Die Haltungstyrannei

Als pdf oder txt herunterladen
Als pdf oder txt herunterladen
Sie sind auf Seite 1von 8

Dienstag, 04.

Oktober 2022, 17:00 Uhr


~8 Minuten Lesezeit

Die Haltungstyrannei
Ein Top-Reporter verlor seine Lehraufträge, weil er im Ukrainekonflikt der anderen Seite
zuhörte.

von Susan Bonath


Foto: wellphoto/Shutterstock.com

Erst kämpfte man gemeinsam gegen ein Virus, jetzt


gegen „die Russen“. Darin sind sich Regierung, Staat
und Leitmedien einig. Längst sind sie Kriegspartei im
Ukrainekonflikt, stehen stramm hinter der NATO.
Journalisten sind zu Propagandisten der Herrschenden
geworden, wer nicht mitmacht, fliegt. Das musste auch
der frühere NDR-Journalist und Lehrbeauftragte
Patrik Baab erfahren. Die neuen Meinungsmacher
schlachteten ihn, während und weil er im von der
ukrainischen Armee bombardierten Donbass die
Referenden zur Unabhängigkeit beobachtete und mit
Betroffenen sprach.
Autoritäre Regime brauchen kontrollierte Medien. Eine freie
Presse ist mehr als das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wobei
auch Letzteres keines mehr ist, wenn man ob seiner Ansichten den
Entzug seiner Lebensgrundlage, sprich: Jobverlust, befürchten
muss. Freie Medien können ungehindert schreiben, was ist.
Schreiben, was ist, gehört in einigermaßen demokratischen Ländern
zum journalistischen Kodex. Wer diesen Kodex aushebelt, will
Propaganda. Und Propaganda hat nur einen Zweck: Manipulation
der Massen.

Zu schreiben, was ist, gehörte viele Jahrzehnte in


Deutschland zur Berufsehre eines jeden Journalisten,
der etwas auf sich hielt. Das ist nicht einfach. Man muss
jede Seite ausleuchten, darf Unangenehmes nicht
auslassen, muss sich darauf einlassen können, wenn
vielleicht alles ganz anders war oder ist, als man selbst
anfangs glaubte.

Kurzum: Gute Journalisten können sich zurücknehmen, den


Beobachterposten einnehmen und aufschreiben, was sie sehen und
hören. Das nennt sich Berichterstattung.

Von so einer Berichterstattung hat sich die deutsche Leitpresse in


den vergangenen Jahren weit entfernt. Wer in Sachen Corona auch
nur ansatzweise wagte, die immer weniger glaubhafte politische
Erzählung dahinter zu hinterfragen, musste damit rechnen, seinen
Job und sein Ansehen zu verlieren. Selbsternannte „Fakten“-
Checker checkten unermüdlich selbst gebastelte „Fakten“ auch im
Zuge des Ukrainekonflikts.

Die ungehörte Seite


Patrik Baab lernte einst den alten Journalismus, der Fragen nach der
Wahrheit stellt, danach sucht, was ihr am nächsten kommt. Er ist
ein Meister seines Faches. Für den NDR produzierte er
beispielsweise eine Dokumentation über den mutmaßlichen Mord
an dem Politiker Uwe Barschel. Baab und sein Kollege Stephan
Lamby gingen darin tief ins Detail, lassen aber offen, ob es Mord
oder doch ein Selbstmord war, weil der letzte Beweis für ein —
wenn auch wahrscheinliches — Verbrechen fehlt. So geht
Journalismus.

Diese journalistische Neugier trieb Baab nun in den Donbass, also


den umkämpften Osten der Ukraine, der seit 2014 fast permanent
von der ukrainischen Armee bombardiert wird. Im vergangenen Jahr
hatte er den Westen des Landes bereist, in dem die Regierung sitzt.
Die sind dem Mainstream zufolge die Guten, im Osten sitzen die
Bösen, die sogenannten „prorussischen Separatisten“. Der Donbass
ist die im Westen ungehörte Seite.

Aber die Geschichte ist länger, reicht bis in den Zweiten Weltkrieg
zurück, als sich bewaffnete ukrainische Truppen der deutschen SS
anschlossen und sich am Überfall auf ihren Mutterstaat, die
Sowjetunion, beteiligten. Die jahrzehntelange Spaltung kultivierte
sich im Kiewer Kult um den Faschisten Stepan Bandera inklusive
ausgeprägtem Hass auf die Sowjetunion, später Russland, und im
Osten im Widerstand dagegen. Sie eskalierte schließlich mit dem
Putsch gegen die damalige weniger antirussische Regierung Anfang
2014 auf dem Kiewer Maidan. Maßgeblich von Oligarchen
aufgerüstete und später in die ukrainische Armee integrierte Nazi-
Bataillone bestimmten den Gewaltakt mit.

