Quell, und erst wenn wir die Einheit fühlen, wie
diese Elemente sich gegenseitig bedingen, ha-
ben wir den Standpunkt gewonnen, von dem
aus wir dem Bild in die Augen zu sehen vermö-
gen, so daß nun seine Seele zu uns zu sprechen
anfangen kann.
Das ist ein einfacher Fall, weil uns der male-
rische Stil des XVII. Jahrhunderts vertraut ist,

9
aber es gibt sehr verschiedenartige „Stile“.Ihre
Zahl ist unendlich. Trotzdem nun unser Ge-
sichtssinn die merkwürdige Fähigkeit besitzt,
auch auf ganz fremde Formfassungen zu reagie-
ren, und unsere historische Erziehung dafür
sorgt, diese Fähigkeit früh nach allen Seiten aus-
zubilden, ist es doch nicht leicht, sich immer
richtig einzustellen. Es kann Vorkommen, daß
auch der Ungeübte ein fremdes Kunstwerk un-
gefähr richtig liest, dann nämlich, wenn eine
verwandte eigene Anlage ihm entgegenkommt,
im allgemeinen aber wird man die Schwierig-
keit nicht hoch genug einschätzen können,
fremde Kunst wirklich richtig zu interpretieren.
Man muß eben doch japanisch gelernt haben,
um eine japanische Zeichnung zu verstehen,
d.h., man muß nicht die japanische Sprache,
wohl aber die japanische Bildeinstellung besit-
zen. Bauten wie den altindischen ist mit abend-
ländischen Sehgewohnheiten schlechterdings
nicht beizukommen: die Frage ist nicht, ob wir
sie schön finden oder nicht, wir müssen über-
haupt erst das Organ für solche Formwirkun-
gen in uns entwickeln.
Aber man braucht nicht einmal so weit zu
gehen. Um nur italienische Kunst zu verstehen,
bedarf es einer völlig neuen Einstellung für den

io
Nordländer. Sonst betont man falsch, hängtsich
an das Unwesentliche und übersieht das Wesent-
liche. Ein florentinisch-römischer Bau der Hoch-
renaissance wird dem nordischen Reisenden zu-
nächst immer kahl und kalt Vorkommen. Das ist
ganz erklärlich, solange er in unserem Sinn auf
Bewegungs- und Ausdrucksgehalt hin angese-
hen wird. Aber das ist eben falsche Einstellung.
Sobald man die richtigen, die italienischen Vor-
aussetzungen besitzt, wird die scheinbare Ar-
mut in den Eindruck ungeheueren Reichtums
umschlagen. Dann erst hat man gesehen, was da
ist. Nicht einmal innerhalb des eigenen Landes
sind wir vor Mißverständnissen sicher. Die
klassizistische Epoche z. B. hat die malerischen
Kunstdenkmäler der heimischen Vergangen-
heit ganz falsch aufgefaßt, und der malerische
Geschmack einer späteren Generation ist wie-
der der linearen Strenge alter Form nicht ge-
recht geworden. Ja, bis auf den heutigen Tag
werden Abbildungen verbreitet, die aus fal-
schen Einstellungen hervorgegangen sind.

2.

Das isolierte Kunstwerk hat für den Histori-


ker immer etwas Beunruhigendes. Er wird ver-
suchen, ihm Zusammenhang und Atmosphäre

11
zu geben. Das kann in doppelter Weise gesche-
hen, einmal so, daß man es in den Werdezusam-
menhang hineinstellt, die Vor- und Nachstufen
aufsucht, dann indem man das Zeitgenössisch-
Verwandte heranholt und damit einen Kreis um
es herumzieht, der über Schule und Stamm bis
zum allumfass enden Kreis des bleibenden Volks-
charakters, in dem es wurzelt, erweitert werden
kann.
Der engste und fruchtbarste Kreis ist das Ge-
samtwerk eines Künstlers, wo die einzelne Ar-
beit sich mit ihren Geschwistern zusammen-
findet. Daraus ergibt sich die Vorstellung einer
Künstlerpersönlichkeit. Man wird aber diese
Persönlichkeit erst dann sicher charakterisieren
können, wenn man Zeitgenossen kennt, zeit-
genössische Kollegen. Erst in diesem Vergleich
wird deutlich werden, wie sich die einzelne In-
dividualität zum Gattungstypus der Generation
verhält. Dürer hat eine ganze Anzahl bedeuten-
der Künstler neben sich, die - wie etwa Grüne-
wald - sehr stark von ihm sich unterscheiden.
Nichtsdestoweniger stimmen doch alle in we-
sentlichen Zügen überein: es sind eben die Züge,
die den Generationscharakter ausmachen, die
Merkmale, an denen man die deutsche Kunst
vom Anfang des XVI. Jahrhunderts erkennt.
Eine Generation scheidet sich aber wieder in
landschaftliche Gruppen. Wir kennen eine frän-
kische, eine schwäbische Schule usw., die we-
nigstens zeitweise einen geschlossenen Charak-
ter besitzen (in Dürer ist die Natur des Franken
deutlich fühlbar). Und doch münden alle Stam-
mestypen schließlich in den Allgemeinbegriff
von deutscher Art überhaupt. So wechselnd die
Stimmung der einzelnen Epochen der deut-
schen Kunstgeschichte sein mag, es gibt etwas
Durchgehendes: in allen Wandlungen, die man
mit besonderen Namen bezeichnet, behauptet
sich eine gewisse Gleichheit des Volksgeistes.
Selbst in der Architektur, wo man am schärf-
sten nach Stilen zu scheiden gewöhnt ist, gibt
es neben der Folge von Romanisch und Go-
tisch, von Renaissance und Barock usw. etwas
Bleibendes, eine nationale Weise der Formbil-
dung, die an dem bestimmten Boden haftet und
die erlaubt, von einer deutschen, von einer ita-
lienischen Bauart schlechthin zu sprechen. Über-
flüssig beizufügen, daß dieser Eigencharakter
nicht immer gleich stark da ist, daß es Kulturen
von mehr nationalem und von mehr internatio-
nalem Gepräge gibt: - Erklären wird überall
heißen, im Einzelnen und Einmaligen das All-
gemeinere fühlen zu lehren.
Aber wie gesagt, das ist nur die eine Art, Zu-
sammenhang zu schaffen, sie geht in die Breite.
Die andere verfolgt die Längsrichtung und
sucht die Entwicklung zu fassen. Nichts ent-
steht ohne Zusammenhang mit Früherem und
alles wird wieder Vorstufe für Späteres. So im
Oeuvre des einzelnen Künstlers, so im Zusam-
menhang der Generationen. Die französische
Hochgotik ist als geschichtliche Erscheinung
gar nicht denkbar ohne die Keimform der Früh-
gotik, und diese ist wieder hervorgegangen aus
den Prämissen des romanischen Stils. Der ita-
lienische Barock bleibt unverstanden, solange
er nicht mit der italienischen Renaissance in Zu-
sammenhang gebracht wird: erst als deren Um-
und Weiterbildung bekommt er seinen bestimm-
ten eindeutigen Charakter. Würde man ihm -
versuchsweise - eine andere Vorform unter-
schieben, so würde er eine ganz andere Bedeu-
tung erhalten.
Man denke sich ein versprengtes Original-
werk der Plastik, eine griechische Figur des rei-
fen Archaismus oder ein nordfranzösisches
Stück vom Jahre 1200, so würde dieser „strenge4 ‘
Stil, aus dem Entwicklungszusammenhang her-
ausgenommen und an eine andere Stelle ver-
setzt, sofort einen veränderten Stimmungsin-

