Koestler-Das Gespenst in Der Maschine

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Arthur Koestler

Das Gespenst
in der Maschine

Deutsch von Wolfram Wagmuth


Titel der englischen Originalausgabe:
THE GHOST IN THE MACHINE
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................................................................... 5
Teil I Ordnung ............................................................................................................................ 7
1 Die Armut der Psychologie ...................................................................................................... 7
1.1 Die vier Säulen .................................................................................................................... 7
1.2 Der Aufstieg des Behaviorismus ...................................................................................... 8
1.3 Die Enthumanisierung des Menschen ............................................................................ 11
1.4 Die Philosophie des Rattomorphismus .......................................................................... 13
2 Die Wortkette und der Sprachbaum ..................................................................................... 16
2.1 Die Kette ............................................................................................................................ 16
2.2 Der Baum ........................................................................................................................... 19
2.3 »Was haben Sie gesagt?« ................................................................................................. 21
2.4 Der Postbote und der Hund ............................................................................................. 22
2.5 »Wie meinen Sie das?« .................................................................................................... 26
2.6 Regeln, Taktiken und Rückkopplung ............................................................................. 28
2.7 Zusammenfassung ............................................................................................................. 31
3 Das Holon ..... ............................................................................................................................... 33
3.1 Die Parabel von den beiden Urmachern ........................................................................ 33
3.2 Der Janus-Effekt ................................................................................................................ 35
3.3 Soziale Holons ................................................................................................................... 37
3.4 Die fundamentale Polarität .............................................................................................. 41
3.5 Zusammenfassung ............................................................................................................. 42
4 Individuen und Dividuen ......................................................................................................... 43
4.1 Über Diagramme ............................................................................................................... 43
4.2 Unbelebte Systeme ........................................................................................................... 45
4.3 Der Organismus und seine Ersatzteile ........................................................................... 46
4.4 Die integrativen Lebenskräfte ......................................................................................... 47
5 Auslöser und Filter .................................................................................................................... 51
5.1 Auslöser .............................................................................................................................. 51
5.2 Wie man ein Nest baut ..................................................................................................... 52
5.3 Filter .................................................................................................................................... 55
5.4 Zusammenfassung ............................................................................................................. 59
6 Die Kunst des Vergessens ....................................................................................................... 60
6.1 Das abstrahierende Gedächtnis ....................................................................................... 60
6.2 Eine spekulative Auffassung ........................................................................................... 62
6.3 Zwei Arten von Gedächtnis ............................................................................................. 63
6.4 Vorstellungsbilder und Schemata ................................................................................... 65
6.5 Auswendiglernen .............................................................................................................. 66
6.6 Zusammenfassung ............................................................................................................. 67
7 Der Steuermann ......................................................................................................................... 68
7.1 Reflexe und Routinefertigkeiten ..................................................................................... 68
7.2 Rückkoppelung und Homoeostase ................................................................................. 69
7.3 »Was ein Reiz ist, bestimme ich!« ................................................................................. 71
7.4 Eine Holarchie von Holons .............................................................................................. 72
8 Gewohnheit und Improvisation ............................................................................................. 73
8.1 Ursprünge der Ursprünglichkeit ..................................................................................... 74
8.2 Die Mechanisierung von Gewohnheiten ........................................................................ 75
8.3 »Auf dem Instanzenweg« ................................................................................................ 76
8.4 Die Umwelt als Aufgabe .................................................................................................. 77
8.5 Zusammenfassung ............................................................................................................. 78

2
Teil II Werden ............................................................................................................................. 79
9 Die Strategien des Embryos ................................................................................................... 79
9.1 Lenksamkeit und Determination ..................................................................................... 81
9.2 Die genetische Tastatur .................................................................................................... 83
9.3 Zusammenfassung ............................................................................................................. 85
10 Evolution: Thema mit Variationen ....................................................................................... 86
10.1 Innere Selektion ................................................................................................................. 88
10.2 Das Rätsel der Homologie ............................................................................................... 91
10.3 Archetypen in der Biologie .............................................................................................. 92
10.4 Das Gleichgewichtsprinzip .............................................................................................. 94
10.5 Die Doppelgänger ............................................................................................................. 96
10.6 Die sechsunddreißig Grundthemen ................................................................................ 99
11 Evolution (Fortsetzung): Fortschritt durch Initiative .................................................... 102
11.1 Aktion vor der Reaktion ................................................................................................. 103
11.2 Nochmals Darwin und Lamarck ................................................................................... 107
12 Evolution (Fortsetzung): Abbau und Neuformierung ................................................... 109
12.1 Sackgassen ....................................................................................................................... 109
12.2 Ausweg aus der Spezialisierung ................................................................................... 110
12.3 Anlauf zum Sprung ......................................................................................................... 112
12.4 Zusammenfassung ........................................................................................................... 115
13 Der Mensch als Schöpfer ...................................................................................................... 117
13.1 Formen der Selbsterneuerung ........................................................................................ 118
13.2 Höhere Formen der Selbsterneuerung .......................................................................... 120
13.3 Selbstheilung und Selbstverwirklichung ..................................................................... 121
13.4 Die Wissenschaft und das Unbewußte ......................................................................... 122
13.5 Assoziation und Bisoziation .......................................................................................... 124
13.6 Die AHA-Reaktion ......................................................................................................... 125
13.7 Die HAHA-Reaktion ...................................................................................................... 126
13.8 Lachen und Emotion ....................................................................................................... 127
13.9 Die AH-Reaktion ............................................................................................................ 128
13.10 Kunst und Emotion ......................................................................................................... 129
13.11 Die schöpferische Trinität .............................................................................................. 131
13.12 Zusammenfassung ........................................................................................................... 132
14 Das Gespenst in der Maschine ............................................................................................. 134
14.1 Der »Zweite Hauptsatz« ................................................................................................. 134
14.2 Das Pendel schwingt hin und her .................................................................................. 137
14.3 Die Bühne und die Schauspieler ................................................................................... 139
14.4 Verlagerung der Kontrolle ............................................................................................. 140
14.5 Dualismus und Pluralismus ........................................................................................... 141
14.6 Das Ich des Plattwurms .................................................................................................. 143
14.7 Eine Art Maxime ............................................................................................................. 147
14.8 Die offene Hierarchie ..................................................................................................... 148

3
Teil III Unordnung .................................................................................................................... 150
15 Der Mensch und sein Dilemma ........................................................................................... 150
15.1 Die drei Dimensionen der Emotion .............................................................................. 150
15.2 Pathologie der Aggression ............................................................................................. 153
15.3 Pathologie der Devotion ................................................................................................. 155
15.4 Nicht erhörte Menschenopfer ........................................................................................ 156
15.5 Der Beobachter vom Mars ............................................................................................. 159
15.6 Der fröhliche Vogel Strauß ............................................................................................ 160
15.7 Integration und Identifikation ........................................................................................ 160
15.8 Die Gefahren der Identifizierung .................................................................................. 162
15.9 Hierarchische Bewußtheit .............................................................................................. 164
15.10 Induktion und Hypnose .................................................................................................. 165
15.11 Des geliebten Cäsars Wunden ... .................................................................................. 169
15.12 Die Struktur von Glaubenssystemen ............................................................................ 170
15.13 Die Spaltung .................................................................................................................... 172
15.14 Die Tröstungen des Zwiedenkens ................................................................................. 174
15.15 Der Gruppengeist als Holon .......................................................................................... 177
15.16 Zusammenfassung ........................................................................................................... 178
16 Die drei Gehirne ...................................................................................................................... 179
16.1 Fehler bei der Gehirnbildung ........................................................................................ 179
16.2 »Eine tumorartige Wucherung« .................................................................................... 182
16.3 Die Physiologie der Emotion ........................................................................................ 184
16.4 Die drei Gehirne .............................................................................................................. 185
16.5 Die Emotion und das ältere Gehirn .............................................................................. 189
16.6 »Schizophysiologie« ....................................................................................................... 191
16.7 »Ein Geschmack wie Sonne« ........................................................................................ 193
16.8 Das Wissen im viszeralen Bereich ............................................................................... 194
16.9 Nochmals: Janus .............................................................................................................. 195
16.10 Zusammenfassung ........................................................................................................... 198
17 Eine einzigartige Spezies ...................................................................................................... 199
17.1 Die unerbetene Gabe ...................................................................................................... 199
17.2 In tiefster Finsternis ... .................................................................................................... 200
17.3 Der friedliche Primat ...................................................................................................... 202
17.4 Der harmlose Jäger ......................................................................................................... 205
17.5 Der Fluch der Sprache .................................................................................................... 207
17.6 Die Entdeckung des Todes ............................................................................................ 209
17.7 Zusammenfassung ........................................................................................................... 210
18 Die Jahre der Entscheidung .................................................................................................. 211
18.1 Der Angelpunkt der Geschichte .................................................................................... 211
18.2 Zwei Kurven .................................................................................................................... 215
18.3 Der neue Kalender .......................................................................................................... 217
18.4 »Eingriff in die menschliche Natur« ............................................................................ 220
18.5 Der entfesselte Prometheus ............................................................................................ 223
18.6 Zukunftsmusik ................................................................................................................. 224
18.7 Dialog mit dem Leser ..................................................................................................... 227
19 Anhang ........................................................................................................................................ 230
19.1 Allgemeine Eigenschaften offener hierarchischer Systeme (O.H.S.) ...................... 230
19.2 Quellennachweise ........................................................................................................... 236
19.3 Verzeichnis der in diesem Buch erwähnten Werke .................................................... 242

4
Vorwort
In meinem Buch DER GÖTTLICHE FUNKE habe ich den schöpferischen Prozeß in Kunst
und Wissenschaft behandelt. Der vorliegende Band ist ein Versuch, sich mit dem tragi-
schen Dilemma des Menschen auseinanderzusetzen, und schließt damit den Betrach-
tungskreis. Das Kreative und das Pathologische am menschlichen Geist sind schließlich
zwei Seiten derselben Medaille, geprägt in der Münze der Evolution. Der einen verdan-
ken wir die Pracht und Würde unserer Kathedralen, der anderen jene grotesken Wasser-
speier, die sie schmücken und die uns ständig vor Augen halten sollen, daß die Welt
voll von Ungeheuern, Höllengeistern und Dämonen ist. In ihnen spiegelt sich der Hang
zur Besessenheit wider, der sich durch die Geschichte des Menschen hinzieht und der
die Vermutung nahelegt, es sei im Verlauf seines evolutionären Aufstiegs irgendwo et-
was schiefgegangen. Man hat die Evolution der Spezies mit einem Labyrinth voller
Sackgassen verglichen; die Hypothese erscheint daher durchaus nicht unwahrscheinlich,
daß die Erbanlage des Menschen, obwohl der jeder anderen Spezies überlegen, dennoch
einen Konstruktionsfehler enthalte, der den Menschen zur Selbstvernichtung prädispo-
niert.
Die Suche nach den Ursachen dieses Defekts beginnt schon im Alten Testament und hat
seither niemals aufgehört. Jedes Zeitalter kam zu einer anderen Diagnose: sie reichen
von der Doktrin vom Sündenfall bis zur Hypothese vom Todestrieb. Die Antworten wa-
ren unzulänglich, aber das Fragen hat sich dennoch gelohnt. Jede Epoche und jede
Kultur formulierten die ängstliche Frage in der ihr eigenen Sprache; es ist daher unver-
meidlich, daß wir sie heute in der Sprache der Wissenschaft formulieren. Aber, so para-
dox das auch klingen mag, die Wissenschaft hat sich im Verlauf der letzten hundert Jah-
re an ihren Erfolgen so berauscht, daß sie entweder vergessen hat, die entscheidenden
Fragen zu stellen, oder daß sie ihnen vorsichtig aus dem Weg ging, unter dem Vorwand,
derlei Fragen hätten keinen Sinn und gehörten außerdem nicht in das Ressort der Wis-
senschaft.
Dieser Vorwurf richtet sich natürlich nicht gegen die Wissenschaft im allgemeinen,
sondern in erster Linie gegen die vorherrschende Tendenz in den zeitgenössischen Wis-
senschaften vom Leben, angefangen von der Evolutionsgenetik bis zur Experimen-
talpsychologie. Man kann keine gültige Diagnose des gefährdeten Menschen von jenen
erhoffen, die darauf beharren, den Patienten als einen durch Zufallsmutationen entstan-
denen Reflexautomaten zu betrachten; Marionetten liefern keine Blutproben. Sir Alistair
Hardy, einer unserer hervorragendsten Biologen, schrieb kürzlich: »Ich bin zu dem
Schluß gekommen – und ich hoffe, ich kann auch Sie davon überzeugen –, daß die heu-
tige Anschauung der Evolutionstheorie unzulänglich ist.«1 W. H. Thorpe, ein bedeuten-
der Zoologe, schrieb, daß sich »in den letzten fünfundzwanzig Jahren insgeheim eine
neue Gedankenrichtung bei vielen, vielleicht Hunderten von Biologen herausgebildet
hat, die der gegenwärtig dominierenden orthodoxen Doktrin skeptisch gegenüberste-
hen«.2 Häretische Tendenzen dieser Art machen sich auch in anderen Sparten der Wis-
senschaft vom Leben bemerkbar, im Bereich der Genetik ebenso wie in dem der Neu-
rologie, beim Studium der Wahrnehmung, der Sprache und der Denkvorgänge. Bisher
aber haben sich die Aufrührer jeder auf sein Fachgebiet beschränkt; die neue Synthese,
auf der sich ein neues Weltbild aufbauen ließe, läßt noch auf sich warten.
Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, einige dieser losen Fäden aufzugreifen
und sie zu einem einheitlichen Muster zu verarbeiten. Der Leser muß sich daher auf ei-
ne ziemlich lange Reise vorbereiten, bevor, wir gemeinsam beim Ziel anlangen – bei
den Wurzeln des Übels, das uns alle bedroht – und uns an die Diagnose heranmachen
können. Die Etappen der Reise bilden Teil I des Buches, der sich mit neuen Ausblicken
in die Psychologie befaßt; Teil II stellt die Neuorientierung in der Evolutionslehre dar;
Teil III gelangt dann an das obenerwähnte Ziel. Gelegentliche Exkurse in scheinbar ab-

5
gelegene Gebiete sind dabei unvermeidlich, doch hoffe ich, daß auch diese nicht ganz
ohne Interesse sind.
Ich bin darauf gefaßt, daß mich jene Leser, die im kalten Krieg zwischen Humanismus
und Wissenschaft eine unversöhnliche Stellung bezogen haben, der Fahnenflucht be-
zichtigen werden. Man kann eben nicht oft genug wiederholen, daß zwei Halbwahrhei-
ten noch keine ganze Wahrheit und zwei Halbkulturen keine ganze Kultur ergeben. Die
Wissenschaft kann keine endgültigen Antworten erteilen, aber sie hilft uns, Fragen zu
stellen. Ohne sie können wir die Grundprobleme unserer Existenz nicht formulieren, ge-
schweige denn eine Diagnose stellen. Aber wir müssen von einer Wissenschaft vom
Leben ausgehen, die diesen Namen verdient, und nicht von dem antiquierten Automa-
tenmodell, das sich von dem naiv mechanischen Weltbild des 19. Jahrhunderts herleitet.
Zu fruchtbaren Fragestellungen können wir nur dann gelangen, wenn wir dieses ver-
staubte Idol durch eine neue Konzeption vom lebenden Organismus ersetzen.
Es tröstet mich, zu wissen, daß auch andere Autoren, die sich anmaßen, die Grenz-
schranken zwischen den beiden Halbkulturen zu ignorieren, sich den gleichen Schwie-
rigkeiten gegenübersahen. Auf einer der ersten Seiten seines Buches DAS SOGENANNTE
BÖSE zitiert Konrad Lorenz aus dem Brief eines Freundes, den er um eine kritische
Durchsicht seines Manuskripts gebeten hatte: »Dieses ist nun schon das zweite Kapitel,
das ich mit brennendem Interesse und steigendem Unsicherheitsgefühl lese. Warum?
Weil ich nicht genau den Zusammenhang mit dem Ganzen sehe. Du mußt mir das
leichter machen.«3 Sollte der geneigte Leser dieser Seiten gelegentlich die gleiche Re-
aktion empfinden, dann kann ich nur sagen: Ich habe mein möglichstes getan, es ihm
leichter zu machen. Ich glaube nicht, daß es in diesem Buch viele Passagen gibt, die ihm
allzu fachwissenschaftlich vorkommen werden; aber wo immer dies dennoch der Fall
sein sollte, kann er sie ruhig überschlagen und den Faden später wiederaufnehmen.
Während der Arbeit an diesem Buch kam mir eine Berufung an das Centre for Advan-
ced Study in the Behavioural Sciences in Stanford, Kalifornien, sehr zustatten. An die-
sem Institut – das weithin unter dem Namen »The Think Tank« bekannt ist – kommen
alljährlich fünfzig Wissenschaftler verschiedener akademischer Disziplinen zusammen;
sie erhalten dort die Möglichkeit, ein ganzes Jahr lang – frei von allen Verwaltungs-
funktionen und Lehrverpflichtungen – Diskussionen zu führen und Forschungen zu be-
treiben, die über das Fachgebiet des Einzelnen hinausgreifen. Diese Einrichtung ermög-
lichte es, die Gedankengänge des vorliegenden Buches in Diskussionsgruppen und Se-
minaren zu überprüfen und zu klären. Ich kann nur hoffen, daß die Anregungen und
Kritiken, die es in unseren manchmal recht hitzigen Diskussionen so reichlich gegeben
hat, auf fruchtbaren Boden fielen.
Mit einigen der in diesem Band erörterten Themen habe ich mich schon in früheren
Werken eingehend befaßt. Ich mußte daher im vorliegenden Band häufig aus ihnen zi-
tieren; wo ein Zitat im Text ohne Nennung des Autors erscheint, stammt es aus diesen
früheren Arbeiten.
Besonderen Dank für die kritische Durchsicht von Teilen meines Manuskripts schulde
ich Professor Sir Alister Hardy (Oxford), Professor James Jenkins (University of Min-
nesota), Professor Alvin Liberman (Haskins Laboratories, New York) und Dr. Paul
MacLean (N. I. M. H., Bethesda). Für anregende Gespräche und Diskussionen über das
Thema dieses Buches fühle ich mich ferner den folgenden Persönlichkeiten zu Dank
verpflichtet: Professor Ludwig von Bertalanffy (University of Alberta), Professor Hol-
ger Hydén (Universität Göteborg), Professor Michael Polanyi (Oxford), Professor Karl
Pribram (Stanford University), Professor Paul Weiss (Rockefeller Institute) und L. L.
Whyte (C. A. S., Wesleyan University).
London, April 1967 Arthur Koesder

6
Teil I
Ordnung

1 Die Armut der Psychologie


Er hatte acht Jahre lang an dem Projekt gearbeitet, aus Gurken Sonnen-
strahlen zu extrahieren, die in hermetisch verschlossenen Phiolen aufbe-
wahrt und in Sommern mit unwirtlichem Klima zur Erwärmung der Luft
verwendet werden sollten.
Swift: DIE REISE NACH LAPUTA

1.1 Die vier Säulen


In den »Sprüchen Salomons« heißt es, das Haus der Weisheit ruhe auf sieben Säulen;
bedauerlicherweise werden uns jedoch die Namen dieser sieben Säulen nicht genannt.
Auch die Zitadelle der Orthodoxie, die die Wissenschaften vom Leben in der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts errichtet haben, ruht auf einer Anzahl von imposanten Säu-
len, von denen einige bereits bedenkliche Risse zu zeigen beginnen und sich als monu-
mentaler Aberglaube entpuppen. Ich meine damit in der Hauptsache vier Doktrinen, die
man in vereinfachter Form wie folgt zusammenfassen könnte:
a) Die biologische Entwicklung ist das Resultat von Zufallsmutationen, die durch die
natürliche Zuchtwahl erhalten blieben.
b) Die geistige Entwicklung des Menschen ist das Ergebnis von Zufallstreffern, die
durch »Verstärkungen« (Belohnungen) erhalten blieben.
c) Alle Organismen, einschließlich des Menschen, sind ihrem Wesen nach passive,
von der Umwelt kontrollierte Automaten, deren einziger Daseinszweck die Her-
absetzung von Spannungen durch Anpassung an die Umwelt ist.
d) Die einzige wissenschaftliche Methode, die diesen Namen zu Recht trägt, ist die
der quantitativen Messung; daher müssen komplexe Phänomene auf einfache Ele-
mente reduziert werden, die einer solchen Behandlungsmethode zugänglich sind,
auch wenn dabei von den spezifischen Merkmalen des komplexen Phänomens –
zum Beispiel des Menschen – nichts mehr übrigbleibt.
Diese vier Säulen der Unweisheit werden in den folgenden Kapiteln wiederholt auftau-
chen. Sie bilden den Hintergrund, die zeitgenössische Landschaft, von der sich das neue
Weltbild abheben muß. Man kann nicht in einem Vakuum operieren; nur wenn man
vom bestehenden Bezugssystem ausgeht, kann durch Vergleiche und Kontrastwirkung
der Umriß einer neuen Konzeption deutlich sichtbar werden. Diese Überlegung er-
scheint mir als wesentlich, und ich möchte hier eine persönliche Bemerkung einflech-
ten, um einer bestimmten Art von Kritik vorzubeugen.
Greift man die zur Zeit dominierende psychologische Richtung an – wie ich das in mei-
nem letzten Buch getan habe und im vorliegenden Kapitel wieder tun werde –, dann
sieht man sich zwei entgegengesetzten Arten von Kritik ausgesetzt. Die erste ergibt sich
aus der natürlichen Reaktion der Anhänger der orthodoxen Richtung; sie glauben, sie
selbst seien im Recht und der Autor befinde sich im Irrtum – das ist durchaus recht und
billig. Die zweite Kategorie von Kritikern rekrutiert sich jedoch aus dem entgegenge-

7
setzten Lager. Sie argumentieren, die Säulen der Zitadelle ließen bereits Risse erkennen
und seien sowieso am Zusammenbrechen; man solle sie daher einfach ignorieren und
von einer Polemik absehen.
Diese Art Kritik wird meist von Psychologen vorgebracht, die glauben, sie hätten die
orthodoxen Doktrinen bereits überwunden. Dieser Glaube beruht aber recht häufig auf
einer Selbsttäuschung, denn die modernisierte Version des Automatenmodells hat einen
weit tiefgreifenderen Einfluß auf sie gehabt, als sie wahrhaben wollen. Er ist in den ver-
schiedensten Wissenszweigen spürbar – in der Philosophie, der Sozialwissenschaft, der
Erziehung, der Psychiatrie. Selbst die Vertreter der orthodoxen Richtung erkennen heute
die Grenzen und Mängel der Pawlowschen Experimente; aber in der populären Vor-
stellung ist der Hund auf dem Labortisch, der genau nach Voraussage beim Gongschlag
Speichel absondert, zu einem Symbol des Daseins, einer Art antiprometheischem My-
thos geworden; und der Begriff der »Konditionierung« mit seinen starren deterministi-
schen Assoziationen wurde zu einer magischen Formel, mit deren Hilfe man Grund und
Wesen unseres Daseins erklären und jede moralische Verantwortung von sich schieben
konnte.

1.2 Der Aufstieg des Behaviorismus


Blickt man aus der Sicht des Historikers auf die Geschichte der letzten fünfzig Jahre zu-
rück, dann stellt man fest, daß sich in diesem Zeitraum – mit einer Ausnahme – alle
Sparten der Wissenschaft in bisher noch nie dagewesenem Ausmaß fortentwickelt ha-
ben. Die erwähnte Ausnahme bildet die Psychologie, die immer noch in einer Art mo-
derner Version des finsteren Mittelalters zu stecken scheint. Mit Psychologie meine ich
in diesem Zusammenhang die akademische oder sogenannte »experimentelle Psycholo-
gie«, wie sie an der überwiegenden Zahl unserer zeitgenössischen Universitäten gelehrt
wird – im Gegensatz zur klinischen Psychiatrie, zur Psychotherapie oder zur psychoso-
matischen Medizin. Freud und in geringerem Ausmaß auch Jung üben natürlich einen
sehr starken Einfluß aus, aber dieser Einfluß macht sich doch mehr im philosophisch-
künstlerischen Bereich bemerkbar – in der Literatur, der bildenden Kunst und der Philo-
sophie – als in der Zitadelle der offiziell etablierten Wissenschaft. Die bei weitem ein-
flußreichste Schule der akademischen Psychologie, die gleichzeitig auch bestimmend
auf das geistige Klima in allen anderen Sparten der Wissenschaft vom Leben einwirkt,
war – und ist immer noch – eine Pseudowissenschaft: der sogenannte Behaviorismus.
Seine Doktrinen sind in den Bereich der Psychologie wie ein Virus eingedrungen, der
bei seinem Opfer zunächst Krämpfe hervorruft und es dann langsam paralysiert. Wie
konnte es nur zu einer solchen Situation kommen?
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröffentlichte John Broadus Watson, Profes-
sor an der John-Hopkins-Universität in Baltimore, eine Abhandlung, in der es hieß:
Die Zeit ist gekommen, in der die Psychologie jede Bezugnahme auf
Bewußtseinszustände fallenlassen muß ... Ihre ausschließliche Auf-
gabe besteht in der Voraussage und Kontrolle von Verhaltensweisen;
die Introspektion kann nicht zu ihren Verfahrensmethoden gehören.4
Unter »Verhaltensweisen« verstand Watson beobachtbares Tun – das, was der Physiker
als »öffentliches Geschehen« bezeichnet, wie zum Beispiel die Schwankungen eines
Barometerzeigers. Da nun alle geistigen Vorgänge private Vorgänge sind, die von ande-
ren nicht beobachtet werden können und sich nur durch Aussagen, die auf Introspektion
beruhen, mitteilen lassen, mußten sie aus dem Bereich der Psychologie ausgeschlossen
werden. Auf der Basis dieser Theorie gingen nun die Behavioristen daran, die Psycho-
logie von allen »immateriellen und unzugänglichen Begriffen« zu »säubern«.5 Ausdrük-
ke wie »Bewußtsein«, »geistiger Vorgang«, »Wille«, »Zielbewußtsein« und »Vorstel-

8
lung wurden dementsprechend für unwissenschaftlich erklärt, als sozusagen obszön an-
gesehen und aus dem Vokabular der Psychologie verbannt. Nach Watsons eigenen
Worten mußte der Behaviorist aus seinem Vokabular »alle subjektiven Begriffe strei-
chen, wie zum Beispiel Empfindung, Wahrnehmung, Wille; ja sogar die Worte ›Den-
ken‹ und ›Emotion‹, da sie nur subjektiv definierbar sind«.6
Es handelte sich hier um die erste radikale ideologische »Säuberungsaktion« in der Wis-
senschaft; sie vollzog sich zeitlich noch vor den ideologischen Säuberungsaktionen in
der Politik der totalitären Staaten, doch lag ihr die gleiche Zielstrebigkeit besessener
Fanatiker zugrunde. Das folgende, inzwischen geradezu klassisch gewordene Urteil
über sie fällte Sir Cyril Burt:
Seit Watson sein Manifest verkündet hat, ist nahezu ein halbes
Jahrhundert vergangen. Abgesehen von einigen geringfügigen Vorbe-
halten, schließt sich – sowohl in unserem Land als auch in Amerika
– immer noch die bei weitem überwiegende Zahl der Psychologen der
von ihm vertretenen Auffassung an. Ein zynischer Betrachter könnte
versucht sein zu sagen, das Resultat sei, daß die Psychologie, nach-
dem sie zuerst ihre Seele verschachert und dann den Verstand verlo-
ren habe, nun, da sie einem vorzeitigen Ende entgegensieht, auch
noch das Bewußtsein völlig eingebüßt zu haben scheint.7
Der Behaviorismus Watsonscher Prägung wurde zunächst in der akademischen Psy-
chologie Amerikas und in der Folge auch in Europa zur dominierenden Fachrichtung. In
den Lexiken definierte man den Begriff Psychologie früher als »Seelenkunde«; der Be-
haviorismus räumte mit Geist und Seele auf und setzte an ihre Stelle den »bedingten Re-
flex«. Die Folgen dieses Schrittes waren nicht nur für die Experimentalpsychologie
selbst verhängnisvoll, sie machten sich auch in der klinischen Psychiatrie, in der Sozi-
alwissenschaft, in der Philosophie und in der Ethik bemerkbar sowie in der allgemeinen
Lebensauffassung der jungen Akademiker. Zwar war Watsons Name der breiten Öf-
fentlichkeit nicht so vertraut, aber er wurde – neben Freud und dem Russen Pawlow –
zu einem der einflußreichsten Männer des 20. Jahrhunderts. Denn unglücklicherweise
ist der Watsonsche Behaviorismus nicht nur ein historisches Kuriosum, sondern das
Fundament, auf dem sich die modernisierten und noch weit einflußreicheren neobeha-
vioristischen Systeme aufbauten, so zum Beispiel die von Clark Hull und B. F. Skinner.
Die peinlichen Absurditäten in Watsons Werken hat man vergessen oder diskret über-
gangen, aber die Philosophie, das Programm und die Strategie des Behaviorismus sind
im Prinzip die gleichen geblieben. Das mögen die folgenden Seiten verdeutlichen.
Watsons Werk BEHAVIORISMUS, in welchem er den Begriff des Bewußtseins und die
Existenz geistiger Vorgänge verwarf, erschien im Jahre 1913. Ein halbes Jahrhundert
später verkündete Professor Skinner von der Harvard-Universität – der wohl einfluß-
reichste zeitgenössische Psychologe – die gleichen Ansichten in noch extremerer Form.
In seinem Standardwerk SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR wird dem hoffnungsvollen
Psychologiestudenten gleich zu Beginn fest versichert, die Begriffe »Geist« und »Ide-
en« seien nicht-existierende Wesenheiten,
erfunden ausschließlich zu dem Zweck, als Grundlage für Pseudoer-
klärungen zu dienen ... Da geistigen und seelischen Vorgängen an-
geblich die Dimensionen der Naturwissenschaften fehlen, haben wir
noch einen zusätzlichen Grund, sie abzulehnen.8
Mit der gleichen Logik könnte natürlich auch der Physiker die Existenz von elektroma-
gnetischen Wellen leugnen, weil sie sich innerhalb eines »Feldes« fortpflanzen, dem die
Eigenschaften der gewöhnlichen physikalischen Media abgehen. Tatsächlich würden
nur wenige Theorien und Konzeptionen der modernen Physik eine »ideologische Säube-
rung« nach den Prinzipien des Behaviorismus überstehen – aus dem einfachen Grund,

9
weil die wissenschaftliche Konzeption des Behaviorismus sich an der mechanischen
Physik des 19. Jahrhunderts orientiert.
Der »zynische Betrachter« könnte nun mit Recht fragen: Wenn geistig-seelische Vor-
gänge vom Studium der Psychologie ausgeschlossen werden sollen, was bleibt dann für
den Psychologen überhaupt noch als Studienobjekt übrig? Die Antwort lautet kurz und
bündig: die Ratten. Während der letzten fünfzig Jahre hat die Hauptbeschäftigung der
behavioristischen Schule im Studium gewisser meßbarer Aspekte in der Verhaltenswei-
se von Ratten bestanden, und ein Großteil der behavioristischen Literatur ist diesen
Untersuchungen gewidmet. Diese Entwicklung war, so seltsam das auch scheinen mag,
im Grunde eine unvermeidliche Konsequenz, die sich aus der behavioristischen Defini-
tion wissenschaftlicher Methodik ergab (die obenerwähnte »vierte Säule der Unweis-
heit«). Infolge der selbstauferlegten Beschränkungen darf der Behaviorist nur objektive,
äußerlich meßbare Aspekte von Verhaltensweisen studieren. Es gibt jedoch nur wenige
wirklich relevante Aspekte menschlicher Verhaltensweisen, die sich durch quantitative
Messungen im Laboratorium studieren lassen und die der Forscher untersuchen kann,
ohne auf introspektive Aussagen der Versuchsperson angewiesen zu sein. Wollte der
Behaviorist also seinen eigenen Prinzipien treu bleiben, dann war er gezwungen, als
Versuchsobjekte die Tiere den Menschen vorzuziehen – unter den Tieren aber mußte er
Ratten und Tauben den Vorzug geben, denn die Verhaltensstruktur von Primaten gilt
immer noch als zu komplex.
Anderseits ist es durchaus möglich, Ratten und Tauben unter entsprechend arrangierten
Versuchsbedingungen zu Verhaltensweisen zu veranlassen, die nahezu völlig denen ei-
nes konditionierten Reflexautomaten entsprechen. Fast jedes psychologische Institut der
westlichen Welt, das etwas auf sich hält, besitzt heute einige Albinoratten, die in den
sogenannten Skinner-Käfigen (Skinner boxes) – so genannt nach dem Erfinder – ihre
bescheidenen Künste vollführen. Im Käfig befinden sich ein Futternapf, eine Glühbirne
und ein Hebel; dieser läßt sich ähnlich wie der Hebel an einem Spielautomaten herun-
terdrücken, und dabei fällt ein Futterkügelchen in den Napf. Placiert man eine Ratte in
den Käfig, dann drückt sie früher oder später mit ihrer Pfote den Hebel herunter und
wird dadurch automatisch mit einem Futterkügelchen belohnt; bald lernt sie am Erfolg,
daß sie den Hebel herunterdrücken muß, wenn sie Futter haben will. Diese Versuchs-
prozedur nennt man »instrumentale Konditionierung« (operant conditioning), da die
Ratte eine bestimmte Tätigkeit an einem »Instrument«, dem Hebel, auszuführen hat; im
Gegensatz dazu ist das bei der »klassischen Konditionierung« (classical conditioning)
Pawlows nicht der Fall. Das Niederdrücken des Hebels bezeichnet man als »instrumen-
tale Reaktion«, die Einschleusung des Futterkügelchens als »Verstärkung« (reinforce-
ment) und das Zurückhalten des Futterkügelchens als »negative Verstärkung«; die ab-
wechselnde Anwendung dieser beiden Prozeduren gilt als »intermittierende Verstär-
kung« (intermittent reinforcement). Die »Reaktionsquote« der Ratte – das heißt wie
häufig sie den Hebel innerhalb eines bestimmten Zeitraums niederdrückt – wird auto-
matisch gemessen und graphisch aufgezeichnet. Der Zweck des Experimentierkäfigs
besteht darin, daß der Behaviorist in die Lage versetzt werden soll, seine Ambition zu
verwirklichen: nämlich die Messung von Verhaltensweisen nach rein quantitativen Me-
thoden und die Kontrolle von Verhaltensweisen durch die Manipulation von Reizfakto-
ren.
Den Versuchen mit den Skinner-Käfigen verdanken wir einige in fachtechnischer Hin-
sicht interessante Ergebnisse. Am interessantesten war wohl die Tatsache, daß die »in-
termittierende Verstärkung«, bei der das Niederdrücken des Hebels nur gelegentlich
durch ein Futterkügelchen belohnt wurde, ebenso wirkungsvoll und sogar noch wir-
kungsvoller war, als wenn die Ratte bei jedem Hebeldruck ein Futterkügelchen erhielt;
die Ratte, die darauf trainiert wurde, nicht bei jedem Hebelversuch eine Belohnung zu
erwarten, läßt sich weniger leicht entmutigen und unternimmt nach dem Ausbleiben der

10
Futterkügelchen noch weit zahlreichere Hebelversuche als diejenige Ratte, die vorher
bei jedem Hebelversuch belohnt worden war. (Die von mir verwendeten Ausdrücke
»erwarten« und »entmutigen« würde ein Behaviorist natürlich nicht akzeptieren, denn
mit ihnen sind geistig-seelische Vorgänge impliziert.) Das ist aber auch die »kühnste«
Errungenschaft der während eines Zeitraums von dreißig Jahren andauernden Hebelver-
suche, und sie ist ein guter Maßstab dafür, wie hoch ihre Bedeutung als Beitrag zur psy-
chologischen Forschung zu veranschlagen ist. Schon 1953 schrieb Harlow:
Es spricht dafür, daß die Bedeutung der in den letzten fünfzehn Jah-
ren untersuchten psychologischen Probleme ständig abgenommen
hat und sich der Asymptote absoluter Irrelevanz nähert.9
Blickt man auf die weiteren fünfzehn Jahre zurück, die inzwischen vergangen sind,
dann kommt man zu der gleichen Schlußfolgerung. Der Versuch, die komplexen
Handlungen des Menschen auf die hypothetischen »Verhaltensatome« der Ratte zu re-
duzieren, hat keinerlei wissenswerte Erkenntnisse zutage gefördert – ebensowenig etwa
wie eine chemische Analyse von Ziegelsteinen und Mörtel Auskünfte über die Archi-
tektur eines Bauwerks erteilt. Während des gesamten »finsteren Mittelalters« der Psy-
chologie hat der Großteil der Forschungsarbeit in den Laboratorien darin bestanden,
Mörtel und Ziegelsteine zu analysieren, in der frommen Hoffnung, diese fleißigen Be-
mühungen würden doch eines Tages irgendwie Aufbau und Wesen unserer Kathedralen
erklären.

