Zur Geschichte Des Deutschen Passivs

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ZUR GESCHICHTE DES DEUTSCHEN PASSIVS

Paul Valentin
Universität Paris-Sorbonne

0. Einleitung
Eine Umschreibung vom Typ er wurde getauft ist im Deutschen
seit den ersten Texten belegt. Wenn die Geschichte ihrer Form
nichts Besonderes zu bieten hat, so ist ihre semantische Entwick-
lung in hohem Maße interessant. Einiges spricht d a f ü r , daß im Ahd.
die werdhan-Periphrase keine speziell passivische Ausdrucksweise
war; sie hat sich dann allmählich aus einer wohl aspektuellen Um-
welt losgelöst, um sich als eine mit anderen Verbformen fast
gleichberechtigte Erscheinung ins heutige Verbsystem zu integrie-
ren. Die Geschichte dieser Ent- und Wiedergrammatikalisierung soll
hier in groben Zügen verfolgt werden.

1. Überblick über Passivbildungen in einigen Sprachen


1.0. Anhand kurzer'semasiologisch ausgerichteter Beschreibungen
der Verhältnisse in einigen germanischen und romanischen Sprachen
wollen wir auf ein paar Fragen hinweisen, die sich bei der Erfor-
schung der Geschichte des deutschen Passivs stellen, wie synthe-
tische vs. analytische Ausdrucksweise, Vorgangspassiv vs. Zustands-
bezeichnung, Wahl des eventuellen Hilfsverbs, usw.
1.1. Das Gotische. In der uns bekannten Stufe dieser Sprache kommen
für unser Thema 4 Erscheinungen in Betracht, die wir kurz dar-
stellen:
1. mit -n- infigierte schwache Verba, die eine besondere
Konjugationsklasse, die 4 . , bilden; sie haben teils inchoative,
teils aber auch mediopassive Bedeutung:
( 1 ) fullnan (fullnip, fullnoda) "sich füllen,voll werden 1 ;
ga-/usfullnan 'sich e r f ü l l e n , e r f ü l l t werden 1 (: f u l J a n
" f ü l l e n , voll machen 1 )
(2) gawaknan 'wach werden, erwachen 1 ( : wakan 'wachen';
wakjan 'wecken')
4
Diese Bildung ist auch im Nordischen vertreten, ohne dort
jedoch einen besonderen Platz in der Morphologie einzunehmen:
sie ist weder ein Konjugationstyp noch ein aktiver Bildungstyp:
(3) a.isl. vakna (: vakia ' w a c h e n ' ) ; n.schw. vakna.
Sie kann daher als ein Rest angesehen werden.
2. ein synthetischer Konjugationstyp, der sich eindeutig auf
dem Rückzug befindet:
(4) daupjada ' g e t a u f t wird' ( : daupjifa 'tauft')
Er ist nur (noch) im Präsens des Indikativs und des Konjunktivs
belegt; im Plural sind die 3 Personen nicht zu unterscheiden.
3. die Kombination von wisan mit dem Partizip Perfekt:
(5) daupipai wesun ' g e t a u f t waren' (Imperfekt im griech. Text)
(6) gamelip ist 'geschrieben ist' (Perfekt im griech. Text)
4. die Kombination von wairpan mit dem P . P . :
(7) afdomips warp "er wurde abgeurteilt' (Perfekt im gr. Text)
(8) afar patei atgibans warb Johannes 'als/nachdem J. ausge-
liefert (worden) war' ( I n f i n i t i v Passiv im griech. Text)

Es kann keine Rede davon sein, daß die beiden letzten Kombi-
nationen sich so zueinander verhalten wie die scheinbar entspre-
chenden Umschreibungen im heutigen Deutsch. Wairpan+P.P. kommt
nämlich nur im Präteritum vor (im Präsens gibt es (noch) die ver-
mutlich älteren synthetischen Formen). Außerdem ist wairpan mit
Sicherheit kein "Hilfsverb" im heutigen Sinne: im Bibelgotischen
ist es ein Vollverb mit der Bedeutung 'eine Form/Beschaffenheit
annehmen, entstehen'. Sehr bemerkenswert ist aber, da ß es im Prä-
sens immer mit einer "futurischen" Bedeutung vorkommt.