14
halt bekommen. Man muß wissen, daß das frühe
Kunst ist, um die Zurückhaltung in der Form
richtig zu interpretieren.
Wenn man Frühstufen, Hochstufen, Spät-
stufen in einer Entwicklungsperiode unterschei-
det, so ist das nicht eine bloß äußerliche Eintei-
lung, vielmehr entspringt sie der Einsicht, daß
es sich hier um einen organischen Prozeß han-
delt, und daß den einzelnen Entwicklungsstufen
eine ganz bestimmte Form der Gestaltung ent-
spricht. Bei nicht allzu weit auseinandergehen-
der Veranlagung werden die Stilstufen immer
und überall eine gewisse Verwandtschaft unter
sich aufweisen. Nur muß man bedenken, daß
die Geschichte nicht immer in sich geschlossene
Entwicklungen zeitigt, und daß das Gewächs
der Kunst nicht einem einzelnen Baum, sondern
eher einem Wald zu vergleichen wäre, wo neben
den alten auch junge Pflanzen stehen und das
stärkere Individuum hemmend in die Entfal-
tung des schwächeren hinübergreifen kann.
Eine andere Frage ist die, wie weit ein Zu-
sammenhang auch da noch wirksam bleibt, wo
eine Periode aufhört und eine neue anders ge-
richtete Kunst einsetzt, also etwa bei dem neuen
Linearismus mit primitivem Geschmack um die
Wende des XVIII. und XIX. Jahrhunderts, der
das malerische Rokoko ablöst. Allem Anschein
nach sitzt hier eine Cäsur, aber das bedeu-
tet nicht, daß das Alte ganz verschwunden ist:
es wirkt als Gegensatz eine Zeitlang weiter, ja,
unbewußt benutzen die neuen Primitiven noch
manches vom alten Erbe. Man kommt nie auf
denselben Punkt zurück in der Geschichte.

3-

Wer die Welt als Historiker zu betrachten ge-


wohnt ist, der kennt das tiefe Glücksgefühl,
wenn sich für den Blick, auch nur strecken-
weise, die Dinge klar nach Ursprung und Ver-
lauf darstellen, wenn das Daseiende den Schein
des Zufälligen verloren hat und als ein Gewor-
denes, ein notwendig Gewordenes verstanden
werden kann. Um zu diesem Gefühl zu gelan-
gen, muß man aber mehr besitzen als nur die
bildmäßige Übersicht, wie das Material gelagert
ist. Man muß Bescheid wissen um die Gründe
der vorliegenden geschichtlichen Gestalt. Ge-
wiß, es ist auch eine Genugtuung, von hohem
Berge aus eine Gegend überblicken zu können,
zu sehen, wie die Höhen und Täler geformt
sind, welchen Lauf die Gewässer nehmen, wie
sie in einem Becken zum See sich stauen usw.,
aber die Erklärung, warum das so geworden ist,
16
kann doch nur der Geologe geben. So ist in der
Kunstgeschichte mit einer noch so vollständi-
gen Beschreibung des Tatbestandes und der Zu-
sammenhänge des Neben- und Nacheinander
noch keine Erklärung in tieferem Sinne er-
bracht, keine Antwort auf die Frage, warum das
nun alles so gekommen ist.
Die Antwort, die jeder zur Hand hat, lautet
so: Kunst ist Ausdruck, Kunstgeschichte ist
Seelengeschichte. Studiere den Menschen und
du verstehst sein Werk, studiere die Zeit und du
hast ihren Stil. Dabei ist man sich wohl bewußt,
daß es Bindungen gibt, die z.B. in der Materie
oder in der Technik liegen können. Ein Stein-
land wird anders bauen als ein Holz- oder Back-
steinland. Eine hochgesteigerte Technik der
Eisenkonstruktion wird Formen erzeugen, die
früher gar nicht haben Vorkommen können.
Aber man ist davon zurückgekommen, diesen
Faktoren mehr als einen sekundären Wert bei-
zumessen. Auch weiß man wohl, daß der Künst-
ler nicht produziert wie der Vogel singt, son-
dern daß er mehr oder weniger abhängig ist von
einem kaufenden Publikum, und daß der Be-
steller - sei es die Kirche oder wer immer -
seine Forderungen geltend machen wird. Zwei-
fellos ist die Kunstgeschichte verflochten mit
2 Wölfflin 17
der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte,
ja mit der Staatsgeschichte. Aber das tut ihrem
Charakter als Zeitspiegel erst recht keinen Ab-
bruch. Und auch das kann man ruhig zugeben,
daß nicht immer und nicht überall im gleichen
Maße „Weltanschauung“ bildliche Gestalt an-
genommen hat, genug, wenn die eigentlich
schöpferischen Epochen der Kunstgeschichte
dieses Gehaltes voll sind.
Eine Ausführung, inwiefern nun etwa die nor-
dische Gotik oder die italienische Renaissance
als Produkt einer bestimmten Auffassung der
Welt und des Lebens gelten können, gehört
nicht hierher. Jedermann ist überzeugt von der
Tatsache. Mit tausend Wurzeln ist die Kunst im
Boden der geschichtlichen Gegebenheiten ver-
ankert; alles hängt mit allem zusammen, und
das Leben in seiner ganzen Breite muß zur Er-
klärung der bildlichen Denkmäler und ihres
Stils herangezogen werden. Und doch bleibt es
eine halbe Sache, die Kunstgeschichte in dieser
Weise rein als Ausdruck verstehen zu wollen.
Wo man hinsieht, findet man Entwickelungen,
ein heimliches inneres Leben und Wachsen der
Form. Einzelne Motive wandeln sich ab wie die
Darstellungsarten im Großen. Die einzelnen
Stile haben ihre Entwicklung, und man unter-
18
scheidet verschiedene Stufen, und die Kunst-
geschichte ganzer Völker wird in Perioden auf-
geteilt, die man archaisch, klassisch, barock
nennt. Das deutet darauf, daß die Kunst nicht
nur als immer gleichmäßig gefügiges Aus-
drucksinstrument das „Leben“ begleitet, son-
dern daß sie ihr eigenes Wachstum und ihre
eigene Struktur hat. Und das ist ja ganz natür-
lich. Unser Anschauungs- und Vorstellungs-
vermögen ist nicht etwas Fertiges, ein für alle-
mal uns Gegebenes, sondern etwas Lebendiges,
das sich entwickelt. Nicht alles ist zu allen Zei-
ten möglich. Es gibt ein stufenweises Weiter-
schreiten, und wenn wir dieses gesetzmäßig
nennen, so tun wir es deswegen, weil wir die
Folge sich wiederholen sehen und die Ord-
nung sich nicht umkehren läßt. Im allge-
meinen ist es der Fortschritt von den psy-
chologisch einfacheren Vorstellungsarten zu
den psychologisch schwierigeren. Die Form
der Subordination ist immer eine jüngere
Form als die Form der Koordination. Tie-
fenhafte Darstellung kommt erst nach der
flächenhaften Darstellung. Vom isolierenden
Sehen gelangt man mit der Zeit zu immer
höheren Graden des zusammenfassenden
Sehens, und der Wirkungseindruck springt