1.3 Die Enthumanisierung des Menschen


So unglaublich das auch erscheinen mag, die Anhänger Skinners behaupten, die Hebel-
experimente mit Ratten und das Trainieren von Tauben durch ähnliche Methoden böten
alle erforderlichen Elemente, mit denen sich auch menschliche Verhaltensweisen be-
schreiben, vorhersagen und kontrollieren ließen – einschließlich der Sprache (»Verbal-
verhalten«), der Wissenschaft und der Kunst. Die beiden bekanntesten Werke Skinners
tragen die Titel THE BEHAVIOR OF ORGANISMS (1938) und SCIENCE AND HUMAN
BEHAVIOR (1953). In ihren klangvollen Titeln findet sich nicht der geringste Hinweis
darauf, daß die in diesen Büchern gegebenen Daten nahezu ausschließlich aus Kondi-
tionierungsexperimenten mit Ratten und Tauben herstammen – die dann mit Hilfe nai-
ver Analogien in zuversichtliche Behauptungen über die politischen, religiösen, ethi-
schen und ästhetischen Probleme des Menschen umgemünzt wurden.
Pawlow zählte die Anzahl der Speicheltropfen, die seine Hunde durch Kanülen abson-
derten, und destillierte daraus eine Philosophie vom Menschen. Die Professoren Skinner
und Hull mit ihren Gefolgsleuten schlossen in einem ebenso rasanten Verfahren von der
Ratte im Experimentierkäfig auf die Verhaltensweisen des Menschen.
Der Fachjargon des Behaviorismus basiert auf mangelhaft definierten Verbalkonzeptio-
nen, die sich besonders gut für Zirkelschlüsse und tautologische Formulierungen eignen.
Unter »Reaktion« versteht der Laie normalerweise die Antwort auf einen stimulierenden
Reiz; aber »instrumentale Reaktionen« dienen dazu, einen stimulierenden Reiz hervor-
zubringen, der erst nach der Reaktion in Erscheinung tritt; die Reaktion »wirkt so auf
die Umwelt ein, daß ein verstärkender Reiz entsteht«.10 Mit anderen Worten: die Reak-
tion reagiert auf einen Reiz, der erst in der Zukunft erfolgen wird – nimmt man diese
Aussage wörtlich, dann ist sie barer Unsinn. Eine »instrumentale Reaktion« ist in Wirk-
lichkeit nicht eine Reaktion, sondern eine von dem Versuchstier eingeleitete Aktion; da
jedoch nach dieser Lehre Organismen von den Umwelteinflüssen kontrolliert werden,
ist in der gesamten Literatur der passive Begriff »Reaktion« obligatorisch. Der Behavio-
rismus baut auf der S-R-Theorie auf (S = Stimulus, R = Response), wie sie zuerst von
Watson definiert wurde:

11
Die Richtschnur, an die sich der Behaviorist stets halten muß, ist die
folgende: Kann ich die Elemente des von mir beobachteten Verhal-
tensvorgangs als eine Folge von »Reiz und Reaktion« ausdrücken?11
Diese Reiz-Reaktionen oder diese »S-R«-Elemente gelten als die »Atome« der Verhal-
tenskette; eliminiert man aus dieser Terminologie den Begriff »R« für »Reaktion«, dann
bricht die Kette auseinander, und das gesamte Theoriegebäude stürzt in sich zusammen.
Welche Stellung nimmt nun der Behaviorismus zum Problem der menschlichen Kreati-
vität ein? Wie lassen sich wissenschaftliche Erfindungen und künstlerische Originalität
erklären oder beschreiben, wenn jegliche Bezugnahme auf Bewußtsein, Geist und Vor-
stellungskraft verboten ist? Die beiden folgenden Zitate sollen die Antwort auf diese
Fragen verdeutlichen. Das erste stammt aus Watsons 1925 erschienenem Buch
BEHAVIORISM, das zweite aus Skinners rund dreißig Jahre später erschienenem Werk
SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR; auf diese Weise können wir beurteilen, ob zwischen
der paläo-behavioristischen und der neobehavioristischen Auffassung irgendein we-
sentlicher Unterschied besteht:
Eine natürliche Frage, die häufig gestellt wird, lautet: Wie kommen
wir jemals zu neuen Verbalschöpfungen wie zum Beispiel einem lyri-
schen Gedicht oder einem brillanten Essay? Die Antwort lautet: Wir
erhalten sie, indem wir Worte manipulieren, sie so lange hin und her
schieben, bis plötzlich ein neues Muster vor uns auftaucht ... Wie
entwirft Ihrer Meinung nach Patou ein neues Kleid? Hat er irgendein
Vorstellungsbild in seinem Kopf, wie das fertige Kleid aussehen soll?
Nein, das hat er nicht ... Er ruft sein Mannequin zu sich, nimmt ein
Stück Seide, drapiert es um das Modell herum, zieht hier ein biß-
chen ein, läßt dort ein bißchen aus ... Er manipuliert das Material so
lange, bis es eine kleidähnliche Gestalt annimmt ... Erst wenn die
neue Création allgemeine Bewunderung erregt, ist die Manipulation
abgeschlossen – das entspricht dem Augenblick, in dem die Ratte ihr
Futterkügelchen findet ... Der Maler übt seinen Beruf auf die gleiche
Weise aus, und auch der Dichter kann sich keiner anderen Methode
rühmen.12
In dem Artikel über Behaviorismus in der 1955 erschienenen Ausgabe der ENCY-
CLOPAEDIA BRITANNICA findet man eine fünf Spalten lange Lobrede auf Watson. Seine
Bücher, so wird behauptet, »demonstrieren die Möglichkeit, eine angemessene und um-
fassende Schilderung menschlicher und tierischer Verhaltensweisen zu geben, ohne sich
dabei der philosophischen Konzeption ›Geist‹ oder ›Bewußtsein‹ zu bedienen«. Man
fragt sich, ob der Autor (P
Professor Hunter vom Brown College) wohl die obenzitierten
Ausführungen Watsons für eine »angemessene und umfassende Schilderung« über die
Entstehung von Shakespeares HAMLET oder der Werke in der Münchner Pinakothek
hält.
Dreißig Jahre nach Watson faßte Skinner die behavioristische Anschauung über die
Entstehung künstlerischer Schöpfungen und wissenschaftlicher Entdeckungen in seinem
Werk SCIENCE AND HUMAN BEHAVIOR folgendermaßen zusammen:
Das Ergebnis der Lösung eines Problems ist das Auftauchen einer
Lösung in Form einer Reaktion ... Die Relation zwischen dem Präli-
minarverhalten und dem Auftauchen der Lösung ist einfach die Re-
lation zwischen der Manipulation von Variablen und der Auslösung
einer Reaktion. Das Auftauchen dieser Reaktion in der Verhaltens-
struktur des Individuums überrascht durchaus nicht mehr als das
Auftauchen irgendeiner Reaktion der Verhaltensstruktur eines belie-
bigen Organismus. Der Begriff »Originalität« ist völlig überflüssig ...13

12
Bei den »Organismen«, auf die sich Skinner hier bezieht, handelt es sich natürlich er-
neut um seine Ratten und Tauben. Im Vergleich zu Watsons Formulierungen ist die
Sprache Skinners und seiner Gefolgsleute noch wesentlich trockener und esoterischer
geworden. Watson spricht von der Manipulation von Worten, bis »plötzlich ein neues
Muster vor uns auftaucht«, Skinner von der Manipulation von »Variablen bis zur Aus-
lösung einer Reaktion«. Bei beiden wird in drastischem Ausmaß die Tendenz erkenn-
bar, dem Problem durch Zirkelschlüsse auszuweichen, getrieben von einem geradezu
fanatischen Bestreben, unter allen Umständen die Existenz von Merkmalen zu leugnen,
die das Menschsein des Menschen und das Rattesein der Ratte ausmachen.

1.4 Die Philosophie des Rattomorphismus


Der Behaviorismus war zu Beginn so etwas wie eine puritanische Revolte gegen die ex-
zessive Anwendung introspektiver Methoden durch ältere psychologische Schulen, die
die Ansicht vertraten – so definiert es James –, die Aufgabe des Psychologen bestehe in
der »Beschreibung und Erklärung von Bewußtseinszuständen«. Watson entgegnete, ein
Bewußtseinszustand
ist weder definierbar noch sonst ein brauchbares Konzept, er ist nur
eine Umschreibung für das Wort »Seele« ... Niemand hat jemals eine
Seele berührt oder sie in einem Reagenzglas gesehen. Ein »Bewußt-
seinszustand« ist ebenso unbeweisbar und ebenso unzugänglich wie
eine »Seele« ... Die Behavioristen kamen daher zu dem Schluß, sie
dürften sich nicht länger damit zufriedengeben, mit immateriellen
und unzugänglichen Begriffen zu arbeiten. Sie entschieden, die Psy-
chologie entweder ganz aufgeben zu müssen oder aber sie zu einer
Disziplin der Naturwissenschaften zu machen ...14
Dieses »klare, frische Programm«, wie Watson selbst es nannte, basierte auf der naiven
Vorstellung, man könne Psychologie mit den Methoden und Konzeptionen der klassi-
schen Physik studieren. Watson und seine Gefolgsleute meinten es ernst damit und
wollten ihr Programm durch eine Art von Prokrustesoperation durchführen. Aber wäh-
rend der sagenhafte attische Unhold seine Gäste nur durch Ausrenken oder Abhacken
der Beine dem berüchtigten Bett anpaßte, schlug der Behaviorismus seinem Opfer zu-
erst den Kopf ab und zerstückelte es dann in S-R-Einheiten des Verhaltens. Die ganze
Theorie basiert auf den atomistischen Konzeptionen des vergangenen Jahrhunderts, die
von allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen längst fallengelassen worden sind. Ihr
Hauptpostulat – alle Handlungsakte des Menschen, einschließlich der Sprache und des
Denkens, ließen sich nach elementaren Reiz-Reaktions-Einheiten analysieren – grün-
dete sich ursprünglich auf die philosophische Konzeption vom Reflexbogen. Danach
kam der neugeborene Organismus mit einer Anzahl von »unkonditionierten« Reflexen
auf die Welt und war dann während seines ganzen Lebens in seinem Tun und Lernen
den Gesetzen des Pawlowschen Konditionierens unterworfen. Dieses simple Schema
kam jedoch bei den Physiologen schon bald völlig aus der Mode. Der bedeutendste un-
ter den Physiologen seiner Zeit, Sir Charles Sherrington, schrieb bereits 1906:
Der einfache Reflex ist vermutlich eine rein abstrakte Konzeption,
denn alle Teile des Nervensystems stehen untereinander in Verbin-
dung, und man muß annehmen, daß keiner seiner Teile einer Reak-
tion fähig ist, die nicht auch andere Teile beeinflußt und gleichzeitig
auch von ihnen beeinflußt wird ... Der Reflex ist eine bequeme, aber
unglaubhafte Fiktion.15
Mit dem Ausscheiden der Reflexkonzeption waren die physiologischen Grundlagen, auf
denen sich die S-R-Psychologie aufbaute, zunichte geworden. Die Behavioristen fühlten

13
sich aber dadurch nicht sonderlich beeinträchtigt. Sie gingen in ihrer Terminologie von
konditionierten Reflexen zu konditionierten Reaktionen über und manipulierten auch
weiterhin in der uns inzwischen bekannten Manier mit ihren undefinierten Begriffen
herum: Reaktionen wurden von Reizen kontrolliert, die noch im Schoß der Zukunft la-
gen, die »Verstärkung« wandelte sich zu einer Art Phlogiston, und die »Atome« des
Verhaltens lösten sich unter den Händen der Psychologen in Dunst auf wie schon lange
vorher die unteilbaren Atome des Physikers.
Historisch gesehen entstand der Behaviorismus als eine Gegenbewegung gegen die Ex-
zesse der introspektiven Methoden, wie sie insbesondere von den deutschen Psycholo-
gen der sogenannten Würzburger Schule praktiziert wurden. Zunächst hatte er nur die
Absicht, Bewußtseinszustände, Vorstellungsbilder und andere öffentlich nicht regi-
strierbare Phänomene als Studienobjekte aus dem Bereich der Psychologie zu verban-
nen; später wurde jedoch gleichzeitig impliziert, daß diese verbannten Phänomene
überhaupt nicht existieren. Das Programm für eine Methodologie, über das sich disku-
tieren ließ, wurde in eine Philosophie transformiert, die ins Absurde führte. Ebenso
könnte man einer Gruppe von Landvermessern erklären, sie dürften bei der Vermessung
eines kleinen Grundstückes so vorgehen, als ob die Erde flach wäre – um dann allmäh-
lich das Dogma einzuführen, die Erde sei in Wirklichkeit flach.
Der Behaviorismus vertritt in der Tat eine Art »Flache-Erde–Theorie« in der Psycholo-
gie. Er hat die anthropomorphe Verirrung, die den Tieren menschliche Fähigkeiten und
Empfindungen zuschreibt, durch eine entgegengesetzte Verirrung ersetzt; er leugnet,
daß der Mensch irgendwelche Fähigkeiten besitzt, die man nicht auch bei den niederen
Tierarten findet. Die anthropomorphe Sicht der Ratte wurde durch die rattomorphe Sicht
des Menschen ersetzt. Er hat sogar der Psychologie einen neuen Namen gegeben – denn
der alte Name leitet sich ja aus dem griechischen Wort für »Seele« ab – und nennt sie
jetzt »Verhaltensforschung« (science of behavior). Man könnte das einen demonstrati-
ven Akt der Selbstkastration nennen, der ganz im Einklang steht mit Skinners Auffas-
sung, die Aufgabe des Erziehungswesens sei die »Manipulation von Verhaltensweisen«.
Sein Ziel, »menschliche Handlungen ebenso vorherzubestimmen und zu kontrollieren
wie die Naturwissenschaftler Phänomene der Natur kontrollieren und manipulieren«,16
ist ebenso abscheulich wie naiv. Werner Heisenberg, einer der bedeutendsten lebenden
Physiker, hat lakonisch erklärt: »Die Natur ist unberechenbar«; es erscheint geradezu
absurd, dem lebenden Organismus selbst jenen Grad von Unberechenbarkeit abzuspre-
chen, den die Quantenphysik der leblosen Natur zugesteht.
Während der gesamten Dauer des »finsteren Mittelalters« der Psychologie hat der Be-
haviorismus die Bühne beherrscht, und auch heute noch, in den sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts, nimmt er an unseren Universitäten eine dominierende Stellung ein; aber
seine Herrschaft war niemals unumstritten. Vor allem gab es immer einige »Rufer in der
Wüste«, meist einer älteren Generation angehörig, die noch vor der großen »Säube-
rungswelle« herangereift war. Zweitens gab es die Gestaltpsychologie, von der man
zeitweilig den Eindruck hatte, sie könnte zu einem ernsthaften Rivalen des Behavioris-
mus werden. Aber die großen Hoffnungen, die die Schule der Gestaltpsychologie er-
weckte, erfüllten sich nur teilweise, denn ihre Mängel und Grenzen wurden bald offen-
bar. Die Behavioristen vermochten gewisse Einsichten ihrer Gegner ihrer eigenen Theo-
rie einzuverleiben, und sie beherrschten auch weiterhin die wissenschaftliche Bühne.*
* Der interessierte Leser kann sich über diese Kontroverse in meinem Buch THE ACT OF CREATION (DER
GÖTTLICHE FUNKE), insbesondere in Buch II der englischen Ausgabe, und zwar in Kapitel 12, »The Pit-
falls of Learning Theory«, und in Kapitel 13, »The Pitfalls of Gestalt«, orientieren. Auf eine eingehendere
Stellungnahme wird daher im vorliegenden Band verzichtet.

14
Das Endergebnis war eine Art fehlgeschlagener Renaissance, gefolgt von einer Gegen-
reformation. Schließlich gibt es noch – um das Bild abzurunden – eine junge Generation
von Neurophysiologen und Kommunikationstheoretikern, die die orthodoxe S-R-
Psychologie für senil hält; sie ist jedoch häufig gezwungen, ein Lippenbekenntnis für
sie abzulegen, wenn sie in ihrer akademischen Laufbahn vorwärtskommen und ihre wis-
senschaftlichen Arbeiten in Fachzeitschriften publiziert sehen will.
Man kann unmöglich zu einer Diagnose der menschlichen Tragödie gelangen, und
schon gar nicht zu einer Therapie, wenn man von einer Psychologie ausgeht, die die
Existenz des Bewußtseins leugnet und sich auf trügerische Rattenanalogien stützt. Was
sich in fünfzig Jahren rattomorpher Psychologie abgespielt hat, das läßt sich in seiner
sterilen Pedanterie nur mit der mittelalterlichen Scholastik während ihrer Niedergangs-
phase vergleichen, als sie dazu übergegangen war, Engel auf Stecknadelköpfen zu zäh-
len; was immer noch ein vergnüglicherer Zeitvertreib war als das Registrieren von He-
beltritten im Experimentierkäfig.

15
2 Die Wortkette und der Sprachbaum
Bei Gelegenheiten wie dieser
ist es nicht nur eine moralische Pflicht,
seine Meinung zu sagen –
es ist ein reines Vergnügen.
Oscar Wilde
Die Geburt der Sprache – zunächst in gesprochener, später auch in schriftlich fixierter
Form – stellt die schärfste Trennung zwischen Tier und Mensch dar.
Man sollte also annehmen, das Studium der Sprache müßte mehr als das jedes anderen
Phänomens die Absurdität der rattomorphen Auffassung deutlich machen. Das tut es in
der Tat; es bietet aber darüber hinaus auch noch die Möglichkeit, einige der grundle-
genden Konzeptionen der im Vorwort erwähnten, neuen Synthese aufzuzeigen. Der Ge-
gensatz zwischen der orthodoxen und der neuen Auffassung läßt sich mit zwei Schlüs-
selworten kennzeichnen: Kette gegen Baum.

2.1 Die Kette


Das folgende lange Zitat ist in seiner Art repräsentativ für die orthodox-behavioristische
Einstellung zur Sprache. Es ist einem Lehrbuch für Collegestudenten entnommen, an
dem mehrere Professoren hervorragender amerikanischer Universitäten mitgearbeitet
haben.17 Der Autor des Zitats ist selbst Ordinarius eines psychologischen Universitäts-
institutes. Das Lehrbuch erschien im Jahre 1961; der in ihm enthaltene Dialog stellt eine
Adaptation aus einem früheren Lehrbuch dar. Ich erwähne diese Einzelheiten, um zu
zeigen, daß dieser Tausenden von Studenten vermittelte Text sich durchaus im Rahmen
der höchst respektablen akademischen Tradition bewegt. Er trägt die Überschrift
»Komplexe Handlungen« und ist im gesamten Lehrbuch die einzige Passage, die sich
mit der Errungenschaft der menschlichen Sprache befaßt:
Wie wir gesehen haben, kann sich der Vorgang des Lernens entweder
mit Hilfe der klassischen (Pawlow) oder aber mit Hilfe der instru-
mentalen (Skinner, Hull) Konditionierung vollziehen ... Die von uns
im Zusammenhang mit den Konditionierungsexperimenten bisher
ermittelten Versuchsergebnisse blieben jedoch auf relativ einfache
Reaktionen beschränkt, wie zum Beispiel auf die Speichelsekretion
(bei Hunden) oder auf das Niederdrücken eines Hebels (bei Ratten).
Im Alltagsleben machen wir uns selten Gedanken über derart iso-
lierte Reaktionen, wir interessieren uns gewöhnlich für komplexere
Handlungen, wie zum Beispiel das Auswendiglernen eines Gedichts,
den Fortgang eines Gesprächs, die Lösung eines technischen Pro-
blems, das Zurechtfinden in einer unbekannten Stadt – um nur eini-
ge Möglichkeiten zu erwähnen. Zwar könnte der Psychologe auch
diese komplexeren Handlungen genauer untersuchen, wie das bis zu
einem gewissen Grad auch geschieht, aber im allgemeinen herrscht
in der Psychologie das Prinzip, für Forschungsexperimente einfache-
re Reaktionen im Labor auszuwählen. Hat der Psychologe erst einmal
unter den idealen Voraussetzungen im Labor die Prinzipien des
Lernvorgangs bei einfachen Phänomenen erkannt, dann ist er mit
großer Wahrscheinlichkeit auch in der Lage, die erkannten Prinzipi-
en auf die komplexeren Vorgänge in unserem Alltagsleben zu über-
tragen. Schließlich sind diese komplexeren Phänomene nichts ande-

16
res als eine fortlaufende Reihe von einfacheren Reaktionen (sic!). Eine
Unterhaltung mit einem befreundeten Menschen ist dafür ein gutes
Beispiel. Analysieren wir einmal das hier wiedergegebene Gespräch:
He: »What time is it?« Er: »Wie spät ist es?«
She: »Twelve o’clock.« Sie: »Zwölf Uhr.«
He: »Thank you.« Er: »Danke.«
She: »Don’t mention it.« Sie: »Nichts zu danken.«
He: »What about lunch?« Er: »Wollen wir essen gehen?«
She: »Fine.« Sie: »Gerne.«
Dieses Gespräch läßt sich nach separaten »S-R«-(Reiz-Reaktions-
)Einheiten analysieren. »Er« zeigt die erste Reaktion, die vermutlich
durch den stimulierenden Reiz »ihres« Anblicks ausgelöst wird. Wenn
»er« mit »What time is it?« reagiert, dann entsteht natürlich infolge
der Muskeltätigkeit eine Lautfolge, die zugleich als »Reizfaktor« auf
»sie« wirkt. Bei Aufnahme dieses Reizfaktors reagiert sie mit der Aus-
sage »Twelve o’clock«, die ihrerseits wieder als Reizfaktor auf »ihn«
wirkt – und so fort. Das gesamte Gespräch läßt sich also folgender-
maßen in einem Diagramm darstellen:

An einer solchen komplexen Handlung können wir also erkennen,


daß wir es in Wirklichkeit mit einer fortlaufenden Reihe von Reiz-
Reaktions-Folgen (S-R-Folgen) zu tun haben. Das Phänomen des Zu-
sammenknüpfens einer Reihe solcher S-R-Einheiten bezeichnet man
als Kettenbildung – ein Vorgang, der bei jeder komplexen Handlung
deutlich erkennbar sein sollte. Man könnte noch darauf verweisen,
daß während des Vorgangs der Kettenbildung eine Anzahl von Ver-
stärkungsfaktoren wirksam wird; im vorliegenden Beispiel handelt es
sich dabei in erster Linie um die Verstärkung, die »sie« durch die
Einladung zum Mittagessen erhält, und um diejenige, die »ihm«
durch die Annahme seiner Einladung zuteil wird. Hinzu kommen
noch – wie Keller und Schönfeld meinen – folgende Verstärkungs-
faktoren: der Hörer »ermutigt« den Sprecher zur Fortsetzung des Ge-
sprächs, die Gesprächsteilnehmer machen von der jeweils erhaltenen
Information Gebrauch (so erfährt »er« zum Beispiel, wie spät es ist)
und so weiter.18
Das ist alles, was der Student über »komplexe Handlungen des Menschen« erfährt. Im
restlichen Teil dieses »Lernen, Behalten und Motivation« überschriebenen Kapitels be-
faßt sich der Autor – wie er selbst sagt – mit »der Speichelsekretion und Hebelversu-
chen«.
Als ich diesen Text las, sah ich vor meinem inneren Auge zwei stramme Münzautoma-
ten auf dem Gelände des College einander gegenüberstehen, sich gegenseitig mit
»Reizmünzen« füttern und entsprechende Reaktionen von sich geben. Und genauso
sieht der Behaviorist den Menschen.
Bei dem albernen Dialog zwischen »ihm« und »ihr« handelt es sich jedoch keinesfalls
um eine beliebige Improvisation von seiten des Autors – er übernahm ihn andachtsvoll

17
aus einem anderen Lehrbuch (K
Kellers und Schönfelds PRINCIPLES OF PSYCHOLOGY), und
andere Autoren haben das gleiche getan, so als handle es sich hier um ein klassisches
Beispiel für menschliche Konversation.
Das Diagramm stellt die Anwendung auf den Bereich der Sprache des behavioristischen
Credos dar, wonach sich alle menschlichen Handlungen auf eine lineare Kette von S-R-
Einheiten (Reiz-Reaktions-Einheiten) reduzieren lassen. Auf den ersten Blick mag das
Diagramm den Eindruck erwecken, es stelle eine zwar simplifizierte, aber dennoch
plausible Schematisierung dar; dieser Eindruck hält jedoch bei näherer Betrachtung
nicht stand. Das Diagramm basiert auf Skinners Buch VERBAL BEHAVIOR (VER-
BALVERHALTEN), in welchem der erste großangelegte Versuch unternommen wird, der
menschlichen Sprache mit den Mitteln der behavioristischen Theorie beizukommen.
Nach Skinner werden Sprachlaute auf die gleiche Weise abgegeben wie alle anderen
Verhaltenseinheiten; und der Vorgang der Konditionierung, der bestimmend für das
Verbalverhalten (einschließlich des Denkens) ist, ist im Prinzip der gleiche wie bei der
Konditionierung von Ratten und Tauben; Skinner behauptet sogar, die Methoden dieser
Experimente »können ohne wesentliche Modifizierung auch auf menschliche Verhal-
tensweisen übertragen werden«.19 Wenn also der Autor des obigen Zitats von der Vor-
liebe des Psychologen für das Studium »einfacherer Reaktionen« spricht, so meint er
die Reaktionen der Speichelsekretion und des Hebelniederdrückens. Was in aller Welt
haben aber die S-R-Symbole im obigen Diagramm mit dem Niederdrücken eines Hebels
zu tun? Und mit welchem Recht wird der Dialogteil »Don’t mention it – What about
lunch?« als »konditionierte Reaktionseinheit« bezeichnet? Eine »konditionierte Reakti-
on« ist eine Reaktion, die durch einen bestimmten Reiz eindeutig bedingt ist, und eine
»Einheit« muß in der experimentellen Wissenschaft klar definierbare Eigenschaften be-
sitzen. Will man uns glauben machen, »er« sei daraufhin konditioniert gewesen, jedes
»Don’t mention it« mit einer Einladung zum Lunch zu beantworten? Und in welchem
Sinn soll man den Dialogteil »Don’t mention it – What about lunch?« als Verhaltens-
einheit bezeichnen? Der psychologisch nichtgeschulte Leser mag den Eindruck haben,
ich reite hier auf Dingen herum, die an sich selbstverständlich sind, aber es wird sich
sehr bald zeigen, warum ich das tue.
Die Redensart »Don’t mention it« könnte offensichtlich auch andere Reaktionen hervor-
rufen, zum Beispiel »Also auf Wiedersehen!« oder »Sie haben eine Laufmasche im
Strumpf« und so weiter, je nachdem ob »sie« diese Redensart mit einem bezirzenden
Lächeln begleitet, sie mit abweisender Stimme ausspricht oder sich die Sache zögernd
überlegt; außerdem hängt die Art der Reaktion auch noch davon ab, ob »er« überhaupt
Zeit hat, mit ihr essen zu gehen, und – wenn das der Fall ist – ob er auch genügend Geld
bei sich hat. Die angeblich »einfache S-R-Einheit« ist also weder »einfach« noch eine
»Einheit«. Für den Laien erscheint es kaum vorstellbar, daß der Autor des Lehrbuchs
die komplexen, vielschichtigen geistigen Vorgänge übersehen haben sollte, die sich
während des Gesprächs – und in den Gesprächspausen – in den Hirnen der beiden Men-
schen abgespielt haben. Aber dadurch, daß der Autor diese subjektiven Vorgänge aus
dem psychologischen Forschungsraum verbannt hat, hat er sich selbst der Möglichkeit –
und sogar des Vokabulars – beraubt, sie zu erörtern. Um Schwierigkeiten dieser Art aus
dem Weg zu gehen, faßt der Behaviorist alle subjektiven Vorgänge unter dem Sammel-
namen »intervenierende Variablen« (beziehungsweise »hypothetische Konstruktionen«)
zusammen und schreibt ihnen eine Vermittlerrolle zwischen Reiz und Reaktion zu. Die-
se Begriffe dienen dann als eine Art Papierkorb, in den man alle unbequemen Fragen
fallen läßt, die sich mit den Intentionen, Begierden, Gedanken und Träumen der als »er«
und »sie« bezeichneten Organismen befassen. Ein gelegentlicher Hinweis auf »interve-
nierende Variablen« (beziehungsweise »hypothetische Konstruktionen«) dient dann als
Alibi, denn in diesem Terminus ist alles eingeschlossen, was im Innern eines Menschen
vorgeht: es kann daher aus der wissenschaftlichen Erörterung ausgeklammert werden.

18
Wenn man jedoch alle dem Dialog zugrunde liegenden geistigen Vorgänge ausklam-
mert, dann wird die »Analyse« des Lehrbuchautors nichtssagend und das Diagramm
ebenfalls. Ein Diagramm hat die Funktion, wesentliche Aspekte eines Vorganges zu
verdeutlichen; im vorliegenden Fall geben sich sowohl der Text als auch das Diagramm
den Anschein, das zu tun, in Wirklichkeit aber lassen sie uns völlig im Dunkeln darüber,
was tatsächlich vorgeht. Der genau gleiche Dialog könnte ebensogut zwischen flüchti-
gen Bekannten stattgefunden haben wie zwischen schüchternen Liebhabern oder aber
auch das Aufgabeln einer Straßendirne wiedergeben. Das pseudowissenschaftliche Ge-
wäsch: »Wenn er mit ›What time is it?‹ reagiert, dann entsteht natürlich infolge der
Muskeltätigkeit eine Lautfolge, die zugleich als Reizfaktor auf sie wirkt usw.« hat mit
der Episode, die es angeblich beschreiben und erläutern soll, im Grunde überhaupt
nichts zu tun. Ähnliches gilt im übrigen ganz allgemein für jeden Versuch, der mensch-
lichen Sprache mit den Methoden der S-R-Theorie beizukommen.

2.2 Der Baum


Reitet man mit einiger Ausdauer auf den offensichtlichen Absurditäten einer Theorie
herum, dann ergibt sich daraus der taktische Vorteil, daß die an ihrer Stelle vorgeschla-
gene Alternative als etwas geradezu einleuchtend Selbstverständliches erscheint. In der
auf den folgenden Seiten dargelegten Alternative wird nun vorgeschlagen, die Konzep-
tion von der linearen S-R-Kette durch eine Konzeption von vielschichtigen, hierarchisch
geordneten Systemen zu ersetzen, die sich übersichtlich in Form eines umgekehrt wie-
dergegebenen Baumes mit nach unten gerichteten Ästen und Zweigen darstellen läßt:

Abbildung 1
Diagramme mit einer derartigen Baumstruktur als Symbol für hierarchisch geordnete
Organisationen finden auf den verschiedensten Gebieten Verwendung: bei genealogi-
schen Ahnentafeln, bei der Klassifizierung von Tieren und Pflanzen, im »Lebensbaum«
der Evolutionstheorie, bei graphischen Darstellungen der Struktur von Regierungsbe-
hörden oder Industrieunternehmen sowie bei physiologischen des Nervensystems und
der Blutzirkulation. Das Wort »Hierarchie« entstammt dem kirchlichen Bereich und

19
wird häufig irrtümlicherweise nur zur Kennzeichnung einer bestimmten Rangordnung –
sozusagen der Sprossen einer Leiter – benutzt. Ich werde diesen Begriff hier nicht im
Sinn einer »Leiterstruktur« verwenden, sondern im Sinn der baumartigen Struktur eines
Systems, das sich in Subsysteme aufgliedert, und diese wiederum in Subsubsysteme und
so fort, wie das im vorstehenden Diagramm der Fall ist. Die Konzeption von der hierar-
chischen Ordnung spielt im vorliegenden Buch eine zentrale Rolle; die beste Einfüh-
rung dazu bietet die hierarchische Struktur der Sprache.
Die noch sehr junge wissenschaftliche Disziplin der Psycholinguistik hat gezeigt, daß
man bei der Analyse der gesprochenen Sprache auf Probleme stößt, von denen der
Sprechende selbst glücklicherweise keine Ahnung hat. Eines der Hauptprobleme ergibt
sich aus der trügerisch simplen Tatsache, daß wir von links nach rechts schreiben und
dabei eine lineare Kette von Buchstaben produzieren, sowie daraus, daß wir beim Spre-
chen einen Laut nach dem anderen hervorbringen, die ebenfalls eine Kette entlang der
Zeitachse bilden. Dies führt dazu, daß die behavioristische Konzeption, oberflächlich
besehen, eine gewisse Glaubwürdigkeit erhält. Das Auge nimmt ein dreidimensionales
Bild gleichzeitig in seiner Gesamtheit in sich auf; das Ohr dagegen empfängt Schwin-
gungen in fortlaufender Folge, aber nur jeweils einzeln nacheinander; diese Tatsache
könnte zu dem Trugschluß verleiten, daß wir auf jeden elementaren Sprachlaut auch
einzeln nacheinander reagieren. Das ist sozusagen der Köder an dem Angelhaken, an
welchem die S-R-Theoretiker angebissen haben und von dem sie seither nicht mehr los-
kommen.
Die elementaren Sprachlaute bezeichnet man als Phoneme, und sie entsprechen in etwa
den Schriftzeichen des Alphabets; in der englischen Sprache beträgt ihre Zahl 45. Be-
stünde das Zuhören darin, daß der Hörende die einzeln wahrgenommenen Phoneme
kettenartig aneinanderreiht, dann würde er buchstäblich nicht ein einziges Wort der an
ihn gerichteten Rede verstehen.
Sehen wir uns dieses Paradoxon näher an. Wenn wir den Vorgang des Zuhörens vom
akustischen auf den optischen Bereich übertragen wollten, dann würde das bedeuten,
daß auf einer Leinwand vor den Augen der Versuchsperson einzeln nacheinander ge-
druckte Schriftzeichen erschienen, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zwanzig
Buchstaben pro Sekunde. Das Ergebnis wäre vermutlich ein milder Nervenzusammen-
bruch. Das Ohr des Hörenden muß aber in der Tat zwanzig Phoneme pro Sekunde auf-
nehmen. Würde er versuchen, jedes einzelne Phonem als separates »Atom« der Sprache
zu analysieren, dann würde er nur ein ständig ineinander übergehendes Summen hören.
Dieses Beispiel verdanke ich Alvin Liberman von den Haskins Laboratories – einem
Pionier auf dem Gebiet der Sprachwahrnehmung (der ebenfalls an dem im Vorwort er-
wähnten Stanford Seminar teilgenommen hat). Er war es auch, der ironisch festgestellt
hat: wenn wir weiter den Versuch machen, diesem Problem mit den Methoden der S-R-
Theoretiker beizukommen, »dann gehen wir das Risiko ein, eines Tages zu dem Schluß
zu kommen, die menschliche Sprache sei unmöglich zu verwirklichen«.
Die Lösung dieses Paradoxons wird deutlich, wenn wir von der gesprochenen wieder
zur geschriebenen Sprache zurückkehren. Beim Lesen nehmen wir nicht (wie in dem
eben geschilderten Leinwandexperiment) die separaten Gestalten einzelner Buchstaben
wahr, sondern die Gestalten von ganzen Wörtern oder auch von mehreren Wörtern
gleichzeitig; die einzelnen Schriftzeichen sind in der Wahrnehmung bereits zu größeren
Einheiten integriert worden. Ähnlich nehmen wir auch beim Hören nicht separate, ein-
zeln aufeinanderfolgende Phoneme wahr, sondern im Wahrnehmungsprozeß verbinden
sie sich zu größeren geschlossenen Einheiten, die etwa eine Silbe umfassen. Die einzel-
nen Sprachlaute (Phoneme) schließen sich zu Strukturgefügen zusammen, ähnlich wie
einzelne Musiktöne sich zu einer Melodie vereinen. Aber im Gegensatz zu den dreidi-
mensionalen Strukturgefügen, die das Auge wahrnimmt, bilden Sprache und Musik ihre
Strukturgefüge merkwürdigerweise nur in einer einzigen Dimension – nämlich in der

20
Dimension der Zeit. Es wird sich jedoch zeigen, daß das Wahrnehmen von Strukturen in
der zeitlichen Dimension keinesfalls merkwürdiger oder rätselhafter ist als das Wahr-
nehmen von Strukturen in der räumlichen Dimension, denn das Gehirn transformiert
ständig zeitliche Folgen in räumliche Gestalten und umgekehrt. Blickt man durch ein
Vergrößerungsglas auf eine Schallplatte, dann erkennt man nur eine einzige wellenför-
mig verlaufende Spiralkurve; sie enthält jedoch in verschlüsselter Form das unendlich
komplexe Klanggewebe, das ein fünfzigköpfiges Orchester bei der Aufführung einer
Symphonie hervorbringt. Die beim Abspielen der Platte entstehenden Luftdruckwellen
bilden, ebenso wie die Kurve in der Plattenrille, eine zeitliche Folge mit einer einzigen
variablen Funktion. Aber eine einzige Variable in der zeitlichen Dimension reicht aus,
um auch die komplexesten Botschaften zu übermitteln – sei es Beethovens Neunte oder
Goethes Faust –, vorausgesetzt, die Botschaft trifft auf ein menschliches Gehirn, das be-
fähigt ist, sie zu entschlüsseln und die in der linearen Wellenfolge verborgenen Muster
zu erkennen. Das geschieht mit Hilfe einer Reihe von Transaktionen, deren Wesen wir
bisher noch nicht recht begriffen haben, die sich jedoch als eine vielschichtige Hierar-
chie von Prozessen darstellen lassen. Diese Hierarchie gliedert sich im wesentlichen in
drei wichtige Unterbereiche auf: in den phonologischen, den syntaktischen und den se-
mantischen.

2.3 »Was haben Sie gesagt?«


Als erster Schritt zur Entschlüsselung einer gesprochenen Botschaft – der erste Schritt
am Hierarchiebaum aufwärts – kann die Integration von Phonemen in Morpheme durch
den aufnehmenden Hörer gelten. Phoneme sind nur Sprachlaute; Morpheme sind die
kleinsten bedeutungtragenden Spracheinheiten: kurze Wörter, Vorsilben, Nachsilben
und so weiter; sie bilden die nächsthöhere Schicht der Hierarchie. Phoneme lassen sich
nicht als elementare Spracheinheiten qualifizieren: erstens, weil sie in einer viel zu ra-
schen Abfolge auf den Hörenden zukommen, als daß man sie einzeln unterscheiden und
identifizieren könnte, zweitens aber auch noch aus einem anderen wichtigen Grund,
nämlich wegen der ihnen anhaftenden Ambiguität [Zweideutigkeit]. Der gleiche Konso-
nant hört sich manchmal verschieden an, je nachdem, was für ein Vokal auf ihn folgt;
und umgekehrt haben verschiedene Konsonanten oft den gleichen Klang, wenn sie vor
dem gleichen Vokal stehen. Ob man big oder pig, map oder nap heraushört, das hängt,
wie die Versuche im Haskins Laboratory gezeigt haben,20 weitgehend von dem Zu-
sammenhang ab, in dem diese Wörter vorkommen. Die Theorie von der S-R-Kette fällt
also schon auf der untersten Sprachebene in sich zusammen, denn die phonematischen
Reizfaktoren variieren je nach dem Zusammenhang und lassen sich daher auch nur im
Rahmen dieses Zusammenhangs identifizieren. Wenden wir uns nun den höheren
Schichten der Hierarchie zu, dann begegnen wir wieder dem gleichen Phänomen: die
»Reaktion« auf eine Silbe (das heißt ihre Interpretation) hängt von dem Wort ab, in
welchem diese Silbe vorkommt; und die einzelnen Wörter nehmen im Verhältnis zum
ganzen Satz die gleiche untergeordnete Position ein wie die Phoneme im Verhältnis
zum ganzen Wort. Ihre Interpretation hängt gleichfalls vom größeren Zusammenhang
ab, sie muß also auf die nächsthöhere Schicht der Hierarchie Bezug nehmen.
Vom Standpunkt des S-R-Theoretikers aus gesehen, wäre die ideale Situation die fol-
gende: Eine Stenotypistin – nennen wir sie Fräulein R. – nimmt ein Diktat von ihrem
Chef – Direktor S. –auf. Hier, so sollte man meinen, haben wir ein perfektes Beispiel
für eine lineare Kette von Lautreizen, die eine entsprechende Kette von Reaktionen be-
dingt (das Anschlagen der Schreibmaschinentasten). Da komplexe Verhaltensweisen
angeblich das Ergebnis einer Kettenbildung aus einfachen S-R-Gliedern sind, müßten
wir folgerichtig annehmen, jeder einzelne von Direktor S. ausgesprochene Laut würde
bei Fräulein R. das Tippen des entsprechenden Schriftzeichens auslösen. Aber natürlich
wissen wir, daß sich der Vorgang völlig anders abspielt. Fräulein R. hört erwartungsvoll

21
zu und tut so lange nichts, bis mindestens ein halber Satz gesprochen wurde, dann aber
rast sie – wie ein Sprinter beim Startschuß zum 100-Meter-Lauf – mit ihren Fingern
über die Tasten, bis sie ihren Direktor eingeholt hat; danach verhält sie wieder erwar-
tungsvoll und mit einem bewundernden Blick für ihren Chef. In der experimentellen
Psychologie ist dieses Phänomen unter der Bezeichnung »Verzögerungseffekt« (bezie-
hungsweise »Nachhängen«) bekannt; es spielt auch in der Morsetelegraphie eine Rolle
und ist Gegenstand eingehender Forschungen gewesen.*
* Eine eingehendere Behandlung dieses Phänomens findet sich in THE ACT OF CREATION, Kapitel »Motor
Skills«, S. 544-546.
Fräulein R. »hing« mit dem Tippen »nach«, weil sie im Geiste damit beschäftigt war,
am Sprachbaum entlangzuklettern, und zwar zunächst hinauf, von dem Lautniveau über
das Wortniveau bis zum Satzniveau, und dann wieder hinunter. Das Hinabklettern führt
bei einer geübten Stenotypistin von der »Wortgruppengewohnheit« über die »Wortge-
wohnheit« zur »Buchstabengewohnheit«. Die Buchstabengewohnheiten (die bewirken,
daß die korrekten Schreibmaschinentasten angeschlagen werden) sind ein Bestandteil
der Wortgewohnheiten (eingeübte Bewegungsfolgen, die als geschlossene Einheiten
ausgelöst werden); diese wiederum sind ein Bestandteil der Wortkomplexgewohnheiten
(vertraute Wortgruppen lassen längere Bewegungsfolgen als integrierten Einheitsprozeß
vor sich gehen). Zwar ist das Tippen nach Diktat größtenteils so »automatisch« und
»mechanisch«, wie sich das ein Behaviorist nicht besser wünschen könnte, trotzdem ist
es aber nicht möglich, es als eine lineare Kette von konditionierten Reaktionen darzu-
stellen, denn es handelt sich hier um einen mehrdimensionalen Vorgang mit einer stän-
digen Oszillation zwischen verschiedenen Schichten der Sprachhierarchie, von der pho-
nologischen bis zur semantischen. Keine Stenotypistin kann dahingehend konditioniert
werden, daß sie ein Diktat in einer unbekannten Sprache aufnimmt. Gerade ihre umfas-
sende Kenntnis der Sprache – und nicht die Kettenbildung aus einfachen S-R-
Elementen – ermöglicht es, daß Fräulein R.s Finger zu Direktor S.s Stimme über die
Tasten tanzen. Und – o Wunder! – sie kann sogar einen Brief ganz ohne Diktat schrei-
ben, etwa an ihren Freund in Wanne-Eickel. In diesem Fall wird ihr Verhalten vermut-
lich von Reizen ausgelöst, die – ähnlich der Schwerkraft – eine Fernwirkung ausüben.