1 . 2 . Das Nordische

1 . 2 . 0 . Das Altisländische kennt 3 für uns relevante Bildungen:


1. Ein sog. Medium oder Mediopassiv, offenbar aus Reflexiv-
formen entwickelt:

( 9 ) v e r j a s k "sich verteidigen 1
( 1 0 ) at saettask vio vor 'sich mit euch versöhnen, mit euch
versöhnt werden 1

2. Die Kombination von vera mit dem P . P . :

( 1 1 ) var hann vegenn 'er war erschlagen', 'er. war erschlagen


worden'
3. Auch verba mit P . P . kommt vor, jedoch seltener, und mit
starker Betonung des Ingressiven:

( 1 2 ) hann vilde hpggua til Halla, og varp hann stpfauarfa 'er


wollte auf H. hauen, konnte aber zurückgehalten werden 1

1 . 2 . 1 . Das Neuisländische führt das alte Mediopassiv fort:

(13)hann klaeddist "er kleidete sich an 1


( 1 4 ) bokin fannst 'das Buch tauchte auf
( 1 5 ) b6kin sels vel 'das Buch verkauft sich gut 1

Daneben hat es aber auch beide Periphrasen:

( 1 6 ) bokin var seid af honum 'das Buch wurde von ihm v e r k a u f t 1


( 1 7 ) bokin var seid pegar eg kom 'das Buch war verkauft, als
1
ich kam
( 1 8 ) bokin varb seid 'das Buch wurde v e r k a u f t '

1 . 2 . 2 . Das Neuschwedische führt auch das Mediopassivum fort; es


hat aber kaum noch etwas Passivisches an sich:

( 1 9 ) varken vin, sprit eller starköl säljs i livsmedelsaffärer


'weder Wein, noch Schnaps, noch starkes Bier werden in
Lebensmittelgeschäften verkauft (verkaufen s i c h ) '
( 2 0 ) vis ses _i morgon 'wir sehen uns morgen'

Es gibt aber auch 2 Kombinationen mit dem P . P . , eine mit vara


und eine mit bli;

( 2 1 ) jag är bJuden _i kväll 'ich bin heute abend eingeladen 1


( 2 2 ) vi blir bjudna av vära vänner 'wir sind von unseren
Freunden eingeladen 1

1.3. So haben f a s t alle germ. Sprachen ein doppeltes System ent-


wickelt zur Bezeichnung eines Zustandes und zur Bezeichnung eines
passiv a u f g e f a ß t e n Prozesses. Nur ist im 2. Fall die Wahl des
Hilfsverbs unterschiedlich, wenn auch werden sehr oft vorkommt.
So wird etwa im Lützeburgischen das Verbum geben gebraucht:

( 2 3 ) d ' K a n d get gewäsch a gekämmt 'das Kind wird gewaschen


und gekämmt'
( 2 4 ) d ' K a n d äs gewäsch a gekämmt 'das Kind ist gewaschen...'
1 . 4 . Im Englischen gilt stellenweise to get:
( 2 5 ) he got killed
Ansonsten muß bekanntlich auf aspektuelle Bildungen zurückgegriffen
werden, die es wohl nur im Englischen gibt:
( 2 6 ) the house ijä being built (: the house i£ built)
Dies erklärt sich aber dadurch, daß das Mittelenglische die alte
Passivbildung mit weorQan und P . P . im 14. Jahrhundert verloren
hat, so daß ein neuer Ausdruck für das Passiv erfunden werden
mußte. Dabei konnte die äonst im Entstehen begriffene Aspektoppo-
sition zur Anwendung kommen.