*9
von den plastisch-greifbaren Motiven auf die
ungreifbaren über. Usw.
Das soll nun nicht heißen, daß es sich hier
um einen mechanischen Vorgang handele, der
unter allen Umständen sich vollzöge: der Geist
muß freilich wehen, damit etwas wird. Und so-
bald wir die Gestaltungsstufen als Sehstufen be-
greifen, leuchtet ihre geistige Bedeutung un-
mittelbar ein. In jeder neuen Sehform kristalli-
siert sich ein neuer Inhalt der Welt. Der Prozeß
kann sich nun langsam oder schnell vollziehen;
er kann viele Wandlungen erzeugen oder nur
wenige; wie Sprachbau und Sprachenentwick-
lung bei verschiedenen Völkern verschieden
ist, so wird auch Art und Entwicklung des an-
schaulichen Vorstellens eine verschiedene sein.
Im letzten Grunde indessen muß doch die Ein-
heit der menschlichen Natur auch hier sich be-
währen. Was aber die Erkenntnis dieser „spe-
zifischen“ Formentwicklung schwer macht, ist
das, daß sie immer verquickt bleibt mit den
Ausdrucksinhalten im vorhin genannten Sinn,
ja, daß sie mit diesen - bedingend und bedingt -
eine ganz untrennbare Verbindung eingeht.
Auf die Frage der Periodizität und Kontinui-
tät kann hier nicht eingegangen werden. Nur
soviel wollen wir noch sagen: es ist kein Ein-
20
wand, wenn einer solchen Betrachtung ent-
gegengehalten wird, die Menschen hätten im-
mer so gesehen, wie sie sehen wollten. Das ist
ja selbstverständlich. Das Problem liegt anders:
ob nicht dieses „Wollen“ der Menschen an eine
gewisse Linie gebunden sei.
Wenn es aber eine solche „Logik“ in der op-
tischen Entwicklung gibt, so bedeutet das je-
denfalls keine Entwertung des Individuums.
Die Möglichkeiten, die in der Luft liegen, ma-
chen noch nicht das Werk, und es bedarf immer
der großen Persönlichkeit, um sie in einem großen
Sinn zu realisieren.
Und damit kommen wir zum letzten, was wir
auch an den Anfang hätten setzen können: zur
künstlerischen, d. h. qualitativen Beurteilung
der Kunst.
4-
Man weiß, daß Künstler für Erörterungen
über die historische Stellung eines Bildwerkes
nur ein mäßiges Interesse zu haben pflegen. Sie
fragen: wie wirkt es ? ist es groß gesehen ? ist es
stark und ursprünglich empfunden? usw. Das
ist der ästhetische Standpunkt, für ein Kunst-
werk der natürlichste. Ästhetische Urteile aber
sind Werturteile. Wo finden wir den Maßstab,
Qualitätsgrade der Kunst zu messen? - Erst im
Gefühl der Qualität bewährt sich das künstle-
rische Verhältnis der Menschen zu den Dingen.
Gerade hier aber ist mit einzelnen Andeutungen
am wenigsten zu erreichen. Aber es war ein
wichtiger Schritt, um die Bahn für die wertende
Beurteilung des Einzelstückes frei zu machen,
daß man nicht mehr von einer Art von Kunst
als der einzig möglichen spricht, sondern die
Vielartigkeit zugibt. Wir kennen die italienische
Kunst als eine Kunst der sinnlich-wahrnehm-
baren, formalen Vollkommenheit, aber wir hü-
ten uns, ihr die Wertbegriffe zu entnehmen zur
Beurteilung einer Kunst des unmittelbaren see-
lischen Ausdrucks, wie es die germanische in
ausgesprochenem Maße ist. Andererseits darf
man natürlich auch nicht von nordischer Emp-
findung aus über italienische Form als leer und
bedeutungslos absprechen. Es gibt eine Kunst
des Naturalismus und wieder eine Kunst, der
die Wirklichkeit nichts bedeutet, und beide
haben ihr Recht. Mittelalterliche Miniaturen
können nicht gewertet werden nach Richtig-
keit oder Falschheit der Figurenproportion,
nach möglicher oder unmöglicher Perspektive.
Sie sind von Flaus aus a-perspektivisch, und der
Begriff der Nachahmung und der räumlich-
illusionistischen Wirkung existiert für sie nicht.

zz
Wir sind weitherzig geworden und suchen
jeder künstlerischen Äußerung, auch bei den
ganz primitiven und exotischen Kulturen, ge-
recht zu werden. Und das ist gewiß ein Fort-
schritt gegenüber einer Zeit, wo man die Dinge
nicht mit ihren eigenen, sondern mit fremden
Maßstäben maß. Auch sind damit (für den Ver-
ständigen) durchaus nicht alle Wertunterschei-
dungen aufgegeben. Es ist kein Verzicht auf
ästhetische Erkenntnis, wenn wir die „Rein-
heit“ Bramantes und den dumpfen Überschwang
altindischer Tempel, wenn wir Phidias und die
Kunst der nordisch-romanischen Kirchenbild-
hauer nebeneinander genießen. Wir glauben
auch hier noch an eine letzte Einheit. Nur haben
sich eben die Wertbegriffe in einer Weise subli-
miert, daß von der alten europäischen Schul-
ästhetik nicht mehr viel übriggeblieben ist.
*

Unter allen Kunstbüchern des XIX. Jahr-


hunderts hat wohl keines mehr augenöffnend
gewirkt als jener Cicerone, den Jacob Burck-
hardt als eine „Anleitung zum Genuß der
Kunstwerke Italiens“ geschrieben hat. Burck-
hardt besaß eine Neigung zu systematischer
Darstellung, aber hier spielt sie keine Rolle, und

23
die Genialität des Buches besteht durchaus im
schlagenden Einzelwort. Ohne daß er Künstler-
entwicklungen vollständig charakterisiert, wird
durch das einzelne Beispiel die Art klar und
ohne daß er eigentüch Geschichte erzählt, wird
durch die Periegese seines „Stationenbuchs“
der Zusammenhang der Denkmäler deutlich.
So denken wir uns die Wirkung dieser fünf-
hundert kurzen Einzeldarstellungen. Schon
Burckhardt aber meint, auf das Erleben von
sehendes Beschauers komme alles an. Er könne
nur Umrisse zeichnen, die der Lesende mit
Empfindung ausfüllen müsse. Wäre es über-
haupt möglich, sagt er, den tiefsten Inhalt,
die Idee eines Kunstwerkes in Worten auszu-
sprechen, so wäre die Kunst ja überflüssig und
alle die Bauten, Figuren und Bilder hätten un-
gebaut, ungemeißelt, ungemalt bleiben können.