2.4 Der Postbote und der Hund


Bisher habe ich nur einige der Schwierigkeiten erwähnt, die sich ergeben, wenn man zu
erklären versucht, auf welche Weise wir variable Druckwellen, die auf unser Trommel-
fell einwirken, in geistige Vorstellungen umwandeln. Nehmen wir ein einfaches Bei-
spiel: Ein dreijähriger Bauernjunge beugt sich gerade zum Fenster hinaus; er sieht, wie
in diesem Augenblick der Hofhund den Postboten attackiert und wie dieser dem Hund
wütend einen Fußtritt versetzt. Das alles ereignet sich in Sekundenbruchteilen – so
rasch, daß seine Stimmbänder noch gar nicht zur Weiterleitung eines Nervenreizes in
der Lage wären; er weiß jedoch ganz genau, was sich da vor seinen Augen abgespielt
hat, und fühlt den unwiderstehlichen Drang, dieses noch nicht in Worte gekleidete Er-
eignis seiner Mutter mitzuteilen. Er rast also in die Küche und ruft, noch ganz atemlos:
»The postman kicked the dog« (Der Postbote hat dem Hund einen Fußtritt gegeben!).
Bemerkenswert an diesem Ausruf ist in erster Linie die Tatsache, daß der Junge nicht
sagt: »The dog kicked the postman«; er hätte allerdings auch sagen können: »Doggy
was kicked by the postman«; er sagt auch nicht: »Was the dog kicked by the postman?«
und vor allen Dingen nicht: »Dog the by was the kicked postman.«
Das angeführte Beispiel besteht aus einem sehr einfachen Satz mit nur vier Wörtern
(»the« kommt zweimal vor). Aber bereits die Umstellung von zwei Wörtern innerhalb
des Satzes führt zu einer radikalen Veränderung der Bedeutung; dagegen bleibt nach ei-
ner noch weitergehenden Satzumstellung und nach Hinzufügen von zwei weiteren

22
Wörtern die ursprüngliche Bedeutung voll erhalten; die meisten der 95 möglichen Um-
stellungen in der ursprünglichen Wortfolge würden jedoch überhaupt keinen Sinn erge-
ben. Eines der Hauptprobleme der Sprachenpsychologie ist die Frage, wie ein Kind je-
mals die vieltausend abstrakten Regeln und Corollarien erlernt, die erforderlich sind, um
sinnvolle Sätze zu gestalten und zu begreifen – Regeln, die weder seine Eltern noch sei-
ne Lehrer noch der Autor und der Leser dieses Buches definieren könnten, die aber
trotzdem ein unfehlbarer Leitfaden für unsere Sprache sind. Die wenigen grammati-
schen Regeln, die das Kind – lange nachdem es zu sprechen gelernt hat – in der Schule
eingebleut kriegt und die es prompt wieder vergißt, sind lediglich deskriptive Aussagen
über die Sprache, nicht aber Rezepte zu deren Gestaltung. Diese Rezepte beziehungs-
weise Formeln entdeckt das Kind – wir wissen nicht, wie – mit Hilfe intuitiver Prozesse
(die vielleicht den unbewußten Folgerungen in schöpferischen Prozessen verwandt
sind); und zwar geschieht dies noch vor Vollendung des vierten Lebensjahres. Zu die-
sem Zeitpunkt »beherrscht das Kind nahezu die gesamte komplexe und abstrakte
Struktur seiner Muttersprache. In einem Zeitraum von wenig mehr als zwei Jahren (sie
beginnen damit gegen Ende des zweiten Lebensjahres) eignen sich also Kinder die
gründliche Kenntnis des grammatikalischen Systems ihrer Muttersprache an. Diese ver-
blüffende geistige Leistung vollbringt jedes Kind im Vorschulalter ganz routinemäßig«
McNeill).21 Ein anderer dem Behaviorismus abtrünnig gewordener Gelehrter, Professor
(M
James Jenkins, stellte im Verlauf unseres Stanford Seminars fest:
Die Tatsache, daß wir ohne weiteres Sätze hervorbringen können, die
wir niemals vorher gehört haben, ist erstaunlich. Die Tatsache, daß
wir die so produzierten Sätze auch verstehen können, grenzt nahezu
an ein Wunder ... Ein Kind kennt nicht den Mechanismus, mit des-
sen Hilfe englische Sätze entstehen; es kann ihn überhaupt gar nicht
kennen. Niemand wird ihm auch davon erzählt haben, denn die mei-
sten von uns sind sich seiner nicht im geringsten bewußt.
Diese Sachverhalte müssen in der Tat so lange wunderbar erscheinen, als wir nicht da-
von loskommen, die Wortkette, die die Sprache darstellt, mit dem stummen Mechanis-
mus zu verwechseln, mit dessen Hilfe Sprache entsteht. Die Schwierigkeit liegt darin
begründet, daß dieser Mechanismus nicht sichtbar in Erscheinung tritt, daß er meist un-
bewußt funktioniert und unerreichbar bleibt für jede Art von Inspektion und Introspek-
tion. Aber die Forschungen der Psycholinguistik haben zumindest gezeigt, daß das ein-
zig vorstellbare Modell für die Darstellung der Formung eines Satzes niemals linear
»von links nach rechts« funktionieren kann, sondern nur in hierarchischer, sich von der
Spitze nach unten hin stufenweise verzweigender Form. Das unten abgebildete Dia-
gramm ist eine leicht modifizierte Version von Noam Chomskys sogenannter
GRAMMATIK FÜR DIE FORMUNG VON SATZSTRUKTUREN.* Das Diagramm stellt den ein-
fachsten Fall einer Satzbildung dar.
* Chomsky hat zwar nicht behauptet, dieses Diagramm zeige die tatsächliche Gestaltung eines Satzes,
doch haben auf Beobachtungen gegründete Analysen
22
der
23
Vorgänge, die sich beim Erlernen des Sprechens
durch Kleinkinder abspielen (Roger Brown, McNeill und andere), die Bestätigung dafür erbracht, daß
das Modell in der Tat die dabei in Aktion tretenden Grundprinzipien darstellt.
Am Scheitelpunkt des Diagramms steht das Symbol I – es kann sich dabei um eine Idee,
um ein visuelles Vorstellungsbild oder um die Absicht handeln, etwas auszusagen; ent-
scheidend ist, daß I noch nicht versprachlicht ist, noch auf seine verbale Artikulierung
wartet. Nennen wir das die I-Phase des Prozesses.*
* Chomsky nennt den Scheitelpunkt S – als Bezeichnung für den ganzen Satz (sentence); dadurch nimmt
aber das Diagramm eher den Charakter eines Modells für eine Satzanalyse als für die Satzgestaltung an.

23
Von hier zweigen die beiden Äste des Baumes ab: Der Handelnde und die von ihm aus-
geführte Handlung, die in der I-Phase noch als untrennbare Einheit empfunden wurden,
werden in zwei verschiedene Kategorien aufgespalten: in den Substantivkomplex und
den Verbkomplex.*
* Die Aufteilung in Substantivkomplex und Verbkomplex ist zweckentsprechender und übersichtlicher,
als das bei den verwandten Kategorien Subjekt und Prädikat der Fall ist.

Abbildung 2: (In Anlehnung an Chomsky.) I = Idee, SK = Substantiv-Komplex,


VK = Verb-Komplex, A = Artikel, S = Substantiv, V = Verb.
Diese Trennungsaktion stellt für das Kind sicherlich so etwas wie ein Bravourstück an
Abstraktionsvermögen dar – wie kann man den Schlag vom Schläger, den »Fußtritt«
vom »Postboten« trennen? –, doch ist sie ein universales Charakteristikum aller uns be-
kannten Sprachen; gerade mit diesem Meisterstück des »abstrahierenden Denkens« be-
ginnt das Kind seine Abenteuerfahrt ins Labyrinth der Sprache zu einem sehr frühen
Zeitpunkt seines jungen Lebens – und das in Sprachen, die voneinander so grundver-
schieden sind wie Japanisch und Englisch.24
Der Verbkomplex spaltet sich seinerseits sofort wieder in Handlung und Objekt auf.
Schließlich werden auch das Substantiv und der Artikel, der vorher irgendwie im Sub-
stantiv mit inbegriffen war, getrennt ausgedrückt. Es stellt für die Introspektion ein recht
heikles Problem dar, exakt festzustellen, in welchem Stadium dieses rapiden, vorwie-
gend unbewußt funktionierenden Prozesses die Wörter selbst auftauchen und ihren an-
gemessenen Platz auf dem laufenden Band der Sprache einnehmen – längs der unteren
Horizontallinie des Diagramms.
Wir alle kennen jene – dem sprachlich Unbeholfenen wie den Berufsschriftstellern glei-
chermaßen vertraute – peinliche Erfahrung, genau zu wissen, was wir sagen wollen,
aber nicht zu wissen, wie wir es ausdrücken sollen: die Suche nach dem rechten Wort,
das genau in die Lücke auf dem laufenden Band hineinpaßt. Das genau entgegenge-
setzte Phänomen ergibt sich, wenn die zu übermittelnde Botschaft sehr einfach ist und
sich in einer feststehenden Redewendung ausdrücken läßt wie etwa: »How do you do?«
oder »Don’t mention it«. Am Lebensbaum der Sprache biegen sich die Zweige unter der
Last derartiger Klischees, die wie Büschel von Bananen an ihnen hängen und die sich –
zum Entzücken aller Behavioristen – auch bündelweise abpflücken lassen. In einem
oftmals zitierten Vortrag bemerkte der Neurologe Lashley:

24
Ein Kollege aus dem Lager des Behaviorismus sagte einmal zu mir,
er habe es so weit gebracht, daß er vor seiner Zuhörerschaft aufs Po-
dium treten, den Mund aufreißen und dann im Schlaf weiterreden
könne. Er glaubte an die »Kettentheorie« der Sprache. Das ... so schloß
Lashley ironisch ... ist ein eindeutiger Beweis für die Überlegenheit des
Behaviorismus gegenüber der introspektiven Psychologie.
Aber die klassische introspektive Methode kam auch nicht viel besser weg. Lashley zi-
tierte im weiteren Verlauf seiner Rede Titchener, den Wortführer der introspektiven
Psychologie um die Jahrhundertwende. Bei der Erläuterung der Rolle von Vorstellungs-
bildern, die er für entscheidend wichtig hielt, hatte Titchener geschrieben:
Wenn ich in einem Vortrag zu einer schwierigen Stelle komme, dann
höre ich meine eigenen Worte schon, bevor ich sie noch ausspre-
che.25
Das mag für den an Lampenfieber leidenden Redner ein Segen sein, aber vom theoreti-
schen Standpunkt aus führt es uns nicht weiter – denn die Frage, wie Worte ins Bewußt-
sein rücken, verlagert sich damit nur auf die weitere Frage, wie Vorstellungsbilder von
Worten ins Bewußtsein rücken.
Beide Antworten – sowohl die des Behavioristen als auch die des Anhängers der intro-
spektiven Methode – weichen dem Kern des Problems aus: wie nämlich Gedanken in
Sprache umgesetzt werden, wie ein ungeformter Ideenblock in kristallinische Fragmente
von spezifischer Form aufgespalten und auf dem Förderband der Sprache von links nach
rechts die Zeitdimension entlanggetragen wird. Der umgekehrte Vorgang vollzieht sich
beim Hörer, der die an ihm vorbeiziehende Wortkette als Grundlage für die Rekon-
struktion des Sprachbaums benutzt, um Sprachlaute in Silben, Wörter in Sätze umzu-
formen. Wenn man dem Sprechenden zuhört, dringt die Kette von Einzelsilben kaum
ins Bewußtsein vor; auch die Wörter des vorangegangenen Satzes entschwinden rasch
dem Bewußtsein, nur ihr Bedeutungsgehalt bleibt erhalten; auch die Sätze erleiden das
gleiche Schicksal: am Tag darauf sind die Zweige und Äste des Baumes wegge-
schrumpft, und nur der Stamm selbst ist übriggeblieben – ein schattenhaftes, generali-
siertes Schema. Beide Prozesse lassen sich graphisch darstellen und zeigen dann, wie
»des Dichters Feder dem luftigen Nichts Gestalt, Namen und festen Platz gibt« (SOM-
MERNACHTSTRAUM); wir können den Prozeß auch in umgekehrter Folge ablaufen las-
sen, um zu zeigen, wie die von der Schreibfeder hinterlassenen Spuren ihre festumrisse-
ne Form verlieren und sich wieder in ätherische Gebilde auflösen. Zwar stellen unsere
Diagramme gültige Regeln dar, aber sie vermitteln nur ein recht oberflächliches Ver-
ständnis dafür, wie ein Kind die Sprache meistern lernt und wie Erwachsene Gedanken
in Luftdruckwellen verwandeln und umgekehrt. Ganz werden wir diese Phänomene
wahrscheinlich nie begreifen, denn beim Prozeß der Sprachformung wirken Faktoren
mit, die sich durch die Sprache selbst nicht ausdrücken lassen; der Versuch, unsere
Sprache zu analysieren, macht uns sprachelos – oder, um mit Wittgenstein zu sprechen:
Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie aus-
drücken.
Dieses Paradoxon ist einer der vielen Aspekte des Geist-Körper-Problems, auf die wir
noch zurückkommen werden; im Augenblick möchte ich nur noch darauf hinweisen,
daß – im Gegensatz zu der starren »Kettentheorie«, nach der der Organismus auf einem
vorbestimmten Pfad entlanggetrieben wird – mit der dynamischen Konzeption vom
wachsenden Baum eine gipfeloffene Hierarchie impliziert wird. Was der Begriff »gip-
feloffen« in diesem Zusammenhang bedeutet, wird sich im weiteren Verlauf dieser Un-
tersuchung noch herausstellen.

25
2.5 »Wie meinen Sie das?«
Wenden wir uns nun wieder kurz der Ambiguität der Sprache zu: sie bietet uns ein er-
stes Beispiel für eine »gipfeloffene« Hierarchie.
Es gibt auf verschiedenen Niveaus der Hierarchie verschiedene Arten von Ambiguitä-
ten. Auf dem untersten Niveau besteht, wie wir sahen, die rein akustische Mehrdeutig-
keit von einzelnen Phonemen, die mit Hilfe ihres Lautspektrogramms gezeigt werden
können. Die Spektrogramme, die dem Tonstreifen eines Tonfilms ähneln, zeigen, daß
zum Beispiel der Übergang zwischen bay, day und gay fließend ist – wie etwa bei den
Farben des Regenbogens – und daß es in erster Linie vom Zusammenhang abhängt, ob
wir das Wort day oder gay heraushören.
Auf dem nächsthöheren Niveau kommen – zusätzlich zu der lautlichen Ambiguität – die
Mehrdeutigkeiten im Bedeutungsgehalt der einzelnen Wörter hinzu. Das Wortspiel, der
Kalauer, aber auch Assonanz und Reim verdanken dieser Art von Ambiguität ihr Da-
sein.
Das nächste Beispiel mag weit hergeholt scheinen, ist jedoch von erheblicher theoreti-
scher Bedeutung für die Linguisten, denn hier werden die Fallstricke der Kettenkonzep-
tion wieder deutlich erkennbar. Der Satz »Junge Knaben und Mädchen mögen Süßig-
keiten gern« klingt durchaus eindeutig. Was geschieht nun, wenn wir ihm den Satz fol-
gen lassen »Junge Knaben und Mädchen haben keine Haare auf der Brust«? Halten wir
uns an das S-R-Schema, dann müßten wir eigentlich zu dem Schluß kommen, daß ältere
Mädchen Haare auf der Brust haben. Denn wir haben im ersten Satz unsere »verbalen
Reizfaktoren« folgendermaßen aufgegliedert: [(Junge) (Knaben und Mädchen)]. Natür-
lich erliegen wir auf Anhieb der Tendenz, im zweiten Satz das gleiche zu tun. Erst spä-
ter bemerken wir dann, daß wir im zweiten Satz die verbalen Reizfaktoren anders auf-
gliedern müssen – nämlich: [(Junge Knaben) (und) (Mädchen)]. Wenn wir aber erst
nach Vollendung der Kette – die auf der Summierung von S-R-Gliedern beruhen soll –
in der Lage sind, die Reizfaktoren richtig einzuschätzen, dann sind wir in einem Circu-
lus vitiosus [Teufelskreis] befangen, und die Theorie vom S-R-Modell fällt in sich zu-
sammen.*
* Mit den Begriffen der symbolischen Logik müßte man das folgendermaßen ausdrücken: Die Reaktion R
auf den ganzen Satz impliziert die Reaktionen r auf seine einzelnen Elemente, die ihrerseits wieder die
Reaktion R auf den ganzen Satz implizieren: R < r < R < r < R und so weiter – das ist eine Variante zum
klassischen Paradoxon vom kretischen Lügner.
Vom Standpunkt des Neuropsychologen gesehen, läßt sich der Tatbestand so zusam-
menfassen, daß Sprechen und Hören vielschichtige Prozesse sind, die auf ständigen
Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen höheren und niederen Funktionsbe-
reichen des Nervensystems beruhen. Daß der Mensch über eine komplexere Gehirnma-
sse verfügt als die Ratte, müssen selbst die Behavioristen einsehen, obwohl sie sich
nicht gerne an diese Tatsache erinnern lassen. Nur infolge der vielschichtigen Wir-
kungsweise des Nervensystems ist der Verstand überhaupt in der Lage, lineare Reizfol-
gen im eindimensionalen Zeitablauf in komplexe, sinnvolle Erlebnisse umzuwandeln –
und umgekehrt: Ideen in Luftschwingungen umzusetzen.
Die bisher erörterten Ambiguitäten entstammen dem phonologischen und dem syntakti-
schen Bereich. Sie lassen sich auf relativ einfache Weise beheben, indem man durch
»Rückfrage« an die nächsthöhere Instanz der Hierarchie den Zusammenhang klarstellt.
Aber all das dient lediglich der Verständlichkeit im rein wörtlichen Sinn; es geht hier
bloß um die erste Stufe auf dem Weg, der immer höher hinaufführt in die weiträumigen
und vielschichtigen Hierarchien des semantischen Bereichs. Ein isoliert für sich stehen-
der Satz läßt keinen Schluß darüber zu, ob man ihn für bare Münze nehmen oder ob
man ihn metaphorisch beziehungsweise ironisch interpretieren soll – das heißt im letzte-

26
ren Fall, ob er nicht das Gegenteil von dem bedeutet, was er scheinbar aussagt; es be-
steht auch die weitere Möglichkeit, daß er eine versteckte Botschaft enthält, wie etwa
jenes »Don’t mention it« im oben wiedergegebenen Dialog. Derartige Ambiguitäten im
Bedeutungsgehalt eines isoliert stehenden Satzes lassen sich ebenfalls nur durch eine
Bezugnahme auf den Zusammenhang klären, in dem der Satz steht – das heißt wieder-
um durch Rückfrage an die nächsthöhere Instanz in der hierarchischen Struktur. Das ist
zum Beispiel der Fall, wenn wir am Ende eines an sich durchaus verständlichen Satzes
die Frage stellen: »Wie meinen Sie das?« Es zeigt sich also, daß Sätze im gleichen Ver-
hältnis zu dem Zusammenhang stehen, in dem sie auftreten, wie Wörter zum Satz und
Phoneme zu Wörtern. Mit jedem Schritt, den wir in der Hierarchie emporsteigen,
scheint der Gipfelpunkt immer weiter zurückzuweichen. In Gesprächen, die sich nur um
relativ triviale Dinge drehen, umfaßt die Hierarchie nur wenige Schichten, und man ist
bald am Ziel. Aber es hat sich gezeigt, daß ein so trivialer Dialog wie der zwischen
»ihm« und »ihr« zu einer regelrechten Pyramide anwachsen kann, die aus direkten Aus-
sagen, deren verhülltem Sinn, der Motivierung dahinter und den Motiven der Motivie-
rung besteht. Einige Psychoanalytiker verwenden den Ausdruck »Metasprache« für den
Bereich dieser höheren Kommunikationsebenen, auf denen man den eigentlichen Be-
deutungsgehalt einer Botschaft nur mit Hilfe einer Serie von Dechiffrier-Operationen
erfassen kann.
Die Serie kann aber auch ins Unendliche konvergieren. Dafür gibt es viele Beispiele in
den fachwissenschaftlichen Abhandlungen von Freud und Jung, in denen die detaillier-
ten Krankheitsgeschichten einzelner Patienten erzählt werden; hier weicht die letzte Be-
deutung der – häufig in der Sprache von Traumbildern vermittelten – Aussagen eines
Patienten mehr und mehr in den verschwommenen Bereich archetypischer Symbole zu-
rück – oder in den des ewigen Kampfes zwischen Eros und Thanatos. Die Hierarchie ist
»gipfeloffen«; ihr Gipfelpunkt weicht mit jedem Schritt, den man auf ihn zu tut, immer
weiter zurück, bis er sich schließlich im Gewölk der Mythologie verliert.
Die Tiefenpsychologie bietet ein gutes Beispiel einer solchen endlosen Serie; sie be-
ginnt mit der Ambiguität der verbalen Mitteilungen des Patienten und weicht bis zur
Urambiguität der Daseinsproblematik zurück. Aber jeder aufwärtsführende Schritt hat
zugleich klärende und kathartische Wirkung, denn er bringt begrenzte Lösungen be-
grenzter Probleme oder führt zu einer sinnvolleren Neuformulierung jener Fragen, die
sich letztlich nicht beantworten lassen.
Andere Beispiele für offene Hierarchien bieten uns die Mathematik, die Erkenntnistheo-
rie und jene Naturwissenschaften, die mit unendlichen Größen in Raum und Zeit operie-
ren müssen. Wenn der Physiker von einer »asymptotischen Annäherung« an die Wahr-
heit spricht, dann gibt er damit ausdrücklich zu, daß die Wissenschaft es mit einer ins
endlos konvergierenden Serie zu tun hat.
Das tut auch der Philosoph, dem es um den Sinn geht und um den Sinn des Sinnes; um
Erkenntnis und Glauben und um die Strukturanalyse von Erkenntnis und Glauben. Es
ist, wie sich gezeigt hat, eine bemerkenswerte Errungenschaft, daß wir wenigstens im-
stande sind, grammatikalisch korrekte Sätze hervorzubringen und zu verstehen, obwohl
wir nicht in der Lage sind, die Regeln zu definieren, die uns zu einer solchen Leistung
befähigen. Aber ebenso wie ein grammatikalisch korrekter Satz an sich noch keine In-
formationen darüber vermittelt, ob er wörtlich oder ironisch verstanden werden soll, so
vermittelt er auch keine Information hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts. Haben wir
die übermittelte Botschaft empfangen, dann erhebt sich also sofort die Frage, ob sie
wahr oder falsch ist. Solange es sich um triviale Dinge handelt, läßt sich diese Frage
wieder relativ leicht beantworten; doch wenn es um philosophische Probleme geht,
taucht bald die nächste Frage auf: was wir eigentlich unter den Begriffen »wahr« und
»falsch« verstehen; und damit klettern wir schon wieder auf der steilen Wendeltreppe in

27
die verdünnte Atmosphäre des Erkenntnistheoretikers empor – bis wir merken, daß die
Treppe kein Ende hat. Mit den Worten von Sir Karl Popper:
Das alte wissenschaftliche Ideal der epistéme – des absolut sicheren,
beweisbaren Wissens – hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung
nach wissenschaftlicher Objektivität hat unweigerlich zur Folge, daß
jede wissenschaftliche Aussage für immer einen provisorischen Cha-
rakter haben muß. Sie mag in der Tat bestätigt werden, aber diese
Bestätigung nimmt ihrerseits wieder Bezug auf andere Aussagen, die
ebenfalls provisorischen Charakter haben ...26

2.6 Regeln, Taktiken und Rückkopplung


Dieses Kapitel war nicht als Einführung in die Linguistik gedacht, sondern als Einfüh-
rung in die Konzeption von der hierarchischen Organisation, wie sie in der Struktur der
Sprache erkennbar wird. Ich habe daher mehrere Faktoren unberücksichtigt gelassen,
die zwar von erheblicher Bedeutung für die linguistische Theorie sind, die aber keinen
direkten Bezug zu unserer Untersuchung haben. Es gibt jedoch noch andere Aspekte des
»Verbalverhaltens«, die unmittelbar mit unserem Thema zusammenhängen und die ich
bisher nicht erwähnt habe; es ist wohl am besten, wenn ich sie an einem konkreten Bei-
spiel erläutere.
Wenden wir uns nochmals kurz den beiden gegensätzlichen, von Lashley zitierten Re-
zepten für das Ausarbeiten eines Vortrags zu. Vielleicht kann ein amerikanischer Politi-
ker auf einer Wahlreise tatsächlich »seinen Mund aufreißen und dann einfach im Schlaf
reden«. Ebenso kann ein Barpianist seine Finger in Bewegung setzen und dann »im
Schlaf weiterspielen«. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Routinefunktionen,
die auf Grund langgeübter Praxis automatischen Charakter angenommen haben und die
daher kaum als Antwort auf die Frage gelten können, wie man einen Vortrag ausarbei-
tet, in welchem man etwas Neues sagen möchte. Wir können uns auch nicht auf das
entgegengesetzte Rezept verlassen und uns einfach der Führung unserer inneren Stimme
anvertrauen – etwa wie ein Medium im Trancezustand. Wie also geht man in Wirklich-
keit bei der Ausarbeitung eines Vortrags zu Werke?
Nehmen wir an, es handle sich bei dem Vortragenden um einen Geschichtsprofessor,
der eingeladen wurde, eine Gastvorlesung an einer amerikanischen Universität zu hal-
ten. Nehmen wir ferner an, es sei ihm überlassen worden, sein Thema frei zu wählen,
und er wählt sein Lieblingsthema aus; dabei wollen wir es bewenden lassen, um ein
weiteres, endloses Zurückweichen in seine Motivierung, seine Persönlichkeit und seine
Kindheitserlebnisse zu vermeiden. Unser Professor entschließt sich also zu dem Thema
»Ungelöste Probleme der Schriftrollen vom Toten Meer« – denn er ist davon überzeugt,
daß er allein den Schlüssel zur Lösung dieser Probleme gefunden hat. Aber wie soll er
es anstellen, auch seine Zuhörer von diesem Sachverhalt zu überzeugen? Zunächst muß
er sich entscheiden, ob er seine Lieblingstheorie in offener und unpolemischer Form
vorbringen will oder ob er darlegen soll, warum und inwieweit alle anderen diesbezüg-
lichen Theorien falsch sind. Hier handelt es sich um eine rein taktische Erwägung: um
die Wahl unter mehreren Möglichkeiten, der Zuhörerschaft dieselbe Botschaft nahezu-
bringen. In jeder weiteren Phase seiner Vorbereitung sieht er sich immer wieder mit sol-
chen taktischen Auswahlmöglichkeiten konfrontiert.
Schließlich entscheidet er sich für die direkte, unpolemische Methode, denn er weiß, mit
welcher Art von Zuhörerschaft er es zu tun haben wird, und er möchte es sich mit ihr
nicht verderben. Mit anderen Worten: seine Taktik wird vom feedback bestimmt – einer
Art Rückkoppelung –, vom Echo, das seine Worte bei seiner Zuhörerschaft auslösen –
obwohl es sich vorerst nur um ein vorweggenommenes Echo von seiten einer imaginä-
ren Zuhörerschaft handelt.

28
Halten wir ausdrücklich fest, daß das Treffen von Entscheidungen in diesem Stadium
noch keine irgendwie gearteten verbalen Formulierungen erforderlich macht; bisher
mögen vage visuelle Vorstellungsbilder ausreichend gewesen sein. Eine Umfrage bei
Wissenschaftlern hat ergeben, daß in den entscheidenden Phasen des schöpferischen
Denkens Vorstellungselemente visueller, ja sogar solche motorischer Natur gegenüber
dem verbalen Denken eine entscheidend übergeordnete Rolle spielen.
Als nächstes kommt das mißliche Problem der »Organisation des Stoffes« an die Reihe
– mißlich deswegen, weil die verschiedenen Aspekte des Problems, das Durcheinander
des vorhandenen Tatsachenmaterials und das Durcheinander der vorliegenden Interpre-
tation, allesamt miteinander verbunden sind wie die zahllosen miteinander verknüpften
Fäden in einem Perserteppich. Unser Professor kennt das Muster des Teppichs sehr
wohl; aber wie kann er das Muster seinen Zuhörern vermitteln, wenn er die Fäden ein-
zeln herausziehen muß, um sie dann nacheinander zu erläutern? Hier zeichnet sich be-
reits das Problem der Ordnung in der zeitlichen Folge ab, obwohl der Professor immer
noch erst im Bereich von vagen Vorstellungsbildern befangen sein mag.
Schließlich gelingt es ihm, seinen Stoff provisorisch zu ordnen, und zwar aufgeteilt in
eine Reihe von Kapiteln und Unterkapiteln, die er innerhalb seines Konzepts hin und
her schiebt, als handle es sich hier um kompakte Bausteine. Jeder von diesen Bausteinen
wird vorerst vielleicht nur durch ein rasch hingeworfenes Stichwort repräsentiert. Auch
das scheint im Grunde genommen ganz einfach zu sein, aber je länger man darüber
nachdenkt, um so rätselhafter erscheint einem das Wesen dieser Bausteine. William Ja-
mes gab dem Problem in der folgenden bemerkenswerten Passage Ausdruck:
... Hat sich der Leser niemals selbst die Frage vorgelegt, was für eine
Art geistiges Faktum seine Intention darstellt, etwas zu sagen, bevor
er es effektiv gesagt hat? Es ist eine durchaus präzise Intention, ver-
schieden von allen anderen Intentionen und daher ein absolut indi-
viduell ausgeprägter Bewußtseinszustand; und dennoch, wieviel da-
von besteht aus präzisen sensorischen Vorstellungsbildern von
Worten oder Dingen? Kaum irgend etwas! ... Und was können wir
darüber aussagen, ohne dabei Worte zu gebrauchen, die zu den
späteren geistigen Fakten gehören, die dann an die Stelle dieses Be-
wußtseinszustandes treten? Die Intention, das und das zu sagen, ist
die einzige passende Bezeichnung für dieses Phänomen. Man muß
wohl zugeben, daß gut ein Drittel unseres psychischen Lebens aus
solchen rasch auftauchenden, vorgeahnten perspektivischen Aus-
blicken auf Gedankenschemen besteht, die noch auf ihre (verbale)
Artikulierung warten.27
Jetzt ist endlich der Zeitpunkt gekommen, in welchem sich die Samen dieser Intentio-
nen gewissermaßen zu jungen Bäumen zu entfalten beginnen, die sich dann in Ab-
schnitte, Unterabschnitte und so weiter verzweigen: es geht um die Auswahl des vorzu-
tragenden Beweismaterials, der Illustrationen, der Erläuterungen und der einzustreuen-
den Anekdoten, und aus jeder dieser Prozeduren ergeben sich wieder weitere taktische
Auswahlmöglichkeiten. An jedem Abzweigungspunkt des ständig wachsenden Baumes
werden immer weitere Details eingesetzt, bis schließlich die syntaktische Schicht der
hierarchischen Struktur erreicht wird; der satzgestaltende Mechanismus tritt jetzt in Ak-
tion, die einzelnen Wörter werden an den passenden Stellen eingesetzt – einige ganz
mühelos, andere erst nach peinlichem Suchen; zum Schluß werden sie dann in struktu-
rell festgelegte Muskelbewegungen der Finger transponiert, die eine Schreibfeder über
das Papier gleiten lassen; das Wort ist Fleisch geworden.
Natürlich vollzieht sich dieser Prozeß niemals so glatt und geordnet, wie er hier darge-
stellt wurde; Bäume wachsen gewöhnlich nicht auf streng symmetrische Weise. In unse-
rem schematisierten Bericht findet die Auswahl der zu verwendenden Wörter erst in ei-
nem fortgeschrittenen Stadium des Gesamtprozesses statt, dann nämlich, wenn die Ent-

29
scheidung über den Generalplan und die Ordnungsstruktur des Stoffes bereits gefallen
ist und wenn die Knospen des Baumes schon bereit sind, in der vorgesehenen Reihen-
folge von links nach rechts aufzubrechen. In Wirklichkeit kann es aber durchaus vor-
kommen, daß irgendein Zweig in der Mitte des Sprachbaumes bereits in Wortblüten
ausbricht, während andere in ihrem Wachstum noch erheblich zurückgeblieben sind.
Zwar stimmt es, daß die Idee beziehungsweise die »Intention, etwas Bestimmtes zu sa-
gen« dem eigentlichen Prozeß der Verbalisierung vorausgeht; aber ebenso muß man
auch sagen, daß Ideen häufig nur rein ätherische Gebilde bleiben, bis sie sich zu verba-
len Konzeptionen verdichten und greifbare Gestalt annehmen. Darin liegt natürlich die
unvergleichliche Überlegenheit der Sprache gegenüber primitiveren Formen geistiger
Aktivität; aber diese Tatsache rechtfertigt nicht den Trugschluß, die Sprache mit dem
Denkvorgang zu identifizieren und die Bedeutung nichtverbaler Vorstellungsbilder und
Symbole – besonders im schöpferischen Denkprozeß von Künstlern und Wissenschaft-
lern – zu leugnen. Gelegentlich kommt es vor, daß unser Professor genau weiß, was er
sagen will, daß er dafür aber nicht die richtige Formulierung findet; bei anderen Gele-
genheiten dagegen kann er, was er sagen will, nur mit Hilfe von deutlichen und präzisen
verbalen Formulierungen herausfinden. Wenn Alice im Wunderland ermahnt wird,
sorgfältig nachzudenken, bevor sie zu sprechen beginnt, erklärt sie: »Wie kann ich wis-
sen, was ich denke, bevor ich sehe, was ich sage?« Häufig wird eine vielversprechende
Intuition allein dadurch im Keim erstickt, daß sie allzufrüh dem Säurebad verbaler De-
finitionen ausgesetzt wird; andere Intuitionen hingegen kommen möglicherweise ohne
eine solche Prozedur überhaupt nicht zur Entfaltung.
Wir müssen also unser allzu simplifiziertes Schema etwas modifizieren: an Stelle des
symmetrisch wachsenden Baumes mit sich ständig weiter ausbreitenden Zweigen haben
wir es in Wirklichkeit mit einem unregelmäßigen Wachstum und einer ständigen Oszil-
lation zwischen verschiedenen Höhenlagen des Sprachbaumes zu tun. Die Umwandlung
von Gedanken in Sprache vollzieht sich nicht auf einer Einbahnstraße; der Lebenssaft
des Baumes fließt in beiden Richtungen, zu den Zweigen hin und von den Zweigen
wieder zurück. Die ganze Prozedur wird außerdem noch dadurch weiter kompliziert und
gelegentlich an den Rand eines totalen Zusammenbruchs gebracht, daß unser Professor
die bedauerliche Neigung zeigt, ständig zu korrigieren und zu radieren sowie ganze –
von Blüten übersäte – Äste des Baumes einfach abzuhacken und sie dann von neuem
wachsen zu lassen. Der Behaviorist bezeichnet ein solches Verhalten als Prinzip von
»Versuch und Irrtum« und vergleicht es mit dem Verhalten von Ratten, die ziellos in
den Sackgassen eines Labyrinths hin und her rennen; in Wirklichkeit ist natürlich die
Suche nach dem mot juste alles andere als ziellos!
Würde es sich bei unserer Versuchsperson nicht um einen Historiker, sondern um einen
Dichter handeln, dann wäre das Problem noch wesentlich komplizierter. Ein Dichter
müßte nämlich zwei Herren dienen – einerseits dem Sinn des Gesagten, anderseits dem
Diktat von Rhythmus, Metrik und Euphonie [Wohlklang]. Aber obwohl unser Professor
in Prosa schreibt, werden doch auch bei ihm Wortwahl und Satzgestaltung von stilisti-
schen Kriterien beeinflußt. Komplexe Betätigungen reichen häufig in mehr als eine
hierarchische Ordnung hinein – gleichsam in Bäume mit ineinander verschlungenen
Ästen –, und jede von ihnen wird von eigenen Regeln und Wertkriterien kontrolliert:
Bedeutungsgehalt und Euphonie, Form und Funktion, Melodie und Instrumentierung
und so fort.
Diese Ausführungen reichen aus, um einige der Probleme anklingen zu lassen, die die
menschliche Sprache für uns aufwirft. Nun haben aber auch die Behavioristen die An-
gewohnheit, Vorträge auszuarbeiten und sogar Bücher zu schreiben; zweifellos müssen
sie also mit den Schwierigkeiten und Verwicklungen dieses Prozesses vertraut sein.
Wenn sie aber das »Verbalverhalten« erörtern, dann tun sie so, als hätten sie das alles
vergessen oder verdrängt.