1.5. In den romanischen Sprachen gibt es die alte synthetische


lateinische Passivbildung (amatur 'geliebt w i r d 1 ) nicht mehr. Das
Italienische hat eine reiche Reihe von Umschreibungen mit ver-
schiedenen Verben entwickelt:
( 2 7 ) JJ. libro letto da tutti (sein)
( 2 8 ) il libro viene letto da tutti (kommen)
( 2 9 ) il libro va letto da tutti (gehen)
Hinzu kommt eine reflexivische Bildung mit stark mediopassiver
Bedeutung:
( 3 0 ) in questa stagione si prende l'influenza "in dieser
Jahreszeit erkältet man sich leicht 1
Im Französischen ist auch eine mediopassivische reflexive
Umschreibung vorhanden:
( 3 1 ) ce livre se lit rapidement 'dieses Buch liest sich
schnell'
Aber echtes Passiv kann nur mit e"tre (sein) gebildet werden, wo-
bei die ausdrückliche Bezeichnung eines Prozesses ausschließlich
im Zusammenhang geschieht; sonst kann nur auf einen Zustand hin-
gewiesen werden:
( 3 2 ) la maison est construite (Zustand)
(33) ]_a maison est construite par une entreprise sarieuse
(Prozeß)
Eine streng vorgangspassivische Interpretation ist sonst mittels
einer anderen Ausdrucksweise:

(34) la maison est en construction

oder einer als sehr unbeholfen empfundenen Periphrase gewährleistet:

( 3 5 ) la maison est en train d'etre construite

1.6. Das Französische und z . T . das Englische gehören wohl zu den


nicht besonders passivfreudigen Sprachen: das dem sog. Vorgangs-
passiv anhaftende Durative kann dort nur über Umwege zum Ausdruck
gebracht werden; dagegen hat das Italienische spezialisierte Aus-
drucksweisen entwickelt, und die meisten germ. Sprachen haben
offenbar eine alte (gemeingermanische?) Kombination mit werden
ausgenutzt und ausgebildet.

2. Das Passiv im Althochdeutschen

2 . 0 . Anhand des ahd. Isidor (um 8 7 0 , vermutlich "westfränkisch")


sollen die Verhältnisse im ältesten Hochdeutschen beschrieben
werden. In diesem Text kommen 2 Erscheinungen in Betracht: die
Kombination von siin/uuesan und die Kombination von uuerdhan mit
dem P . P . Ihr Vorkommen und ihre Verwendung sind aber im Präsens
und im Präteritum sehr verschieden.

2 . 1 . Im Präteritum kommt die uuerdhan-Kombination ziemlich oft


vor:

( 3 6 ) chibodan uuard (constitutum e s t ) ; aruuostit uuardh (in


exterminatione fuisse)
( 3 7 ) bihuuiu uuard Christ j_n lihhe chiboran (cur in carne
uenit) 28, 16

Besonders auffällig sind die Ausdrücke

( 3 9 ) uuardh uuordan (factus e s t ) ; uuardh chiuuordan (factum


est)

Dagegen ist im Präteritum die uuesan-Kombination ein einziges


Mal belegt:

( 4 0 ) so huuer so uuanit dhazs izs in Salomone uuari al ar-


f u l l i t (haec omnia quisquis _in Salomone putat fuisse
impleta) 38, 6
8

Aber der Z u f a l l will es, daß dasselbe Verb mit uuerdhan kombiniert
erscheint, so daß ein direkter Vergleich möglich wird:

( 4 1 ) endi chisiuni joh forasagono spei uuerdhen a r f u l l i t (et


impleatur uisio et prophetiae) 26, 7
Im ersten Beleg wird eher ein Zustand beschrieben, oder der Vor-
gang, der zu diesem Zustand geführt hat, während im 2. Beleg zwei-
fellos der Vorgang als solcher anvisiert ist. Eine ähnliche Inter-
pretation ist auch für die beiden Belege in ( 3 9 ) wahrscheinlich.
Daraus könnte manschließen., daß es keinen allzu großen Unter-
schied gibt zwischen dem ältesten Hochdeutschen und dem heutigen
Sprachgebrauch. Daß dem nicht so ist, zeigen aber die Verhältnisse
im Präsens.