Ein am 2. Mai 2014 von ukrainischen Nazis verübtes und der


Regierung gedecktes Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa,
immer neue repressive Gesetze gegen die russischsprachige
Bevölkerung und laut OSZE rund 14.000 durch die ukrainische
Armee getötete, großteils zivile Opfer im Donbass später ist die
Situation, wie sie ist: Die meisten Menschen in der Ostukraine
wollen mit der Kiewer Regierung nichts mehr zu tun haben und nun,
vermutlich um weitere Opfer zu verhindern, den Beitritt zu
Russland.

„Ein einziges Kriegsverbrechen“


Baab will ein Buch über diesen Konflikt schreiben, eins, das der
Wahrheit besonders nahekommt. Er sah sich die Referenden im
Osten und Südosten an, bei denen die Mehrheit der Wähler für den
Beitritt zu Russland stimmte. Er wollte sehen, wie die Menschen
wirklich ticken. Stimmt es, wenn Bild und Co behaupten, die
russische Besatzung werde als reine Tyrannei wahrgenommen?

An Baabs Seite reiste der gebürtige Russe und Betreiber des Kanals
Druschba FM, Sergej Filbert, in das Kriegsgebiet — ein Dorn im Auge
der Kontaktschuld Suchenden. Baab stellt auf Nachfrage klar: In ein
Kriegsgebiet kann man nicht alleine fahren, es sei denn, man wäre
lebensmüde. Er sagte:

„Man braucht jemanden, der die Augen aufhält, der die Landessprache
fließend spricht, nicht gleich als Ausländer auffällt, über Verwandte
und Bekannte Zugang zur Landeswährung hat.“

Denn wegen der Sanktionen der EU gegen Russland könne er dort


kein Geld abheben, von Deutschland aus keine Reise dahin buchen,
nicht einfach so einreisen. Man sei mit Überleben beschäftigt, mit
der ständigen Obacht vor ukrainischen Personenminen, Raketen
und Bomben. Nur wenige Stunden nach seinem Check-out sei sein
Hotel getroffen worden, offenbar ein gezielter Angriff der Ukraine
auf Journalisten.

Die zerstörte Stadt Mariupol, von der aus das nazistische Asow-
Bataillon jahrelang den Donbass beschossen hatte, verglich Baab auf
Nachfragen von Journalisten mit „Dresden 1945“:

„Das Asow-Stahlwerk zu 100 Prozent zerstört, die Stadt zu circa 90


Prozent. Ein einziges Kriegsverbrechen. Die Menschen leben in den
Kellern vollständig zerschossener Häuser. Der Winter steht vor der
Tür. Es wird Jahre dauern, die Stadt wieder aufzubauen. Wäre das
nicht mal ein Thema?“

Nein, dafür interessieren sich die Leitmedien nicht. Sie prügeln auf
ihn, den Kollegen — von dem sie vermutlich sehr viel lernen
könnten — mit moralinsauren Floskeln ein, die man so
zusammenfassen könnte: Mut Russen und „prorussischen
Separatisten“ spricht man nicht, man hasst sie. Die deutsche Presse
— und mit ihr die Bürokraten und staatlichen Institutionen —
verteilt am laufenden Bande lautstark Werturteile über „die Russen“,
übernommen von ukrainischen und NATO-PR-Agenturen, ohne mit
ihnen zu sprechen, sich ihre Lage anzusehen, ihre Meinung
anzuhören. Baab kritisiert das — zu Recht.

NATO-Propagandaschlacht
In so einem Erguss (https://www.hmkw.de/news/stellungnahme)
moralinsaurer Werturteile des kriegsparteischen politischen
Mainstreams ergoss sich die Hochschule für Medien,
Kommunikation und Wirtschaft (HMKW), an der Baab bis vor
Kurzem lehrte. Denn die HMKW entband den Journalisten
kurzerhand von seinem Auftrag, weil man, salopp gesagt, mit Russen
nicht spricht. Die Hochschule hatte aus einem regelrechten
Hetzbeitrag des Propagandisten Lars Wienand auf t-online
(https://www.t-
online.de/nachrichten/ukraine/id_100057900/deutsche-helfer-
in-der-ostukraine-scheinreferendum-hurra-.html) erfahren, dass
Baab für sein privates Buchprojekt im Donbass weilte.
Der t-online-Schreiber produzierte ein Sammelsurium aus
abwertenden Kampfbegriffen, welche das Wesen der
Propagandaschlacht des NATO-Lagers bestens vorführen: Die
Wahlen im Donbass nennt er darin „Scheinreferenden“, den
Journalisten Baab bezeichnete er als „Putins willigen Helfer“. Die
Hochschule drückt sich etwas stilvoller, aber kaum weniger
abwertend aus. Den Journalismus, den sie doch lehren soll, tritt sie
vollends in die Tonne. Sie schreibt etwa:

„Wir haben Herrn Baab gegenüber unsere Fassungslosigkeit über


dieses Verhalten geäußert. Wir haben ihm unseren Standpunkt
verdeutlicht, dass schon seine reine Anwesenheit bei dieser Aktion, ob
er wolle oder nicht, zwangsläufig zur Legitimation der in unseren
Augen völkerrechtswidrigen und inhumanen Scheinreferenden, die
Teil einer imperialistischen Politik und eines verbrecherischen
Krieges sind, beiträgt.“

Nach Auffassung dieser sogenannten Hochschule dürfen


Journalisten sich das vermeintlich „Böse“ also nicht mit
eigenen Augen ansehen. Sie sollen offenbar in ihren
Bürosesseln sitzen und abschreiben, was Politik und
Nachrichtenagenturen vorgeben.

Man will wohl an einer konstruierten, undifferenzierten und


antirussisch-kriegslüstern aufgeblasenen Scheinwahrheit festhalten.
Über die Gründe lässt sich spekulieren. Gibt eine Journalismus-
Lehranstalt den Journalismus auf, um ihren Bonus bei den
Herrschenden und der Politik nicht zu verlieren? Wollen Staat und
Wirtschaft konforme Schreiberlinge?

Ähnlich zieht nun die Universität Kiel gegen Baab zu Felde, wie das
inzwischen etablierte Kampfblatt für repressive Coronamaßnahmen
und NATO-Kriege Der Spiegel berichtete
(https://www.spiegel.de/wirtschaft/ukraine-reise-frueherer-ndr-
redakteur-verliert-lehrauftraege-a-f00c815e-f925-4e6f-a7fd-
12f3946dc337). Auch in diesem Propagandabericht reihen sich die
Kampfbegriffe aneinander: Baab verleihe dem russischen Vorgehen
„den Anschein von Legitimität“, zitierte Der Spiegel eine Sprecherin
zum Beispiel. Auch die Uni Kiel warf ihn kurzerhand aus ihrem
Lehrprogramm.

Haltungstyrannei
Baab ist nicht der einzige Journalist, dem es so geht oder erging. In
den Verlagshäusern und Redaktionsstuben bestimmen die Vorgaben
des Auftraggebers — oder jener, mit denen dieser verwoben ist —
die Leitlinien. Wer nicht mitzieht, fliegt. Wer als freier Journalist
Angebote einreicht, die der vorgegebenen Doktrin widersprechen,
hat die längste Zeit sein Honorar erhalten. So manch ein Freier
müsste dann umgehend Hartz IV beantragen, um zu überleben.

Früher konnten viele Journalisten allerdings auf eine Ausbildung


zurückblicken, die diesen Namen zumindest ansatzweise verdiente.
Journalismus ist auch Handwerk, und dazu gehört es, alle
Meldungen sorgfältig zu prüfen, immer die anderen Seiten zu
befragen. Doch die neue Generation der Journalisten soll das
offenbar nicht mehr lernen. Heute passt vielfach kein Blatt Papier
zwischen die Presseabteilung der Bundesregierung und die Kader
großer Medienanstalten und Hochschulen. Und der Druck nach
unten wächst.

Eine gefährliche Haltungstyrannei bricht sich Bahn in Deutschland,


und sie ist von einer Art, wie sie Diktaturen, aber auch
faschistischen Terrorregimen zu eigen ist, um die unterdrückte
Bevölkerung auf Linie zu bringen. Und die Haltung ist wie eh und je
vorgegeben von den Herrschenden, also jenen, die sich in der
Jahrhunderte währenden Ära der Klassengesellschaften beileibe
keinen Bonus der Unterdrückten verdient haben — im Gegenteil.
Journalismus wird zur Meinungsmaschine von Konzernen und
Politik.

Noch landen Abweichler im Deutschland der 2020er-Jahre nicht in


dunklen Folterkellern oder auf dem Schafott. Man beraubt sie
einfach still und leise ihrer Existenzgrundlage. Damit hat sich die
Floskel der Regierenden von einer „freiheitlich-demokratischen
Grundordnung“ als Makulatur erledigt. Willkommen in der
imperialistischen Diktatur des 21. Jahrhunderts. Und: Solidarität mit
allen, die sich, oft unter Bedrohung ihrer Existenz, dagegen wehren.
Man kann solchen Mut nicht hoch genug schätzen.

Susan Bonath, geboren in der DDR, arbeitet seit 2004 als


freie Journalistin und berichtet seit 2010 für die junge
Welt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem
Kapitalismuskritik, Arbeit und Soziales. Sie lebt in
Sachsen-Anhalt.

Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung -


Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International
(https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de)) lizenziert.
Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und
vervielfältigen.

Das könnte Ihnen auch gefallen