30
2.7 Zusammenfassung
Wo sollen wir denn nach den Atomen der Sprache suchen – im Phonem e? Im Diagraph
en? Im Morphem men? Im Wort mention? Oder in der Wortgruppe Don’t mention it?
Jede dieser Enitäten hat zwei Aspekte. Sie ist ein Ganzes, bezogen auf die einzelnen
Teile, aus denen sie selbst besteht, sie ist aber gleichzeitig auch selbst Teil eines größe-
ren Ganzen auf dem nächsthöheren Niveau der Hierarchie. Sie ist zugleich ein Teil und
ein einheitliches Ganzes – also eine Sub-Einheit. Wie sich noch zeigen wird, besteht ei-
nes der charakteristischen Merkmale aller Hierarchien darin, daß sie nicht Aggregate
sind, die sich aus Elementarbestandteilen zusammensetzen, sondern daß sie aus Sub-
Einheiten bestehen, die sich ihrerseits wieder in Sub-Sub-Einheiten aufzweigen. Dies ist
der erste Kernpunkt von allgemeiner Gültigkeit, den wir uns aus der vorangegangenen
Erörterung merken müssen. Ich muß jetzt noch einige weitere charakteristische Merk-
male der Sprache erwähnen, die die gleiche universale Gültigkeit für hierarchische Sy-
steme aller Art haben.
Die »aktive Sprache« (im Gegensatz zur »passiven Sprache«, das heißt dem Hören) be-
steht in der schrittweisen Differenzierung, Artikulierung und Konkretisierung von ur-
sprünglich unartikulierten, nur in allgemeine Formen gekleideten Intentionen. Das
Sichverzweigen des Baumes ist ein Symbol für diesen sich stufenweise vollziehenden
hierarchischen Prozeß, in dessen Verlauf eine nur implizierte Idee konkretisiert und zum
expliziten Ausdruck gebracht wird; ein Prozeß, der die latente Energie des Gedankens
in die kinetische Energie der Stimmbänder umsetzt. Man hat diesen Vorgang mit der
Entwicklung des Embryos verglichen: Im befruchteten Ei sind potentiell alle Entwick-
lungsmöglichkeiten des zukünftigen Individuums enthalten; sie werden dann in einer
stufenweisen Folge von Differenzierungsphasen zum Tragen gebracht.
Man könnte diesen Prozeß auch gut mit dem Prozeß der stufenweisen Ausführung eines
militärischen Befehls vergleichen: Der allgemein gehaltene Befehl »Die Achte Armee
rückt in Richtung Tobruk vor« wird von der Spitze der Hierarchie ausgegeben; er wird
dann von jeder nachgeordneten Kommandostelle auf den unteren Stufen der Militär-
hierarchie mit immer neuen Details weiter konkretisiert. Außerdem wird sich zeigen,
daß sich die Ausübung jeder Fertigkeit – sei sie nun instinktiver Natur, wie der Nestbau
der Vögel, oder durch Lernen erworben, wie die meisten menschlichen Fähigkeiten –
nach dem gleichen Prinzip vollzieht: eine allgemein gehaltene Aufgabestellung wird mit
Hilfe einer hierarchisch geordneten Folge von Einzelschritten zur konkreten Ausfüh-
rung gebracht.
Der nächste Punkt, den wir behalten wollen, ist, daß jeder Schritt vorwärts, den unser
imaginärer Professor tut, von festgesetzten Regeln bestimmt war; diese ließen jedoch
noch genügend Spielraum für flexible Taktiken übrig, die ihrerseits wieder von feed-
backs – Rückempfindungen – des eigenen Handlungserfolges gesteuert wurden. Auf
den obersten Stufen der Hierarchie sind die ziemlich esoterischen Regeln wirksam, die
für das Abfassen akademischer Abhandlungen gelten; auf der nächstliegenden Stufe die
Regeln für die Gestaltung grammatikalisch korrekter Sätze, und zuletzt schließlich die-
jenigen Regeln, die die Tätigkeit unserer Stimmbänder regulieren. Aber auf jeder ein-
zelnen Stufe der Hierarchie gibt es eine Vielzahl von taktischen Auswahlmöglichkeiten:
von der Auswahl und Anordnung des Stoffes über die Wahl von bestimmten Metaphern
und Adjektiven bis hinab zu den verschiedenen Modulationsmöglichkeiten einzelner
Vokale.
Wenn wir von feststehenden Regeln und flexiblen Taktiken sprechen, dann müssen wir
zwischen diesen beiden Faktoren noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal hervorhe-
ben. Die festen Regeln funktionieren auf jeder Stufe mehr oder minder automatisch, das
heißt unbewußt oder doch zumindest vorbewußt in den Dämmerzonen der Bewußtheit;
dagegen werden die taktischen Auswahlmöglichkeiten meist vom hellen Strahl des fo-
kalen Bewußtseins beleuchtet. Der Mechanismus, der noch unartikulierte Gedanken in

31
grammatikalisch korrekte Kanäle lenkt, funktioniert unbewußt; das gleiche gilt für den
Mechanismus, der das korrekte Funktionieren unserer Stimmbänder sicherstellt, und
ebenso für denjenigen, der die Logik des »gesunden Menschenverstandes« und unsere
speziellen Denkgewohnheiten kontrolliert. Wir machen uns kaum jemals die Mühe, uns
diese lautlos arbeitenden Mechanismen näher anzusehen; aber selbst wenn wir das ver-
suchen, sind wir doch nicht imstande, ihre Wirkungsweise zu beschreiben oder die ih-
nen zugrunde liegenden Regeln zu definieren; und doch handelt es sich hier um die Re-
geln der Sprache und des Denkens, denen wir blind gehorchen. Wenn sie einige verbor-
gene Axiome oder eingeprägte Vorurteile enthalten – dann ist das um so schlimmer für
uns.
Die Sprache und Denkweise des Einzelnen sind also von festen Regeln beherrscht und
insoweit – und nur insoweit – auch von Automatismen jenseits der Bewußtseinskon-
trolle bestimmt. Spiele wie Schach oder Bridge werden von festgelegten Regeln be-
herrscht, aber sie lassen für den Spieler praktisch bei jedem Zug eine Anzahl von takti-
schen Auswahlmöglichkeiten offen. Diese Auswahlmöglichkeiten werden natürlich ih-
rerseits wieder von »höheren Erwägungen« bestimmt – der Nachdruck liegt dabei auf
»höher«. Jede Wahl ist in dem Sinne »frei«, daß sie nicht von den Spielregeln selbst be-
stimmt wird, sondern von einer anderen Ordnung »taktischer Richtlinien« auf einer hö-
heren Stufe der Hierarchie – und diese Richtlinien haben ihrerseits einen noch weit grö-
ßeren Unbestimmtheitsspielraum. Wir befinden uns auch hier wieder auf dem Weg ei-
ner unendlichen Regression, ähnlich wie das bei den verschiedenen Arten von Ambi-
guitäten im sprachlichen Bereich der Fall war, von denen jede einzelne nur mit Hilfe ei-
nes Appells an die nächsthöhere Instanz der gipfeloffenen Hierarchie geklärt werden
kann. Diese Erwägungen führen offensichtlich zum Problem der Freien Wahl, das in
Kapitel 14 eingehender zu erörtern sein wird.
Zum Abschluß wollen wir uns noch einmal dem behavioristischen Redner zuwenden,
der seinen Mund aufreißt und dann schlafen geht. Ich habe ihn mit einem Barpianisten
verglichen, der ein populäres Lied herunterklimpert. In beiden Fällen löst ein einfaches
Kommando einer höheren Instanz der Hierarchie eine mehr oder minder mechanische
Tätigkeit aus, die nach einem vorbestimmten Muster abläuft. Der Pianist braucht bloß
sich selbst das Kommando »La Cucaracha« zu erteilen, so wie man auf einen bestimm-
ten Knopf drückt, und seine Finger besorgen dann automatisch den Rest. Aber selbst bei
dieser Routineprozedur entwickelt er nicht einfach eine S-R-Kette, wobei das Nieder-
drücken einer Klaviertaste als Reizfaktor für das Niederdrücken der nächsten Taste fun-
giert. Denn als geübter Barpianist ist er durchaus in der Lage – auch wieder auf einen
einzelnen auslösenden Befehl hin –, das ganze eben gespielte Stück von C-Dur in d-
Moll zu transponieren – und in dieser Tonart bilden die Tasten und Intervalle eine völlig
andere Kette. Die feststehende Spielregel stellt im vorliegenden Fall die Melodiestruk-
tur dar; die Wahl der Tonart – ebenso der Rhythmus, die Phrasierung, die Synkopierung
und so weiter – fällt hier in den Bereich der flexiblen Taktik.
Das Übertragen eines nur implizierten Befehls in konkrete Aktionen macht häufig von
derartigen Auslöser-Operationen Gebrauch, wobei ein relativ einfacher Befehl einer
»höheren Instanz« komplexe, koordinierte Bewegungsmuster aktiviert. Diese sind aber
nicht starre Automatismen, sondern flexible Dispositionen, die eine Vielzahl von alter-
nativen Auswahlmöglichkeiten offenlassen. Das Händeschütteln oder das Anzünden ei-
ner Zigarette sind Routinetätigkeiten, die häufig ganz unbewußt und rein mechanisch
vollzogen werden, bei denen es aber in der Ausführung dennoch eine Unzahl von Va-
riationen gibt. Ich brauchte nur auf einen Knopf in meinem Hirn zu drücken, und ich
könnte dann diesen Satz französisch oder ungarisch weiterschreiben; das bedeutet je-
doch nicht notwendigerweise, daß ich so etwas wie ein Musikautomat bin.

32
3 Das Holon
Ich bitte den Leser, daran zu denken,
daß gerade bei den augenfälligsten Dingen
eine Analyse höchst lohnend sein kann.
Untersucht man alltägliche Fakten
aus einer neuen Perspektive heraus,
dann können sich
fruchtbare neue Ausblicke eröffnen.
L. L. Whyte
Die Konzeption von der hierarchischen Ordnung hat für dieses Buch zentrale Bedeu-
tung; damit der Leser nun nicht auf den Gedanken verfällt, ich frönte hier einem priva-
ten Hobby, kann ich ihm versichern, daß diese Konzeption eine lange und respektable
Vorgeschichte hat. Anhänger orthodoxer Vorstellungen sind sogar geneigt, sie verächt-
lich als »alten Hut« zu bezeichnen – und im selben Atemzug ihre Gültigkeit zu bestrei-
ten. Ich hoffe aber, im Verlauf dieser Untersuchungen zu zeigen, daß man aus diesem
alten Hut, wenn man ihn ein wenig liebevoll behandelt, sehr wohl lebendige Kaninchen
hervorholen kann.*
* Vor mehr als dreißig Jahren schrieb Needham: »Die Hierarchie der Beziehungen, von der Molekular-
struktur von Kohlenstoffverbindungen bis hin zum Aquilibrium einzelner Arten und ökologischer
28
Ge-
samtkomplexe, wird vermutlich eines Tages die beherrschende Idee der Zukunft sein.« Aber in den
meisten modernen Lehrbüchern der Psychologie und der Biologie taucht das Wort »Hierarchie« nicht
einmal im Sachregister auf.

3.1 Die Parabel von den beiden Uhrmachern


Wir wollen mit einer Parabel beginnen. Ich verdanke sie Professor H. A. Simon, aber
ich habe mir die Freiheit genommen, sie etwas auszubauen.29
Es lebten einmal zwei Schweizer Uhrmacher; sie hießen Bios und Mechos und machten
sehr schöne und teure Uhren. Ihre Namen mögen etwas seltsam klingen, aber ihre Väter
konnten ein wenig Griechisch und hatten außerdem eine Vorliebe für Rebusse. Zwar
war die Nachfrage nach den Uhren der beiden gleich groß, aber nur Bios wurde wohl-
habend; Mechos dagegen konnte sich nur eben über Wasser halten; er sah sich schließ-
lich gezwungen, seinen Laden zu schließen und als Mechaniker in die Dienste von Bios
zu treten. Die Bewohner der Stadt diskutierten lange über die Ursachen dieser Ent-
wicklung, und jeder brachte eine andere Theorie vor; schließlich sickerte eines Tages
der wahre Grund durch, und es zeigte sich, daß er ebenso einfach wie verblüffend war.
Die Uhren, welche die beiden herstellten, bestanden jeweils aus etwa tausend Einzel-
teilen; beim Zusammensetzen dieser Einzelteile hatten sich jedoch die beiden Rivalen
unterschiedlicher Methoden bedient. Mechos hatte seine Uhren Stück für Stück zusam-
mengesetzt – so wie man etwa einen Mosaikfußboden aus lauter kleinen bunten Steinen
zusammenfügt. Jedesmal wenn er bei seiner Arbeit gestört wurde und eine bereits teil-
weise zusammengesetzte Uhr beiseite legen mußte, fiel sie auseinander, und er mußte
mit seiner Arbeit wieder ganz von vorne beginnen.
Bios dagegen hatte sich eine Methode ausgedacht, mit deren Hilfe er die Uhren so kon-
struierte, daß er zunächst aus jeweils etwa zehn Einzelkomponenten bestehende Teilge-
bilde montieren konnte, die als selbständige Werkeinheit zusammenhielten und, wenn
man sie beiseite legte, nicht wieder auseinanderfielen. Zehn dieser Teilgebilde ließen
sich dann ihrerseits wieder zu einem Teilsystem höherer Ordnung zusammensetzen, und
aus zehn solchen Teilsystemen setzte sich schließlich die ganze Uhr zusammen.

33
Wie sich herausstellte, hatte diese Methode zwei bedeutende Vorteile. Der erste war
folgender: Jedesmal wenn Bios in seiner Arbeit unterbrochen wurde und die Uhr, an der
er gerade arbeitete, beiseite legen oder sogar fallen lassen mußte, zerfiel sie nicht gleich
in ihre einzelnen Elementarbestandteile; er mußte nachher also nicht wieder ganz von
vorne mit der Arbeit beginnen, sondern brauchte jeweils nur das Teilgebilde wieder zu-
sammenzusetzen, an welchem er bei der Unterbrechung gerade gearbeitet hatte;
schlimmstenfalls (wenn nämlich die Unterbrechung zu einem Zeitpunkt eintrat, da er
das gerade in seinen Händen befindliche Teilgebilde nahezu vollendet hatte) mußte er
neun Arbeitsgänge beim Zusammensetzen wiederholen, bestenfalls brauchte er keinen
einzigen zu wiederholen. Es ist nun ein leichtes, rein mathematisch nachzuweisen, daß
Mechos, wenn eine Uhr aus tausend Einzelteilen besteht und es durchschnittlich einmal
bei jedem der hundert Arbeitsgänge des Zusammensetzens der Teile zu einer Unterbre-
chung kommt, für die Montage der ganzen Uhr viertausendmal mehr Zeit brauchen
würde als Bios. Statt eines einzigen Tages benötigt er volle elf Jahre. Setzen wir an
Stelle der mechanischen Einzelteile Aminosäuren, Proteinmoleküle, Organellen und so
weiter, dann erreicht die Verhältniszahl zwischen den beiden Zeitmaßstäben eine gera-
dezu astronomische Höhe; einige Berechnungen30 lassen darauf schließen, daß nicht
einmal die gesamte Erdgeschichte für Mechos ausreichen würde, um auch nur eine
Amöbe zu produzieren – es sei denn, er ginge zu Bios’ hierarchischer Methode über,
aus einfacheren Teilgebilden komplexere Teilgebilde zu konstruieren. Simon kommt zu
dem Schluß:
Komplexe Systeme entwickeln sich aus einfacheren Systemen we-
sentlich rascher, wenn es stabile Zwischenformen gibt, als wenn die-
se Voraussetzung nicht zutrifft. Im erstgenannten Fall zeigen die
schließlich entstehenden komplexen Formen hierarchische Struktur.
Kehren wir dieses Argument um, dann haben wir eine einleuchtende
Erklärung dafür, daß unter den komplexen Systemen, die wir in der
Natur antreffen, diejenigen mit hierarchischer Struktur erwiesener-
maßen dominieren. Unter den möglichen komplexen Formen haben
nur die hierarchisch strukturierten ausreichend Zeit für ihre evolu-
tionäre Entwicklung gehabt.«31
Der zweite Vorteil von Bios’ Methode besteht natürlich darin, daß das fertige Produkt
ungleich widerstandsfähiger ist und sich leichter warten, regulieren und reparieren läßt,
als Mechos’ instabiles Mosaikwerk, das sich aus zahllosen einzelnen Elementarteilen
zusammensetzt. Was für Lebensformen sich auf anderen Planeten im Universum ent-
wickelt haben, wissen wir nicht, aber eines können wir mit Sicherheit sagen: Lebenssy-
steme, wo immer sie auch vorkommen mögen, müssen hierarchisch organisiert sein.

34
3.2 Der Janus-Effekt
Betrachten wir die Form irgendeiner sozialen Organisation von einiger Kohärenz und
Stabilität – vom Insektenstaat bis zum Pentagon –, dann werden wir stets finden, daß sie
eine hierarchische Struktur hat. Das gleiche gilt auch für die Struktur der lebenden Or-
ganismen und für ihre Funktionsweise – von rein instinktiven Verhaltensweisen bis zu
den komplexen Fertigkeiten des Klavierspielens und der Sprache. Und es gilt ebenso für
alle Prozesse des Werdens: Phylogenese [Stammesentwicklung], Ontogenese [Einzelent-
wicklung] und Wissenserwerb. Soll aber der sich verzweigende Baum mehr sein als nur
eine oberflächliche Analogie, dann muß es gewisse Prinzipien beziehungsweise Gesetze
geben, die sowohl für alle Stufen einer bestimmten Hierarchie als auch für alle ver-
schiedenen Arten von Hierarchien gültig sind – mit anderen Worten: es müßte sich mit
ihrer Hilfe die Bedeutung des Begriffs »hierarchische Ordnung« klar definieren lassen.
Einige dieser Prinzipien werde ich auf den folgenden Seiten in groben Zügen darlegen.
Sie mögen auf den ersten Blick ein wenig abstrakt scheinen, aber alle zusammenge-
nommen werfen doch neues Licht auf einige alte Probleme.
Das erste universale Charakteristikum aller Hierarchien ist die Relativität – und Ambi-
guität der Begriffe »Teil« und »Ganzes«, wenn man sie auf irgendeines der zur Hierar-
chie gehörenden Teilgebilde anwendet. Gerade weil diese Tatsache so augenfällig ist,
neigen wir leicht dazu, die mit ihr verbundenen Implikationen zu übersehen. Ein »Teil«
bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch soviel wie: etwas Fragmentarisches und Un-
vollständiges, das aus sich selbst keine legitime Existenzberechtigung ableiten könnte.
Anderseits betrachten wir ein »Ganzes« als etwas, was in sich vollkommen abgeschlos-
sen ist und keiner weiteren Erklärung bedarf. Aber im Grunde gibt es nirgendwo »Gan-
ze« und »Teile« in diesem absoluten Sinn des Wortes, und zwar weder im Bereich der
lebenden Organismen noch in dem der sozialen Organisationen. Was wir vorfinden,
sind intermediäre Strukturen auf allen Stufen der Hierarchie, die mit jeder Stufe auf-
wärts komplexer werden: Sub-Einheiten, die – je nachdem, wie man sie betrachtet –
gewisse Eigenschaften aufweisen, die ganzheitlich, und andere, die fragmentarisch sind.
Wir haben festgestellt, daß es unmöglich ist, die Sprache in elementare oder atomare
Einheiten aufzuspalten; Phoneme, Wörter und Sätze sind autonome Ganze, zugleich
aber auch Bestandteile höherer Einheiten; und das gleiche gilt für Zellen, Gewebe und
Organe wie auch für Familien, Sippen und Stämme. Die Sub-Einheiten einer Hierarchie
haben – wie der römische Gott Janus – jeweils zwei Gesichter, die in entgegengesetzte
Richtungen blicken; das den untergeordneten Teilen zugewandte Gesicht zeigt die Züge
eines in sich geschlossenen Ganzen; das aufwärts zum Gipfel der Hierarchie gerichtete
die eines abhängigen Teilgebildes. Eines ist das Gesicht des Herrn und Meisters, das
andere das des Dieners. Dieser Janus-Effekt ist ein fundamentales Charakteristikum der
Sub-Einheiten in allen Arten von Hierarchien.
Unser Wortschatz hat leider kein passendes Wort für diese janusgesichtigen Entitäten;
von Sub-Einheiten, Sub-Strukturen oder Sub-Systemen zu reden ist mühsam und
schwerfällig. Ich habe daher zur Bezeichnung der Komponenten einer Hierarchie, die
sich – je nach der Betrachtungsweise – als Ganzheiten oder als Teile verhalten, das
Wort »Holon« vorgeschlagen, nach dem griechischen hólos = ganz; das Suffix on deutet
dabei – wie in den Wörtern Proton und Neutron – auf den Teil- beziehungsweise Parti-
kelcharakter hin.
»Man prägt«, so schrieb Ben Jonson, »ein neues Wort nicht ohne Gefahr; wird es ak-
zeptiert, dann ist die Anerkennung, die man erhält, recht mäßig; wird es aber abgelehnt,
dann ist der Spott, den man erntet, beträchtlich.« Ich glaube aber, das »Holon« lohnt
dieses Risiko, denn es kommt einem echten Bedürfnis entgegen. Es symbolisiert zu-
gleich das fehlende Bindeglied – oder, besser gesagt, eine ganze Reihe von Bindeglie-

35
dern – zwischen der atomistischen Auffassung der Behavioristen und der holistischen –
ganzheitstheoretischen – Auffassung der Gestaltpsychologen.
Die Schule der Gestaltpsychologie hat unser Wissen um die visuelle Wahrnehmung be-
trächtlich bereichert, und es ist ihr gelungen, die starre Haltung ihrer Gegner bis zu ei-
nem gewissen Grad aufzulockern. Trotz ihrer bleibenden Verdienste stellte sich jedoch
heraus, daß der »Holismus« in seiner generellen Einstellung zur Psychologie kaum we-
niger einseitig war als der Atomismus, denn beide behandelten »Ganze« und »Teile« als
absolute Entitäten, und beide ließen den hierarchischen Aufbau der intermediären
Strukturen von Teilganzen außer Betracht. Ersetzen wir für einen Augenblick das Sym-
bol des umgekehrt dargestellten Baumes durch das Symbol der Pyramide, dann sieht es
aus, als ob die Behavioristen niemals über die unterste Steinschicht hinausgelangten und
die Holisten niemals vom Gipfelpunkt der Pyramide herunterkämen. Der Begriff der
»Ganzheit« erwies sich in der Tat als ebenso unbefriedigend wie derjenige der unteilba-
ren Elementarpartikel; und wenn der Gestaltpsychologe das Phänomen der Sprache er-
örtert, dann befindet er sich im gleichen Dilemma wie der Behaviorist. Sätze, Wörter,
Silben und Phoneme sind weder Teile noch Ganze, sondern Holons.
Der Dualismus »Teil und Ganzes« ist in unseren unbewußten Denkgewohnheiten tief
eingewurzelt. Es wäre sehr vorteilhaft für unser geistiges Blickfeld, wenn es uns gelän-
ge, uns von ihm zu befreien.

36
3.3 Soziale Holons
In Kapitel 2 habe ich die hierarchische Struktur der Sprache erörtert. Wir wollen uns
nun für eine Weile einer ganz anderen Art von Hierarchie zuwenden, nämlich der
Struktur der Gesellschaft.
Als biologischer Organismus betrachtet, stellt das Individuum eine wohlgeordnete Hier-
archie von Molekülen, Zellen, Organen und Organsystemen dar. Blickt es nach innen, in
den durch seine Haut begrenzten Raum, dann kann es mit gutem Recht behaupten, es sei
etwas Vollständiges und Einmaliges, ein »Ganzes«. Blickt es nach außen, dann wird es
ständig – manchmal zu seiner Freude, manchmal zu seinem Leid – daran erinnert, daß
es ein »Teil« ist, eine einfache Komponente in einer oder in mehreren sozialen Hierar-
chien.
Der Grund dafür, daß jede relativ stabile soziale Gemeinschaft – ganz gleich, ob es sich
um eine solche von Menschen oder Tieren handelt – hierarchisch strukturiert sein muß,
läßt sich auch wieder an der Parabel von den beiden Uhrmachern deutlich machen; ohne
stabile Teilgebilde – soziale Gruppen und Untergruppen – könnte das Ganze einfach
nicht fest zusammenhalten.
In der militärischen Hierarchie bestehen die Holons aus Kompanien, Bataillonen, Regi-
mentern und so weiter, und die Zweige des Baumes stellen die Linien der Kommunika-
tion und Befehlsübermittlung dar. Die Anzahl der Stufen, die eine Hierarchie aufweist
(im vorliegenden Fall reichen sie vom Kommandierenden General bis zum einfachen
Soldaten), bestimmt, ob man sie als »seicht« oder »tief« bezeichnet; die Anzahl der
Holons auf einem gegebenen Stufenniveau wollen wir (nach Simon) als »Spannweite«
bezeichnen. Eine Horde von primitiven Stammesangehörigen stellt eine sehr flach an-
gelegte Hierarchie mit vielleicht zwei oder drei Stufen dar (Häuptling, Unterhäuptling,
Horde), aber die unterste hat eine große Spannweite. Umgekehrt soll es früher in eini-
gen lateinamerikanischen Armeen ebenso viele Generale wie einfache Soldaten gegeben
haben – das wäre ein Grenzfall, bei dem die Hierarchie in eine Leiter übergeht. Die
Funktionsfähigkeit einer komplexen Hierarchie beruht – unter anderem – auf einem an-
gemessenen Verhältnis von Tiefenstaffelung und Spannweite – etwa analog zum Gol-
denen Schnitt der griechischen Bildhauer oder zu Le Corbusiers »Modulor«-Theorie.
Eine Gesellschaft ohne hierarchische Strukturierung würde sich ebenso chaotisch ge-
bärden wie Gasmoleküle, die in allen Richtungen umherfliegen und aufeinanderstoßen.
Aber die Struktur ist nicht immer deutlich sichtbar, da keine fortgeschrittene Gesell-
schaft – nicht einmal der totalitäre Staat – ein streng monolithisches Gefüge darstellt.
Das könnte allenfalls bei sehr primitiven Stammesgesellschaften der Fall sein, in denen
die Familie-Sippe-Stamm-Hierarchie eine vollständige Kontrolle über das Individuum
ausübt. Die Kirche des Mittelalters und die modernen totalitären Staaten waren glei-
chermaßen bestrebt, monolithische Hierarchien zu errichten, hatten aber damit nur be-
grenzte Erfolge. Die Struktur fortgeschrittener Gesellschaften ist durch eine Vielzahl
sich gegenseitig überschneidender Hierarchien bedingt: Kontrolle durch den politischen
Machtapparat. Naheliegende Beispiele von dergleichen »Kontrollhierarchien« sind Re-
gierungsbehörden sowie die Hierarchien militärischer, kirchlicher, akademischer, be-
ruflicher und geschäftlicher Art. Die Kontrolle kann durch Einzelpersonen oder Institu-
tionen ausgeübt werden; sie kann starr oder elastisch gehandhabt und bis zu einem ge-
wissen Grad durch Rückkoppelung von »unten« beeinflußt werden; zum Beispiel von
der Wählerschaft.
Mit diesen Kontrollhierarchien überschneiden sich noch andere Arten von »Baum-
strukturen«, die auf sozialer Kohäsion, geographischer Nachbarschaft und so weiter ba-
sieren. Es gibt die Familien-Sippen-Kasten-Hierarchien und ihre modernen Varianten.

37
Mit ihnen überschneiden sich die auf geographischer Nachbarschaft beruhenden Hierar-
chien. Alte Städte wie Paris, Wien oder London haben ihre traditionellen Viertel, die
relativ autark sind, mit ihren eigenen Kaufläden, Cafés, Kinos, Hausbesorgern und Stra-
ßenkehrern. Jedes Viertel ist gewissermaßen eine Gemeinde für sich, ein soziales Ho-
lon, das seinerseits wieder Teil einer größeren Einheit ist – wie linkes und rechtes Sei-
neufer, City und West End, Amüsierviertel und Geschäftsviertel, Zentrum und Vor-
stadtgürtel. Alte Städte scheinen – trotz ihrer architektonischen Vielfalt – wie ein natür-
licher Organismus gewachsen zu sein und ein ganz spezifisches eigenständiges Leben
zu führen. Städte, die allzu rasch emporgewachsen sind, lassen eine deprimierende
Amorphie erkennen, denn ihnen fehlt die hierarchische Struktur einer organischen Ent-
wicklung. Man hat das Gefühl, bei ihrer Entstehung sei nicht Bios, sondern Mechos am
Werk gewesen.
So läßt sich die komplexe Struktur sozialer Verbindungen in eine Vielzahl von hierar-
chischen Systemen zerlegen, ähnlich wie etwa ein Anatom Muskelpartien, Nervensträn-
ge und andere Strukturgebilde aus der fleischigen Masse heraustrennt. Ohne dieses At-
tribut der Zerlegbarkeit wäre die Konzeption von der hierarchischen Ordnung mit einer
gewissen Willkür behaftet. Wir sind nur dann berechtigt, von Bäumen zu reden, wenn
wir auch in der Lage sind, ihre Knotenpunkte sowie ihre Äste und Zweige zu identifi-
zieren. Im Fall einer Regierungsbehörde oder eines Industriekonzerns ist die Aufgliede-
rung sehr einfach und hat gewöhnlich etwa folgende Form:

Abbildung 3
Nehmen wir an, hier sei eine Regierungsbehörde dargestellt, etwa das Innenministeri-
um; in diesem Fall würde jedes Holon – jedes Kästchen – in der zweiten Reihe eine dem
Minister unterstellte Fachbehörde bedeuten: Einwanderungsamt, Scotland Yard, Ge-
fängnisverwaltung und so fort, und jedes Kästchen in der dritten Reihe würde dann für
eine Unterabteilung dieser Behörden stehen. Welches sind nun die Kriterien, die eine
Aufgliederung des Innenministeriums gerade auf diese – und auf keine andere – Weise
rechtfertigen? Mit anderen Worten: wie hat der Urheber dieses Diagramms seine Ho-
lons definiert? Möglicherweise hat man ihm einen Stadtplan gezeigt, auf dem die Ge-
bäude, in denen das Innenministerium untergebracht ist, eingezeichnet sind, und man
hat ihm vielleicht zusätzlich noch Planskizzen der einzelnen Gebäude überlassen; das
wäre jedoch nicht ausreichend und in einigen Fällen sogar irreführend, denn eine Ab-
teilung des Ministeriums kann zum Beispiel in mehreren Gebäuden in verschiedenen

38
Teilen der Stadt untergebracht sein, und umgekehrt können mehrere Abteilungen im
selben Gebäude arbeiten. Das charakteristische Merkmal jedes individuellen Kästchens
ist die Funktion, die ihm übertragen worden ist – das heißt die Art der Tätigkeit, die die
Leute in den betreffenden Abteilungen verrichten. Natürlich besteht in jeder gut funk-
tionierenden Hierarchie die Tendenz, die Menschen, die an denselben Aufgaben arbei-
ten, auch im selben Raum beziehungsweise im selben Gebäude arbeiten zu lassen; in-
soweit – aber auch nur insoweit – spielt auch die räumliche Aufteilung mit hinein. Bü-
roboten und Telephone überbrücken die Entfernungen zwischen den funktionell zu-
sammengehörenden Büros, so wie Nervenstränge und Hormone das in den Machthier-
archien des lebenden Organismus besorgen.
Es besteht nicht nur ein gewisser Zusammenhalt innerhalb jedes einzelnen Holons, son-
dern auch eine gewisse Trennung zwischen den verschiedenen Holons. Die Menschen,
die innerhalb einer bestimmten Abteilung zusammenarbeiten, wickeln erheblich mehr
dienstliche Transaktionen untereinander ab als mit Leuten aus anderen Abteilungen. Die
Trennung ist noch schärfer: Verlangt eine Abteilung Informationen oder Hilfe von einer
anderen, dann wickelt sich der Dienstverkehr für gewöhnlich nicht mit Hilfe eines di-
rekten persönlichen Kontaktes ab, sondern auf dem offiziellen Dienstweg, das heißt
über die jeweiligen Leiter der beiden betreffenden Abteilungen. Mit anderen Worten:
die Linien der Kommunikation und Kontrolle verlaufen den Ästen entlang auf und ab;
in einer idealen Kontrollhierarchie gibt es keine horizontalen Abkürzungswege.
Bei anderen Hierarchiearten lassen sich die Holons nicht so leicht auf Grund ihrer
»Funktion« oder »Aufgabe« definieren. Die Funktion einer Familie, einer Sippe oder
eines Stammes können wir nicht definieren. Aber auch hier finden wir ungleich mehr
Kooperation und Zusammenhalt innerhalb des Holons als zwischen Mitgliedern ver-
schiedener Holons. Wenn irgendeine Transaktion zwischen zwei Sippen oder Stämmen
abgewickelt werden soll, dann geschieht das auch hier auf dem Weg über die Häuptlin-
ge oder den Ältestenrat. Diese Bande des Zusammenhalts und der Abgrenzung nach au-
ßen kommen aus gemeinsamen Traditionen, Sitten und Verhaltensregeln her. In ihrer
Gesamtheit bilden sie ein Muster von regelgebundenen Verhaltensweisen, das die Sta-
bilität und Kohäsion der Gruppe verbürgt und ihr den Charakter eines sozialen Holons
verleiht.
Wir müssen jedoch einen Unterschied machen zwischen den Regeln, die das Verhalten
des einzelnen Individuums bestimmen, und denjenigen, die für das Verhalten der Grup-
pe in ihrer Gesamtheit maßgebend sind. Das Individuum mag sich nicht einmal der Tat-
sache bewußt sein, daß sein Verhalten an feste Regeln gebunden ist, und ist ebenso un-
fähig, diese Regeln zu definieren als die Regeln der Grammatik zu erklären. Das Ver-
halten der Gruppe dagegen wird nicht nur von den Verhaltungsweisen ihrer Mitglieder
bedingt, sondern auch von den Verhaltungsweisen anderer Gruppen, mit denen sie als
Ganzes auf einem höheren Niveau der Hierarchie in Berührung kommt; und die Spiel-
regeln, die für Gruppen als ganze gelten, lassen sich ebensowenig von den Spielregeln
für Individuen ableiten, wie man etwa die Funktionen des Nervensystems aus den Vor-
gängen bei den individuellen Nervenzellen ableiten kann oder die Regeln der Syntax
aus den Regeln der Phonologie. Wir können ein komplexes Ganzes in die – als seine
Bestandteile fungierenden – Holons zweiter und dritter Ordnung aufgliedern, aber wir
können es nicht auf die Summe seiner einzelnen Bestandteile »reduzieren« und auch
nicht seine Eigenschaften aus denen seiner Einzelteile ableiten. Die hierarchische Kon-
zeption von den »Organisationsstufen« impliziert ex hipothesi die Ablehnung der »re-
duktionistischen« Auffassung, wonach sich alle Phänomene (einschließlich des Be-
wußtseins) auf physikalisch-chemische Gesetze zurückführen und durch sie erklären
lassen.
Ein stabiles soziales Holon hat also stets ein individuelles »Profil«, ganz gleich, ob es
sich dabei um einen Stamm der Papuas oder um ein Finanzamt handelt. Jede soziale

39
Gemeinschaft, die ein gemeinsames Territorium bewohnt und/oder einen Kodex von
Gesetzen, Sitten, Gebräuchen und Glaubensvorstellungen besitzt, zeigt die Tendenz, ih-
re Individualität zu bewahren und sich andern gegenüber zu behaupten – andernfalls
würde ihr die Qualifikation zu einem stabilen Holon fehlen. In einer primitiven Gesell-
schaft kann der Stamm, die oberste Einheit der »seichten« Hierarchie, ein mehr oder
minder in sich geschlossenes Ganzes sein. Aber in einer komplexen Gesellschaft mit ih-
ren vielschichtigen, tiefgestaffelten Hierarchien ist es unerläßlich, daß jedes soziale
Holon – ganz gleich, ob es sich dabei um eine Regierungsbehörde, eine Stadtgemeinde
oder um die freiwillige Feuerwehr handelt – als autonome Einheit zu funktionieren
vermag; ohne Arbeitsteilung und Delegation von Machtbefugnissen nach dem hierar-
chischen Strukturschema kann keine Gesellschaft richtig funktionieren.
Kehren wir für einen Augenblick zu unserem Diagramm vom Innenministerium zurück,
und nehmen wir an, es handle sich bei einem der »Kästchen« um die Einwanderungsbe-
hörde. Um als selbständige Einheit zu funktionieren, benötigt diese Behörde eine Reihe
von Instruktionen und Verordnungen, die sie in die Lage versetzen, Routineangelegen-
heiten mühelos zu bewältigen, ohne sich in jedem einzelnen Fall an die übergeordnete
Instanz wenden zu müssen. Mit anderen Worten, was die Behörde dazu befähigt, auf so
wirksame Weise als autonomes Holon zu funktionieren, ist auch hier wieder ein System
von feststehenden Regeln, eine Art Kodex. Trotzdem kommen natürlich auch Fälle vor,
bei denen sich diese Regeln auf die eine oder andere Art interpretieren lassen und damit
eine Auswahl von Entscheidungen freigeben. Welcherart eine Hierarchie auch immer
sein mag, ihre Holons werden von feststehenden Regeln und flexiblen Taktiken be-
stimmt.
Auch in diesem Falle ist es klar, daß die Regeln, die das Verhalten der Individuen, die
in der Behörde arbeiten, bestimmen, nicht identisch sind mit den Regeln, die das Ver-
halten der Behörde selbst bestimmen. Herr Schmidt mag geneigt sein, einem Bewerber
aus persönlichem Mitgefühl heraus ein Visum zu gewähren, doch stehen dem die amtli-
chen Verordnungen entgegen. Es gibt auch noch eine weitere Parallele zu früher vorge-
brachten Beispielen: Wenn die Regeln, auf einen bestimmten Fall angewendet, mehrere
Entscheidungsmöglichkeiten freilassen, dann muß die Angelegenheit dem Chef vorge-
legt werden, der es dann seinerseits für ratsam halten mag, die Entscheidung einer über-
geordneten Instanz in der Hierarchie zu überlassen. Und die Entscheidung wird auch
hier wieder von taktischen Erwägungen »höherer Ordnung« abhängen – zum Beispiel
von der Lage auf dem Wohnungsmarkt, vom Rassenproblem oder der Situation auf dem
Arbeitsmarkt. Es kann unter Umständen sogar zu einem Konflikt zwischen den vom In-
nenministerium herausgegebenen Richtlinien und denen des Wirtschaftsministeriums
kommen. Wieder bewegen wir uns im Rahmen einer regressiven Serie (auch wenn es
sich im vorliegenden Fall natürlich nicht um eine unendliche Serie handelt).
Fassen wir zusammen: Für die Stabilität und das wirksame Funktionieren jeder sozialen
Gemeinschaft ist es von grundlegender Bedeutung, daß jede ihrer Untergruppen als eine
autonome und selbständige Organisation funktioniert, die zwar der Kontrolle durch hö-
here Instanzen unterworfen ist, dabei aber ein Maß von Selbständigkeit besitzen und in
der Lage sein muß, Routineangelegenheiten zu bewältigen, ohne dafür Instruktionen ei-
ner übergeordneten Behörde einzuholen. Andernfalls wären die Kommunikationskanäle
bald verstopft, das System wäre blockiert, die höheren Instanzen wären ständig mit un-
bedeutenden Detailfragen beschäftigt und nicht mehr in der Lage, sich auf wichtige
Dinge zu konzentrieren.

40
3.4 Die fundamentale Polarität
Die Regeln, die das Verhalten des sozialen Holons regulieren, üben jedoch nicht nur ei-
ne negative, einschränkende Funktion aus, sondern sie wirken auch als positive Richtli-
nien, Verhaltensmaximen oder moralische Imperative. Folglich zeigt jedes Holon die
Tendenz, in seinen charakteristischen Attitüden zu verharren und seine Individualität zu
behaupten. Diese selbstbehauptende Tendenz ist ein fundamentales und zugleich univer-
sales Charakteristikum von Holons, das sich auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie
(und, wie sich noch zeigen wird, auch in allen anderen Hierarchiearten) manifestiert.
Auf dem Niveau des einzelnen Individuums ist ein gewisses Maß an Selbstbehaup-
tungswillen – Ehrgeiz, Initiative, Wettbewerb – in einer dynamischen Gesellschaft un-
erläßlich. Gleichzeitig ist der Einzelne aber auch von seiner sozialen Gruppe abhängig
und muß sich in sie integrieren lassen. Bei einem innerlich ausgeglichenen Menschen
halten sich die selbstbehauptende Tendenz und ihr Gegenspieler, die integrative Ten-
denz, mehr oder minder die Waage; solange die Verhältnisse normal sind, lebt er in ei-
ner Art dynamischen Gleichgewichts mit seiner sozialen Umwelt. In Konfliktsituationen
jedoch ist das Gleichgewicht gestört, und das führt zu emotionell unausgeglichenen
Verhaltensweisen.
Kein Mensch ist eine isolierte Insel – jeder ist ein Holon: ein janusgesichtiges Wesen,
das sich nach innen blickend als ein vollständiges und einmaliges Ganzes erlebt, nach
außen blickend seine Abhängigkeit als Teil einer höheren Ganzheit erkennt. Seine
selbstbehauptende Tendenz ist die dynamische Manifestation seiner eigenständigen
Ganzheit, seiner Autonomie und Unabhängigkeit. In seiner gleichermaßen universalen
Gegenkraft, der integrativen Tendenz, drückt sich seine Abhängigkeit gegenüber dem
größeren Ganzen aus, zu dem er gehört: also seine »Teilheit«. Die Polarität dieser bei-
den Tendenzen ist eines der Leitmotive der hier entwickelten Theorie. Empirisch läßt sie
sich in allen Phänomenen des Lebens nachweisen, theoretisch leitet sie sich aus der Di-
chotomie »Teil – Ganzes« ab, die von der Konzeption der vielschichtigen Hierarchie
untrennbar ist; ihre philosophischen Implikationen sollen in späteren Kapiteln erörtert
werden. Hier wollen wir nur noch einmal feststellen: die selbstbehauptende Tendenz ist
der dynamische Ausdruck der Ganzheit des Holons, die integrative Tendenz der dyna-
mische Ausdruck seiner Teilheit.*
* In DER GÖTTLICHE FUNKE habe ich von einer selbstbehauptenden und einer »partizipatorischen« Ten-
denz gesprochen, doch erscheint der Begriff »integrative Tendenz« zutreffender.
Die Manifestationen dieser beiden Tendenzen haben in verschiedenen Bereichen auch
verschiedene Namen, aber sie sind Ausdruck der gleichen Polarität, die in allen Hierar-
chiestrukturen erkennbar ist. Die selbstbehauptende Tendenz des einzelnen Individuums
kennt man unter den Namen »Individualismus«, »Ehrgeiz«, »Egoismus« und so fort; bei
sozialen Holons auf höheren Stufen sprechen wir von »Sippenstolz«, »Cliquenwesen«,
»Klassenbewußtsein«, »ésprit de corps«, »Lokalpatriotismus«, »Nationalismus« und so
weiter. Die integrativen Tendenzen manifestieren sich ihrerseits in »Hilfsbereitschaft«,
»disziplinierter Verhaltensweise«, »Altruismus«, »Pflichtbewußtsein«, »Loyalität«, »In-
ternationalismus« und anderem.
Es fällt allerdings auf, daß eine Anzahl dieser Beiworte, wenn man sie auf die höheren
Hierarchiestufen anwendet, nicht frei von Ambiguitäten [Zweideutigkeit] sind. In der
Loyalität des Einzelnen zur Sippe spiegeln sich seine integrativen Tendenzen wider; die
gleiche Loyalität befähigt aber auch die Sippe in ihrer Gesamtheit zu einer aggressiven
und selbstbehauptenden Verhaltensweise. Obedienz [Gehorsamkeit] und Pflichtbewußt-
sein der SS-Wachen in den Konzentrationslagern waren zugleich die Voraussetzung für
das reibungslose Funktionieren der Gaskammern. »Patriotismus« bedeutet die Zurück-
stellung eigener privater Interessen zugunsten der höheren Interessen der Nation; »Na-
tionalismus« ist ein Synonym für die militante Betreibung dieser »höheren Interessen«.