*4
ERLÄUTERUNGEN
s ist ebenso überflüssig wie unmöglich, das
Vorstehende mit ein paar Bildern zu illu-
strieren. Statt dessen sei es erlaubt, einige An-
merkungen beizufügen, die den nur skizzieren-
den Text wenigstens stellenweise erhellen und
besser als Bilder „illustrieren“ können.
In ganz allgemeiner Fassung und so kurz und
übersichtlich wie möglich haben wir versucht,
über die Aufgaben des Erklärens uns auszuspre-
chen, wobei die iAm'erklärung in den Vorder-
grund geschoben wurde. Es sind nicht Opera-
tionen, die nacheinander vorgenommen werden
können, sondern eine setzt die andere voraus.
Zeigen, was da ist, umschließt eigentlich schon
alles. Man kann die Form nicht beschreiben,
ohne schon Qualitätsurteile mit einfließen zu
lassen. Jedes Sehen aber ist auch schon ein Deu-
ten, und das vollkommene Deuten kann nur aus
dem geschichtlichen Gesamtzusammenhang
heraus geschehen, dessen Komponenten - die
Ausdruckskomponente und die spezifische,
„optische“ Entwicklungskomponente - ver-
standen sein wollen.
Nun wäre wohl das Gegebene, die Theorie
durch die Praxis zu ergänzen und an einer Reihe
von Beispielen aufzuzeigen, wie die Fragestel-
lungen zu handhaben sind. Allein ein einzelner

27
Fall, wirklich durchgeführt, würde den Rah-
men eines Heftes sprengen, geschweige denn
eine Reihe von Fällen. Wir müssen uns darauf
beschränken, ein paar der genannten Probleme
besser ins Licht zu stellen, und hoffen damit
anschaulich zu machen, daß es sich bei diesen
Sätzen, so einfach und selbstverständlich sie
klingen, doch nicht durchaus um erledigte
Wahrheiten handelt.
Wir halten uns nur an das Allerbekannteste
und beginnen mit jenen Naumburger Stifterfigu-
ren des XIII. Jahrhunderts, in denen man gern
die Krone der deutschen mittelalterlichen Pla-
stik erkennt. Die klare Einsicht, wie diese Fi-
guren aufzufassen sind, scheint merkwürdiger-
weise noch nicht verbreitet zu sein, wenigstens
wird in den kursierenden Abbildungen der rich-
tige Standpunkt eher vermieden als aufgesucht.
Die Arbeiten gehören einem Stile an, wo der
Körper zu vollplastischer Wirkung gediehen ist
und gleichzeitig der Umriß Gewicht und Nach-
druck erlangt hat. Gemeint ist der Umriß in
reiner Frontansicht. Erst hier eröffnet sich der
Einblick in die hochbedeutenden Themen, mit
denen Außen- und Innenlinie (natürlich die Li-
nie im plastischen Sinn, als Grenze einer körper-
lichen Form!) ausgestattet ist. Man kann die Fi-

28
guren auch anders als frontal ansehen, aber man
wird immer wieder zu dieser Hauptansicht zu-
rückkehren, weil nur hier die Motive voll und
rein zusammenklingen und weil nur hier die
gleichmäßige Klarheit der Formen (Hände, Fal-
ten usw.) als das selbstverständliche Korrelat
der Schönheit sich einstellt. Das ist wieder eine
Eigenschaft typischer Art: die Forderung der
sachlich erschöpfenden Schaubarkeit. Gleich-
zeitig ist die Kraft der starken Gegensätze er-
kannt: die Urlinien der Waagerechten und Senk-
rechten werden in reinen Kontrasten zusam-
mengebracht. Auch das ein Merkmal „klassi-
scher“ Formung, dem sich weiterhin die Strenge
der architektonischen Bindung zugesellt: ganz
selbständig an sich erscheint jede Gestalt doch
absolut notwendig im Zusammenhang des ar-
chitektonischen Gefüges. Sie gibt der rahmen-
den Architektur ebensoviel Kraft, als sie von
ihr empfängt. Usw.
In dieser Weise müssen die einzelnen Motive
der Gestaltung zusammengesucht werden, um
zum Eindruck des besonderen Gehaltes zu ge-
langen. Der Erklärer wird vor allem für die
richtige Gesamteinstellung zu sorgen haben,
das Einzelne erschließt sich dem Betrachter
nachher von selber. Aber auch zum Verstehen

29
der geistigen Inhalte, mit denen der Laie allein
fertig werden zu können glaubt, gehört eine be-
stimmte Einstellung. Das voraussetzungslose
Fragen; „Was machen mir, dem Menschen des
XX. Jahrhunderts, diese Figuren für einen Ein-
druck?“ führt in die Irre. Das Lächeln dieser
Frauen kann nicht unmittelbar verstanden wer-
den, und wenn man einen dramatischen Zu-
sammenhang in diese Gesellschaft hineingesehn
hat, als ob einige darunter über dem Anblick
des (hier mit dargestellten) schuldbeladenen
Geschlechtsgenossen, der im Gottesgericht ge-
fallen war, in Erregung gekommen wären, so
nimmt man mit einer solchen Erklärung eine
Darstellungsform voraus, die mit dieser Zeit
überhaupt unvereinbar ist. Man kann die Figuren
so zusammenbeziehen, aber es ist nicht richtig.
Man begeht damit denselben Fehler, wie wenn
die Propheten an Michelangelos Sixtinischer
Decke auf bestimmte historische Einzelmo-
mente ihres Lebens hin gedeutet worden sind
(C. Justi), oder wenn man den Jeremias dort so
aufgefaßt hat (W. Henke), als ob er von der
Decke auf das reale Meßopfer in der Kapelle
unten hinab schaue.
Wenn die Malerei den Vorzug hat, daß we-
nigstens die Ansicht festgelegt ist, so ist der