2 . 2 . Im Präsens übersetzen sehr viele Stellen mit uuesan einen lat.


Ausdruck vom Typ sciptum est, oder sehr oft patet:

( 4 2 ) ist araughit, ist chiscriban, ist chioffonot...

Dazu stimmt aber nicht, daß echte lat. Passivformen mit der glei-
chen uuesan-Form wiedergegeben werden:

(43) (sindun arzelidiu (numerantur); sindun chichundidiu


(pronuntiantur)
( 4 4 ) innan diu chiuuoruan ist (dum ad earn conuertitur) 41, 3

Bei solchen Stellen handelt es sich sicher nicht um die Beschrei-


bung eines Zustandes.
Wie verhält sich aber die uuerdhan-Kombination, wenn sie im
Präsens steht? Im Indikativ sind nur 2 solche belegt, die aber
einem lateinischen Futur entsprechen:

( 4 5 ) endi uuirdit siin namo chinemnit uundarliih (et uocabi-


tur nomen eius mirabilis) 22, 10
( 4 6 ) uuerdhant amnego dheodun chisamnoda zi druhtine (adpli-
cabuntur gentes multae ad dominum) 12, 2

Im Konjunktiv steht eine längere Stelle mit 4 Belegen:

( 4 7 ) dhazs chiendot u u e r d h e . . . e n d i unrehd uuerdhe a r d i l e t . . .


endi uuerdhen a r f u l l i t . . . e n d i u u e r d h e chisalbot (ut
consummetur... et deleatur ... et i m p l e a t u r . . . e t
unguatur)
9
Es sind Finalsätze, die sich also auf einen Vorgang beziehen, der
noch nicht eingesetzt hat.
Dazu stimmt die schon oft gemachte Beobachtung, daß im ahd.
Isidor uuirdit usw. regelmäßig iat. erit usw. übersetz t.Typisch
d a f ü r ist etwa 3 9 , 7 mit der Umschreibung seal riihhison im Kotext,
die ein anderes Futur wiedergibt:

( 4 8 ) ir chuninc seal dhanne riihhison endi uuisi uuirdit


(regnauit rex etsapiens erit)

Da uuerdhan mit der Wiedergabe von Zukünftigem zu tun hat,


wird noch durch 2 sehr a u f f ä l l i g e Belege bewiesen:

( 4 9 ) huueo auh fona Abrahames samin uuardh quhoman d r u h t i n . . .


(quod autemex semine Abraham f u t u r u s esset dominus) 33,1
(50) . . . C h r i s t chiboran uuerdhan scoldi... (nasciturus esset
Christus) 36, 11
Da quheman nicht transitiv ist, kann es sich hier nicht um Passiv-
formen handeln. ( 4 9 ) könnte verstanden werden als 'wie er in den
1
Zustand des/eines Angekommenen treten sollte . Diese Interpretation
von quheman als 'eintreten' wird nämlich durch andere Stellen
nahegelegt, wie

( 5 1 ) sunto uuerdhe endi (finem accipiat peccatum) 26, 4

oder durch die zahlreichen Übersetzungen von f i e r i / f a c t u s est


durch uuirdit, uurdi, oder noch durch die schon erwähnten uuardh
uuordan. Man vergleiche noch

( 5 2 ) ist al uuordan (cuncta creta esse) 1 , 1 7

Ahd. uuerdhan kann unmöglich mit dem nhd. Hilfsverb des Passivs
werden oder mit dem Vollverb werden gleichgesetzt werden.