41
Die infernalische Dialektik dieses Prozesses spiegelt sich in der gesamten Geschichte
der Menschheit. Das ist durchaus kein Zufall; diese verhängnisvolle Disposition ist ein
inhärenter Faktor der oben erwähnten Polarität in der Struktur sozialer Hierarchien. Sie
mag der unbewußte Anlaß dafür gewesen sein, daß die alten Römer dem Gott Janus in
ihrem Pantheon eine so prominente Stellung einräumten – als Hüter des Tordurchgan-
ges, der, doppelgesichtig, sowohl nach innen als auch nach außen blickt; und daß sie
auch den ersten Monat des Jahres nach ihm benannten. Es wäre jedoch noch verfrüht,
dieses Thema hier eingehender zu erörtern; es wird später eines der Hauptthemen in
Teil III dieses Buches sein.
Im Augenblick bleiben wir bei der normalen und geordneten Arbeitsweise der Hierar-
chie, wobei jedes Holon seinen Regeln entsprechend agiert, ohne zu versuchen, diese
Regeln auch anderen aufzuzwingen und ohne seine Individualität durch exzessive Sub-
ordination einzubüßen. Nur in Krisenzeiten zeigt sich bei einem Holon die Tendenz, au-
ßer Kontrolle zu geraten: dann verwandelt sich sein normaler Selbstbehauptungswille in
Aggressivität, ganz gleich ob es sich bei dem Holon um ein einzelnes Individuum, eine
Gesellschaftsklasse oder um eine ganze Nation handelt. Der umgekehrte Prozeß tritt ein,
wenn die Abhängigkeit eines Holons von seinen übergeordneten Instanzen so stark ist,
daß ihm seine eigene Identität abhanden kommt.
Leser, die sich in der zeitgenössischen Psychologie auskennen, werden schon auf Grund
dieses unvollständigen Abrisses festgestellt haben, daß in der hier vorgetragenen Theo-
rie kein Platz ist für so etwas wie einen »Zerstörungstrieb«; auch wird in ihr nicht die
Auffassung vertreten, der Sexualtrieb sei die einzige integrative Kraft in menschlichen
oder tierischen Gemeinschaften. Freuds Eros und Thanatos treten auf der Bühne der
evolutionären Entwicklung erst relativ spät in Erscheinung; bei primitiven Kreaturen,
die sich durch Spaltung oder Knospung vermehren, sind beide völlig unbekannt.*
* Eine Erörterung der Freudschen Metapsychologie findet man in INSIGHT AND OUTLOOK, Kapitel 15 und
16.
Nach unserer Auffassung entspringt Eros der integrativen, der destruktive Thanatos hin-
gegen der selbstbehauptenden Tendenz; Janus aber ist letztlich der Ahnherr beider Kräf-
te – das Symbol der Dichotomie von Teilheit und Ganzheit, die mit den gipfeloffenen
Hierarchien des Lebens untrennbar verbunden ist.

3.5 Zusammenfassung
Organismen und soziale Gemeinschaften sind vielschichtige Hierarchien von halbauto-
nomen Sub-Einheiten, die sich zu Sub-Einheiten einer niedrigeren Ordnung verzweigen.
Der Begriff Holon wurde zur Bezeichnung dieser intermediären Entitäten eingeführt,
die, bezogen auf die ihnen untergeordneten Einheiten der Hierarchie, als in sich ge-
schlossene Ganze fungieren, bezogen auf die ihnen übergeordneten Einheiten der Hier-
archie dagegen als abhängige Teile. Diese Dichotomie von Ganzheit und Teilheit, von
Autonomie und Abhängigkeit ist ein inhärenter Faktor aller hierarchischen Ordnung und
soll hier als Janus-Prinzip bezeichnet werden. Ihren dynamischen Ausdruck findet sie in
der Polarität zwischen den selbstbehauptenden Tendenzen und den integrativen Tenden-
zen.
Die Funktionen des Holons sind an feste Regeln gebunden, die jedoch flexible Taktiken
zulassen. Die Verhaltensregeln eines sozialen Holons lassen sich nicht auf die Verhal-
tensregeln seiner einzelnen Mitglieder reduzieren.
Für den Leser wäre es vorteilhaft, wenn er von Zeit zu Zeit im Anhang nachschlüge:
dieser enthält eine Zusammenfassung der allgemeinen Charakteristika von hierarchi-
schen Systemen, wie sie in dem eben abgeschlossenen und in den folgenden Kapiteln
dargelegt werden.

42
4 Individuen und Dividuen
Ich kenne bisher kein Problem,
wie kompliziert es auch immer sein mag,
das nicht, wenn man es auf die rechte Weise angeht,
noch komplizierter und würde.
Poul Anderson

4.1 Über Diagramme


Bevor wir von den sozialen Organisationen auf die biologischen Organismen überge-
hen, möchte ich einiges über verschiedene Arten von Hierarchien und deren graphische
Darstellung vorausschicken.

Abbildung 4

43
Es ist mehrfach versucht worden, Hierarchien in Kategorien einzuteilen; da es sich je-
doch nicht vermeiden läßt, daß die einzelnen Kategorien einander überschneiden, sind
diese Versuche nicht besonders erfolgreich gewesen. Man kann nur eine grobe Unter-
teilung vornehmen, und zwar in strukturelle Hierarchien, die den räumlichen Aspekt
(Anatomie, Topologie) eines Systems betonen, und in funktionelle Hierarchien, die ei-
nen sich in der zeitlichen Dimension abspielenden Prozeß in den Vordergrund rücken.
Offensichtlich lassen sich Struktur und Funktion nicht voneinander trennen: sie stellen
komplementäre Aspekte eines unteilbaren räumlich-zeitlichen Prozesses dar; oft erweist
es sich jedoch als vorteilhaft, seine Aufmerksamkeit mehr auf den einen oder den ande-
ren Aspekt zu konzentrieren. Alle Hierarchien haben einen »Teil-im-Teil«-Charakter,
doch läßt sich das leichter in »strukturellen« als in »funktionellen« Hierarchien erken-
nen. Zu den letzteren gehören Sprache und Musik, deren hierarchisches Gefüge inner-
halb des eindimensionalen Zeitablaufs verborgen ist.
Bei der Art von Verwaltungshierarchie, wie wir sie oben erörtert haben, steht das
Baumdiagramm sowohl als Symbol für die Struktur als auch für die Funktion: die ein-
zelnen Zweige stellen die Kommunikationslinien dar, jeder einzelne Knotenpunkt be-
ziehungsweise jedes einzelne Kästchen repräsentiert eine physisch existente Gruppe von
Menschen (den Abteilungsleiter, seine Assistenten und Sekretärinnen). Stellen wir aber
auf ähnliche Weise eine militärische Organisation dar, dann gibt der Baum nur den
funktionellen Aspekt wieder, denn genaugenommen enthalten die einzelnen Kästchen in
jeder Schicht – ganz gleich, ob es sich dabei um ein »Bataillon« oder um eine »Kompa-
nie« handelt – nur die Offiziere und Unteroffiziere; die gemeinen Soldaten, die das Gros
des Bataillons beziehungsweise der Kompanie ausmachen, haben ihren Platz in der
Grundlinie des Diagramms. Im vorliegenden Fall spielt das keine so große Rolle, denn
was uns hier interessiert, ist die Art und Weise, in der der gesamte Mechanismus funk-
tioniert, und das ist aus dem Baumdiagramm klar zu erkennen: es sind die Offiziere und
Unteroffiziere, die die Entscheidungen über die Operationen des Holons treffen – sie
verkörpern die »Regeln« und bestimmen die »Taktik« des Holons. Wer dazu neigt,
mehr in konkreten Bildvorstellungen zu denken als in abstrakten Schemata, findet frei-
lich eine derartige Darstellung etwas verwirrend. Wollten wir jedoch den strukturellen
Aspekt einer Armeeorganisation in den Vordergrund rücken, dann müßten wir ein Dia-
gramm zeichnen, wie es in Abbildung 4 wiedergegeben wird: es zeigt, wie die einzelnen
Züge zu einer Kompanie »verkapselt« werden, die einzelnen Kompanien wiederum zu
einem Bataillon und so weiter. Derartige Strukturdiagramme sind jedoch unübersicht-
lich und weniger aufschlußreich als das Diagramm mit dem sich verzweigenden Baum.
Einige Autoren reihen symbolische Hierarchien (Sprache, Musik, Mathematik) in eine
gesonderte Kategorie ein; man kann sie jedoch ebensogut als funktionelle Hierarchien
klassifizieren, denn sie gehen aus menschlichen Handlungsakten hervor. Ein Buch be-
steht aus Kapiteln, ein Kapitel aus einzelnen Abschnitten, ein Abschnitt aus einzelnen
Sätzen und Wörtern; auch eine Symphonie läßt sich ähnlich in Teile innerhalb der ein-
zelnen Teile aufgliedern. In der hierarchischen Struktur des Endprodukts spiegelt sich
die hierarchische Natur der Fertigkeiten und Sub-Fertigkeiten wider, denen dieses Pro-
dukt seine Entstehung verdankt.
Auf ähnliche Weise spiegeln alle Hierarchien mit Klassifikationscharakter – wenn sie
nicht rein deskriptiver Natur sind – die Prozesse wider, denen sie ihre Entstehung ver-
danken. So soll die im Tierreich geltende Klassifikation – Art, Gattung, Familie, Ord-
nung, Klasse, Stamm und Reich – die verwandtschaftlichen Gruppierungen in der Evo-
lutionsdeszendenz widerspiegeln: das Baumdiagramm repräsentiert hier den Archetypus
des »Lebensbaumes«. Ähnlich spiegelt auch das hierarchisch aufgegliederte Sachregi-
ster in Bibliothekskatalogen die hierarchische Ordnung des Wissens wider.
Phylogenese und Ontogenese schließlich sind Entwicklungshierarchien, bei denen der
Baum sich entlang der Zeitachse verzweigt, die einzelnen Stufen Stadien der Entwick-

44
lung repräsentieren und die Holons – wie sich noch zeigen wird – intermediäre Struktu-
ren in verschiedenen Stadien widerspiegeln.
Es soll hier noch einmal hervorgehoben werden, daß die Suche nach gemeinsamen Ei-
genschaften beziehungsweise Gesetzen bei all diesen verschiedenen Arten von Hierar-
chien mehr ist als nur ein bloßes Spiel mit oberflächlichen Analogien. Man könnte sie
eher als eine Studie in »allgemeiner Systemtheorie« bezeichnen – einem noch relativ
jungen Wissenschaftszweig, der sich zum Ziel gesetzt hat, theoretische Modelle und
»logisch homologe Gesetze« (B Bertalanffy) zu erarbeiten, die auf anorganische, biologi-
sche und soziale Systeme aller Art universell anwendbar sind.

4.2 Unbelebte Systeme


Wenn wir in der Hierarchie, die der lebendige Organismus darstellt, von den Organen
über das Zellgewebe, die einzelnen Zellen, die Organellen, die Makromoleküle und so
weiter in immer tiefere Schichten hinabsteigen, dann gelangen wir niemals auf einen
letzten, untersten Grund, und wir finden nie jene letzten Elementarbestandteile, auf die
wir nach der Meinung der alten mechanistischen* Lebensauffassung schließlich stoßen
müßten.
* Der Begriff »mechanistisch« wird im vorliegenden Buch durchwegs in seiner allgemeinen Bedeutung
verwendet und nicht im fachwissenschaftlichen Sinn einer Alternative zu den »vitalistischen« Theorien in
der Biologie.
Die Hierarchie ist an ihrer Basis ebenso offen wie an ihrem Gipfel. Es hat sich ja ge-
zeigt, daß selbst das Atom, dessen Name sich aus dem griechischen Wort átomos = un-
teilbar ableitet, ein sehr komplexes, janusgesichtiges Holon ist. Nach außen hin verbin-
det sich das Atom mit anderen Atomen, so als wäre es ein einzelnes, einheitliches Gan-
zes; und die Gesetzmäßigkeiten der Atomgewichte von Elementen schienen den Glau-
ben an diese Unteilbarkeit zu bestätigen. Seit wir jedoch gelernt haben, Atome zu spal-
ten, können wir die regelbestimmten Wechselwirkungen zwischen dem Atomkern und
den äußeren Elektronenhüllen sowie der Partikeln innerhalb des Atomkerns indirekt be-
obachten. Die Regeln lassen sich in mathematischen Gleichungen ausdrücken, mit deren
Hilfe jede besondere Atomart als ein Holon definiert wird. Aber auch hier sind die Re-
geln, die für die Wechselwirkungen der subnuklearen Partikel in der Hierarchie gelten,
nicht die gleichen wie diejenigen, die bestimmend sind für die chemischen Wechselwir-
kungen von Atomen als Ganzheiten. Dieses Thema hat einen allzu fachwissenschaftli-
chen Charakter, als daß es hier eingehend erörtert werden könnte; der interessierte Leser
findet eine gute zusammenfassende Übersicht darüber in H. Simons Abhandlung, aus
der ich oben bereits zitiert habe.32
Wenden wir uns nun vom Mikrokosmos zum Makrokosmos, dann begegnen wir auch
hier einer hierarchischen Ordnung. Monde umkreisen Planeten, Planeten die Sterne, die
Sterne die Zentren ihrer Galaxien (Milchstraßensysteme), und die Galaxien bilden wie-
derum Anhäufungen von Galaxien. Wo immer wir in der Natur auf geordnete und sta-
bile Systeme stoßen, stellen wir fest, daß sie hierarchisch strukturiert sind, und zwar aus
dem einfachen Grund, weil ohne eine solche Strukturierung von komplexen Systemen
in eigenständige Sub-Systeme Ordnung und Stabilität nicht möglich wären – es sei denn
die Ordnung eines leblosen Universums von gleichmäßig verteilten Gasmolekülen.
Aber selbst in diesem Fall würde jedes einzelne Gasmolekül noch eine mikroskopisch
kleine Hierarchie darstellen. Wenn diese Feststellung jetzt allmählich wie eine Tautolo-
gie klingt, dann um so besser.*
* Häufig tritt jedoch der Fall ein, daß wir eine hierarchische Struktur gar nicht erkennen, wie z.B. bei ei-
nem Kristall: er hat nämlich nur eine sehr »seicht« angelegte Hierarchie, die (soweit wir das bis heute er-
kennen können) nur aus drei Schichten besteht – nämlich aus Molekülen, Atomen und subatomaren Parti-
keln; ein anderer Grund für diese Fehleinschätzung ist die Tatsache, daß die Molekularschicht eine unge-
heure »Spannweite« von nahezu identischen Holons besitzt.

45
Es wäre natürlich krasser Anthropomorphismus, wollte man bei der unbelebten Natur
von »selbstbehauptenden« und »integrativen« Tendenzen oder »von flexiblen Taktiken«
sprechen. Trotzdem steht fest, daß in allen stabilen dynamischen Systemen die Stabilität
durch das Gleichgewicht einander entgegengesetzter Kräfte aufrechterhalten wird: eine
von ihnen mag eine zentrifugale Kraft sein, die gewissermaßen die partikularistischen
Tendenzen des Teils repräsentiert, bei der anderen mag es sich um eine zentripetale, ko-
häsive Kraft handeln, die den Teil an seinem Platz im ganzen festhält. Auf verschiede-
nen Stufen der anorganischen und der organischen Hierarchien nimmt die Polarität der
»partikularistischen« und der »holistischen« Kräfte zwar verschiedene Formen an, sie
läßt sich aber auf allen Ebenen beobachten. Auch für die Unterscheidung zwischen fest-
stehenden Regeln und flexiblen Taktiken gibt es Analogien im anorganischen Bereich.
Die geometrische Struktur eines Kristalls ist durch mathematische Regeln festgelegt;
aber Kristalle, die sich in gesättigten Lösungen bilden, erreichen diese Endform auf ver-
schiedenen Wegen, das heißt, auch wenn ihre Wachstumsprozesse im Detail differieren;
selbst bei einer künstlich verursachten Beschädigung kann der sich bildende Kristall
diesen Defekt wieder ausgleichen. In diesem und in vielen anderen wohlbekannten Phä-
nomenen kündigen sich schon auf einer elementaren Ebene die selbstregulierenden Fä-
higkeiten biologischer Holons an.

4.3 Der Organismus und seine Ersatzteile


Bei den Hierarchien der lebenden Materie begegnen wir bereits auf der untersten, nur
durch das Elektronenmikroskop zu beobachtenden Ebene subzellularen Strukturen von
verblüffender Komplexität: den Organellen. Am erstaunlichsten ist die Tatsache, daß
diese winzigen Zellteilchen als selbständige Ganze funktionieren, wobei jedes einzelne
einem eigenen Regelkodex folgt. Ein Organellentyp sorgt selbständig für das Wachstum
der Zelle, andere wieder für Energievorräte, Fortpflanzung, Kommunikation und so
weiter. So können sich etwa die Ribosome, die an der Proteinbildung mitwirken, an
Komplexität mit jeder chemischen Fabrik messen.
Der Organismus ist nicht ein mosaikartiges Aggregat von elementaren physikalisch-
chemischen Prozessen, sondern eine Hierarchie, in der – von der subzellularen Ebene
aufwärts – jede einzelne Kornponente ein stabiles, mit selbstregelnden Mechanismen
ausgestattetes Gebilde darstellt und sich einer fortgeschrittenen Form der Autonomie er-
freut. Die Tätigkeit einer Organelle wie zum Beispiel des Mitochondrions läßt sich so-
zusagen an- und abschalten; sobald sie jedoch in Aktion tritt, folgt sie ihren eigenen Ge-
setzen. Keine höhere Instanz der Hierarchie kann in den Ablauf dieser Operationen ein-
greifen, der durch feste Spielregeln bestimmt ist. Jede Organelle ist ein autonomes Ho-
lon mit einer charakteristischen Struktur und Funktionsweise, die es auch dann noch
aufrechtzuerhalten sucht, wenn die Zelle ringsherum abzusterben beginnt.
Die gleichen Beobachtungen gelten auch für die größeren Einheiten innerhalb des Or-
ganismus. Zellen, Gewebe, Nerven, Muskeln und Organe haben alle ihren spezifischen
Rhythmus und ihre spezifische Funktionsweise, die sich häufig auch ohne Reiz von au-
ßen spontan manifestieren. Blickt der Psychologe von »oben« – vom Gipfel der Hierar-
chie – auf ein Organ, dann erscheint es ihm als ein untergeordneter Teil. Blickt er auf
das gleiche Organ von »unten«, vom Niveau seiner Komponenten, dann erscheint es
ihm als ein Ganzes von bemerkenswerter Selbständigkeit. Das Herz besitzt seine eige-
nen »Schrittmacher« – insgesamt drei –, die in der Lage sind, einander im Notfall zu er-
setzen. Andere wichtige Organe haben andere Arten von Koordinationszentren und
selbstregulierenden Mechanismen. Ihr Charakter als der von autonomen Holons kommt
am überzeugendsten in Experimenten mit Gewebekulturen und in der Transplantations-
chirurgie zum Ausdruck. Seit Carrell in einem berühmten Experiment nachgewiesen
hat, daß das Herzgewebefragment von einem Hühnerembryo in vitro praktisch unbe-

46
grenzt weiterpulsieren kann, haben wir festgestellt, daß auch ganze Organe – Niere,
Herz, ja sogar das Gehirn – durchaus in der Lage sind, auch dann als quasi-unabhängige
Ganze weiterzufunktionieren, wenn sie vom zugehörigen Organismus isoliert und mit
geeigneten Nährstoffen versehen oder aber in einen andern Organismus verpflanzt wer-
den. Während der Entstehung dieses Buches ist es russischen und amerikanischen For-
schern gelungen, das Gehirn von Hunden und Affen in Apparaturen außerhalb des Tier-
körpers am Leben zu erhalten – und die Transplantation eines Hundehirns in ein anderes
lebendes Tier vorzunehmen. Daß sich angesichts solcher Experimente eine Art Fran-
kensteinsches Grauen regt, ist kaum verwunderlich – und wir stehen erst am Beginn
dieser Entwicklung.
Die Transplantationschirurgie hat natürlich ihre segensreichen Wirkungen, und vom
rein theoretischen Standpunkt aus erbringt sie eine eindeutige Bestätigung der hierarchi-
schen Konzeption. Sie demonstriert, im buchstäblich wörtlichen Sinn, die »Zerlegbar-
keit« des Organismus in autonome Teilgebilde, die als selbständige Ganze funktionie-
ren. Sie wirft außerdem ein bezeichnendes Licht auf den Evolutionsprozeß – auf die
Prinzipien, die auch Bios bei der Zusammensetzung der Teilgebilde seiner Uhren gelei-
tet haben.

4.4 Die integrativen Lebenskräfte


Kehren wir für einen Augenblick zu den Organellen zurück, die im Inneren der Zellen
operieren. Die Mitochondrien verwandeln Nahrung – Glukose, Fett, Proteine – in die
chemische Substanz Adenosintriphosphat (kurz ATP genannt), die alle Tierzellen als
Energiequellen benutzen. Es handelt sich hier um die alleinige Art von »Kraftstoff«, der
im gesamten Tierreich zur Herstellung der erforderlichen Energievorräte für Muskel-
zellen, Nervenzellen und so weiter dient, und es gibt im gesamten Tierreich nur diese
eine Art von Organelle, die ihn produziert. Man hat daher auch die Mitochondrien als
»Kraftwerke allen Lebens auf Erden« bezeichnet. Im übrigen besitzt jedes Mitochon-
drion nicht nur seine eigenen Instruktionen zur Herstellung von ATP, sondern auch sei-
nen eigenen Erbanlageplan, der es in die Lage versetzt, sich – unabhängig von der Ge-
samtzelle – selbst fortzupflanzen.
Bis vor wenigen Jahren glaubte man, die einzigen Träger der Erbmasse seien die Chro-
mosomen im Zellkern. Heute wissen wir, daß auch die Mitochondrien und noch einige
weitere im Cytoplasma (der den Kern umgebenden flüssigen Masse) enthaltene Orga-
nellen mit einem eigenen genetischen Apparat ausgerüstet sind, so daß sie in der Lage
sind, sich unabhängig von der Zelle selbst zu vermehren. Angesichts dieser Tatsache
kam man zu der Vermutung, die Organellen hätten sich möglicherweise bei der ersten
Entstehung von Lebensformen auf unserem Planeten voneinander unabhängig entwik-
kelt und seien in einer späteren Phase in eine Art Symbiose eingetreten.
Diese recht plausible Hypothese hört sich wie eine weitere Bestätigung der Parabel von
den beiden Uhrmachern an; man kann den schrittweisen Aufbau komplexer Hierarchien
aus einfacheren Holons als eine fundamentale Manifestation der integrativen Tendenz
der lebenden Materie betrachten. Es ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß die – früher
als Atom des Lebens angesehene – Einzelzelle aus der Verbindung von Molekular-
strukturen hervorgegangen ist, die die primitiven Vorläufer der Organellen waren und
voneinander unabhängig entstanden sind, wobei jede von ihnen mit einem unterschied-
lichen Lebenserfordernis ausgestattet war, wie Selbstreplikation, Metabolismus, Moti-
lität und anderem. Als sie dann eine symbiotische Partnerschaft eingingen, erwies es
sich, daß das neuentstehende Ganze – vermutlich so etwas wie eine Vorform der Amö-
ben – eine unvergleichlich stabilere, vielseitigere und anpassungsfähigere Entität war,
als man allein aus der Summierung der Einzelteile hätte erschließen können.

47
Diese moderne Hypothese steht im Einklang mit all dem, was wir über die geläufigste
Manifestation der integrativen Tendenz wissen: die Symbiose, die Partnerschaft zwi-
schen Organismen in ihren mannigfachen Formen. Sie reichen von der Verbindung von
Algen und Fungus auf Flechten bis zu dem weniger engen, aber keinesfalls weniger le-
benswichtigen Zusammenwirken von Tieren, Pflanzen und Bakterien in ökologischen
Gemeinschaften (Biozönose). Wenn die Partner verschiedenen Spezies angehören, dann
kann die Symbiose die Form des Kommensalismus annehmen – zum Beispiel Ranken-
fußkrebse, die auf dem Leib der Walfische aufsitzen – oder die des Mutualismus, wie
zum Beispiel zwischen Blütenpflanzen und bestäubenden Insekten oder zwischen
Ameisen und Blattläusen; letztere stellen so etwas wie Insekten-»Nutzvieh« dar, das die
Ameisen beschützen, das sie dafür aber auch zur Hergabe seiner Absonderungen »mel-
ken«. Gleichermaßen verschiedenartig sind die Formen des Zusammenwirkens inner-
halb der gleichen Spezies, von den kolonienbildenden Tieren aufwärts. Die Röhren-
quallen bestehen aus einem im Meer frei schwimmenden Polypenstock, bei dem jeder
Polyp eine spezielle Funktion hat; ob die Tentakel der Qualle, ihre Schwimmblasen und
Fortpflanzungseinheiten Einzelindividuen oder bloße Organe sind, das zu entscheiden
fällt in den Bereich der Semantik; jeder Polyp ist ein Holon und vereint in sich die
Merkmale von unabhängigen Ganzen mit denen von abhängigen Teilen.
Auf einer höheren Ebene der Spirale, bei den Insektengemeinschaften von Ameisen,
Bienen und Termiten, stehen wir dem gleichen Dilemma gegenüber. Die Insekten einer
Kolonie sind physisch gesonderte Entitäten, jedoch kann kein Einzeltier überleben,
wenn es von seiner Gruppe getrennt wird; ihre Existenz wird vollständig bestimmt von
den Interessen der Gruppe als Ganzes; alle Mitglieder der Gruppe stammen vom selben
Elternpaar ab, sie sind austauschbar und voneinander nicht zu unterscheiden – nicht nur
für das menschliche Auge, sondern vermutlich auch für die Insekten selbst, die zwar, so
glaubt man, Angehörige ihrer Gruppe am Geruch erkennen, aber die Einzelindividuen
nicht voneinander unterscheiden können. Überdies tauschen viele in Gemeinschaften
lebende, sogenannte »soziale« Insekten wechselseitig ihre Sekrete aus, die eine Art
chemisches Band zwischen ihnen schaffen.
Ein Einzelindividuum definiert man gewöhnlich als eine unteilbare, in sich geschlosse-
ne Einheit mit einer getrennten unabhängigen Existenz. Aber ebenso, wie man nirgend-
wo absolute Ganze antrifft, findet man auch nirgendwo in der Natur oder in der Gesell-
schaft Individuen in diesem absoluten Sinn des Wortes. Nicht Trennung und Unabhän-
gigkeit begegnet man, sondern Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit –
und zwar im Bereich der gesamten weitgespannten Skala von der rein physischen Sym-
biose bis zu den kohäsiven Banden des Vogel-, Bienen- und Fischschwarms, der Tier-
herde, der Familie und der Gesellschaft. Der Begriff des Individuums wird noch ver-
schwommener, wenn man das Kriterium der »Unteilbarkeit« anwendet. Das Wort »In-
dividuum« bedeutet ja ursprünglich genau das: es leitet sich aus dem lateinischen indi-
viduus ab, ebenso wie sich das Wort Atom aus dem griechischen átomos ableitet. Es
zeigt sich jedoch auf jeder Ebene, daß Unteilbarkeit ein nur sehr relativer Begriff ist.
Protozoen, Schwämme, Hydrozoen und Plattwürmer können sich durch einfache Tei-
lung oder durch Knospung vermehren, das heißt dadurch, daß sich ein Individuum in
zwei oder mehrere aufspaltet ad infinitum. Bertalanffy schreibt:
Wie können wir all diese Kreaturen als Individuen bezeichnen, wo sie
doch in Wirklichkeit eigentlich »Dividuen« (Teilbare) sind und ihre
Vermehrung sich gerade durch Teilung vollzieht? ... Wie können wir
darauf bestehen, ein Hydrozoon oder einen Strudelwurm als Einze-
lindividuum zu bezeichnen, wo man doch diese Tiere in so viele Teile
zerstückeln kann, wie man will, und dabei jedes Einzelstück die Fä-
higkeit behält, wieder zu einem vollständigen Organismus heranzu-

48
wachsen? ... Der Begriff vom Individuum läßt sich – zumindest im
biologischen Bereich – nur als ein Grenzbegriff verwenden.33
Zerstückelt man einen Plattwurm in sechs Teile, dann entwickelt sich innerhalb weniger
Wochen aus jedem der sechs Einzelteile wieder ein vollständiges Individuum. Sollte das
Rad der Wiedergeburt sich einmal so weit drehen, daß ich in einen Plattwurm verwan-
delt werde, dem ein ähnliches Schicksal beschieden ist, muß ich dann annehmen, daß
auch meine unsterbliche Seele in sechs unsterbliche Teilseelen aufgespalten wird? Die
christlichen Theologen werden aus diesem Dilemma leicht einen Ausweg finden, indem
sie leugnen, daß Tiere eine Seele haben; aber Hindus und Buddhisten vertreten eine an-
dere Auffassung. Auch säkular gesinnte Philosophen, die nicht von Seelen sprechen, je-
doch die Existenz eines bewußten Ichs bejahen, lehnen es ab, eine Trennungslinie zwi-
schen Lebewesen mit und ohne Bewußtsein zu ziehen. Nehmen wir jedoch an, es gäbe
eine kontinuierliche Skala vom einfachen Empfindungsvermögen primitiver Kreaturen
über verschiedene Bewußtseinsgrade bis hin zur ausgeprägten Selbst-Bewußtheit, dann
stellt uns die Kritik des Experimentalbiologen am Begriff der Individualität vor ein
echtes Problem. Die einzige Lösung scheint darin zu bestehen (siehe Kapitel 14), die
Konzeption vom Individuum als einer monolithischen Struktur fallenzulassen und sie
durch die Konzeption vom Individuum als einer offenen Hierarchie zu ersetzen, deren
Gipfel ständig zurückweicht – dem Zustand einer vollständigen Integration entgegen,
die jedoch niemals völlig erreicht wird.
Die Regeneration eines vollständigen Individuums aus dem kleinen Teilstück eines pri-
mitiven Tieres ist eine bemerkenswerte Manifestation der integrativen Kräfte der leben-
den Materie. Es gibt dafür sogar noch eindrucksvollere Beispiele. Vor nahezu einer Ge-
neration wiesen Wilson und Child in einem Experiment folgendes nach: Zermalmt man
die Gewebe eines lebenden Schwammes oder eines Süßwasserpolypen zu Brei, passiert
man den Brei durch ein feines Filter und gießt ihn hierauf in Wasser, dann beginnen die
auseinandergerissenen Zellen bald wieder zueinanderzufinden; sie schließen sich erst zu
flachen Gebilden zusammen, runden sich dann zur Kugelform, sie differenzieren und
spezialisieren sich im Verlauf dieses Prozesses und werden schließlich zu erwachsenen
Individuen mit allen charakteristischen Organen.34 Erst kürzlich haben P. Weiß und sei-
ne Mitarbeiter demonstriert, daß die in der Entwicklung befindlichen Organe in Tierem-
bryos ebenfalls imstande sind, sich genau wie Schwämme nach einer vollständigen
Zermalmung wieder zu regenerieren. Es gelang ihnen ferner, normale embryonale Nie-
ren dadurch zu produzieren, daß sie Nierengewebe von mehreren verschiedenen Em-
bryos zerstückelten und miteinander vermischten. Die holistischen Eigenschaften dieser
Gewebe überstanden nicht nur die Zerstückelung, sondern auch die Verschmelzung mit
fremden Elementen.35
Eine Verschmelzung läßt sich sogar zwischen Teilen verschiedener Spezies bewerkstel-
ligen. So hat zum Beispiel Speman zwei halbe Wassermolchembryos in ihrem frühen
Gastrulastadium miteinander kombiniert – das eine stammte von einem Streifenmolch,
das andere von einem Kammolch. Es entstand ein wohlgeformtes Tier, auf einer Seite
mit den Merkmalen des Streifenmolchs, auf der anderen mit denen des Kammolchs.
Noch unheimlicher sind neuere Experimente von Professor Harris in Oxford; er entwik-
kelte eine Technik zur Verschmelzung von menschlichen Zellen mit Mäusezellen. Wäh-
rend der Mitose verschmolzen auch die Zellkerne von Mensch und Maus, »und die bei-
den Chromosomenpaare wuchsen und vermehrten sich ganz munter innerhalb derselben
Kernmembran ...«.
Im Lichte solcher Experimentierergebnisse verliert sich die altvertraute, hausbackene
Konzeption vom Individuum völlig im Nebel. Wenn der zermalmte und regenerierte
Schwamm Individualität besitzt, dann gilt das gleiche auch für die embryonale Niere.
Von den Organellen bis zu den Organen, von den in Symbiose lebenden Organismen bis
zu den Gemeinschaften mit komplexen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen,

49
finden wir nirgendwo vollständig unabhängige Ganzheiten, sondern nur Holons – dop-
pelgesichtige Wesenheiten, die sowohl die Charakteristika geschlossener Einheiten als
auch die wechselseitig voneinander abhängiger Teile besitzen.


Auf den vorhergehenden Seiten habe ich die Phänomene der wechselseitigen Abhän-
gigkeit und der Partnerschaft in den Vordergrund gerückt: also das integrative Potential
von Holons, die Tendenz, sich als Teile eines komplexen Ganzen zu verhalten. Natür-
lich ist auch das Gegenteil nicht zu übersehen: der Wettstreit zwischen den Teilen des
Ganzen, in dem sich die selbstbehauptende Tendenz widerspiegelt. Selbst die Pflanzen
kämpfen miteinander um Licht, Wasser und Erdreich. Tierarten kämpfen miteinander
um bestimmte ökologische Bereiche, Raubtier und Beutetier ums Überleben, und inner-
halb jeder Spezies gibt es die Konkurrenz um Revier, Nahrung, Paarungsgefährten und
Macht.
Zusammenfassend kann man sagen, stabile anorganische Systeme – von den Atomen
bis zu den Milchstraßensystemen – lassen eine hierarchische Ordnung erkennen; das
Atom, das man früher für eine unteilbare Einheit hielt, ist ebenfalls ein Holon, und die
Gesetze, die für die subnuklearen Partikeln gelten, sind nicht die gleichen wie diejeni-
gen, die für Atome als Ganze gelten.
Der lebendige Organismus ist nicht ein mosaikartiges Aggregat von elementaren physi-
kalisch-chemischen Prozessen, sondern eine Hierarchie mit Teil-in-Teil-Charakter, in
der – von den subzellularen Organellen aufwärts – jedes einzelne Holon ein stabiles, mit
selbstregelnden Mechanismen ausgestattetes Gebilde darstellt und sich einer gewissen
Autonomie erfreut. Die Transplantationschirurgie und die experimentelle Embryologie
haben eindrucksvolle Beispiele dafür erbracht.
Die integrativen Lebenskräfte manifestieren sich in den Phänomenen der Symbiose zwi-
schen Organellen und in den verschiedenartigen Formen von Partnerschaft innerhalb der
gleichen Spezies und zwischen Mitgliedern verschiedener Spezies; in der Regeneration
primitiver Organismen aus fragmentanischen Einzelteilen; in der Neubildung von zer-
störten embryonalen Organen und so fort. Die sei bstbehauptende Tendenz ist ebenso
allgegenwärtig in allen Formen des Kampfes ums Dasein.

50
5 Auslöser und Filter
Die ganze Zeit über blickte der Wachtposten auf sie,
zuerst durch ein Teleskop, dann durch ein Mikroskop
und schließlich durch ein Opernglas.
Zum Schluß sagte er:
»Du wanderst in der falschen Richtung ...«
Lewis Carroll: ALICE HINTER DEN SPIEGELN

5.1 Auslöser
Man knipst einen Schalter an oder drückt einen Knopf an einer Maschine, und diese ein-
fache, mühelose Geste löst die koordinierte Aktion von Hunderten von Rädern, Kolben,
Hebeln und Röhren aus. Auslösermechanismen dieser Art, bei denen ein relativ einfa-
ches Kommando oder Signal außerordentlich komplexe, strukturierte Handlungsabläufe
auslöst, sind sowohl bei der biologischen als auch bei der sozialen Organisation häufig
vorzufinden. Auf diese Weise ist der Organismus (beziehungsweise die soziale Gemein-
schaft) in der Lage, den vollen Nutzen aus dem autonomen, selbstregulierenden Cha-
rakter seiner Teilgebilde – der Holons auf den unteren Stufen – zu ziehen. Wenn das
Kabinett beschließt, den Diskontsatz von sechs auf sieben Prozent anzuheben oder mi-
litärische Verbände an einen Krisenherd im Fernen Osten zu entsenden, dann wird diese
Entscheidung kurz und lakonisch formuliert, und zwar mit Worten, die den komplizier-
ten Handlungsablauf, der nun in Gang gebracht wird, nur implizieren, nicht aber spezi-
fizieren. Auf Grund der gefällten Entscheidung treten dann verschiedene Abteilungslei-
ter und Experten in Aktion; sie erarbeiten die ersten mehr detaillierten Anweisungen,
und so geht es weiter entlang der vielverzweigten Hierarchie bis zu den untersten Ein-
heiten – im vorliegenden Fall entweder den Bankangestellten oder den Fallschirmjä-
gern. Bei jedem weiteren Schritt, der in der Hierarchie abwärts führt, löst das gegebene
Signal strukturierte Handlungsabläufe aus, durch die die Implikationen des gegebenen
Befehls spezifiziert und vom Abstrakten ins Konkrete umgesetzt werden. Wir sahen,
daß ähnliche Prozesse auch bei der Sprachformung wirksam sind; die präverbale, unar-
tikulierte Intention, etwas zu sagen, löst die Mechanismen für die Satzgestaltung aus,
diese wiederum bringen die Syntaxregeln ins Spiel und so fort bis hinab zur Artikulie-
rung der einzelnen Phoneme.
Auch beim Vollzug manueller Fertigkeiten spielt sich der gleiche Vorgang ab; mein
bewußtes Ich gibt am Gipfel der Hierarchie den lakonischen Befehl »Zigarette anzün-
den!« und überläßt es dann den unteren Hierarchien in meinem Nervensystem, die De-
tails auszuführen, indem es Nervenimpulse aussendet, die die Subzentren aktivieren,
denen die Kontrolle über die einzelnen Muskelkontraktionen obliegt. Dieser Durchfüh-
rungsprozeß – von der Intention bis zur Ausführung – ähnelt in der Wirkungsweise ei-
ner Reihe von Kombinationsschlössern auf verschiedenen Stufen in absteigender Folge.
Jedes Holon in der motorischen Hierarchie hat – genau wie eine Abteilung der Verwal-
tungsbehörde – seine feststehenden Regeln zur Koordinierung der Bewegungen von
Gliedmaßen, Gelenken und Muskeln, je nach der Position, die es innerhalb der Hierar-
chie einnimmt; es ist also nicht erforderlich, daß der Befehl »Zigarette anzünden!« spe-
zifische Anweisungen dafür enthält, welche Aufgabe meinen einzelnen Fingermuskeln
zufällt, um ein Streichholz anzuzünden. Es genügt, daß der Befehl die entsprechenden
Zentren aktiviert, die den implizierten »chiffrierten« Befehl entziffern und dann ihrer-
seits ihre eigenen Subzentren in angemessener Folge aktivieren, gesteuert durch feed-
backs. Allgemein ausgedrückt heißt das: ein Holon auf der Stufe n der Hierarchie wird
auf der Stufe n + 1 als Einheit repräsentiert und auch als Einheit ausgelöst.*

51
* Anders ausgedrückt: das Holon ist ein System von Relationen, das auf der nächsthöheren Ebene als eine
Einheit – das heißt ein relatum – repräsentiert wird.
Wie alle vorhergehenden Verallgemeinerungen, soll auch diese für alle Arten von Hier-
archien gelten – einschließlich der hierarchischen Abfolge beim embryonalen Entwick-
lungsprozeß. Dieser wird durch einen bemerkenswerten Auslöser in Gang gesetzt: prik-
kelt man ein unbefruchtetes Froschei mit einer feinen Platinnadel, dann genügt dieser
Reiz, um die Entwicklung eines normalen Frosches aus diesem Ei in Gang zu bringen.
Entsprechende Versuche haben ergeben, daß selbst bei höheren Säugetieren – wie Ka-
ninchen und Schafen – einfache mechanische oder chemische Auslöser den gleichen Ef-
fekt erzielen. Die sexuelle Fortpflanzung ist unerläßlich, um eine Vielfalt von Spielarten
hervorzubringen; für die bloße Vermehrung genügt auch ein einfacher Auslöser.
Normalerweise ist der Auslöser natürlich eine Samenzelle. Genetiker reden davon, der
genetische Kode des befruchteten Eies enthalte den »Bauplan« für das künftige ausge-
wachsene Lebewesen, es wäre jedoch korrekter, zu sagen, er enthalte eine Reihe von
Regeln beziehungsweise Instruktionen zur Herstellung des Lebewesens. Diese Regeln
sind in einem chemischen Kodex niedergelegt, der vier Buchstaben umfaßt: A, G, C und
T (diese Initialen stehen hier für bestimmte chemische Substanzen, deren Namen für
unsere Erörterung nicht relevant sind). Die »Wörter«, die diese Buchstaben an den lan-
gen Spiralen von Chromosomen im Zellkern bilden, enthalten die Instruktionen, denen
die Zelle gehorchen muß.
Die Differenzierung der Strukturen und ihre Ausprägung im wachsenden Embryo voll-
ziehen sich schrittweise; man hat diesen Vorgang damit verglichen, wie ein Bildschnit-
zer eine Statue aus einem Stück Holz schnitzt, aber auch damit, wie das Kind zu artiku-
lieren und zusammenhängend sprechen lernt. Auf dem Weg vom befruchteten Ei zum
fertigen Produkt werden in sukzessiven Stadien die im Vierbuchstabenalphabet des ge-
netischen Kodes enthaltenen Instruktionen zunächst grob skizziert, dann zeichnerisch
ergänzt, bis das letzte Detail ausgefüllt ist; und jeder Schritt in dem Prozeß wird dabei
durch biochemische Auslöser eingeleitet (Enzyme, Induktoren, Hormone und andere
Katalysatoren).