30
Formauffassung doch auch hier noch ein weiter
Spielraum gelassen: wie weit man sich male-
rischen Wirkungen überläßt, wie weit man die
Zeichnung auf Linie hin sieht usw. Ein und das-
selbe Stück kann ganz verschieden angesehen
werden, und es gehört Zucht dazu, etwa bei
Holbein die Linie in ihrer ganzen unerhörten
Strenge zur Wirkung gelangen zu lassen. Neh-
men wir aber einen Fall, der uns näher liegt, wie
etwa Jacob Ruysdael, wo die Einstellung nicht
erst gesucht werden muß, so können wir hier
ein Beispiel von Erklärung eines individuellen
Stiles studieren. Aus dem Zusammensehen von
Farbe, Lichtgang und zeichnerischer Form er-
gibt sich der Eindruck eines Bildes, und aus dem
Zusammensehen vieler Bilder der feste Ein-
druck einer künstlerischen Persönlichkeit. Es
wird sich eine bestimmte Vorstellung bilden,
wie Ruysdael die Massen zusammenballt, wie er
die kraftgeladenen Formen geduckt hält, wie
die Sandwege bei ihm mühsam schleichen und
doch der Sinn mit fast unheimlicher Gewalt in
die Tiefe hineingezogen wird, wie er immer ge-
halten bleibt und dabei über einen Rhythmus
von hinreißender Freiheit verfügt. Man wird
die kräftige Art der Pinselführung in der Zeich-
nung des Laubwerks mit der Bildung seiner

3i
Wolken gleichgeartet empfinden, im einzelnen
Teil das Ganze vorgebildet erkennen, kurzum
in der Fülle verschiedener Erscheinung den
einen gestaltgebenden Kern allmählich frei-
legen. Das wäre dann die vollkommene Forrn-
analyse. Aber um Ruysdaels persönliche Art
der Raumempfindung, die persönliche Art sei-
ner freien Rhythmik, die persönliche Art der
Fleckensetzung in seinem Baumschlag zu ver-
stehen, muß man die allgemeinen Gestaltungs-
möglichkeiten der Zeit kennen.
(In meinen „Kunstgeschichtlichen Grundbe-
griffen“ habe ich versucht, die typischen Ge-
staltungsstufen in der Entwicklung der neueren
Kunst aufzuzeigen. Man hat das Buch mehrfach
dahin mißverstanden, daß dadurch die „Kunst-
geschichte mit Personen“ ersetzt oder über-
trumpft werden solle. Nichts kann falscher sein.
Immer werden die Persönlichkeiten das Wert-
vollste bleiben und das größte Interesse auf
sich sammeln müssen, aber es ist allerdings
meine Meinung, daß man die Leistung einer
Persönlichkeit gar nicht fassen kann, wenn man
nicht die Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Zeit
im allgemeinen kennt, jenen untersten Grund
-darum sind es Grund begriffe-, in dem die schöp-
ferische Phantasie eines zeitlich gebundenen

32
Menschen verankert ist. Weder ist mit diesen
Begriffen schon Kunst gegeben, noch stellen sie
in solch nackter Darlegung Geschichte dar, aber
innerhalb der hier umrissenen Möglichkeiten
hat sich Kunst gebildet, und an diesen [oder
ähnlichen] Begriffen kann man die wirklichen
geschichtlichen Erscheinungsarten und Ent-
wicklungen messen und bestimmter charakte-
risieren.)
Man muß wissen, was einen Ruysdael grund-
sätzlich von einem Landschafter des XVI. Jahr-
hunderts wie Patenier oder Altdorfer unter-
scheidet. Es ist nicht die andere Stimmung
allein, es sind elementare Gestaltungsverschie-
denheiten, und wenn auch jeder neuen Sehform
ein neuer Inhalt entspricht, so sind es eben doch
Bilder des XVI. und XVII. Jahrhunderts, weil
sie verschiedenen Stufen der optischen Ent-
wicklung angehören, auch bei verwandtem
Thema nie auf einen Nenner zu bringen: Stille
und Feierlichkeit oder umgekehrt pathetische
Bewegung müssen sich hier und dort verschie-
den aussprechen.
Natürlich ist aber auch die Idee der Land-
schaft im XVI. und XVIL Jahrhundert eine an-
dere, und so nah uns Ruysdael in seiner Emp-
findung verwandt erscheint, so läuft man doch

3 Wölfflin 33
immer Gefahr, falsche Werte in seine Kunst
hineinzutragen, wenn man nicht der Tatsache
Rechnung trägt, daß seine Empfindung einge-
bettet ist in die Empfindung seiner Zeit und
seiner Rasse. Was Goethe über „Ruysdael als
Dichter“ schrieb, ist merkwürdig naiv und ohne
genügende historische Rücksichtnahme ge-
schrieben worden (über die vielen Wurzeln der
Geistigkeit des Landschafters Ruysdael vgl. et-
wa den betreffenden Aufsatz bei W. Valentiner,
Zeiten der Kunst und der Religion).
Ruysdael ist Holländer, und man könnte ge-
wiß genauer bezeichnen, was er vom Stamm
her andern deutschen Stämmen gegenüber für
Eigenschaften hat, indessen ist das eine geringe
Verschiedenheit, sobald man die großen Unter-
schiede des Rassencharakters ins Auge faßt, wie
er etwa im Vergleich der italienischen und der
deutschen Kunst zutage tritt und auf Seite des
Beschauers eine gänzlich andere Einstellung
notwendig macht.
Wenn man glaubt, man brauche Raffaels
Schule von Athen, zweifellos ein Hauptwerk
der ganzen abendländischen Malerei, aber von
rein italienischem Charakter, wenn man glaubt,
man brauche ein solches Bild nur im Klassen-
zimmer aufzuhängen und es würde auch der

34
Mittelschüler schon in ein Verhältnis dazu kom-
men, so ist das vielleicht in dem Sinne wahr, daß
von einem Werk höchster Durchformung im-
mer eine gewisse bildende Wirkung ausgehen
wird, aber gerade der sinnlich-kräftige Instinkt
wird das Fremde der Darbietung spüren und
ablehnen. Es wird einer späteren Unterweisung
überlassen bleiben müssen, das Andersartige
aus seinen besonderen Voraussetzungen zu
rechtfertigen und zu erklären.
In der Tat: was wir oben von der Unverein-
barkeit deutscher und itaüenischer Architektur
sagten, gilt von der darstellenden Kunst in glei-
chem Maße, nur daß das Publikum sich dessen
weniger klar bewußt sein wird. Man denkt,
Mensch sei Mensch, und was in Gestalt, Ge-
bärde und Miene sich ausdrückt, müsse ja über-
all gleich verständlich sein. Allein nicht nur die
Gebärde ist eine andere, Wert und Schätzung
der Gestalt ist grundverschieden hüben und
drüben. Wir haben von Haus aus keine Ahnung
von der Ausschließlichkeit, mit welcher die Ge-
stalt im Süden die Darstellung beherrscht. Und
nicht nur das Sachliche das Bild im Ganzen,
seiner Wesenheit nach, hat eine andere Grund-
lage. Große tektonische Konfigurationen, wie
die Schule von Athen, haben für uns keinen