2 . 3 . Wie ist aber diese angenommene Bedeutung von uuerdhan mit


seinen "futurischen" Werten in Einklang zu bringen? Man kann fol-
gendes vorschlagen: uuerdhan verhält sich zu uuesan wie ein in-
gressives, punktuelles Verb zu einem durativen, kursiven Verb.
Beide beziehen sich auf das Sein, aber über eine andere Aktionsart.
Wollte man sich unbedingt eines aspektuellen Modells bedienen,
würde man uuerdhan als das Perfektiv zu uuesan a u f f a s s e n . U u e r d h a n
bezeichnet den E i n t r i t t in einen Zustand, wobei dieser Zustand
auch das Sein sein kann, während uuesan dem Verweilen in diesem
10

Zustand entspricht. Dies hat mit der angeblichen modernen Opposi-


tion zwischen Vorgang und Zustand gar nichts zu tun.
Dazu stimmt auch, daß Perfektiva bekanntlich zum Ausdruck
von Futurischem geeignet sind, wie dies gerade im Ahd. die gi-
Verba zeigen.
Bei uuesan f ä l l t dagegen im ahd. Isidor die Zahl der Belege
in der Kombination mit einem Partizip des Nicht-Perfekts ( ' P r ä -
s e n s ' ! ) a u f , und zwar im Präteritum:

(53) miin zesuua uuas mezssendi h i m i l a . . . . i o h . . . u u a s ih...


sprehhendi (dextera mea mensa est caelos. N a m . . . l o c u t u s
sum) 18,5
( 5 4 ) liudi bidande uarun (populi expectabant) 35, 7
(55) dazs chind uuas gerondi (delectatur quoque infans) 4 1 , 2 1

Dies verträgt sich besonders gut mit der Hypothese eines durativen,
kursiven uuesan. Dazu stelle ich noch das Substantiv uuesan, ein-
mal belegt mit der Bedeutung 'Dasein' (41,13).

2 . 4 . Ob uuesan und uuerdhan Hilfsverben sind, wird nun sehr frag-


lich. Wenn sie sich wirklich wie die 2 "aspektuellen" Spielarten
eines und desselben Verbs zueinander verhalten, ist es kaum wahr-
scheinlich: gewissermaßen behalten sie doch zuviel an "lexikali-
scher" Bedeutung. Hinzu kommt, daß die besprochenen Kombinationen
offenbar nicht grammatikalisiert sind: an bestimmten Stellen des
Konjugationssystems stehen sie in komplementärer Distribution, so
vor allem im Präteritum; an anderen Stellen stehen sie aber in
relevanter Opposition zueinander.
Ich möchte sie deshalb eher als noch volle, unabhängige Ver-
ben ansehen, wenn sie auch besonders häufig bestimmte Kombinatio-
nen mit den Partizipien eingehen.

3. Die Entwicklung im Deutschen

3.0. Ein Jahrtausend nach dem ahd. Isidor, im heutigen Hochdeut-


schen, sieht das Bild völlig anders aus: fast allen Verben (wenn
man das unpersönliche Passiv einbezieht) entspricht ein Passiv
auf werden, das a. an allen Stellen des Konjugationssystems mög-
lich ist, und b. den Vorgang, den Hergang in einem Prozeß betont.
11

Werden+P.P. ist mit Sicherheit nicht ingressiv oder punktuell zu


deuten; es scheint jedoch vom Vollverb getrennt zu sein, das sei-
nerseits eine entschieden progressive, durative Bedeutung aufweist
Es wären also mindestens 2 Fragen zu beantworten:
1. Wie ist die semantische Entwicklung von werden vor sich
gegangen?
2. Wie ist das werden-Passiv Teil des Verbsystems geworden?
D . h . wie ist die werden-Umschreibung grammatikalisiert
worden?
Wir beschäftigen uns fortan nur noch mit werden in der Kombination
mit einem P . P .