5.2 Wie man ein Nest baut


Von der hierarchischen Ordnung in der embryonalen Entwicklung wird in Kapitel 9
noch ausführlicher geredet werden; im Augenblick wollen wir uns den Instinkthandlun-
gen der Tiere zuwenden.*
* Die meisten Handlungsweisen, die wir als »instinktiv« bezeichnen, sind in Wirklichkeit – zumindest
teilweise – durch Lernvorgänge im Frühstadium der Entwicklung erworben oder modifiziert.
Für den heranwachsenden Organismus ist der genetische Kode bestimmend; im ausge-
wachsenen Organismus geht diese Funktion auf eine andere Art von Kode über, der sei-
nen Sitz im Nervensystem hat. Er enthält die feststehenden »Spielregeln«, nach denen
sich die stereotypen Rituale des Werbens, des Paarens und des Zweikampfes vollziehen,
und er steuert auch die weit flexibleren Fertigkeiten des Bauens von Nestern, Bienen-
stöcken oder Spinngeweben. Jede dieser Fertigkeiten läßt sich wieder in hierarchischer
Ordnung in »Teilfertigkeiten« aufgliedern – das heißt in funktionelle Holons – bis hinab
zum Niveau der »festgelegten Handlungsmodelle« (wie Konrad Lorenz sie nennt). Bei
all diesen Handlungen spielt das Auslöseschema eine beherrschende und deutlich er-
kennbare Rolle. Als Auslöser fungieren bestimmte Reizfaktoren in der Umwelt: Farbe
und Formen, Gerüche und Töne, die von den Ethologen als »Auslöser« (beziehungswei-
se als »Signalauslöser«) bezeichnet werden. So sind etwa die »Braut«-Farben des
Stichlings, eines Süßwasserfisches, blaue Augen und eine rotgefärbte Unterseite. Nun
wirkt jedes auf seiner Unterseite rotgefärbte Objekt – ungeachtet seiner äußeren Form –
sofort als Auslöser, wenn es in die Nähe des »Reviers« eines männlichen Stichlings ge-

52
bracht wird. Der Stichling kennt fünf verschiedene Methoden des Drohens und Attak-
kierens, und zu jeder von ihnen gehört auch ein leicht abgewandelter Auslöser. Ähnlich
besitzt auch jede Tierart bei ihren ritualisierten Kämpfen – bei denen das Leben des un-
terworfenen Gegners geschont bleibt – ein begrenztes Repertoire von Kampfhandlun-
gen, etwa vergleichbar den Ausfällen, Stößen und Riposten der Fechter.
W. H. Thorpe hat den funktionellen Holons, die beim Nestbau der Meise eine Rolle
spielen, eine detaillierte Analyse gewidmet. Er zählte vierzehn verschiedene Handlungs-
folgen auf (wie »Suchen« und »Sammeln« von Niststoffen, »Weben«, »Andrücken«,
»Festtrampeln«, »Verkleiden« und so fort), von denen jede wieder aus einfacheren Be-
wegungsfolgen besteht; in Gang gebracht werden alle diese Tätigkeiten durch minde-
stens achtzehn verschiedene Auslöser. Anstatt endlos Ratten zu beobachten, die im
Skinnerschen Experimentierkäfig endlos einen Hebel niederdrücken, wäre es für Psy-
chologiestudenten entschieden nützlicher, Thorpes Schilderung zu studieren, die hier
stark verkürzt wiedergegeben sei:
Die Meise benutzt zum Nestbau vier verschiedene Niststoffe: Moos, Spinngewebe,
Flechten und Federn; jede dieser vier Materialien hat eine unterschiedliche Funktion
und erfordert eine entsprechend unterschiedliche fachkundige Behandlung. Die Aktion
beginnt mit der Suche nach einem passenden Nistplatz: einem in geeigneter Form gega-
belten Zweig. Ist der Nistplatz gefunden, dann wird zunächst Moos gesammelt und auf
die Zweiggabel plaziert. Das meiste davon fällt zwar wieder herunter, aber der Vogel
setzt seine Tätigkeit beharrlich so lange fort, bis einiges Moos doch haftengeblieben ist.
Ist dieses Stadium erreicht, so hört der Vogel mit dem Moossammeln auf und trägt
Spinnweben herbei; diese reibt er so lange an das Moos, bis sie haftenbleiben; dann
dehnt er sie und benutzt sie als Bindfäden. Diese Tätigkeit hält so lange an, bis eine
Plattform für das Nest zustande kommt. Nun wendet sich der Vogel wieder dem Sam-
meln von Moos zu und beginnt damit den Bau der Mulde; in sitzender Stellung »webt«
er zuerst in horizontaler, dann in vertikaler Richtung, dabei dreht er sich ständig mit sei-
nem kleinen Körper herum, während der gewölbte Rand der Mulde allmählich Gestalt
anzunehmen beginnt. In dieser Phase treten neue Bewegungsfolgen auf den Plan: das
Andrücken mit der Brust und das Festtrampeln mit den Füßen. Ist die Nestmulde etwa
zu einem Drittel fertig, beginnt der Vogel mit dem Zusammentragen des dritten
Niststoffs, der Flechten. Diese werden nur zur Verkleidung der äußeren Nestwand be-
nutzt; »das geschieht, indem sich der Vogel vom Nestinneren her über den äußeren
Rand vorbeugt und indem er in verschiedenen mehr oder minder akrobatischen Stellun-
gen an der Außenwand des Nestes hängt«. Ist die Mulde etwa zu zwei Dritteln vollen-
det, ändert sich die Nestbautätigkeit so, daß an der günstigsten Annäherungsstelle ein
sauber gearbeitetes Einflugloch entsteht. Dann wird die Nestwand rings um das Loch
verstärkt und die Nestkuppel vollendet. Jetzt kann, unter Benutzung des vierten
Niststoffes, der Federn, die Innenausstattung des Nestes beginnen. Thorpe sagt dazu:
Am bemerkenswertesten ist wohl die Tatsache, daß hier der Beweis
dafür erbracht wird, daß der Vogel in irgendeiner Form eine »Vor-
stellung« davon haben muß, wie das fertige Nest aussehen soll, und
auch eine »Vorstellung« davon, daß er mit der Hinzufügung von ei-
nem Stückchen Moos hier oder einem Stückchen Flechte dort dem
idealen Nestmodell einen Schritt näherkommt und daß andere
Stückchen an der einen oder anderen Stelle ein Abgehen von diesem
»Ideal« bedeuten würden ... Seine Handlungen sind zielgerichtet, und
er weiß genau, wann er aufhören muß.36
Vergleicht man diese Schilderung mit Watsons Schilderung der Herstellung eines Mo-
dellkleides durch Patou (»Hat er irgendein Vorstellungsbild in seinem Kopf? Nein, das
hat er nicht«) oder mit Skinners Methode bei der Konditionierung von Tauben, dann
bekommt man einen Begriff davon, welch abgrundtiefer Gegensatz zwischen der »Fla-

53
che-Erde-Theorie« der Behavioristen und der lebendigen Wirklichkeit besteht. Wo zum
Beispiel ist jener unentbehrliche »Verstärkungsfaktor«, der nach Ansicht der Behaviori-
sten bei jedem weiteren Schritt des Nestbaus erforderlich wäre, um den Vogel dazu zu
bringen, in seinem Tun fortzufahren – zu welchem nicht weniger als dreizehn verschie-
dene Arten von Nestbautätig keiten gehören? Und trotzdem fährt der Vogel, ohne je-
weils eine »Belohnung« dafür zu erhalten, in seiner Tätigkeit fort, bis das Nest vollen-
det ist. Und wie könnte man die Behauptung aufstellen, die Meise sei »von den Um-
weltbedingungen kontrolliert«, wo sie doch in dieser Umwelt nach den verschiedenen
Niststoffen suchen muß, erst nach Moos, dann nach Spinngewebe und Flechten,
schließlich nach Federn? Wie mannigfaltig diese »Umweltbedingungen« auch immer
sein mögen, dem Vogel gelingt es doch stets, die gleiche Art von Nest zu bauen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Die Hausspinne befestigt ihr Netz je nach den örtli-
chen Gegebenheiten an drei, vier oder mehr Punkten, aber sie webt es immer nach dem
gleichen symmetrischen Muster – die radialen Fäden sind stets winkelhalbierende an
den lateralen, entsprechend den feststehenden Spielregeln. Wie man diese Regeln auf
eine bestimmte Umgebung abstimmt – ob hier ein pentagonales oder dort ein hexago-
nales Netz gesponnen werden muß –, das ist eine Frage der flexiblen Taktik.
Alle Instinkthandlungen bestehen wiederum aus Hierarchien von »Unterfertigkeiten« –
im Falle der Spinne von der Beurteilung des richtigen Winkels und dem Weben des Fa-
dens –, die von feststehenden Regeln bestimmt und von geeigneten Taktiken gesteuert
werden. Diese doppelte Eigenschaft gibt uns das Recht, eine »Unterfertigkeit« als
»funktionelles Holon« zu bezeichnen. Als solches hat sie natürlich auch die anderen Ei-
genschaften der vorher erörterten Holons. Eine Fertigkeit kann im Rahmen und als Teil
eines größeren Tätigkeitsbereichs ausgeübt werden; aber jede Fertigkeit kann praktisch
auch zu einer Verhaltensweise führen, die um ihrer selbst willen vollzogen wird und
keine Einmischung von außen zuläßt. Im erstgenannten Fall dient das funktionelle Ho-
lon der Integration von Verhaltensweisen, im zweiten Fall kann es durchaus starke
selbstbehauptende Tendenzen an den Tag legen – den sprichwörtlichen »Starrsinn von
Gewohnheitshandlungen«. Welche »taktische Kniffe« man bei der Verstellung seiner
Handschrift auch immer einschlagen mag, man kann die Gerichtsexperten doch nicht
irreführen. Das gleiche gilt für den Gang, den Tonfall beim Sprechen und die Benut-
zung von bestimmten Lieblingsausdrücken. Gewohnheiten sind Verhaltensholons, die
von meist unbewußt wirksamen Regeln beherrscht werden. In ihrer Gesamtheit bilden
sie das, was wir als Persönlichkeit oder Stil bezeichnen. Jedes Holon hat aber auch ei-
nen Spielraum von taktischen Auswahlmöglichkeiten, und dieser Spielraum erweitert
sich in aufsteigender Ordnung mit der zunehmenden Komplexität auf höheren Stufen.
Wenn wir danach fragen, welche Faktoren bewußte Entscheidungen am Gipfel der
Hierarchie bestimmen, dann finden wir uns abermals in einer endlos regressiven Serie!

54
5.3 Filter
Bisher haben wir uns mit dem output (dem Leistungsvollzug) befaßt: der Umwandlung
einer Intention in eine Aktion; dazu gehörten auch die »Intention« des befruchteten Ei-
es, sich zu einem ausgewachsenen Exemplar seiner Art zu entwickeln, sowie diejenige
einer fruchtbaren Idee, Ausdruck in artikulierter Sprache zu finden. Bevor wir uns nun
mit dem input (der »Einfuhr« von Empfindungen und Wahrnehmungen) befassen, wol-
len wir uns noch einmal der Analogie mit einer militärischen Operation im Bereich der
konventionellen Kriegführung zuwenden.
Der Kommandierende General gibt einen Befehl heraus, der den Plan für die in Aus-
sicht genommene Aktion in groben Zügen umreißt; dieser Befehl wird dann vom Divi-
sionsstab über den Brigadestab bis zum Bataillonsstab etc. weitergeleitet; auf jeder fol-
genden Stufe der militärischen Hierarchie wird der Plan detaillierter ausgearbeitet, bis er
schließlich in allen Einzelheiten festliegt. Der umgekehrte Prozeß läuft ab, wenn Infor-
mationen über die Truppenbewegungen des Feindes und die Beschaffenheit des Ter-
rains nach oben weitergegeben werden. Die Informationen werden auf dem untersten
Niveau, von Aufklärungspatrouillen in den örtlichen Frontabschnitten, gesammelt.
Wenn dann der Strom dieser Information entlang den konvergierenden Zweigen der
Hierarchie nach oben weitergeleitet wird, so wird dabei auf den einzelnen Stufen Unwe-
sentliches ausgesiebt, der Informationsgehalt wird kondensiert, gefiltert und mit Daten
aus anderen Quellen kombiniert. Dieser Prozeß stellt ein simplifiziertes Modell für die
Arbeitsweise des sensorisch-motorischen Nervensystems dar.
Auf der motorischen Seite begegnen wir einer Reihe von »Auslösern«. Auf der perzep-
torischen Seite finden wir statt dessen eine Reihe von »Filtern« oder »Abtastvorrichtun-
gen«, durch die der vitale Informationsgehalt bei seinem schrittweisen Aufstieg vom
Sinnesorgan zur Hirnrinde geschleust werden muß. Ihre Funktion besteht darin, die von
diesem Strom getragenen Informationen zu analysieren, zu entschlüsseln, zu klassifizie-
ren und zu abstrahieren, bis schließlich die chaotische Masse der Empfindungsreize, die
unablässig auf die Sinne einwirken, in sinnvolle Botschaften umgewandelt wird.
Glücklicherweise kommen uns die inputverarbeitenden Prozesse größtenteils nicht zum
Bewußtsein. Sie werden von einer Hierarchie von Bearbeitungsinstanzen vollzogen, die
in den Wahrnehmungsapparat eingebaut sind. Auf der untersten Stufe werden zunächst
alle Reize ausgesiebt, die für die gegenwärtige Aktion oder die momentane Stimmung
irrelevant sind. Normalerweise ist man sich zum Beispiel des Drucks, den der Stuhl, auf
dem man sitzt, gegen das Gesäß ausübt, nicht bewußt und auch nicht des Kontakts zwi-
schen Haut und Kleidung. Auch das Auge und das Ohr sind mit solchen selektiven Sie-
bungsvorrichtungen ausgestattet (laterale Inhibition, Habituation und so weiter).
Die nächste Stufe bei den Bearbeitungsvorgängen erscheint geradezu verblüffend – so-
bald man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken. Hält man den Zeigefinger der
rechten Hand in einem Abstand von 25 Zentimeter und den gleichen Finger der linken
Hafid mit einem Abstand von 50 Zentimeter vor die Augen, dann erscheinen einem bei-
de gleich groß, obwohl auf der Netzhaut das Abbild des einen Fingers doppelt so groß
ist wie das des anderen. Personen, die in einem Raum umhergehen, scheinen an Größe
weder zu noch abzunehmen, obwohl das eigentlich der Fall sein müßte; wir wissen aber,
daß ihre Größe konstant bleibt, und dieses Wissen schaltet sich irgendwo im Nervensy-
stem in den Sehvorgang ein – und verfälscht diesen in der noblen Absicht, ihn mit der
Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Die Linse eines Photoapparats besitzt einen sol-
chen eingebauten Mechanismus nicht; sie zeigt – der Wirklichkeit entsprechend – den
linken Zeigefinger doppelt so groß wie den rechten, und der der Kamera entgegenge-
streckte Fuß eines sonnenbadenden Mädchens sieht wie ein fortgeschrittener Fall von
Elefantiasis aus. »Selbst unsere elementaren Wahrnehmungen«, schreibt Bartlett, »sind

55
durch gedankliche Schlußfolgerungen beeinflußt«,37 aber der Folgerungsprozeß voll-
zieht sich in den unbewußten Schichten der Hierarchie.
Die Tendenz, ein vertrautes Objekt – ohne Rücksicht auf dessen Entfernung von uns –
in seiner natürlichen Größe wahrzunehmen, bezeichnen die Psychologen als das »Phä-
nomen der Größenkonstanz«. Aber nicht nur die Größe, auch die Farbe und Form des
Netzhautbildes eines sich bewegenden Objekts ändern sich ständig, je nach Entfernung,
Beleuchtung und Blickwinkel; meistens nehmen wir jedoch diese Veränderungen nicht
wahr. Zu dem Phänomen der Größenkonstanz treten also noch die Phänomene der
Farbkonstanz und der Formkonstanz.
Diese Konstanzen sind jedoch nur ein Teil unseres Repertoires an perzeptorischen Fer-
tigkeiten, die eine Art Grammatik der Sicht bilden und auch die »Spielregeln« enthalten,
die uns in den Stand versetzen, in dem dauernd wechselnden Mosaik von Sinnesreizen
das Sinnvolle wahrzunehmen. Zwar wirken die Spielregeln automatisch und unbewußt,
aber sie lassen sich durch Lernen modifizieren. Wenn jemand in einem psychologischen
Laboratorium eine »Umkehrbrille« aufsetzt, in der sein eigener Körper und die Umwelt
auf den Kopf gestellt erscheinen, dann kommt er sich zunächst völlig verloren vor, er
kann nicht einmal richtig gehen und fühlt sich möglicherweise seekrank. Nach einigen
Tagen, während welcher er diese Brille ständig trägt, paßt er sich der neuen Situation an
und gewöhnt sich daran, in einer umgekehrten Welt zu leben. Zunächst erfordert der
Anpassungsprozeß bewußte Anstrengungen, nach längerer Zeit ist sich jedoch der Ver-
suchskandidat kaum mehr der Tatsache bewußt, daß die Welt für ihn visuell auf dem
Kopf steht. Das Netzhautbild bleibt natürlich umgekehrt, und das gleiche gilt für seine
Projektion auf der Hirnrinde, aber das »geistige Vorstellungsbild« – es gibt dafür keinen
besseren Ausdruck – hat nun die richtige Lage; nimmt er in dieser Phase die Experi-
mentierbrille wieder ab, dann braucht er von neuem einige Zeit, um sich wieder den
normalen Verhältnissen anzupassen.*
* Das ist die simplifizierte Schilderung
38
eines etwas umstrittenen
39
Phänomens. Ausführlicher behandeln
dieses Thema zum Beispiel Gregory und Kottenhoff.
Unsere perzeptorischen Gewohnheiten sind ebenso starr wie unsere motorischen. Es ist
ebenso schwer, unsere Art, wie wir die Welt sehen, zu ändern, wie es schwierig ist, un-
sere Unterschrift oder unseren Tonfall beim Sprechen zu ändern; jede Gewohnheit folgt
ihren eigenen Spielregeln. Die Mechanismen, die unsere Art, zu sehen und zu hören,
bestimmen, sind Teilgebilde unseres Wahrnehmungsapparats, aber sie operieren, als
quasi-unabhängige funktionelle Holons, im Nervensystem.
Auf der nächsthöheren Stufe der Hierarchie begegnen wir dem verblüffenden Phänomen
der Gestaltwahrnehmung – oder, anders ausgedrückt, der Frage, wie wir Allgemeinbe-
griffe abstrahieren und erkennen. Hört man sich von einer Schallplatte eine Stelle aus
einer Oper an, bei der, sagen wir, fünfzig Instrumente und vier Singstimmen mitwirken,
und schaut man dann mit einem Vergrößerungsglas auf die Platte, so wird der ganze
Zauber auf die eine einzige, wellenförmig verlaufende Spirale der Plattenrille reduziert.
Hier ergibt sich ein ähnliches Problem wie bei der Interpretation der Sprache (siehe Ka-
pitel 2). Auch die Luftdruckwellen, die dem Ohr die Opernmusik vermitteln, haben nur
eine einzige Variable: Druckvariationen in der zeitlichen Dimension. Die einzelnen In-
strumente und Stimmen sind alle übereinandergelagert: Violinen, Flöten, Sopran und so
weiter sind zu einem akustischen Brei verschmolzen, und diese Mixtur ist zu einem ein-
zigen langen Nudelfaden geworden – zu einer modulierten Welle, die das Trommelfell
mit variierender Intensität bald in raschere, bald in langsamere Schwingungen versetzt.
Die Schwingungen werden im Inneren des Ohrs in eine Folge von reinen Tönen zerlegt,
und diese Tonfolge wird dann dem Gehirn übermittelt. Alle Information in bezug auf
die einzelnen Instrumente, deren Klänge sich zu dem akustischen Brei vermischt haben,
scheint unwiederholbar verlorengegangen zu sein. Und doch hören wir, wenn wir der
Schallplattenwiedergabe lauschen, nicht eine Folge von reinen Tönen, sondern wir hö-

56
ren ein Ensemble von Orchesterinstrumenten und menschlichen Stimmen, jedes mit sei-
nem charakteristischen Timbre. Wie diese Prozedur des Zerlegens und Wiederzusam-
menfügens vor sich geht, können wir bis heute nur recht notdürftig begreifen,* und kein
Lehrbuch der Psychologie scheint dieses Problem einer Erörterung für wert zu halten.
Aber irgendwie sind wir doch imstande, aus dem tönenden Fluß stabile Muster zu ab-
strahieren – so »fischen« wir zum Beispiel aus ihm die Klangfarbe der Flöte und ande-
rer Instrumente heraus. Diese Muster sind die Wahrnehmungs-Holons des Zuhörens.
Auf den höheren Stufen der Hierarchie bilden sie dann noch komplexere Gefüge der
Melodie, der Harmonie, des Kontrapunkts auf Grund sehr komplexer »Spielregeln«.
* Siehe THE ACT OF CREATION, S. 516 ff.
Melodie, Klangfarbe und Kontrapunkt sind Gefüge in der Dimension Zeit – wie Pho-
neme, Wörter und Sätze. Keines dieser Gefüge ergibt einen Sinn, einen musikalischen
oder sprachlichen Sinn, wenn man es als eine lineare Kette von elementaren Einheiten
betrachtet. Die von den Luftwellen übermittelte Botschaft läßt sich nur entschlüsseln,
indem man die Muster wahrnimmt, die gleich Arabesken in einem Orientteppich in
komplexere Strukturen eingebaut sind. Wie schon gesagt, wirkt dieser Prozeß noch ge-
heimnisvoller, weil die Zeit nur eine Dimension hat. Aber das Erkennen von dreidimen-
sionalen räumlichen Gestalten ist ein nicht minder schwieriges Problem. Wie erkennt
man ein Gesicht, eine Landschaft, ein gedrucktes Wort auf einen einzigen Blick wieder?
Selbst die Identifizierung eines einzelnen Buchstabens, der in verschiedenen Hand-
schriften, in verschiedenen Größen, in verschiedenen Positionen auf der Netzhaut er-
scheint, stellt für den Psychologen ein nahezu unlösbares Problem dar. Um das Gesehe-
ne zu identifizieren, muß das Gehirn irgendwelche Erinnerungsspuren aktivieren; aber
wir können unmöglich sämtliche Erinnerungsspuren konservieren, die allen erdenkli-
chen Variationen für die Schreibweise des Buchstaben f entsprächen – ganz zu schwei-
gen von komplizierteren Figuren. Es muß hier ein sehr subtiler Abtastprozeß wirksam
sein, der zunächst charakteristische einfache Züge innerhalb des komplexen Ganzen
identifiziert (visuelle Holons wie Kreise, Schlingen, Dreiecke), der dann die Beziehun-
gen zwischen diesen Merkmalen und schließlich die Beziehungen zwischen den einzel-
nen Beziehungen abstrahiert. Unsere Augen sind in der Tat ständig mit einer Vielzahl
verschiedener Arten von Abtastbewegungen beschäftigt, deren wir uns nicht bewußt
sind; Experimente haben gezeigt, daß das Gesichtsfeld zerfällt, wenn man diese Ab-
tasttätigkeit künstlich verhindert. Das Gesichtsfeld abtasten heißt, das räumliche Bild in
eine Folge von zeitlichen Impulsen umwandeln, so wie die Fernsehkamera das von ihr
bestrichene Sehfeld in eine Folge von zeitlichen Impulsen transponiert, die dann vom
Empfangsgerät wieder in das Bild auf dem Bildschirm rückübersetzt werden. Umge-
kehrt extrahiert das Nervensystem, wenn wir uns Sprache oder Musik anhören, Konfi-
gurationen in der zeitlichen Dimension, die es dann in das dreidimensionale Gehirn
projiziert. Wir transponieren ständig zeitliche in räumliche Strukturen und räumliche
Vorgänge in zeitliche Folgen. Lashley sagte in einem klassischen Ausspruch:
Die räumliche und die zeitliche Ordnung scheinen bei der Gehirntä-
tigkeit nahezu völlig austauschbar zu sein.40
Das Rohmaterial der Erfahrung muß also eine Reihe von Relais-Stationen passieren, in
denen es gesiebt, abgetastet, klassafiziert und analysiert wird. Ein entscheidender Schritt
ist der Übergang von den perzeptorischen zu den konzeptuellen Stufen der Hierarchie –
von der Sinneswahrnehmung zur symbolischen Bedeutung. Der Klang der Silben fiu
und lány bedeutet an sich nichts. Beide Silben sind inhaltsleer und haben keine Bezie-
hung zueinander. Eine solche Beziehung wird jedoch sofort hergestellt, wenn man er-
fährt, daß im Ungarischen fiu Junge bedeutet und lány Mädchen. Haben wir den Klang
einer Silbe erst einmal mit einem bestimmten Sinngehalt verheiratet, dann läßt sich die
Ehe nicht wieder lösen.

57
Die Sinngehalte, die wir diesen Lautstrukturen beimessen, ergeben sich aus den Kon-
ventionen der Sprache. Der Mensch hat ein unwiderstehliches Verlangen, in alles, was
auf ihn zukommt, einen Sinn hineinzulesen; und läßt sich keiner finden, dann erfindet er
ihn. Er glaubt in einer Wolke ein Kamel zu erkennen, ein verborgenes Gesicht im Blatt-
gewirr eines Baumes, einen Schmetterling im Tintenklecks beim Rohrschach-Test; er
glaubt eine Botschaft aus dem Rattern der Waggonräder herauszuhören. Das Sensorium
extrahiert Sinn aus der chaotischen Umwelt, wie der Verdauungsapparat Energie aus der
Nahrung extrahiert. Schauen wir auf einen byzantinischen Mosaikfußboden, dann neh-
men wir ihn nicht als eine Summe von einzelnen Steinfragmenten wahr, ganz automa-
tisch verbinden wir die Fragmente zu Teilgebilden – Ohren, Nasen, Gewanddrapierun-
gen –, diese Teilgebilde zu einzelnen Figuren und diese schließlich zu einer Gesamt-
komposition. Wenn ein Karikaturist ein menschliches Antlitz zeichnet, bedient er sich
der umgekehrten Prozedur: er skizziert das Gesicht in groben Umrissen, dann zeichnet
er Augen, Mund und Ohren ein, und zwar als quasi-autonome Teilstrukturen, anatomi-
sche Holons, die sich mit gewissen Tricks und Formen schematisieren lassen.
Das hierarchische Prinzip ist ein inhärenter Faktor unserer Wahrnehmung; es läßt sich
jedoch durch Lernen und Erfahrung noch verfeinern. Wenn ein Kunststudent einige
Grundkenntnisse in der Anatomie erwirbt, dann verbessert er damit nicht die Geschick-
lichkeit seiner Finger, sondern die seiner Augen. Constable studierte die verschiedenen
Arten von Wolkenbildungen und klassifizierte sie in Kategorien; er erwarb dadurch ein
visuelles »Wolkenvokabular«, das ihn befähigte, Firmamente zu sehen und zu malen,
wie das niemand vor ihm getan hatte. Das geübte Auge des Bakteriologen oder des
Röntgenspezialisten befähigt diese, die von ihnen gesuchten Objekte zu identifizieren,
während der Laie an den gleichen Stellen nur verschwommene Schatten erblickt.
Hat die Natur eine Abscheu vor der Leere, so hat der Geist eine Abscheu vor dem
Sinnlosen. Zeigt man einer Versuchsperson einen Tintenklecks, dann beginnt sie sofort,
ihn in eine Hierarchie von Formen, Tentakeln, Rädern und Masken oder in einen Reigen
von Figuren zu organisieren. Als die Babylonier ihre ersten Sternkarten anfertigten,
gruppierten sie zunächst die Sterne zu bestimmten Sternbildern: Löwe, Jungfrau, Schüt-
ze, Skorpion und so weiter, das heißt, sie faßten sie zu Teilgebilden zusammen: zu
himmlischen Holons. Die ersten Kalendermacher woben den linearen Faden der Zeit in
das hierarchische Muster von Sonnentagen, Mondmonaten und olympischen Zyklen.
Ähnlich unternahmen es auch die griechischen Astronomen, den kontinuierlichen, ho-
mogenen Raum in eine Hierarchie von acht himmlischen Sphären aufzuteilen und jede
mit einem eigenen Räderwerk von Epizyklen auszustatten.
Wir sind geradezu gezwungen, die Natur als eine Organisation mit Teil-in-Teil-
Charakter zu interpretieren, denn die gesamte lebende Materie und alle stabilen anorga-
nischen Systeme besitzen eine Teil-in-Teil-Struktur, die ihnen Artikulierung, Kohärenz
und Stabilität sichert; und wo diese Struktur nicht inhärent oder erkennbar ist, dort
schafft sie sich der menschliche Geist, indem er Schmetterlinge in Tintenkleckse und
Kamele in die Wolken projiziert.

58
5.4 Zusammenfassung
In motorischen Hierarchien wird eine implizite Absicht oder ein allgemein gehaltener
Befehl im Verlauf ihres Abstiegs zu den Ausführungsorganen der Hierarchie Schritt für
Schritt spezifiziert und konkretisiert. In der perzeptorischen Hierarchie spielt sich der
umgekehrte Prozeß ab: das von den Rezeptoren an der Peripherie des Organismus ein-
gespeiste Rohmaterial wird bei seinem Aufstieg zum Scheitel der Hierarchie mehr und
mehr »entspezifiziert« und von Belanglosigkeiten gesäubert. Die output-Hierarchie
konkretisiert, die input-Hierarchie abstrahiert. Erstere arbeitet mit Hilfe von Auslöse-
vorrichtungen, letztere mit Hilfe von Filter- und Abtastvorrichtungen. Wenn ich die Ab-
sicht habe, den Buchstaben R niederzuschreiben, aktiviert ein Auslöser ein funktionelles
Holon, ein automatisiertes Gefüge von Muskelkontraktionen, die dann den Buchstaben
R in meiner charakteristischen Handschrift hervorbringen. Wenn ich lese, identifiziert
eine Abtastvorrichtung in meiner Hirnrinde den Buchstaben R und ignoriert den Cha-
rakter der Handschrift. Auslöser setzen mit Hilfe eines simplen chiffrierten Signals
komplexe Handlungen in Gang. Abtastvorrichtungen funktionieren umgekehrt: sie ver-
wandeln komplexe Sinneswahrnehmungen in ein simples, chiffriertes Signal.

59
6 Die Kunst des Vergessens
Mais où sont les neiges d’antan?
François Villon
»Ich bin ein Künstler im Vergessen«, sagt einer von Stevensons Helden. Er spricht uns
allen aus dem Herzen. Unsere teuren Erinnerungen sind wie Bodensätze im Weinglas,
die armseligen Überbleibsel von Wahrnehmungen, deren Aroma verflogen ist. Ich be-
eile mich hinzuzufügen, daß es natürlich Ausnahmen gibt – Erinnerungen von fast hal-
luzinatorischer Intensität an Szenen oder Episoden, die für uns eine besondere emotio-
nelle Bedeutung haben. Ich werde diese Art von Gedächtnis – im Gegensatz zum »ab-
strahierenden« Gedächtnis – als »Bildstreifen«-Gedächtnis bezeichnen und im weiteren
Verlauf des Kapitels noch darauf zurückkommen.

6.1 Das abstrahierende Gedächtnis


Ein Großteil von dem, woran wir uns aus der eigenen Lebensgeschichte und den in ih-
rem Verlauf erworbenen Kenntnissen noch erinnern können, fällt in den »abstrahieren-
den« Bereich. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: das Zuschauen bei einem Fernseh-
spiel. Der exakte Wortlaut des Satzes, den der Schauspieler spricht, ist bereits verges-
sen, wenn er bei der nächsten Textzeile ankommt: nur der Sinngehalt bleibt zurück; am
nächsten Morgen erinnert man sich noch an einzelne Szenen; nach einem Jahr weiß man
nur, daß es sich um ein Dreiecksverhältnis zwischen zwei Männern und einer Frau han-
delte und daß das Stück auf einer unbewohnten Insel spielte. Das ursprüngliche Erlebnis
hat Fleisch und Blut eingebüßt und ist zu einem Skelett reduziert worden. Ähnlich geht
es uns mit Büchern, die wir gelesen, und Episoden, die wir durchlebt haben. Im Lauf
der Zeit wird die Erinnerung mehr und mehr auf einen umrißhaften Charakter reduziert,
auf ein kondensiertes Abstraktum des ursprünglichen Erlebnisses. Das Stück, das man
vor einem Monat gesehen hat, ist schrittweise abstrahiert worden, und bei jedem Schritt
wurden detaillierte Vorgänge zu allgemeineren Schemata kondensiert; schließlich ist ei-
ne bloße Formel übriggeblieben: das Dreieck. Der Autor hatte seine ursprüngliche Idee
in vier Akte gegliedert, die Akte in Szenen aufgeteilt, die sich ihrerseits wieder in Dia-
loge, in Sätze und Wörter verzweigten. Das Gedächtnis des Zuschauers kehrt diesen
Prozeß um: es läßt den weitverzweigten Baum allmählich bis auf seine Wurzeln ab-
schrumpfen, wie in einem rückwärtslaufenden Trickfilm.
Das Wort »abstrakt« hat zwei geläufige Bedeutungen; es bedeutet erstens den Gegen-
satz von »konkret« in dem Sinn, daß es sich auf allgemeine Begriffe und nicht auf einen
speziellen Fall bezieht; zweitens bedeutet »abstrahieren«: das Hauptsächliche aus dem
Inhalt eines Buches oder eines Dokuments herausziehen und es kurz zusammenfassen,
wie das etwa Beamte tun, die einen Schriftsatz für ihre Vorgesetzten vorbereiten. Das
Gedächtnis abstrahiert im Sinne beider Wortbedeutungen.
Das ist jedoch, wie bereits eingangs bemerkt, keinesfalls alles. Wäre das der Fall, dann
wären wir Computer und keine Menschen. Zunächst wollen wir uns noch ein wenig aus-
führlicher mit diesem Abstraktionsmechanismus befassen. Die Gedächtnisbildung ist
ein Prozeß, der mit der Wahrnehmung Hand in Hand geht. Man hat berichtet, jeder Be-
sucher, der Stalin sehen wollte, mußte – vom äußeren Kremltor bis zur Eingangstür zum
Allerheiligsten – siebzehn Tore passieren, und an jedem Tor habe er sich einer jeweils
immer gründlicher werdenden Durchsuchung unterziehen müssen. Wir haben bereits
festgestellt, daß der Wahrnehmungsinput einer ähnlich gründlichen Untersuchung un-
terworfen ist, bevor er das Tor zum Bewußtsein durchschreiten darf. An jedem Tor der

60
Wahrnehmungs-Hierarchie wird er analysiert, klassifiziert und von Details entkleidet,
die für den vorliegenden Zweck nicht relevant sind. Wir erkennen, daß der Buchstabe R,
auch wenn er in schier unlesbarem Gekritzel niedergeschrieben wurde, »das gleiche
Ding« ist wie das riesige R in der Schlagzeile einer Tageszeitung; das geschieht mit Hil-
fe eines Abtastprozesses, der Details als irrelevant unberücksichtigt läßt und nur den
fundamentalen »R-Charakter« des R an die höhere Instanz signalisiert. Das Signal kann
dann in einer Art von einfachem Morsekode verschlüsselt werden; es enthält die we-
sentliche Botschaft, auf die es ankommt – »Es ist ein R« –, in kondensierter Form, aber
die Masse der Details ist natürlich verlorengegangen. Der Abtastprozeß ist in der Tat die
genaue Umkehrung des Auslöseprozesses.
Selbst die wenigen aus der Masse der ständig auf unsere Sinne einstürmenden Reize, die
alle Siebungsprozesse erfolgreich überstanden und so den Status eines bewußt wahrge-
nommenen Ereignisses erlangt haben, müssen sich für gewöhnlich noch einer weit rigo-
roseren Prozedur unterziehen, bevor sie für wert erachtet werden, in den permanenten
Erinnerungsvorrat aufgenommen zu werden; und mit fortschreitender Zeit ist auch das
skelettartige Abstraktum noch einem weiteren Zerfall ausgesetzt. Wer einmal den Ver-
such unternimmt, einen detaillierten Bericht über sein Tun und Lassen in der vorletzten
Woche zu schreiben, wird peinlich überrascht sein über die »Zerfallsrate« und über die
Menge der unwiederholbar verlorenen Details.
Eine solche Verarmung der durchlebten Erfahrungen ist im Grunde unvermeidbar.
Teilweise ist sie schon allein aus Sparsamkeitsgründen erforderlich; zwar ist die Spei-
cherkapazität des Gehirns vermutlich weit größer, als daß sie von den meisten Leuten je
in ihrem Leben voll ausgenützt würde, aber entscheidend ist die Tatsache, daß die Pro-
zesse der Verallgemeinerung und des Abstrahierens schon auf Grund ihrer Definition
das Weglassen von spezifischen Details implizieren. Würden wir nicht Allgemeinbe-
griffe wie R, Baum oder Hund abstrahieren, sondern bestünde unser Gedächtnis statt
dessen aus einer Kollektion all unserer ganz spezifischen Erfahrungen mit R, Bäumen
und Hunden – sozusagen als Vorratslager von Diapositiven und Tonbändern –, dann
wäre es völlig nutzlos: da keine Sinneswahrnehmung in allen Punkten mit einem der
aufbewahrten Dias oder Tonbänder identisch sein kann, wären wir niemals imstande,
ein R zu identifizieren, einen Hund zu erkennen oder einen gesprochenen Satz zu ver-
stehen. Wir würden uns in dieser immensen Vorratskammer von Spezialartikeln nicht
einmal zurechtfinden. Das abstrahierende Gedächtnis dagegen schafft ein System des
gespeicherten Wissens, bei dem alles hierarchisch geordnet ist – eingeteilt in Sachgrup-
pen und Untergruppen und mit Querverweisen versehen, ähnlich jenen im Sachregister
eines Bibliothekskataloges. Gelegentlich mag sich ein Band an der falschen Stelle be-
finden, oder einige besonders farbenfrohe und auffällige Buchhüllen mögen herausste-
chen und das Auge auf sich ziehen, im großen und ganzen aber bleibt das Ord-
nungsprinzip erhalten.