35
Sinn. Wir müssen uns nur immer wieder sagen,
daß wir hier kein Recht haben, abzuurteilen,
und daß das, was uns „gemacht“ und starr, als
Pose und Schaustellung erscheint, diese Wir-
kung eben nur für uns hat.
Je mehr man dann in die Tiefe geht, um so
deutlicher tritt das Andersartige in der Struktur
des bildlichen Vorstellens überhaupt hervor bei
dem fremden Volke, und man stößt auf die
Aufgabe, von dieser Vorstellungsart sich zu-
sammenhängend Rechenschaft zu geben, etwa
so wie die Philologie vom Bau und Geist einer
Sprache sich Rechenschaft gibt, überzeugt, daß
erst aus der Kenntnis der Sprache und der
darin beschlossenen Denkweise heraus ein
literarisches Werk ganz verstanden werden
könne.
Damit soll nicht gesagt sein, daß wir solche
Untersuchungen (die erst im Gange sind) nur
bei fremden Völkern zu machen brauchen und
daß wir unsere eigene Sprache sowieso schon
kannten, aber es ist gut, das Fremde zu studie-
ren, weil wir durch den Gegensatz das Beson-
dere der germanischen Vorstellungsart viel kla-
rer zu sehen imstande sein werden. Wer eine
kennt, kennt keine. Den Wurzeln der Kunst bis
in diese Tiefe nachzugraben, wird immer eine

36
bedeutsame Aufgabe bleiben, wenn sie auch für
die Praxis des Tages ausscheidet.
Und das Letzte und Entscheidende für unser
Verhältnis zur Kunst liegt auch hier nicht, son-
dern im ästhetischen Werturteil. Wie denn über-
haupt Kunst nicht in irgendeinem Allgemeinen
- nenne man es Stil oder wie immer - in Erschei-
nung tritt, sondern nur im einzelnen Werk. Die-
ses qualitativ zu bestimmen, bleibt für den Er-
klärer das Problem der Probleme.

57
NACHSCHRIFT
er Verlag bat die anspruchslose, vor zwan-
zig Jahren für einen bestimmten Zusam-
menhang geschriebene Abhandlung „Über das
Erklären von Kunstwerken“ noch einmal her-
auszugeben gewünscht. Vor die Wahl gestellt,
den vorhandenen Text umzuarbeiten oder in der
alten Form zu belassen, habe ich mich - nicht
ohne Bedenken - für das letztere entschie-
den und muß daher den Leser bitten, an ge-
wissen Stellen das Entstehungsdatum mit zu be-
rücksichtigen. Um nun aber doch auch etwas
Frisches zu bieten, sind die Fragen, die man
wohl als die zentralen für alle Kunstgeschichte
betrachten darf, in einer Nachschrift auf die
Form gebracht worden, die ich heute verant-
worten zu können glaube. Es sind die Fragen
meiner „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe“.
Eine Revision dieses Buches ist vor einigen
Jahren (i 93 3) im,Logos4 veröffentlicht worden.

In der Kunstgeschichte kreuzen sich zwei Be-


trachtungsweisen. Die eine, die sich gern die
geistesgeschichtliche nennt, bezieht alle bildne-
rische Form auf Ausdruck: sie erklärt sie als die
Art, in der Volkscharakter, Zeitcharakter, der
Charakter der einzelnen Persönlichkeit Gestalt
gewonnen hat, und aller Wandel der Form geht
eben auf geistige Wandlungen zurück, beim
einzelnen und im allgemeinen. Wenn in der An-
tike der hohe Stil in den schönen übergeht, so
liegt ein neues Sentimento zugrunde und eben-
so ist der „weiche“ Stil des Nordens im 14. Jahr-
hundert bedingt durch eine Empfindsamkeit,
die im monumentaleren 13. Jahrhundert eben
nicht da ist. Die Kunst der italienischen Re-
naissance, nach Stoffen und Schönheitsbegriffen,
ist der klare Ausdruck einer bestimmten selbst-
herrlichen Einstellung zur Welt, wie der fol-
gende Barock ohne den Geist der Gegenrefor-
mation unerklärlich bliebe. Für den einzelnen
Künstler sind (wenigstens in neueren Zeiten)
neben dem durchgehenden Charakter seine
menschlichen Erlebnisse von entscheidender
Bedeutung. Die Biographie wird unmittelbar
zur Kunsterklärung.
Mit dieser Betrachtung, der niemand ihr pri-
märes Recht streitig machen wird, verbindet
sich die andere, die in der bildnerischen Form
und ihren Wandlungen die innere Entwicklung
einer bestimmten Anlage sehen will. Die gei-
stesgeschichtliche Bedeutung zugegeben, muß
man sich eben doch sagen, daß die Bildvorstel-
lung an sich nicht immer die gleiche gewesen ist.

42
daß das „Sehen“ sich entwickelt hat und daß die
Ausdrucksmittel zu verschiedenen Zeiten ver-
schiedene gewesen sind. Die plastische Figur
einer sitzenden Maria mit dem Kinde wandelt
ihre Gestalt im Verlauf der Jahrhunderte nicht
nur, weil die geistige Auffassung sich wandelt,
sondern weil die Bildvorstellung sich wandelt.
Von der Gebundenheit des frühen Mittelalters
geht ein langer, aber ziemlich gerader Weg zur
Madonna Medici des Michelangelo und die Ent-
wicklung ist dort noch nicht abgeschlossen. Bei
architektonischen Stilen unterscheidet man eine
frühe, eine Hoch- und Spätstufe und die Mei-
nung ist die, daß der primitive Habitus psycho-
logisch der gleiche sei, ob es sich um französi-
sche Frühgotik oder italienische Frührenais-
sance handle. Unter Umständen ist auch bei
einzelnen Künstlern, neben allem Wechsel im
Inhaltlichen, ein solcher typischer Verlauf der
Vorstellungsentwicklung erkennbar.
In gleichem Sinn wird man sagen müssen:
so sehr die Farbe geeignet ist, Ausdrucksmittel
für Seelisches zu sein, so gibt es doch auch eine
innere Geschichte der Farbe. Der Farbsinn an
sich hat seine Geschichte (Differenzierung, Har-
monisierung, Tongefühl). Und ebenso hat die
Zeichnung und das Verhältnis zu Licht und
43
Schatten eine Entwicklung, die sich in bestimm-
ten Stufen vollzieht, wobei man nicht nur an
Verkürzung, Überschneidung u.dgl. zu denken
hat, sondern an die Ausbildung des Gefühls für
Linie überhaupt und ihre spätere Ersetzung
durch den Fleck. Daß ein so kompliziertes Ge-
bilde wie ein Interieur des E. de Witte oder des
Piranesi entstehen konnte, setzt eine lange Vor-
geschichte interner Art voraus. Aber auch ein
einfaches Motiv wie das, daß ein Schatten über-
haupt als Reiz empfunden wird, will als psy-
chologisches Entwicklungsprodukt verstanden
sein.
Bei all dem handelt es sich weniger um Fort-
schritte im Imitativen als um Wandlungen des
dekorativen Gefühls. Der „malerische“ Stil, um
einen allen geläufigen, allerdings auch sehr viel-
sinnigen Begriff zu nennen, erschließt wohl
mit einer neuen Auffassungsform neue Seiten
der Sichtbarkeit, zugleich aber züngelt er nach
ganz anderen Schönheiten als ein plastisch-
linearer Stil. Jede Stufe der inneren Formge-
schichte ist neu als Auffassungsform und neu
als dekorative Form, als Reizform. Und das
letztere, das dekorative Gefühl, möchte sogar
das Wesentlichere sein. Alle neuen Entdeckun-
gen in der Welt des Sichtbaren werden gemacht