3.1. Man kann zuerst beobachten, wie die Kombination werden+P.P.


ihren ursprünglichen ingressiven Wert verliert. Es ist ein sehr
langwieriger Vorgang.
Bei Notker {Psalmenübersetzung) und im Nibelungenlied sind
ein paar Belege a n z u t r e f f e n , wo die Kombination im Präsens keine
futurische Bedeutung hat; an einigen Stellen wird dadurch eint
allgemein gültige Wahrheit oder ein sich beliebig wiederholender
Prozeß zum Ausdruck gebracht:

( 5 6 ) alle sunda uuerdent fertiligot in t o u f f i (: under iro


lefsen ist ferborgen daz zäligosta eiter)

Ab und zu taucht sogar ein o f f e n b a r kursiver Ausdruck im Präsens:

( 5 7 ) daz ist diu himelisca Jerusalem, diu in burge-uuis


kezimberot uuirt. uzer checchen unde geistliichen
steinen (: so ist diu bürg kezimberot. so £r die burgara
gesamenot)

Ansonsten wird das Präsens auf ausstehende Ereignisse bezogen:

( 5 8 ) so kumet iu der verge, swenne im der name wirt genant

Im Präteritum kommt gelegentlich sin vor:

( 5 9 ) do was ouh so gezieret der küneginne lip


daz da hoher wünsche vil maneger wart verlorn

Nach dg ( ' a l s ' ) ist es sogar die obligatorische Form:

( 6 0 ) do daz was getan ( ' a l s dieser Tatbestand erreicht w a r 1 )


12

3.2. Es sind aber nur erste Ansätze.


Im 14. und 15. Jahrhundert nimmt die Entwicklung eine wich-
tige Wendung. Im Märterbuch ( 1 4 . J h t . ) steht neben vielen futu-
rischen Präsentia von werden ein eindeutig präsentisches, nicht
iteratives, stark kursives, sehr "modern" klingendes Präsens:

( 6 1 ) ez was uns baiden vil laid,


daz wirt dir von unz wol gesait

Umgekehrt findet man ein Präsens von sein in futurischer Bedeu-


tung:

( 6 2 ) u n t wirt er abe gestochen niht


j30 sin wir alle gar enwiht

Schließlich steht einmal werden nach dö:

( 6 3 ) do s^ do bestattet wart,
der leb wider gen walde chart

Sonst steht jedoch sein;

( 6 4 ) do die rede was getan


si gingen in den ofenn sann

In Texten des 15. Jahrhunderts (Chronik des Constanzer Con-


z i l s ) , t r e t e n zum ersten Mal passivische Perfektformen a u f :

( 6 5 ) als nun all sprachen dieser weit zertailt worden sind


(66) (der Papst) der ze Costenz erwellet was worden
(67) (ein B r i e f , ) wie die zwen kätzer vertäut wärind worden

Dies ist insofern sehr wichtig, als:


1. diese passivischen Paerfektformen das Vorhandensein von
nicht-Perfekt-, also Kursivformen voraussetzen (der Papst wurde
e r w ä h l t ) ; und
2. die Grammatikalisierung von werden+P.P. j e t z t in die Wege
geleitet worden ist: die Umschreibung bekommt jetzt ein P e r f e k t ,
d.h. sie verhält sich wie ein normales Verb.