61
6.2 Eine spekulative Auffassung
Für die im Verlauf des Abstraktionsprozesses unvermeidbare Verarmung der durchleb-
ten Erfahrungen gibt es glücklicherweise einige Kompensationsmöglichkeiten.
Vor allem kann der Abtastprozeß durch Lernen und Erfahrung erheblich differenziert
werden. Für den Uneingeweihten haben alle Rotweine den gleichen Geschmack, für ihn
sehen alle japanischen Männer gleich aus. Aber auch er kann durch Übung und Geduld
erreichen, daß verfeinerte Abtastvorrichtungen an die Stelle der gröberen treten, ähnlich
wie Constable es fertigbrachte, zwischen verschiedenen Wolkentypen zu unterscheiden
und sie in Unterkategorien zu klassifizieren. Auf diese Weise können wir lernen, immer
feinere Nuancen zu abstrahieren, das heißt, die Wahrnehmungs-Hierarchie um immer
neue Zweige zu bereichern.
Zweitens basiert das Gedächtnis nicht auf einer einzigen abstrahierenden Hierarchie,
sondern auf verschiedenen ineinander verschränkten Hierarchien – wie etwa denen des
Sehens, des Schmeckens und des Hörens. Es ist so etwas wie ein Wald, der zwar aus
einzelnen Bäumen besteht, deren Äste sich jedoch ineinander verflechten – oder wie ein
Bibliothekskatalog mit Querverweisen auf die verschiedenen Sachgebiete. So geht zum
Beispiel das Erkennen eines Geschmacks häufig von einem identifizierten Geruch aus,
obwohl wir uns dessen nicht bewußt sind. Es gibt jedoch noch subtilere Querverbindun-
gen. So kann man eine auf einer Violine gespielte Melodie wiedererkennen, obwohl
man sie beim vorhergehenden Mal auf dem Klavier gespielt gehört hat; und anderseits
kann man den Klang einer Violine erkennen, obwohl man beim vorhergehenden Mal
eine ganz andere Melodie auf ihr gehört hat. Wir müssen daher annehmen, daß Melodie
und Klangfarbe abstrahiert und dann voneinander unabhängig in gesonderten Hierar-
chien gespeichert worden sind, zwar innerhalb der gleichen Sinnesmodalität, aber mit
unterschiedlichen Relevanzkriterien. Die eine Hierarchie abstrahiert die Melodie und
sondert alle anderen Ingredienzen als irrelevant aus, die andere abstrahiert die Klangfar-
be des Instruments und behandelt die Melodie als irrelevantes Element. Auf diese Weise
gehen nicht alle im Verlauf der Siebungsprozesse ausgesonderten Details völlig verlo-
ren, denn Details, die auf Grund der Relevanzkriterien einer Hierarchie ausgesondert
und abgestoßen wurden, können durchaus von einer anderen Hierarchie mit unter-
schiedlichen Relevanzkriterien beibehalten und gespeichert werden.
Das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen eines Erlebnisses würde danach mit Hilfe des Zusam-
menwirkens mehrerer ineinander verschränkter Hierarchien möglich sein, die entweder
verschiedenen Sinnesmodalitäten – zum Beispiel Sehen und Hören – zugeordnet sein
könnten, bei denen es sich aber auch um verschiedene Zweige innerhalb derselben Sin-
nesmodalität handeln könnte. Jede für sich genommen würde nur einen Aspekt des ur-
sprünglichen Erlebnisses aktivieren und so eine drastische Verarmung herbeiführen. So
könnte man sich etwa des Textes der Arie »Wie eiskalt ist dies Händchen« erinnern,
während einem die Melodie verlorengegangen ist. Oder man erinnert sich nur der Me-
lodie und hat den zugehörigen Text vergessen. Schließlich mag man Carusos Stimme
von der Schallplatte wiedererkennen, ohne sich daran zu erinnern, welche Arie man ihn
zuletzt singen hörte. Sind jedoch zwei dieser Faktoren – oder gar alle drei – im Ge-
dächtnis gespeichert, dann wird man natürlich das ursprüngliche Erlebnis wesentlich
vollständiger rekonstruieren können.
Man könnte diesen Prozeß mit dem Verfahren beim Mehrfarbendruck vergleichen, bei
dem mehrere Farbschichten übereinandergelagert werden. Das zu reproduzierende Ge-
mälde – das ursprüngliche Erlebnis – wird mit Hilfe verschiedener Farbfilter auf blauen,
roten und gelben Platten photographiert; jede von ihnen behält nur die Merkmale, die
für sie »relevant« sind – das heißt diejenigen, die ihrem eigenen Farbton entsprechen –,
und ignoriert alle anderen Merkmale; zum Schluß werden alle Einzelaufnahmen zu ei-

62
ner mehr oder minder originalgetreuen Wiedergabe des ursprünglichen Erlebnisses ver-
eint. Jede Hierarchie hätte demnach eine andere zu ihr gehörige »Farbe«, wobei Farbe
als Symbol für die Relevanzkriterien dieser Hierarchie steht. Welche gedächtnisbilden-
den Hierarchien zu einem gegebenen Zeitpunkt wirksam werden, hängt natürlich von
den allgemeinen Interessen und von der momentanen Gemütsverfassung des betreffen-
den Individuums ab.
Daß das Gedächtnis nicht eine Vorratskammer von Diapositiven und Tonbändern und
auch nicht von S-R-Bauelementen sein kann, ist ohne weiteres klar. Die alternative Hy-
pothese, die ich hier vorgetragen habe – daß das Gedächtnis in Hierarchien mit unter-
schiedlichen Relevanzkriterien zerlegbar ist –, ist, offen gesagt, rein spekulativer Natur.
Doch findet man einige Beweisansätze für sie in einer Reihe von Experimenten, die ich
gemeinsam mit James Jenkins im psychologischen Forschungsinstitut an der Stanford
University durchgeführt habe.*
41
* Die Versuchsergebnisse sind in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Der Kern der Experi-
mente bestand in folgender Prozedur: Jeder Versuchsperson wurde (vermittels eines Tachistoskops) für
1
/100 Sekunde eine aus acht oder neun Ziffern bestehende Zahl gezeigt, anschließend mußte sie versuchen,
die Zahl korrekt zu wiederholen. Die Ergebnisse von mehreren hundert Versuchen zeigen, daß eine sehr
hohe Anzahl von Fehlern (nahezu fünfzig Prozent) darin bestand, daß die Versuchsperson zwar imstande
war, alle in der Zahlenfolge auftretenden Ziffern korrekt zu identifizieren, daß sie dabei aber die Position
von zwei oder drei benachbarten Ziffern vertauschte. Dieses Ergebnis scheint zu bestätigen, daß die Iden-
tifizierung von einzelnen Ziffern und das Festlegen ihrer Position innerhalb der Serie von verschiedenen
Zweigen der Wahrnehmungs-Hierarchie besorgt werden.

6.3 Zwei Arten von Gedächtnis


Die Farbendruck-Hypothese erklärt bis zu einem gewissen Grad die Phänomene beim
Ins-Gedächtnis-Zurückrufen von Erlebnissen, aber sie bezieht sich auf den abstrahie-
renden Gedächtnistyp, und er allein kann nicht die ungewöhnliche Lebendigkeit der zu
Beginn des Kapitels erwähnten »Bildstreifen« herbeiführen. Nach rund vierzig Jahren
kann ich noch heute den großen österreichischen Schauspieler Alexander Moissi gut hö-
ren, wie er mit flüsternder Stimme die letzten Worte eines in geistige Umnachtung Ver-
sinkenden spricht: »Gib mir die Sonne.« Ich habe völlig vergessen, wovon das Stück
handelte und wer der Autor war – es kann sich um Strindberg, Ibsen oder Tolstoi han-
deln –, nur dieses eine aus dem Zusammenhang gerissene Fragment ist mir mit geradezu
halluzinatorischer Klarheit in Erinnerung geblieben.
Fragmente dieser Art, die den Zerfall des Ganzen, zu dem sie einmal gehörten, überdau-
ert haben – wie eine Locke, die sich am Schädel der Mumie einer ägyptischen Prinzes-
sin erhalten hat –, besitzen eine beschwörende Kraft von unheimlicher Intensität. Sie
können akustischer Natur sein – eine Zeile aus einem ansonst völlig vergessenen Ge-
dicht, die im Autobus zufällig mitgehörte Bemerkung eines Fremden – oder visueller
Natur – die Geste eines Kindes, das Muttermal im Gesicht eines Lehrers; sie können
sich sogar auf einen bestimmten Geschmack oder Geruch beziehen, wie im Fall von
Prousts berühmter madeleine (es handelt sich um ein gefülltes Gebäckstück, nicht um
ein Mädchen!). Es gibt also eine Methode des Im-Gedächtnis-Behaltens, die der Erinne-
rungsbildung in abstrahierenden Hierarchien genau entgegengesetzt zu sein scheint.
Charakteristisch für sie ist die Bewahrung von lebendigen Details, die vom rein logi-
schen Standpunkt aus häufig irrelevant sind; und doch sind diese gewissermaßen kine-
matographischen Details, Bildstreifen beziehungsweise »Nahaufnahmen«, die dem
Grundsatz der Sparsamkeit zu widersprechen scheinen, sowohl dauerhaft als auch von
beachtlicher Bildschärfe und verleihen der Erinnerung Aroma und Greifbarkeit.42
Wenn aber diese Fragmente so irrelevant sind, warum sind sie dann aufbewahrt wor-
den? Darauf gibt es eine plausible Antwort: Zwar mögen sie vom rein logischen Stand-
punkt aus irrelevant erscheinen, aber sie müssen dann eine spezielle, bewußte oder un-

63
bewußte, emotionale Bedeutung besitzen. In der Tat bezeichnet man sie gewöhnlich als
»rührend«, »sehnsüchtig«, »beglückend«, »zärtlich« oder »bedrückend« – mit anderen
Worten, sie sind stets affektgeladen. Wir müssen also zu den bisherigen Relevanzkrite-
rien, die darüber entscheiden, ob ein Erlebnis des Bewahrens wert ist, auch die emotio-
nelle Relevanz hinzurechnen. Dem Individuum mag der Grund dafür, warum ein spezi-
elles Erlebnis diese Art von Relevanz besitzt, nicht einmal bekannt sein; sie kann sym-
bolischer oder verdeckter Natur sein.
Niemand – nicht einmal ein Computerfachmann – denkt ständig in Form von abstrahie-
renden Hierarchien; Emotionen färben alle Wahrnehmungen ein, und es gibt eine Fülle
von Beweisen dafür, daß auch die Affekte einer mehrschichtigen Hierarchie entsprin-
gen, einschließlich von Gehirnstrukturen, welche phylogenetisch viel älter sind als jene,
die abstrakte Begriffsbildungen besorgen (siehe Kapitel 16). Man könnte vermuten, daß
bei der Bildung von »Bildstreifen«-Erinnerungen diese älteren, primitiven Schichten in
der Hierarchie eine beherrschende Rolle spielen. Es gibt noch einige zusätzliche Erwä-
gungen, die für eine solche Hypothese sprechen. Das abstrahierende Gedächtnis verall-
gemeinert und schematisiert, das »Bildstreifen-Gedächtnis hingegen spezifiziert und
konkretisiert – und das ist eine wesentlich primitivere Methode der Speicherung von In-
formationen.*
* Der Begriff »Information« wird in der modernen Kommunikationstheorie in einem weit allgemeineren
Sinn verwendet als im üblichen Sprachgebrauch. Man versteht darunter jede Reizzufuhr, die den Orga-
nismus »informiert«, das heißt seine Ungewißheit vermindert. Der Begriff »Information« schließt also
alles ein, vom Geschmack eines Apfels bis zu Beethovens Neunter Symphonie. Irrelevante Reize, das
heißt solche, die die Ungewißheit nicht vermindern, übermitteln keine Informationen, man bezeichnet sie
als »Geräusch«.
Das abstrahierende Gedächtnis läßt sich mit dem einsichtsvollen Lernen vergleichen,
das »Bildstreifen«-Gedächtnis mit der Konditionierung. Man könnte es auch zu der so-
genannten »eidetischen Anschauung« in Beziehung setzen. Es ist experimentell nach-
gewiesen worden,43 daß ein hoher Prozentsatz von Kindern diese Fähigkeit besitzt. Der
Experimentator veranlaßt das Kind, ein Gemälde fünfzehn Sekunden lang mit den Au-
gen zu fixieren; das »eidetische« Kind vermag dann das Bild auf einen Schirm projiziert
zu »sehen«, die Position jedes Details und auch seine Farben anzugeben. »Eidetische
Anschauungsbilder« nehmen eine Zwischenposition zwischen den retinalen Nachbil-
dern und den sogenannten »Vorstellungsbildern« ein; Kluever ist der Ansicht, daß diese
drei Arten oder Stufen des visuellen Gedächtnisses eine hierarchische Folge bilden. Im
Gegensatz zu den optischen Nachbildern lassen sich die eidetischen Anschauungsbilder
auch nach längeren zeitlichen Zwischenräumen – selbst nach Jahren – willentlich her-
vorrufen. Sie ähneln den Halluzinationen, nur mit dem Unterschied, daß das Kind genau
weiß, daß das Bild, das es sieht, nicht »wirklich« existiert.
Zwar tritt die Fähigkeit der eidetischen Wahrnehmung bei Kindern häufig auf, sie läßt
jedoch mit dem Einsetzen der Pubertätszeit nach und kommt bei Erwachsenen nur noch
selten vor. Kinder leben in einer Welt von lebhaften Bildvorstellungen: Die Art, wie ein
eidetisch veranlagtes Kind sich bestimmte Bilder im Geist »einprägt«, mag vielleicht
eine phylogenetisch und ontogenetisch frühere Form der Gedächtnisbildung darstellen,
die verlorengeht, sobald das abstrahierende, begriffliche Denken die Oberhand gewinnt.

64
6.4 Vorstellungsbilder und Schemata
Sehen wir nun einmal von der Eidetik und dem »Bildstreifen«-Gedächtnis ab; wenn
normale Erwachsene über ihre Vorstellungsbilder reden und behaupten, sie könnten vor
ihrem geistigen Auge ein Gesicht oder eine Szene, an die sie sich erinnern, buchstäblich
»sehen«, dann sind sie gewöhnlich das Opfer einer subtilen Selbsttäuschung. Ein Nach-
weis dafür läßt sich durch den Binet-Müller-Test erbringen. Die Versuchsperson wird
aufgefordert, sich auf ein Buchstabenquadrat von, sagen wir, fünf Reihen mit je fünf
Buchstaben zu konzentrieren, und zwar so lange, bis sie glaubt, sie habe sich ein visu-
elles Vorstellungsbild von dem Quadrat erarbeitet, das sie vor ihrem geistigen Auge
wirklich »sehen« kann. Entfernt man nun das Quadrat, dann ist die Versuchsperson tat-
sächlich imstande, die vorher gezeigten Buchstaben fließend zu »lesen«, das heißt, sie
glaubt es zumindest. Fordert man sie nämlich auf, das Quadrat rückwärts oder in Dia-
gonalrichtung zu lesen, dann benötigt sie zehnmal mehr Zeit. Die Testperson glaubt auf-
richtig daran, sie habe sich ein visuelles Vorstellungsbild erarbeitet, in Wirklichkeit hat
sie jedoch nur die gezeigte Buchstabenfolge auswendiggelernt; könnte sie nämlich das
Buchstabenquadrat wirklich »sehen«, dann müßte sie es in allen Richtungen gleich
schnell und gleich mühelos lesen können.
Dieser Täuschungsvorgang ist seit langem bekannt. Einer der ersten Forscher auf die-
sem Gebiet, Richard Semon, der auch den Begriff Mneme (nach dem griechischen
mnéme) für das Gedächtnis prägte, schrieb vor einem halben Jahrhundert, daß beim vi-
suellen Ins-Gedächtnis-Zurückrufen »nur die stärksten Licht- und Schattenwerte wie-
dergegeben werden«. In Wirklichkeit fehlen in unseren visuellen Vorstellungen ge-
wöhnlich auch die Schatten, und meistens auch die Farben. Ein Vorstellungsbild defi-
niert man als »rekonstruierte Sinneserfahrung«.44 Da jedoch die meisten Details der
durchlebten Erfahrung beim Filterprozeß der Erinnerungsbildung verlorengehen, sind
unsere visuellen Vorstellungsbilder weit vager und unbestimmter, als wir gerne glauben
möchten. Sie sind skelettierte visuelle Verallgemeinerungen – Umrisse, Schablonen,
Schemata –, die unsere Wahrnehmungs-Hierarchien aus dem ursprünglichen Erlebnis
abstrahiert haben, ähnlich wie etwa die Melodie, die Stimme und der Wortlaut aus der
Caruso-Arie abstrahiert wurden.
Diese vagen visuellen Vorstellungen lassen sich schwer mit Worten beschreiben; und
doch kann der Karikaturist das Gesicht eines Hitler oder eines Mao mit überraschend
wenig Strichen vor uns erstehen lassen, mit denen er einen schematisierten »allgemei-
nen Eindruck« wiedergibt; dazu kommt dann möglicherweise noch ein »sprechendes
Detail«, wie etwa die Zigarre im Munde Churchills. Wenn wir den Versuch machen, das
Gesicht eines Menschen zu beschreiben, dann benutzen wir Ausdrücke wie »knochig«,
»humorvoll«, »brutal«, »schlau« und so weiter. Im verbalen Bereich sind diese Attribute
schwer zu definieren; im visuellen Bereich sind sie Schablonen, die sich mit wenigen
Bleistiftstrichen definieren lassen – es sind optische Holons.
Einen Menschen erkennen heißt nicht sein retinales Abbild mit einer Photographie im
Gedächtnisspeicher vergleichen; es bedeutet: das Wahrnehmungsbild der Person »ab-
zutasten«, um charakteristische Konfigurationen identifizieren zu können. Bei diesem
Vorgang können durchaus mehrere Hierarchien zusammenwirken. Ein Gesicht oder ei-
ne Landschaft können eine »Melodie«, ein »Timbre« und noch verschiedene andere At-
tribute haben, oder sie können eine »Botschaft« enthalten. Meine persönliche Einstel-
lung zu einem Menschen oder zu einer Landschaft ist entscheidend dafür, welche
Aspekte als relevant angesehen, abstrahiert und gespeichert werden, und welche ausge-
filtert werden sollen. Für Erkennungszwecke mag die »Melodie« allein ausreichend sein
– das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen eines nicht mehr präsenten Gesichts wird jedoch um
so vollständiger gelingen, je mehr Zweige der perzeptorischen Hierarchie an seiner Ein-

65
prägung beteiligt waren. Je reicher das Netzgeflecht ist, das sie miteinander verbindet,
desto besser kann es die im Verlauf des Speicherungsprozesses eingetretene Verarmung
des Erlebnisses kompensieren. Das außergewöhnliche Gedächtnis, über das einige be-
deutende Männer verfügt haben sollen, mag auf einen solchen mehrdimensionalen Pro-
zeß bei der Analyse und Speicherung von Erlebnissen zurückzuführen sein.
Für die große Mehrzahl der Menschen ist jedoch das Ins-Gedächtnis-Zurückrufen weit
weniger visueller Natur, als sie glauben möchten (siehe das Experiment mit dem Buch-
stabenquadrat). Wir überschätzen die Präzision unserer geistigen Vorstellungsbilder
ebenso, wie wir die Präzision unseres verbalen Denkens überschätzen; häufig glauben
wir genau zu wissen, was wir sagen wollen, aber wehe, wenn es dann so weit ist, daß
wir es niederschreiben sollen! Wir sind uns der Lücken und Verschwommenheiten in
unserem verbalen Denken ebensowenig bewußt wie der lückenhaften Details und der
leeren Stellen zwischen unseren visuellen Schemata.

6.5 Auswendiglernen
Die einförmigste Art von Gedächtnis – ich ließ sie bisher unerwähnt – besteht aus aus-
wendiggelernten Wortfolgen. Aber – selbst hier begegnen wir einer hierarchischen Ord-
nung. Was man auswendiggelernt hat, besteht nicht aus einer Reihe von elementaren
Einheiten, sondern aus größeren Holons, die die Tendenz zeigen, Muster zu bilden. Ein
auswendiggelerntes Gedicht erhält eine gewisse Kohärenz durch die Konfigurationen
des Reimes, des Rhythmus, der Syntax und des Sinnes, die nach dem Prinzip des Mehr-
farbendrucks übereinandergelagert sind. Die Aufgabe des Auswendiglernens besteht
dann nur noch darin, die einzelnen Muster ineinanderzufügen und die noch bestehenden
Lücken auszufüllen. Das gleiche gilt für das Erlernen einer Klaviersonate, bei der die
Struktur der musikalischen Holons – die Architektur der Sätze, Themen und Variatio-
nen, der Rhythmus, die Harmonie – ebenfalls klar erkennbar ist. Zeigt das zu erlernende
Material keine erkennbare Kohäsion, wie das zum Beispiel bei Schlachtendaten und
Regierungszeiten der Fall ist, oder beim Erlernen einer Reihe von sinnlosen Silben,
dann versucht man alle möglichen Gedächtnishilfen oder Merktricks zu erfinden, um in
irgendeiner Form zu einem Strukturmuster zu kommen.
Auch das Auswendiglernen vollzieht sich also niemals rein mechanisch. Ein gewisses
Maß von »Einhämmern« ist oft unerläßlich; aber das Maß hängt von der Natur der Auf-
gabe und der Mentalität des Lernenden ab. Das eine Extrem stellt der Hund im
Pawlowschen Laboratorium dar, für den tage-, ja wochenlange stereotype Wiederho-
lungen der gleichen Erfahrung erforderlich sind, bis er sich mit der Tatsache vertraut
gemacht hat, daß die auf einem Pappdeckel gezeigte Figur einer Ellipse »Futter« signa-
lisiert, die eines Kreises jedoch nicht. Das ist kein Wunder, denn außerhalb des Labo-
ratoriums wird Futter nicht durch Ellipsen auf Pappdeckeln signalisiert, und deshalb
sind die Wahrnehmungs-Hierarchien des Hundes auch nicht darauf eingestellt, sie als
»relevante« Information anzusehen. Ähnliche Erwägungen gelten auch für Skinners Ex-
perimente mit den Tauben. Alle diese Tiere müssen Aufgaben erlernen, für die ihnen
die natürlichen Voraussetzungen fehlen und die sie nur durch mechanisches »Einhäm-
mern« erlernen können. Die Behauptung aber, daß diese Prozedur das Paradigma für
menschliche Lernvorgänge sei, ist eine der grotesken Verirrungen der »Flache-Erde«-
Psychologie.*
* Eine eingehendere Erörterung enthält Kapitel 12, Band II, von THE ACT OF CREATION.
Auf der anderen Seite neigen die Theoretiker der Gestaltpsychologie zu extremen Auf-
fassungen der genau entgegengesetzten Art. Sie behaupten, das auf Einsicht beruhende
Lernen schließe das Prinzip von Versuch und Irrtum völlig aus und basiere auf einem
»totalen« Verstehen der »Gesamtsituation«. In der hier vorgebrachten Theorie gelten
»Einsicht« und »Verstehen« als hierarchisch abgestufte Vorgänge, und sie unterliegen

66
nicht, wie die Gestaltschule annimmt, dem Alles-oder-nichts-Gesetz. Unter »Einsicht«
verstehen wir hier: die mehrdimensionale Analyse der verschiedenen Aspekte der Sin-
neswahrnehmung, das Abstrahieren von relevanten »Botschaften« aus irrelevanten »Ge-
räuschen«, das Identifizieren von Strukturen innerhalb des Mosaiks bis zur vollständi-
gen Saturierung des Wahrgenommenen mit Bedeutungsgehalt.

6.6 Zusammenfassung
Wir gehen von der Annahme aus, daß multiple Wahrnehmungs-Hierarchien für die
Multidimensionalität und die Vielfältigkeit unserer Erlebnisse sorgen. Beim Prozeß der
Speicherung von Erinnerungen reduziert jede Hierarchie, entsprechend ihren spezifi-
schen Relevanzkriterien, das Wahrgenommene auf seine eigentlichen Kernelemente.
Ruft man sich ein Erlebnis ins Gedächtnis zurück, dann muß man es von neuem mit
Details ausstatten. Das wird bis zu einem gewissen Grade durch das Zusammenwirken
der betreffenden Hierarchien ermöglicht, deren jede diejenigen Elemente beisteuert, die
sie des Bewahrens für wert erachtet hat. Dieser Prozeß läßt sich mit der Überlagerung
beim Mehrfarbendruck vergleichen. Hinzu kommen Spuren von »Bildstreifen-Details«
– möglicherweise Fragmente von eidetischen Anschauungsbildern, die stark emotionell
gefärbt sind; das Ergebnis ist eine Art Kollage, bei der eine vage, schematisierte Figur
mit Glasaugen und echten Haarsträhnen ausgeschmückt wird.
Natürlich kann es auch vorkommen, daß Fragmente fremden Ursprungs fälschlicher-
weise in die Kollage einbezogen werden, das heißt in Erinnerungen auftauchen, mit de-
nen sie an sich nichts zu tun haben. Denn das Gedächtnis ist ein riesiges Archiv von
Dokumenten und allem möglichen Kram, die vom Archivar ständig umgeordnet und
umgewertet werden; die Vergangenheit wird von der Gegenwart ständig neugestaltet.
Aber die Umordnungen und Umwertungen vollziehen sich unterhalb unserer Bewußt-
seinsschwelle. Die Schaltanlagen der Wahrnehmung und Erinnerung funktionieren au-
tomatisch – und unbewußt; wir spielen allezeit Spiele, ohne die Spielregeln zu kennen.

67
7 Der Steuermann
Der Mensch ist das höchstrangige
selbstregulierende System.
Iwan Petrowitsch Pawlow
Ich habe den Begriff »ineinander verschränkte Hierarchien« verwendet. Es ist an sich
selbstverständlich, daß Hierarchien nicht in einem Vakuum operieren. Die Leber ist ein
Bestandteil des Verdauungstraktes, das Herz ein Bestandteil des Kreislaufsystems; das
Herz ist aber abhängig von der Glukose, die die Leber liefert, die Leber wiederum ist
auf das ordnungsgemäße Funktionieren des Herzens angewiesen. Die wechselseitige
Abhängigkeit der verschiedenen Prozesse im Organismus ist eine Binsenwahrheit, die
uns geneigt macht, seine hierarchische Struktur zu übersehen. Es ist, als hätte der An-
blick des Blattgewirrs verschlungener Zweige uns vergessen lassen, daß die einzelnen
Zweige zu verschiedenen Bäumen gehören. Bäume haben eine vertikale Struktur. Die
Punkte, an denen die Zweige benachbarter Bäume einander berühren, bilden horizontale
Netzgeflechte auf verschiedenen Höhenniveaus. Gäbe es die Bäume nicht, dann gäbe es
auch keine Verflechtungen und kein Netzgebilde. Ohne das Netzgebilde stünde jeder
Baum isoliert da, und es gäbe keine Integration der Funktionen. Baumartige Verzwei-
gungen und retikulare (von reticulum = das Netz) Verflechtung scheinen komplementä-
re Prinzipien beim Aufbau von Organismen zu sein.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich hier eine vielleicht überflüssige Zwi-
schenbemerkung einschalten. Ein Wald besteht aus einer Vielzahl von Bäumen. Ein le-
bendiger Organismus ist ein integriertes Ganzes – ein einzelner Baum. Trotzdem habe
ich von sensorischen und motorischen Hierarchien gesprochen, als wären sie gesonderte
Entitäten. In Wirklichkeit sind sie natürlich bloß Äste am selben Baum, das heißt Sub-
Hierarchien. Aber die Unterscheidung ist nur eine scheinbare, da ja jeder Zweig einer
Hierarchie auch in sich hierarchisch strukturiert ist. So erscheint es häufig zweckdien-
lich, das Auswärtige Amt und das Heeresministerium als gesonderte Hierarchien zu be-
trachten, obgleich sie Zweige ein und derselben Regierungshierarchie sind.

7.1 Reflexe und Routinefertigkeiten


Das beste Beispiel für ineinander verschränkte Hierarchien bietet das sensorisch-
motorische System. Die sensorische Hierarchie bearbeitet die zugeführte Information
und leitet sie in einem kontinuierlichen Strom an das bewußte Ich am Gipfel der Hierar-
chie weiter; das Ich trifft Entscheidungen, die dann von dem abwärtsfließenden Strom
von Impulsen in der motorischen Hierarchie entschlüsselt und ausgeführt werden. Der
Scheitelpunkt der Hierarchie ist jedoch nicht die einzige Kontaktzone zwischen den
beiden Systemen, die noch auf verschiedenen Niveaus durch Netzgeflechte miteinander
verquickt sind.
Das Netz auf dem niedrigsten Niveau besteht aus den sogenannten lokalen Reflexen.
Diese bewirken Querverbindungen zwischen dem aufsteigenden und absteigenden
Strom, ähnlich den Autobahnschleifen, die die beiden gegenläufigen Fahrbahnen mit-
einander verbinden; es handelt sich hier um Routinereaktionen auf Routinereize – wie
etwa beim Patellarsehnenreflex –, für die die Einschaltung der höheren Instanzen des
Nervensystems nicht erforderlich ist. Welcher Instanz die Entscheidungsbefugnis über-
tragen wird, hängt von der Komplexität der Situation ab. Der Patellarsehnenreflex zum
Beispiel ist meist bereits vollzogen, bevor noch der Reiz die Bewußtseinszone erreicht
hat.

68
Einer der fundamentalen Irrtümer der Watsonschen Schule des Behaviorismus bestand
in der Annahme, komplexe Handlungsakte resultierten aus einer Summierung von iso-
lierten lokalen Reflexen. Wir wissen heute, daß das genaue Gegenteil der Fall ist: die
lokalen Reflexe treten bei der Entwicklung des Nervensystems im Embryo zuallerletzt
in Erscheinung. Überdies werden auch die Reflexe von höheren Hierarchiestufen beein-
flußt: selbst der Patellarsehnenreflex funktioniert nicht, wenn der Patient vorher weiß,
was der Arzt mit ihm vorhat. Das menschliche Verhalten besteht eben nicht aus einer
Folge von Sehnenreflexen und Blinkreflexen, und jeder Versuch, es auf Begriffe dieser
Art zu reduzieren, führt unweigerlich zur »Flache-Erde«-Psychologie.
Auf der nächsthöheren Stufe befinden sich die Netzgeflechte der sensorisch-moto-
rischen Fertigkeiten und Gewohnheitshandlungen, wie das Blindschreiben auf der
Schreibmaschine oder das Autofahren; beide Tätigkeiten werden mehr oder minder me-
chanisch ausgeführt und erfordern nicht das Eingreifen der obersten Zentren der Hierar-
chie – es sei denn, es tritt eine plötzliche Krise ein. Das Autofahren ist eine Routinean-
gelegenheit, zu deren »Spielregeln« auch das Betätigen der Bremse gehört, sobald ein
Hindernis in der Fahrbahn auftaucht. Auf einer vereisten Straße jedoch kann das Brem-
sen riskant sein, die Steuerung fühlt sich ganz anders an, und die gesamte Fahrtechnik
muß zwangsläufig geändert, sozusagen in eine andere »Tonart« übertragen werden.
Nach einer Weile wird auch sie zu einer halbautomatischen Routine; wenn aber plötz-
lich ein kleiner Hund über die vereiste Fahrbahn trottet, dann muß eine Entscheidung
»der höchsten Instanz« angerufen werden – nämlich, ob der Fahrer plötzlich bremsen
und dabei die Sicherheit seiner Passagiere gefährden oder ob er den Hund einfach über-
fahren soll. Wenn aber statt des Hundes ein Kind über die Straße läuft, dann wird er
vermutlich, ohne Rücksicht auf die eventuellen Folgen, die erstere Alternative wählen.
Erst auf diesem Niveau, wo das Für und Wider einander die Waage halten, begegnen
wir dem subjektiven Erlebnis der freien Wahl und der moralischen Verantwortung.

7.2 Rückkoppelung und Homeostase


Die üblichen Routineprozeduren des Lebens erfordern jedoch keine moralischen Ent-
scheidungen dieser Art und auch nur zu einem sehr geringen Prozentsatz bewußte Auf-
merksamkeit. Die rein physiologischen Prozesse – Atmen, Verdauung und so weiter –
wickeln sich selbsttätig ab, sie haben selbstregulierenden Charakter. Das gilt auch für
die meisten Routinetätigkeiten: Gehen, Radfahren, Autofahren. Das Prinzip der Selbst-
regulierung ist in der Tat von fundamentaler Bedeutung für die hierarchische Konzepti-
on. Soll ein Holon als halbautonome Sub-Einheit funktionieren, dann muß es mit selbst-
regulierenden Vorrichtungen ausgestattet sein. Mit anderen Worten, seine Operationen
müssen einerseits durch seinen feststehenden Regelkanon, anderseits durch Signale aus
der variablen Umwelt gesteuert werden. Es muß also ein steter Strom von Informatio-
nen das Kontrollzentrum über den Fortgang der Operation auf dem laufenden halten;
und dieses muß seinerseits den Verlauf der Operation den Informationen entsprechend
anpassen. Das ist das Prinzip der Kontrolle durch feedback, durch Rückkoppelung.*
* Feedback (Rückkoppelung) wird allgemein als Verkoppelung des outputs (des Leistungsvollzuges) mit
dem input (der Reizzufuhr) definiert.
Feedback ist ein Modewort geworden, aber das Prinzip selbst ist nicht neu. James Watt
hatte es bereits bei seiner Dampfmaschine verwendet, um ihre Geschwindigkeit unter
wechselnden Belastungen konstant zu halten. In der modernen Kybernetik hat man das
feedback-Prinzip mit bemerkenswertem Erfolg auf den verschiedensten Gebieten ange-
wandt, von der Physiologie bis zu den Elektronenrechnern, und auch dieser Fall lehrt
uns, daß man aus einem alten Hut sehr wohl lebendige Kaninchen zaubern kann.
Am einfachsten läßt sich das Prinzip der Kontrolle durch Rückkoppelung am Beispiel
der thermostatisch geregelten Zentralheizung erläutern. Man stellt den Thermostaten im
Wohnzimmer auf die gewünschte Temperatur ein. Fällt die Temperatur unter den Soll-
wert, so aktiviert der Thermostat einen elektrischen Stromkreis, der seinerseits dafür

69
sorgt, daß die Brennstoffzufuhr in der zentralen Heizanlage gesteigert wird. Wird es im
Zimmer zu heiß, dann wickelt sich der umgekehrte Prozeß ab. Die zentrale Heizanlage
im Keller kontrolliert die Temperatur im Zimmer; aber die vom Thermostaten zu ihr
»rückgekoppelte« Information korrigiert die Arbeitsweise der Anlage und hält sie kon-
stant. Als weiteres Beispiel kann der Servomechanismus gelten, der ein Schiff beständig
auf Kurs hält, indem er automatisch jeder Abweichung entgegenwirkt. Daher das Wort
Kybernetik – nach dem griechischen Wort kybernétos = der Steuermann.
Der lebendige Organismus ist ebenfalls mit einer thermostatischen Vorrichtung ausge-
stattet, die seine Temperatur konstant hält, mit geringen Abweichungen, die selten ein
Grad überschreiten. Der Sitz des Thermostaten befindet sich im Hypothalamus, einem
wichtigen Zentrum des Zwischenhirns. Eine seiner Funktionen ist die Aufrechterhaltung
der Homeostase = gleichmäßige Körpertemperatur, konstanter Puls und chemisches
Gleichgewicht der Körperflüssigkeiten. Der mikroskopisch kleine Thermostat im Zwi-
schenhirn reagiert, wie Versuche ergeben haben, selbst auf lokale Wärmeschwankungen
von nur 1/100 Grad. Überschreitet die Temperatur in seiner unmittelbaren Nachbarschaft
– etwa am Trommelfell – einen kritischen Punkt, dann setzt ein Schweißausbruch ein.
Umgekehrt, wenn die Temperatur sinkt, beginnen die Muskeln automatisch zu frösteln
und setzen Energie in Hitze um. Andere »Homeostaten« (dieser Begriff ist analog zu
dem Wort Thermostat gebildet) üben die Kontrolle über weitere physiologische Funk-
tionen aus und halten das milieu intérieur – das innere Milieu des Organismus – in ei-
nem stabilen Gleichgewichtszustand.
Wir haben also exakte Beweise dafür, daß auf den fundamentalen Stufen der Hierarchie
selbstregulierende Mechanismen am Werk sind. Das Wort Homeostase wurde von dem
berühmten Physiologen der Harvard-Universität Walter B. Cannon geprägt, der sich der
damit verbundenen hierarchischen Implikationen voll bewußt war. Er schrieb, die Ho-
meostase befreie den Organismus »von der Notwendigkeit, seine Aufmerksamkeit den
Details der elementaren Lebensroutinen zuwenden zu müssen. Ohne homeostatische
Einrichtungen würden wir uns ständig Gefahren ausgesetzt sehen, es sei denn, wir wä-
ren stets bereit, Korrekturen, die normalerweise automatisch erfolgen, aus eigenem An-
trieb vorzunehmen. Da jedoch die homeostatischen Einrichtungen die wesentlichen
physiologischen Prozesse ständig im Gleichgewicht halten, sind wir als Individualisten
frei von einer solchen Art von Sklaverei – frei, um die Wunder unserer Umwelt zu er-
forschen und zu begreifen; um neue Ideen und Interessen zu entwickeln, und um – un-
gehindert durch ängstliche Besorgnis um unsere körperlichen Prozesse – arbeiten und
spielen zu können«.45
Selbstregulierende Einrichtungen finden sich jedoch nicht nur im viszeralen Bereich; sie
operieren auf allen Stufen einer organismischen Hierarchie. Ein radfahrender Knabe
oder ein Seiltänzer, der sein Gleichgewicht mit Hilfe einer Bambusstange aufrechter-
hält, sind sprechende Beispiele für die kinetische Homeostase. Aber jeder von ihnen ist
auf eine ständige kinästhetische Rückempfindung angewiesen – auf Empfindungsströ-
me, die Informationen über die Bewegungen, Anspannungen und Stellungen seines
Körpers weiterleiten. Fallen diese Rückempfindungen plötzlich aus, dann bricht die
Homeostase zusammen. Alle sensorisch-motorischen Fertigkeiten – vom Radfahren bis
zum Blindschreiben und Klavierspielen – operieren mit Hilfe von feedback-Schleifen in
den Netzgeflechten, die die beiden Zweige der Hierarchie miteinander verbinden.
Wir müssen uns aber davor hüten, das Prinzip des feedbacks als eine magische Formel
zu betrachten, mit der sich alles erklären läßt – eine Ansicht, zu der die Computerex-
perten gelegentlich tendieren. Mit dem feedback allein, ohne Hierarchie, kommt man
nicht weit. Wir haben gesehen, daß die Ausübung einer Fertigkeit nach bestimmten
Spielregeln vor sich geht. Diese Regeln stehen fest, lassen aber Anpassungen an varia-
ble Umweltbedingungen zu. Die Rückkoppelungsvorrichtung kann nur im Rahmen die-
ser festen Regeln wirken. Ihre Aufgabe ist, bei jedem Schritt im Verlauf der Aktion Be-
richt zu erstatten, ob über das Ziel hinausgeschossen wurde oder ob man es nicht er-
reicht hat, ob man die Tätigkeit intensivieren oder bremsen soll. Sie kann also wohl den

70
Verlauf der Operation ebnen und glätten, aber sie kann die Spielregeln, denen sie folgt,
nicht ändern. Die Meise folgt beim Nestbau bestimmten Spielregeln, die ihrem Nerven-
system irgendwie eingeprägt sind – sonst würden nicht alle Meisennester einander glei-
chen; die rückgekoppelten Signale, die sie durch Auge und Tastsinn erhält, sagen ihr
bloß, wann das »Weben« aufhören soll und das »Trampeln« anfangen soll, und wann es
an der Zeit ist, mit der Kuppel anzufangen.
Einer der grundlegenden Unterschiede zwischen der S-R-Konzeption und der hier vor-
gebrachten Theorie besteht darin, daß nach jener die Umwelt das Verhalten bestimmt,
nach dieser jedoch unser Umwelt-feedback lediglich bereits vorhandene Verhaltens-
strukturen aktiviert, korrigiert oder stabilisiert.
Die Autonomie dieser Strukturen des Instinktivverhaltens ist in den letzten Jahren von
Ethologen wie Lorenz, Tinbergen, Thorpe und von Biologen wie Bertalanffy und Paul
Weiß nachdrücklich betont worden. In unseren durch Lernen und Erfahrung erworbenen
Fertigkeiten begegnen wir der gleichen Autonomie. Während ich diese Zeilen schreibe,
informieren mich meine Finger ständig über den Druck der Feder gegen das Papier und
meine Augen über den Fortschritt in meinem Manuskript. Aber diese feedbacks können
die Struktur meiner Handschrift nicht ändern. Sie sorgen nur für ihre Gleichmäßigkeit;
denn selbst bei geschlossenen Augen würde die Schrift etwas wackliger werden, ihr
Charakter aber unfehlbar der gleiche bleiben.