44
auf Grund von vorempfundenen neuen Farb-
und Formschönheiten. Auch Verkürzungen
z.B. haben ihren dekorativen Wert.
Was sich an solchen Entwicklungen feststel-
len läßt, empfinden wir, wenigstens in Europa,
als etwas Psychologisch-Rationelles, also Ge-
setzmäßiges und keinesfalls Umkehrbares. Und
wir werden in dieser Empfindung bekräftigt
durch die Tatsache, daß analoge Prozesse ver-
schiedentlich sich wiederholt haben, nicht
gleich, aber ähnlich: im Altertum und in den
neueren Jahrhunderten, unter südlichem und
unter nördlichem Flimmel, im Großen und im
Kleinen.
Man ist also wohl berechtigt, in aller Kunst-
geschichte von einer inneren Entwicklung und
somit von einer inneren Form zu sprechen. Für
die andere Seite der künstlerischen Gestaltung,
die spezielle Ausdrucksseite, ergäbe sich dann
die Benennung äußere Form, was man gelten
lassen wird, solange keine Gefahr besteht, das
Wort im Sinn von äußerlich mißzuverstehen.
Äußere und innere Form aber sind immer ver-
bunden. Jede ist auf die andere angewiesen.
Nur darf man sich das Verhältnis nicht unter
dem Bilde von Schale und Füllung verdeut-
lichen wollen, als ob die innere Form etwas

45
Selbständiges, Fertiges wäre, in das man einen
beliebigen Inhalt hineingießen könnte. Nein,
sie ist vielmehr das Medium, in dem ein künst-
lerisches Motiv erst Gestalt gewinnt. Es gibt
kein „Malerisches“ an sich, sondern nur den
malerischen Stil eines bestimmten Kunstwerks
oder einer bestimmten Persönlichkeit. Aber es
gibt auch keine Ausdruckskunst an sich, sie
realisiert sich erst in der Verbindung mit be-
stimmten „optischen“ Möglichkeiten, die ent-
wicklungsgeschichtlich gebunden sind.
Wir sagen: optische Möglichkeiten und ver-
stehen darunter eben die allgemeinen Form-
möglichkeiten, die nicht als unmittelbarer Aus-
druck verstanden werden können. Wenn die
Kunst vom archaisch-isolierenden, buchstabie-
renden Sehn zum zusammenfassenden Sehn
gelangt, so ist das solch ein interner Prozeß, der
mit Ausdruck direkt nichts zu tun hat, so wich-
tig er für die bildnerische Phantasie werden
kann. Und ebenso: wenn es in der Malerei eine
neue Epoche bedeutet, daß Farbe und Licht
nicht mehr ausschließlich an den Gegenständen
haften, sondern über die Gegenstände hinweg
ein Leben für sich bekommen, wo Farbe der
Farbe die Pland reicht und Licht dem Licht, wo
sich Konfigurationen ergeben, die ganz unsach-
lieh, aber eben deswegen höchst „malerisch“
sind, so ist auch dies das Resultat einer inneren
Entwicklung, mit dem stofflich nichts Bestimm-
tes vorausgenommen ist. Ja, auch der in allen
Entwicklungen zu beobachtende Vorgang, daß
ein Stil des Begrenzten, des tektonisch Geord-
neten und des stabilen Gleichgewichts in einen
Stil der freien Ordnung sich auflöst mit rela-
tiver Unbegrenztheit und mit labilem Gleich-
gewicht, - auch dieser Vorgang braucht nicht
prinzipiell als ausdrucksbedingt im stofflichen
Sinn erklärt zu werden, wesentlich ist nur die
neue Fähigkeit, auch im scheinbar Ungeregel-
ten die (ästhetische) Notwendigkeit zu spüren.
Das aber macht die Eigentümlichkeit aus:
diese Formstufen (Sehstufen) sind an sich aus-
druckslos, wenn man den Begriff im engeren
Sinne nimmt, in einem weiteren Sinne indessen
besitzen sie allerdings eine gewisse geistige Phy-
siognomie. Man sieht nicht nur anders, sondern
man sieht anderer, und mit der Form wandelt
sich die Vorstellung von dem, was - ganz all-
gemein gesprochen - als lebendig empfunden
wird.
Also wäre die innere Entwicklung doch auch
„Geistesgeschichte“? Ja und nein. Ja, in der
naheliegenden Bedeutung, daß eben auch die

47
innere Formphantasie eine geistige Funktion ist
und mit der geistigen Gesamtentwicklung des
Menschen zusammenhängt. Nein, insofern die
Entwicklung der bildlichen Vorstellung etwas
Spezifisches ist, ein ausgesprochen bildnerischer
Prozeß, der nicht als bloßes Echo auf einen An-
ruf aus der außerbildlichen Welt erklärt werden
kann. Der Sinn für die Welt der Formen ist
etwas für sich, auch wenn er eingebettet bleibt
in die allgemeine geistige Kultur. Um eine
eigenwillige und separate Entwicklung handelt
es sich nicht bei der Entwicklung des „Augen-
geistes“, wohl aber um eine spezifische und un-
ersetzbare. Und wenn die gesetzliche Folge der
großen Formmöglichkeiten aufs engste mit den
Geistes- und Empfindungsinhalten der Zeiten
verbunden ist und von diesen Inhalten bestän-
dig beeinflußt wird, so ist das Verhältnis doch
nicht das einer einseitigen Bedingtheit: die
künstlerischen Formen der Anschauung kön-
nen auch ihrerseits für den „Geist“ bedeutsam
werden. Mit anderen Worten: die Bedeutung
der bildenden Kunst erschöpft sich nicht in
dem, was sie inhaltlich - an Empfindung und
Schönheit - mitzuteilen weiß, noch weniger
ist sie eine bloße Umsetzung des Lebens in
die Bildsprache, sondern sie liefert einen
selbständigen Beitrag zur Orientierung in der
Welt.
2.