3.3. Selbstverständlich steht nicht auf einmal ein voll ausgerüs-


tetes Perfekt des Passivs da, und es gibt noch viele Unsicherhei-
ten, vor allem im Mitteldeutschen (der Ackermann aus Böhmen), wo
das Perfekt sich anscheinend langsamer durchsetzt: etwa in prä-
sentischem Kotext
13

( 6 8 ) darin ein stab mir aus den henden ward gerücket


('genommen worden i s t ' )

Erst bei Luther erscheinen in sehr geringer Zahl Belege wie:

( 6 9 ) es ist... vorhyndert und ymmer erger worden

oder etwas später (Bericht über Melanchton, Mitte des 16. J h t s . )

(70) (Christus,) der für uns ans Kreuz gehängt und von den
Toten wieder auferweckt worden ist

Der kursive Wert ist nicht anzuzweifeln, wie noch ein anderes
Beispiel im Präteritum zeigt:

( 7 1 ) J. Reuchlin, der damals f ü r einen gelehrten Mann gehal-


ten ward

Eine große Neuerung aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Wick-
rams Fortunatus) ist die Kombinierung des werden-Passivs mit dem
noch nicht sehr alten Futurum (oder futurischen Verwendung des
Modalverbs!):

( 7 2 ) so wirst du gewisslich groß lieh daraus gebessert


werden (der Kotext bürgt für eine futurische Interpre-
tation)

Aber auch dies setzt voraus, daß das wejrden-Passiv vollkommen


kursiv geworden ist. Dafür können noch 2 sehr klare Beispiele
angeführt werden:

( 7 3 ) du solt nit gedenken, das dise ding mit unbedachtem


mut gehandelt werden
( 7 4 ) Donnerstag wird ihm sein erster Sohn Philippus geboren
(historisches Präsens)

3.4. In der Mitte des 17. Jahrhunderts (Simplicissimus) ist


schließlich ein Sprachzustand erreicht, der im passivischen Be-
reich dem heutigen sehr nahe steht. Einige Beispiele mögen genü-
gen, um dies zu veranschaulichen:

( 7 5 ) als die Mägen g e f ü l l t waren (: nachdem obgemeldtes


Dorff geplündert und verbrennt w o r d e n , . . .
( 7 6 ) wird gebaut; ist geschrieben worden; würde verändert
werden; gefunden worden wäre
14

Daß alle diese Formen nicht unbedingt denselben Stellenwert im


Tempus- und Modussystem haben wie heute, steht auf einem anderen
Blatt. Wichtig für unser Thema ist aber, daß es sie gibt, also
daß das werden-Passiv in allen Tempora (auch im "Futurum") der
verschiedenen Modi und der beiden Aspekte oder Phasen vorkommt.
Dies ist der sichere Beweis, daß die werden-Umschreibung j e t z t
voll grammatikalisiert ist.

4. Schluß

Wir haben die sein-Periphrase z . T . außer acht gelassen. In


dem M a ß e , wie die werden-Periphrase kursiv wurde, konnte die alte
Opposition zwischen werden und sein + P . P . nicht mehr aufrecht
erhalten werden, die ja auf dem Gegensatz kursiv vs. ingressiv
beruhte.
So entwich die sein-UmSchreibung allmählich in die Rolle
einer prädikativ a u f g e f a ß t e n Zustandsbeschreibung, während die
werden-Periphrase immer stärker dazu benutzt wurde, einen Vor-
gang wiederzugeben.
Verantwortlich für diese Entwicklung sind wahrscheinlich 2
Umstände:
1. Die eigene semantische Entwicklung des Vollverbs werden,
die m . W . noch nicht genau erforscht ist. Das Auseinanderleben
von uuesan und uuerdhan wäre sicher ein lohnendes Thema.
2. Das Aufkommen eines periphrastischen Perfekts, das all-
mählich an die Stelle der g_i-Verba in der alten Opposition Null
vs. g_i- getreten ist, ohne jedoch diese genau zu ersetzen.
Das Verschwinden der Aktionsartsopposition mußte sich auf
die werden-Periphrase auswirken, die ja an dieser Opposition
beteiligt war.
Auf der anderen Seite wurde die werden-Periphrase vom neuen
Perfekt überrannt. Der Druck des neuen Systems führte zur all-
mählichen Grammatikalisierung, und ließ jede Spur der alten In-
gressivität aus den Werden-Formen verschwinden.
15

LITERATUR

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