Wie aber? Wie ist es möglich, daß eine ge-


setzmäßige Entwicklung, wie wir sie für das
„Sehn“ (die innere Form) annehmen müssen,
sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit in
Einklang bringen läßt? Eher die größte Man-
nigfaltigkeit, dort die Monotonie eines Sche-
mas! Eher die Irrationalität eines tausendfach
bedingten Lebens, dort Rationalität und ge-
setzliche Bindung!
Darauf ist zu antworten: ein Zusammen-
gehn ist möglich, eben weil es sich bei der
inneren Form nur um Schemata handelt, die,
zwar an sich nicht ganz ausdruckslos, einer be-
sonderen Ausbildung den weitesten Spielraum
lassen. Und daß der Formentwicklung eine
gewisse Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, ist
kein Widerspruch gegen geschichtliches Leben,
wo dieses doch auf allen Gebieten, auch auf den
geistigen, von analogen Entwicklungsreihen
durchzogen ist. Man darf nur nicht glauben,
daß Geschichte aufgehe in „reinen“ Entwick-
lungen. Sie ist immer das Produkt von vielen
sich kreuzenden Faktoren. Wenn die Bildphan-
tasie einen „natürlichen“ Ablauf gewinnen soll.
Wölfflin 49
so setzt das ein relatives Gleichbleiben in der
stofflichen Basis voraus. Eine starke Verschie-
bung im Sachinteresse kann die Formentwick-
lung ganz oder fast ganz zum Stillstand brin-
gen, wie das mehrfach geschehen ist.

3-

Es ist selbstverständlich, daß die Architektur


der deutschen Spätgotik oder die Architektur
des italienischen Barock jede ihre besondere
Stimmung und ihre besondere geistige Wurzel
hat und nicht bloß als Entwicklungsprodukt
verstanden werden kann. Trotzdem haben beide
eben als Spätkunst etwas Vergleichbares, und
die Aufgabe der Formerklärung liegt darin,
neben dem Besonderen das Gemeinsame sol-
cher Spätstile als Spätstile aufzuzeigen. Man
wird dann aufs neue finden, daß Kunst als Aus-
druck und Kunst als innere Formentwicklung
nicht nur immer untrennbar verbunden sind,
sondern auch in beständiger Wechselwirkung
stehn.
Dabei ist aber die Frage nicht zu umgehen,
was denn bei der internen Phantasieentwick-
lung die eigentlich treibenden Kräfte seien. Mit
dem Hinweis auf Formabnützung und auf die
dadurch bedingte Notwendigkeit, Wirkungen

50
zu schärfen und zu steigern, gegebene Motive
auszubauen und das Einfachere durch das Rei-
chere und Interessantere zu ersetzen, ist noch
nicht viel getan. Es handelt sich um mehr: um
die Leistungen einer schöpferischen Entwick-
lung. Nun läßt sich freilich nicht definieren, was
Leben ist und worin das Geheimnis organischen
Wachstums besteht, aber soviel wenigstens ist
deutlich, daß die Formphantasie sich nur im
Machen weiterbildet. Sie muß gestaltend sich
betätigen, wenn sie sich weiter entwickeln soll.
„Form erzeugt Form“, sagt man, und das ist
gewiß richtig, aber nur demjenigen kommen
die ferneren Möglichkeiten in Sicht, der die
näher hegenden schon einmal hinter sich ge-
bracht hat. Ob man dabei an die Reihe der sit-
zenden Sklaven an der Sixtinischen Decke den-
ken will oder an die Folge der Ölbergkomposi-
tionen Dürers oder an die Entwicklung der
Interieurbilder im holländischen 17. Jahrhun-
dert, ist gleichgültig.
Aber es werden nicht beliebige „machende“
Hände sein können, die die Entwicklung vor-
wärtstreiben, sondern die Hände der großen
bildkräftigen Meister. Michelangelo, der in
den Medicäischen Gräbern dem Motiv einer
Kombination von gelagerten und ragenden
Figuren in unerhört großartiger Weise Ge-
stalt gegeben hat, ist bei dieser Konzeption ge-
tragen worden von einer neuen Fähigkeit des
Zusammensehns, Zusammenfühlens hetero-
gener Elemente, wie sie Donatello z.B. noch
nicht gekannt hat, nicht weil er kleiner gewesen
wäre, sondern weil er an einer andern Stelle der
Entwicklung stand. Aber so ist es nun freilich
nicht gewesen, daß Michelangelo nur eine in-
zwischen reif gewordene Form hätte greifen
und mit seinem Geiste hätte füllen können: er
hat diese Form sich selbst geschaffen. Was vor-
handen war, war nur eine gewisse entwick-
lungsgeschichtliche Situation, aus der heraus
die neue Vision hervorgehen konnte. Bernini
hat später in noch größeren Zusammenhängen
gesehn.
Da äußere und innere Form, wie gesagt, un-
löslich miteinander verbunden sind und sogar
in Wechselwirkung stehn, so braucht man sich
nicht zu wundern, daß auch in der inneren Ent-
wicklung die großen Meister es gewesen sind,
die für neue Möglichkeiten die Bahn freige-
macht haben. Es muß das ausdrücklich gesagt
werden, um bei einem scheinbar rein natür-
lichen (biologischen) Ablauf auch der Bedeu-
tung der Persönlichkeit ihr Recht zu wahren.

52
Merkwürdig aber, daß gerade die stärksten Per-
sönlichkeiten am deutlichsten zeigen, wie die
Geschichte der Kunst an überpersönhche Ge-
setze gebunden ist.
Kleine Bücherei ^ur Geistesgeschichte

Hiltebrandt
DIE GRUND LAGEN
DER ABENDLÄNDISCHEN
K U LTUR

Schumacher
PROBLEME DER GROSSTADT

Kujawa
URSPRUNG UND SINN
DES SPIELS

P Inder
WESENSZÜGE DEUTSCHER KUNST
Körte
MUSIK UND WELTBILD
(Bach — Beethoven)
Waete^oldt
JOHANN JOACHIM WINCKELMANN
DER BEGRÜNDERDER
DEUTSCHEN KUNSTWISSENSCHAFT

Waet^oldt
JACOB BURCKHARDT
ALS KUNSTHISTORIKER

Die Sammlung wird fortgesetzt

VERLAG E. A. SEEMANN LEIPZIG


DRÜCK DER OFFIZIN POESCHEL & TREPTE IN LEIPZIG
reicht! & irer«.
Wir sind weitherzig geworden und suchen
jeder künstlerischen Äußerung, auch bei den
ganz primitiven und exotischen Kulturen, ge-
recht zu werden. Und das ist gewiß ein Fort-
schritt gegenüber einer Zeit, wo man die Dinge
nicht mit ihre! -
Maßstäben ma. = $2
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