7.3 »Was ein Reiz ist, bestimme ich!«


Bisher habe ich nur von sensorischen Rückempfindungen gesprochen, die motorische
Handlungsakte steuern. Der Querverkehr im Netzgeflecht vollzieht sich jedoch in bei-
den Richtungen, und die Wahrnehmung wird ihrerseits auch durch die Intervention von
motorischen Aktivitäten gesteuert. Das Sehen ist untrennbar mit Bewegungen verknüpft
– von den Orientierungsbewegungen des Kopfes und der Augäpfel bis hinab zu den un-
bewußten, mikroskopischen Augenbewegungen: Drehen, Zwinkern, Zittern, ohne die
wir überhaupt nicht sehen könnten. Beim Hören ist das nicht viel anders: Was tut man,
wenn man versucht, sich an eine Melodie zu erinnern? Man summt sie vor sich hin. Die
sensorischen und motorischen Hierarchien stehen auf allen Niveaus in einer so engen
Wechselbeziehung, daß es willkürlich und sinnlos ist, zwischen »Reiz« und »Reaktion«
eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. Beide sind Aspekte von Prozessen im Netzgefü-
ge, in denen Impulse herumjagen wie Katzen, die sich in den Schwanz zu beißen versu-
chen.*
* »Da Reiz und Reaktion korrelativ und zeitgleich sind, muß man zu dem Schluß kommen, daß die Reiz-
prozesse nicht der Reaktion eigentlich vorangehen, sondern daß sie diese eher zu einem erfolgreichen Ab-
schluß bringen. Das heißt,
46
Reiz und Reaktion muß man als Aspekte eines Rückkoppelungskreises be-
trachten.« (Miller u.a.)
Wir wollen das an Hand eines berühmten Experimentes erläutern. Der Hörnerv einer
Katze wurde an einen elektrischen Apparat angeschlossen, so daß man die vom Ohr
dem Gehirn übermittelten Nervenimpulse in einem Lautsprecher hören konnte. Dann
wurde im selben Raum ein Metronom in Gang gesetzt; das vom Hörnerv der Katze
übermittelte und vom Apparat verstärkte Ticken des Metronoms war deutlich zu hören.
Als man jedoch in einem Gefäß eine Maus in den Raum brachte, verlor die Katze nicht
nur – wie zu vermuten war – das Interesse am Metronom, sondern auch die Impulse in
ihrem Hörnerv wurden schwächer oder hörten sogar ganz auf. Das ist ein dramatisches
Beispiel dafür, wie die Zulassung von Reizen an einem peripheren Rezeptororgan – am
äußersten Kremltor – sehr wohl vom Zentrum aus kontrolliert werden kann.
Die Schlußfolgerung, die man aus diesem und aus ähnlichen Experimenten ziehen kann,
läßt sich am besten durch eine Anekdote verdeutlichen. In der guten alten Zeit um die
Jahrhundertwende hatte Wien einen Bürgermeister namens Karl Lueger, der sich einem
gemäßigt antisemitischen Programm verschrieben hatte. Er besaß jedoch auch eine An-
zahl jüdischer Freunde. Als einer seiner Vertrauten ihn deswegen zur Rede stellte, gab

71
Lueger die klassische Antwort: »Wer ein Jud ist, bestimm’ ich!« Mutatis mutandis hätte
die Katze, als sie sich um das Metronom nicht mehr kümmerte, ebensogut sagen kön-
nen: »Was ein Reiz ist, bestimm’ ich!«

7.4 Eine Holarchie von Holons


Wir wollen nun in dieser Untersuchung über die Bedeutungsgehalte der heute gültigen
Terminologie noch einen Schritt weitergehen und fragen, was das vielzitierte Wort
»Umwelt« eigentlich bedeutet.
Wenn ich mit meinem Wagen eine Landstraße entlangfahre, dann ist die Umwelt, mit
der mein rechter Fuß Kontakt hat, das Gaspedal – und die Umwelt, mit der mein linker
Fuß Kontakt hat, ist das Kupplungspedal. Der elastische Widerstand beim Niederdrük-
ken des Gaspedals sorgt für eine taktile Rückkoppelung, mit deren Hilfe ich die Fahrge-
schwindigkeit des Wagens konstanthalten kann, während das Kupplungspedal eine an-
dere – unsichtbare – Umwelt kontrolliert, das Getriebe. Das Lenkrad in meinen Händen
wirkt wie ein Servomechanismus zur Einhaltung der geraden Fahrtrichtung. Mein Auge
erfaßt jedoch eine viel weiter gespannte Umwelt als meine Füße und Hände; es ist die
höhere Instanz, die meine generelle Fahrtaktik bestimmt. Das hierarchisch aufgebaute
Geschöpf, das ich bin, funktioniert also in Wirklichkeit in einer Hierarchie von »Um-
welten«, gesteuert durch eine Hierarchie von feedbacks.
Ein Vorteil dieser Interpretation besteht darin, daß sich die Hierarchie der Umwelten ins
Unendliche fortsetzen läßt. Wenn ein Schachspieler auf das vor ihm liegende Schach-
brett starrt, wird die Umwelt, in der seine Gedanken tätig sind, durch die Verteilung der
Figuren auf dem Brett bestimmt. Nehmen wir an, in der augenblicklichen Situation er-
geben sich zwanzig mögliche Zuge im Rahmen der geltenden Spielregeln, und fünf von
ihnen scheinen vielversprechend. Der Spieler wird jeden einzelnen von ihnen in Erwä-
gung ziehen. Ein guter Spieler ist in der Lage, mindestens drei Züge vorauszudenken –
das ergibt eine Unzahl von Varianten, und der Spieler muß nun versuchen, jede einzelne
geistig ins Auge zu fassen, um eine Entscheidung über seinen nächsten Zug fällen zu
können. Mit anderen Worten, er wird durch Rückkoppelungen von einem imaginären
Brett in einer imaginären Umwelt geleitet: Ein Großteil unseres Denkens, Planens und
schöpferischen Tuns vollzieht sich in einer imaginären Umwelt.
Es hat sich aber gezeigt, daß alle unsere Wahrnehmungen von der Einbildungskraft be-
einflußt werden. Der Unterschied zwischen einer »realen« und einer »imaginären«
Umwelt ist daher nur eine Frage von Abstufungen auf einer kontinuierlichen Skala, die
vom Schmetterling im Rorschach-Klecks bis zu der unheimlichen Fähigkeit des
Schachmeisters reicht, die Zukunft zu erfinden. Auch das ist ein Beweis dafür, daß die
Hierarchie an ihrem Gipfel offen ist.
Wenn wir den Inhalt dieses Kapitels in einer Formel zusammenfassen wollen, dann
können wir sagen: Der Organismus ist in seinen strukturellen und in seinen funktionel-
len Aspekten eine Hierarchie von selbstregulierenden Holons, die a) als autonome
Ganzheiten ihren Teilen übergeordnet sind; b) als abhängige Teile ihren Kontrollinstan-
zen subordiniert sind und c) durch Rückkoppelungen ihrer Umwelt koordiniert sind.
Eine solche Hierarchie von Holons könnte man zu Recht als »Holarchie« bezeichnen –
aber eingedenk der Warnung Ben Jonsons will ich dem Leser diesen zusätzlichen Neo-
logismus lieber ersparen.

72
8 Gewohnheit und Improvisation
Alle guten Dinge, die es gibt,
sind die Früchte der Originalität.
John Stuart Mill
Die häufige Verwendung von Fachausdrücken aus dem Bereich der Kybernetik mag im
Leser den Verdacht erweckt haben, der Autor beabsichtige das mechanistische Weltbild
der Behavioristen durch ein anderes, ebenso mechanistisches zu ersetzen – durch die
Konzeption vom Menschen als hierarchischem Automaten. In Wirklichkeit sind wir je-
doch gerade dabei, uns schrittweise, wenn auch auf mühevollen Umwegen, aus der
Fallgrube des mechanistischen Determinismus herauszuarbeiten. Als Ausstiegsluke soll
uns dabei jener »offene Gipfel« an der Spitze der Hierarchie dienen, von dem ich wie-
derholt gesprochen habe – obwohl die Bedeutung dieser Metapher sich nur allmählich
herausschälen wird.
Sie wird unserem Verständnis vielleicht ein wenig näherrücken, wenn wir uns der Be-
trachtung von komplexeren, flexibleren und weniger voraussagbaren Verhaltensweisen
auf den höheren Stufen der Hierarchie zuwenden. Umgekehrt begegnen wir in abstei-
gender Richtung in zunehmendem Maß mechanischen, stereotypen und voraussagbaren
Handlungsabläufen. Schreibt man einen Brief an einen Freund, dann läßt sich nur
schwer voraussagen, was einem als nächstes in den Sinn kommen wird; die Zahl der
möglichen Alternativen ist riesengroß. Hat man sich jedoch entschieden, was man als
nächstes schreiben will, dann ist die Zahl der Alternativen, wie man es ausdrücken kann,
immer noch groß, aber doch schon etwas eingeengt durch die Regeln der Grammatik,
die Grenzen des Wortschatzes und so weiter. Die Muskelkontraktionen schließlich, mit
denen man die Tasten der Schreibmaschine betätigt, sind stereotyper Natur und könnten
ebensogut von einem Roboter ausgeführt werden. Der Physiker würde sagen: eine Teil-
fertigkeit – ein Verhaltens-Holon – auf dem Niveau n in der Hierarchie verfügt über
mehr »Freiheitsgrade« (eine größere Vielzahl von Alternativmöglichkeiten im Rahmen
der geltenden Spielregeln) als ein Holon auf dem Niveau n-1.
Rekapitulieren wir kurz einige Punkte aus früheren Kapiteln. Jede Fertigkeit (oder Ge-
wohnheit) hat einen feststehenden und einen variablen Aspekt. Der erstere wird be-
stimmt von den »Spielregeln«, die der Fertigkeit ihre charakteristischen Merkmale ver-
leihen, wobei es ganz gleich ist, ob es darum geht, ein Spinnennetz zu weben, ein Vo-
gelnest zu bauen oder Schach zu spielen. Die Regeln lassen jedoch einen gewissen Er-
messensspielraum für Alternativmöglichkeiten zu: das Spinnennetz kann an drei oder
vier Punkten aufgeknüpft werden, das Nest kann dem Winkel der Astgabel angepaßt
werden, und der Schachspieler kann zwischen einer Vielzahl von regelgerechten Zügen
wählen. Die Auswahl ist eine Frage der Taktik und wird von feedbacks aus der Umwelt
gesteuert. Anders ausgedrückt: Die fixierten Spielregeln bestimmen die möglichen Zü-
ge, die flexible Taktik bestimmt die Wahl der tatsächlichen Züge im Rahmen der mögli-
chen. Je größer die Zahl der Alternativmöglichkeiten ist, desto komplexer und flexibler
ist die Fertigkeit. Wenn es – im umgekehrten Fall – überhaupt keine Auswahlmöglich-
keiten gibt, haben wir es mit einem Grenzfall zu tun: mit dem spezialisierten Reflex.
Starrheit und Flexibilität sind also Gegenpole einer Skala, die für jede Art von Hierar-
chie Gültigkeit hat: in jedem Fall ergibt sich die Tatsache, daß die Flexibilität zunimmt
und die Starrheit nachläßt, je höher wir in den Ebenen der Hierarchie aufsteigen.

73
8.1 Ursprünge der Ursprünglichkeit
Bei den Instinkthandlungen von Tieren finden wir am unteren Ende der Skala die mo-
noton wiederholten Verhaltensmuster des Werbens und Drohens, des Paarens und
Kämpfens – es handelt sich hier um formstarre, zwanghafte Rituale. Unter widrigen
Umständen werden solche Rituale manchmal auch sinnlos und am falschen Ort ausge-
führt. Katzen führen die Bewegungen zum Vergraben ihrer Fäkalien auf den Küchen-
fliesen aus. Junge, in der Gefangenschaft groß gewordene Eichhörnchen, denen man
Nüsse vorlegt, vollführen den Ritus des Vergrabens der Nüsse auf dem Boden ihres
Drahtkäfigs »und trippeln dann befriedigt hinweg, obwohl die Nüsse immer noch deut-
lich zu sehen sind« (Thorpe).47
Am entgegengesetzten Ende der Skala begegnen wir sehr komplexen und flexiblen Fer-
tigkeiten bei Säugetieren wie Schimpansen und Delphinen – aber auch bei Insekten und
Fischen. Ethologen haben eindrucksvolle Beweise dafür erbracht, daß unter günstigen
Voraussetzungen sogar Insekten zu Verhaltensweisen fähig sind, die sich aus dem uns
bekannten Repertoire ihrer Fähigkeiten nicht vorhersagen lassen und die durchaus die
Bezeichnung »erfinderisch« oder »originell« verdienen. Professor Baerends – ebenfalls
Teilnehmer am Stanford-Seminar – hat Jahre damit verbracht, umfangreiche Untersu-
chungen über die Tätigkeit der Grabwespe vorzunehmen.48 Das weibliche Tier dieser
Gattung legt seine Eier in Löchern ab, die es in den Erdboden gräbt. Es legt in den Lö-
chern zunächst einen Vorrat von Raupen an und dann, wenn die jungen Tiere aus den
Eiern geschlüpft sind, einen Vorrat von Mottenlarven; danach kommen noch weitere
Raupen hinzu, bis das Loch schließlich zugemauert wird. Das entscheidende ist nun,
daß jedes Weibchen sich gleichzeitig um mehrere Löcher kümmern muß, deren Insassen
sich in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden und daher unterschiedliche Nah-
rung benötigen. Es versorgt aber nicht nur alle entsprechend ihren Bedürfnissen, son-
dern ergänzt überdies noch die Vorräte, wenn diese aus einem Loch vom Experimenta-
tor entfernt worden sind. Eine andere Wespenart baut ganze Waben von Tonzellen, legt
in jede Zelle ein Ei, versorgt sie mit den notwendigen Vorräten für die Zukunft und ver-
siegelt dann die Zelle – ähnlich wie das die Ägypter mit den Grabkammern ihrer Pha-
raonen zu tun pflegten. Macht nun der Forscher ein Loch in die Zelle – ein Ereignis, das
in den Verhaltensschemen der Wespe nicht vorgesehen ist –, dann nimmt sie zuerst die
herausgefallenen Raupen auf und stopft sie durch das Loch wieder in die Zelle zurück;
hierauf geht sie daran, die Zelle mit Tonklümpchen auszuflicken – eine Handlung, die
sie vorher niemals ausgeführt hat.
Aber das ist noch nicht alles. Hingston hat geschildert, zu welchen Taten eine andere
Wespenart in einer kritischen Situation fähig ist. Er machte auf so raffinierte Weise ein
Loch in die Zelle, daß es von außen her nicht mehr repariert werden konnte. Diese
Wespenart arbeitet jedoch nur von der Außenseite der Wabe her. Die Wespe mühte sich
mit dem schwierigen Problem zwei Stunden lang ab, bis die Nacht hereinbrach und sie
ihr Vorhaben abbrechen mußte. Am nächsten Morgen flog sie sofort wieder zu der be-
schädigten Zelle und machte sich dann daran, die Reparaturarbeiten nach einer neuen
Methode zu versuchen: »Sie untersucht die Zelle von beiden Seiten und entschließt sich
dann, nachdem sie ihre Wahl getroffen hat, die Reparaturen vom Inneren der Zelle aus
vorzunehmen.«49
Ich habe ganz bewußt diese Beispiele von Improvisierungskünsten bei Insekten ausge-
wählt, denn mit den flexiblen Fertigkeiten der höheren Säugetiere sind wir besser ver-
traut. Selbst Fische können – nach Thorpe – ihre Gewohnheiten ändern: »Wenn man ih-
re normale Verhaltensstruktur kontinuierlich beeinträchtigt, sind weitgehende Modifi-
kationen der normalen Instinktorientierung durchaus möglich.«50 Bei Vögeln über-
nimmt in manchen Arten das Männchen, das normalerweise nie die Jungen füttert, diese

74
Tätigkeit, wenn das Weibchen aus irgendeinem Grund abwesend ist. Schließlich muß
ich noch kurz Lindauers Versuche mit den Honigbienen erwähnen. Unter normalen
Voraussetzungen herrscht im Bienenstock eine strenge Arbeitseinteilung, und zwar so,
daß jede Arbeiterin in ihren verschiedenen Lebensphasen auch mit verschiedenen Auf-
gaben betraut ist. Während der ersten drei Tage ihres Lebens säubert die junge Biene
die Zellen. An den nächsten drei Tagen füttert sie die älteren Larven mit Honig und
Blütenstaub. Danach füttert sie die jungen Larven (die eine zusätzliche Kost benötigen).
Vom zehnten Lebenstag an ist sie mit dem Bau von Zellen beschäftigt, vom zwanzig-
sten Tag an übernimmt sie Wachaufgaben am Eingang des Bienenstocks; schließlich
begibt sie sich auf Nahrungssuche und behält dann diese Tätigkeit für den Rest ihres
Lebens bei.
Das alles gilt jedoch nur für den Normalfall. Entfernt der experimentierende Forscher
eine der auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisierten Altersgruppen, dann übernehmen
andere Altersgruppen deren Tätigkeitsbereich »und retten so den Superorganismus. Ent-
fernt man zum Beispiel alle Nahrungssucher – gewöhnlich Bienen im Alter von zwan-
zig und mehr Tagen –, dann fliegen junge, kaum sechs Tage alte Bienen, die normaler-
weise die Larven füttern würden, aus dem Stock aus und begeben sich auf Nahrungssu-
che. Entfernt man alle Zellenbauarbeiter, dann übernehmen diese Aufgabe ältere Bie-
nen, die diese Tätigkeit schon früher ausgeübt, aber inzwischen die Phase der Nah-
rungssucher erreicht haben. Zu diesem Zweck ändern sie nicht nur ihre Verhaltenswei-
se, sondern sie regenerieren auch ihre Wachsdrüsen. Welche Mechanismen diese Regu-
lierung bewirken, ist uns nicht bekannt«.51
Am einen Ende der Skala finden wir also formstarre Bewegungsfolgen und zwanghafte
Rituale – am anderen Ende überraschende Improvisationskünste, die die normale Ver-
haltensroutine des Tieres weit zu übersteigen scheinen.

8.2 Die Mechanisierung von Gewohnheiten


Beim Menschen sind die angeborenen Instinkte nur die Grundlage, auf denen er seine
Lernprozesse aufbaut. Während wir neue Fertigkeiten erlernen, müssen wir uns auf je-
des Detail unseres Tuns scharf konzentrieren. Wir lernen mühselig, wie man die ge-
druckten Buchstaben des Alphabets nennt und erkennt, wie man Rad fährt oder wie man
die richtige Taste auf der Schreibmaschine oder auf dem Klavier anschlägt. Dann be-
ginnt sich das Gelernte zu Gewohnheiten zu kondensieren; alsbald lesen, schreiben und
tippen wir »automatisch«, das heißt, die Regeln, die die Fertigkeit kontrollieren, kom-
men jetzt unbewußt zur Anwendung. Wie die unsichtbare Maschinerie, die unartiku-
lierte Gedanken in grammatisch korrekte Sätze verwandelt, so operieren die Kontrollin-
stanzen unserer manipulativen und Denkfertigkeiten in den Dämmerzonen unterhalb der
Bewußtseinsschwelle. Wir halten uns an die Regeln, ohne sie definieren zu können. Im
Hinblick auf unsere Denkfertigkeiten birgt diese Sachlage zweifellos gewisse Gefahren:
die unbewußten Spielregeln unseres Räsonnements enthalten unbewußte Vorurteile.
Die Tendenz zur fortschreitenden Mechanisierung von Fertigkeiten hat zwei Seiten. Die
positive Seite steht im Einklang mit dem Prinzip des geringsten Aufwandes. Infolge der
rein mechanischen Manipulierung des Steuerrades kann ich meine Aufmerksamkeit un-
geteilt auf den Verkehr rings um mich konzentrieren; würden die grammatischen Re-
geln der Sprache nicht automatisch funktionieren wie ein programmierter Computer, so
könnten wir uns nicht auf den Sinn des Gesprochenen konzentrieren.
Um auf die negative Seite zu kommen: So wie die Totenstarre setzt die Mechanisierung
zuerst an den Extremitäten ein, an den untersten und rangniedrigsten Zweigen einer
Hierarchie; sie hat aber die Tendenz, sich nach oben auszubreiten. Es ist natürlich recht
nützlich, wenn man imstande ist, die richtige Taste an der Schreibmaschine in einer

75
»reinen Reflexreaktion« anzuschlagen, und auch die strenge Einhaltung der grammati-
schen Regeln ist zweifellos eine gute Sache; doch ein formstarrer Stil, der sich aus Kli-
schees und abgegriffenen Phrasen zusammensetzt, ist eine Degenerationserscheinung.
Breitet sich die Mechanisierung bis zum Gipfel der Hierarchie aus, dann ist das Resultat
der Pedant, der Sklave seiner Gewohnheiten – Bergsons homme automate. Zuerst hat
sich das Lernen zur Gewohnheit kondensiert, wie sich der Dampf zu Wassertropfen
kondensiert, dann sind die Tropfen schließlich zu Eiszapfen gefroren. Bertalanffy
schreibt:
Organismen sind keine Maschinen, aber sie können bis zu einem
gewissen Grad zu Maschinen werden, zu Maschinen erstarren. Das
kann jedoch immer nur in begrenztem Ausmaß geschehen, denn ein
durch und durch mechanisierter Organismus wäre nicht mehr in der
Lage, auf die sich unaufhörlich verändernden Umweltverhältnisse zu
reagieren.52

8.3 »Auf dem Instanzenweg«


Die Mechanisierung der Gewohnheiten kann also selbst einen starren Bürokraten nie-
mals völlig in einen Automaten verwandeln; umgekehrt kann das bewußte Ich nur in
begrenztem Ausmaß in die automatische Funktionsweise seiner untergeordneten Kör-
per- und Geistesprozesse eingreifen. Der Fahrer am Steuer seines Wagens kann die Ge-
schwindigkeit seines Motors kontrollieren, er ist aber nicht in der Lage, in die Arbeits-
weise der Kolben und Ventile einzugreifen. In einer ähnlichen Position befindet sich das
bewußte Ich: Es hat keine Kontrollgewalt über die Funktionen auf subzellularem und
zellularem Niveau; es hat auch keine unmittelbare Kontrollgewalt über seine querge-
streiften Muskeln, inneren Organe und Drüsen; selbst die Koordinierung der Skelett-
muskulatur unterliegt nur in begrenztem Ausmaß der Kontrolle durch das Bewußtsein:
man kann seinen charakteristischen Gang, seine Gesten und seine Handschrift nicht
nach Belieben verändern.
Wir sagten weiter oben, wenn sich am Gipfel der Hierarchie eine bewußte Intention
melde – etwa »Öffne die Tür!« oder »Unterschreibe diesen Brief!« –, dann aktiviert sie
nicht einzelne Muskelkontraktionen, sondern sie löst eine Konfiguration von Nervenim-
pulsen aus, die wiederum Sub-Konfigurationen aktivieren und so fort, bis hinab schließ-
lich zu den einzelnen motorischen Einheiten. Die höheren Zentren in der Hierarchie ha-
ben also normalerweise keinen direkten Kontakt zu den niederen und umgekehrt. Briga-
degenerale konzentrieren ihre Aufmerksamkeit nicht auf einzelne Soldaten und erteilen
ihnen keine direkten Befehle; täten sie das, würde die ganze Operation in Stücke gehen.
Befehle müssen, wie es in der militärischen Fachsprache heißt, »auf dem Dienstweg«
weitergeleitet werden, das heißt Schritt für Schritt abwärts auf den Stufen der Hierar-
chie; Versuche, Stufen zu überspringen – das heißt den Bewußtseinsstrahl den obskuren
und anonymen Routineprozeduren untergeordneter Elemente zuzuwenden –, enden ge-
wöhnlich mit dem Paradoxon vom Tausendfüßler. Als man den Tausendfüßler fragte, in
welcher exakten Reihenfolge er seine Füße bewege, wurde er prompt gelähmt und
mußte Hungers sterben, denn er hatte vorher niemals darüber nachgedacht und es den
Füßen selbst überlassen, sich in natürlicher Abfolge zu bewegen. Wir würden ein ähnli-
ches Schicksal erleiden, wenn wir zu erklären hätten, wie man es macht, auf einem
Fahrrad zu fahren.
Das Paradoxon des Tausendfüßlers leitet sich aus einem Verstoß gegen das Prinzip ab,
das wir als »Schritt-für-Schritt-Regel« bezeichnen können. Oberflächlich betrachtet,
mag das trivial erscheinen, aber es ergeben sich einige unerwartete Konsequenzen,
wenn wir gegen dieses Prinzip verstoßen. So lassen zum Beispiel die Pseudoerklärun-
gen der Sprache als Kettenbildung von S-R-Elementen eine klaffende Lücke zwischen

76
dem Denkvorgang und dem tatsächlichen Sprechvorgang offen, zwischen dem Gipfel
des Sprachbaumes und seinen untersten Zweigen. Das gleiche Prinzip gilt auch für den
Bereich der Psychopathologie – von dem mißlichen Zustand, den wir als Befangenheit
bezeichnen, bis zu psychosomatischen Störungen. Befangenheit (Ungeschicklichkeit,
Lampenfieber) tritt dann ein, wenn man seine bewußte Aufmerksamkeit Routinevor-
gängen zuwendet, die sich normalerweise unbewußt und automatisch vollziehen. Noch
schwerwiegendere Störungen können auftreten, wenn man seine Aufmerksamkeit auf
physiologische Prozesse konzentriert, die auf noch primitiveren Niveaus der Hierarchie
funktionieren – wie zum Beispiel die Verdauung oder der Sexus – und die sich selbst
überlassen bleiben müssen, wenn sie glatt funktionieren sollen. Psychologisch begrün-
dete Impotenz oder Spasmen im Dickdarm sind unerfreuliche Varianten des Paradoxons
vom Tausendfüßler.
Der Verlust der unmittelbaren Kontrolle über die Vorgänge auf den unteren Stufen der
Körperhierarchie ist ein Teil des Preises, den wir für unsere Differenzierung und Spe-
zialisierung zahlen mußten. Natürlich ist dieser Preis nicht zu hoch, solange das Indivi-
duum unter einigermaßen normalen Bedingungen lebt und sich auf seine mehr oder
minder automatischen Routineprozesse verlassen kann. Es können aber Verhältnisse
eintreten, bei denen das nicht mehr der Fall ist und wo es dringend erforderlich wird,
mit der Routine zu brechen.

8.4 Die Umwelt als Aufgabe


Wir stoßen hier auf ein bedeutungsvolles Problem, von dem ich bisher nicht gesprochen
habe: den Einfluß der Umwelt auf die Flexibilität oder Starrheit des Verhaltensmodus.
Praktiziert man eine Fertigkeit im Rahmen stets gleichbleibender Verhältnisse und folgt
dabei stets unverändert dem gleichen Schema, dann zeigt sie die Tendenz, zu einer ste-
reotypen Routine abzusinken, und ihre »Freiheitsgrade« frieren sozusagen ein. Die Mo-
notonie beschleunigt die Versklavung durch Gewohnheit, sie läßt die rigor mortis der
Mechanisierung auf immer höhere Stufen der Hierarchie hinaufsteigen.
Umgekehrt erfordert eine variable Umwelt ein flexibles Verhalten und wirkt der Ten-
denz zur Mechanisierung entschieden entgegen. Der geübte Autofahrer überläßt auf der
vertrauten Route von seinem Heim zur Arbeitsstätte das Steuer dem »Autopiloten«, dem
»Computer« in seinem Nervensystem, während er in seinen Gedanken ganz woanders
weilt; gerät er jedoch in eine schwierige Verkehrssituation, dann muß er sich voll auf
sein Tun konzentrieren – der Mensch übernimmt das Steuer wieder selbst. Die Aufgabe,
vor die uns die Umwelt stellt, kann jedoch einen kritischen Punkt überschreiten und zu
einer Situation führen, die sich nicht mehr mit einer der üblichen Fertigkeiten – mag
diese noch so gewandt sein – bewältigen läßt, weil die üblichen »Spielregeln« dafür
nicht mehr ausreichen. Es kommt zu einer Krise. Das Ergebnis ist entweder ein Zusam-
menbruch der Verhaltensstruktur oder aber das plötzliche Auftauchen neuer Verhaltens-
formen, das heißt »origineller« Lösungen. Diese spielen, wie sich noch zeigen wird, ei-
ne entscheidende Rolle sowohl in der biologischen Entwicklung als auch beim geistigen
Fortschritt.
Die erstere Möglichkeit läßt sich an der Katze demonstrieren, die – außerstande, die
strengen Regeln ihres Hygienekanons zu befolgen – mit sinnlosen Bewegungen ver-
sucht, ihre Fäkalien unter den harten Küchenfliesen zu begraben. Auch Menschen sind
in einer Krisensituation durchaus imstande, sich gleichermaßen sinnlos zu verhalten und
ständig die gleichen aussichtslosen Versuche zu wiederholen, um aus ihr wieder heraus-
zukommen.
Der Alternativmöglichkeit läßt sich an Hand der unerwarteten Improvisationskünste der
Grabwespe demonstrieren, oder an der Reorganisation der Arbeitsteilung im verstüm-

77
melten Bienenstock – oder auch an einem Schimpansen, der einen Zweig vom Baum
bricht, um damit eine Banane in seinen Käfig zu holen, die außerhalb der Reichweite
seines Armes liegt. »Originelle Adaptationen« dieser Art, zur Bewältigung einer außer-
gewöhnlichen Situation, deuten auf das Vorhandensein von unerwarteten Möglichkeiten
im lebendigen Organismus hin, die im normalen Routineablauf des Geschehens nicht in
Erscheinung treten. Sie geben einen Vorgeschmack auf die Phänomene der menschli-
chen Kreativität, die in Kapitel 13 erörtert werden.

8.5 Zusammenfassung
Mit jedem Schritt aufwärts in der Hierarchie begegnen wir immer komplexeren, flexi-
bleren und weniger voraussagbaren Verhaltensstrukturen, mit jedem Schritt abwärts
treffen wir in zunehmendem Maße auf mechanisierte, stereotype und voraussagbare
Verhaltensstrukturen: Ein Holon auf einer höheren Stufe der Hierarchie hat mehr Frei-
heitsgrade als ein Holon auf einer niederen Stufe.
Alle Fertigkeiten – ganz gleich, ob sie sich aus dem Instinktverhalten oder aus Lernpro-
zessen ableiten – zeigen mit fortschreitender Praxis die Tendenz zur mechanisierten
Routine. Monotone Umweltverhältnisse begünstigen die Versklavung durch Gewohn-
heit; dagegen wirken unerwartete Ereignisse dieser Tendenz entgegen und können er-
finderische Improvisationen auslösen. Krisensituationen können zum Zusammenbruch
der Verhaltensstruktur oder aber zur Entstehung neuer Verhaltensformen führen.
Die oberen Instanzen der Hierarchie haben normalerweise keinen unmittelbaren Kon-
takt mit den niederen Instanzen; der Verkehr vollzieht sich stets schrittweise »auf dem
Dienstweg«. Eine Ausschaltung der Zwischenstufen kann zu Störungen verschiedener
Art führen.

78
Teil II
Werden

9 Die Strategien des Embryos


Einer Dame, die die Nützlichkeit
seiner Studien über die Elektrizität
in Frage stellte,
antwortete Benjamin Franklin:
»Madame, welchen Nutzwert
hat ein neugeborenes Baby?«
Die klassisch-darwinistische Antwort auf die Frage, auf welche Weise der Mensch aus
einem winzigen Schleimkügelchen erschaffen wurde, ist weitgehend die gleiche wie
Watsons Antwort auf die Frage, wie Patou aus einem Stück Seidenstoff ein Abendkleid
kreiert: »Er nimmt ein Stückchen Seide, drapiert es um das Modell herum, zieht hier ein
bißchen ein, läßt dort ein bißchen aus, strafft oder lockert es an der Taille ... Er manipu-
liert sein Material so lange, bis es eine kleidähnliche Gestalt annimmt.« Der Evolutions-
prozeß soll mittels ähnlicher, rein zufälliger Manipulationen seines »Rohmaterials«
agieren – hier wird ein wenig eingezogen, dort ein wenig ausgelassen, hier ein Schwanz,
dort ein Geweih angefügt, bis zufällig ein lebensfähiges Gebilde entsteht.
Die Wissenschaft der »flachen Erde« führt die gesamte geistige Entwicklung des Men-
schen auf Zufallstreffer zurück, die durch »Verstärkungen« fixiert wurden, und die
biologische Entwicklung der Arten auf Zufallsmutationen, die durch die natürliche
Zuchtwahl erhalten blieben. Mutationen werden definiert als spontane Veränderungen
in der Molekularstruktur der Gene, und man nimmt an, sie geschähen rein zufällig in
dem Sinn, daß sie keinen irgendwie gearteten Bezug zu den adaptiven Bedürfnissen des
Organismus hätten. Folglich müsse die überwiegende Mehrzahl der Mutationen schädli-
che Folgen haben, und nur einige wenige blieben erhalten, da sie dem betreffenden Ge-
schöpf irgendeinen winzigen Vorteil im Daseinskampf einbrächten; und setzt man eine
hinreichend lange Zeitspanne voraus, dann »ist praktisch alles möglich«. Sir Julian
Huxley schreibt: »Der uralte Einwand, es sei unwahrscheinlich, daß ein Auge, eine
Hand oder ein Gehirn sich aus purem Zufall entwickelten, hat seine Gültigkeit verloren«
– denn »die über die weiten geologischen Zeitspannen hin wirksame natürliche Zucht-
wahl«53 erkläre eben alles.
In Wirklichkeit jedoch wurde der »uralte Einwand« während der letzten Jahrzehnte in
seiner Gültigkeit zunehmend bestätigt, und dies in so hohem Maße, daß es heute kaum
noch einen prominenten Evolutionstheoretiker gibt, der nicht hinsichtlich dieses oder
jenes Aspekts der orthodoxen Doktrin häretische Ansichten geäußert hat – wobei er al-
lerdings die häretischen Äußerungen anderer Fachkollegen meist glatt ablehnt. Zwar
haben diese Kritiker und Zweifler zahlreiche Breschen in die Mauern geschlagen, aber
noch ist die Zitadelle der neodarwinistischen Orthodoxie nicht gefallen, und zwar
hauptsächlich, so darf man vermuten, weil niemand eine wirklich zufriedenstellende
Alternativlösung anzubieten hat. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt deutlich, daß
eine wohletablierte Theorie schwer angeschlagen sein und sich in Absurditäten und Wi-
dersprüche verwickeln kann und dennoch aufrechterhalten wird, bis eine akzeptable,
umfassende Alternative auftaucht.* Historisch gesehen, kam die einzige ernsthafte Ge-
fährdung des Neodarwinismus von seiten der Lamarckianer; doch brachten diese zwar

79
viel scharfe und fundierte Kritik vor, hatten aber selbst keine konstruktive Alternative
zu bieten.
* Siehe Thomas Kuhns These vom »Paradigma-Wechsel« und das Kapitel »Die Evolution der Ideen« in
DER GÖTTLICHE FUNKE (S. 241 ff.).
Seit nahezu hundert Jahren tobt im Lager der Evolutionslehre ein erbitterter Bürgerkrieg
zwischen Lamarckisten und Darwinisten. Der eigentliche Streit ging um komplexe
fachtechnische Fragen, doch spielten metaphysische, emotionale und sogar politische
Implikationen in hohem Maß mit hinein. In der Sowjetunion wurden die Darwinisten
unter Stalin summarisch in Zwangsarbeitslager verschickt und die Überlebenden von
Chruschtschow summarisch rehabilitiert: eine Episode, die als »Lysenko-Affäre« be-
kannt ist. Der Kern des Streites läßt sich in vereinfachter Form wie folgt darstellen: La-
marck vertrat die Ansicht, die adaptiven Veränderungen in Körperbau und Lebensweise,
die ein Tier zu Lebzeiten »erwirbt«, um mit seiner Umwelt besser fertig zu werden,
würden durch Vererbung auf die Nachkommenschaft übertragen (Vererbung erworbe-
ner Eigenschaften). Wenn also ein Boxer auf Grund seines intensiven Trainings starke
Muskelpartien entwickelt, dann müßte – nach Lamarck – auch sein Sohn mit starken
Muskeln ausgestattet sein. Daraus ergibt sich eine recht vernünftige und ermutigende
Auffassung von der evolutionären Entwicklung: sie wäre danach das Ergebnis des Ler-
nens durch Erfahrung und des Trainings für ein besseres Leben. Wie so oft, zeigte sich
jedoch leider auch hier, daß der gesunde Menschenverstand nicht immer recht hat. Trotz
intensiver Bemühungen ist es nämlich dem Lamarckismus bis heute nicht gelungen,
schlüssiges Beweismaterial dafür beizubringen, daß erworbene Eigenschaften auf die
Nachkommenschaft vererbt werden; man kann mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß die
Erfahrung zwar auf das Erbgut einwirkt, daß diese Einwirkung aber nicht in so einfa-
cher und unmittelbarer Form erfolgt.
Der Mißerfolg des Lamarckismus in seiner ursprünglichen Form bedeutet jedoch nicht,
daß der Affe an der Schreibmaschine für uns die einzige Alternativmöglichkeit ist. Zu-
fallsmutationen, deren Merkmale durch natürliche Zuchtwahl erhalten bleiben, spielen
beim evolutionären Entwicklungsprozeß eine Rolle, ebenso wie glückliche Zufälle bei
der Weiterentwicklung der Wissenschaft eine Rolle spielen. Die Frage ist nur, ob dieser
Prozeß bereits die ganze Wahrheit – oder auch nur den wesentlichsten Teil des wahren
Sachverhalts – widerspiegelt.
Im Lauf der Jahre haben verschiedene Evolutionstheoretiker eine Anzahl von Korrektu-
ren und Zusätzen für die neodarwinistische Theorie vorgeschlagen; nimmt man sie alle
zusammen, dann bleibt von der ursprünglichen Theorie recht wenig übrig – so wie etwa
Zusatzanträge zu einem parlamentarischen Gesetzentwurf dessen ursprüngliche Absicht
ins Gegenteil verkehren können. Aber wie schon erwähnt, beschränkte sich jeder Kriti-
ker auf sein Spezialgebiet. »Es liegt alles in Scherben, der Zusammenhang ist weg«, so
klagte John Donne, als die mittelalterliche Kosmologie in eine ähnliche Krisensituation
geriet. In diesem Kapitel und in den drei folgenden werde ich einige dieser Scherben
und Einzelstücke auflesen und den Versuch unternehmen, sie in anderer Form zusam-
menzufügen.

80
9.1 Lenksamkeit und Determination
Um aus einer einzelnen befruchteten Eizelle ein menschliches Wesen hervorzubringen,
sind 56 Zellgenerationen erforderlich. Dieser Prozeß vollzieht sich schrittweise, und zu
jedem Schritt gehören: a) die Zellvermehrung durch Zellteilung sowie das nachfolgende
Wachstum der Tochterzellen, b) die strukturelle und funktionelle Spezialisierung der
Zellen (Differenzierung) und c) die Selbstausformung des Organismus (Morphogenese).
Natürlich handelt es sich hier um drei komplementäre Aspekte eines einheitlichen Pro-
zesses.
Die Morphogenese vollzieht sich in eindeutig hierarchischer Form. Die Entwicklung
des Embryos von einem gestaltlosen Schleimkügelchen zu einer ausgeprägten Gestalt –
im Verlauf von Phasen mit zunehmender Artikulierung – vollzieht sich nach dem be-
kannten Muster, das wir in den vorhergehenden Kapiteln kennengelernt haben; ich er-
wähnte dabei auch die Analogie zum Bildhauer, der aus einem Stück Holz eine Figur
schnitzt, und zur Umsetzung einer amorphen Idee in artikulierte Sprache. Bei der
schrittweisen Differenzierung einzelner Zellgruppen bis zu ihrer endlichen Spezialform
bietet sich uns das gleiche Bild einer sich hierarchisch verzweigenden Baumstruktur.
Entwickelt sich eine Zellgruppe zu »Haut«, dann kann sie sich noch weiter spezialisie-
ren und Schweißdrüsen oder Hornhaut formen. Bei jedem dieser Schritte bestimmen
Auslöser und Rückkoppelungen, welchem Entwicklungsweg eine Zellgruppe schließlich
folgt.
Wenn zum Beispiel die Augenblasen (die zukünftigen Netzhäute), die am Ende zweier
stengelartiger Gebilde (den zukünftigen Sehnerven) aus dem Gehirn herauswachsen,
physischen Kontakt zur Oberfläche herstellen, dann bildet die Haut über der Kontaktzo-
ne konkave Vertiefungen und differenziert sich dann weiter zu transparenten Linsen.
Die Augenblase veranlaßt die Haut, eine Linse zu bilden, die Linse wiederum veranlaßt
die umliegenden Gewebe, eine transparente Hornhautmembran zu bilden, die soge-
nannte Cornealinse. Transplantiert man eine Augenblase unter die Haut der Bauchregi-
on eines Froschembryos, so differenziert sich die darüberliegende Haut ebenfalls zu ei-
ner Linse. Diese Bereitwilligkeit (beziehungsweise »Lenksamkeit«) des embryonalen
Gewebes, seine Bereitschaft, sich in dasjenige Organ zu entwickeln, das der Position
des Gewebes im heranwachsenden Organismus am besten entspricht, können wir als ei-
ne Manifestation der integrativen Tendenz betrachten: der Unterordnung des Einzeltei-
les unter die Interessen des Gesamtorganismus.
Aber diese »Lenksamkeit«, diese »Gefügigkeit« ist nur ein Aspekt des Embryogewebes,
der andere ist die Determination. Unter »Lenksamkeit« versteht man die Fähigkeit des
embryonalen Gewebes, je nach den gegebenen Umständen dem einen oder dem andern
Zweig der Entwicklungshierarchie zu folgen. An jedem Zweig gibt es jedoch einen
Punkt, von dem aus eine Umkehr nicht mehr möglich ist, das heißt, daß dort die nächst-
folgende Entwicklungsphase des Gewebestückes auf irreversible Weise »determiniert«
ist. Spaltet man einen Froschembryo in seiner frühesten Entwicklungsphase, der soge-
nannten Phase der »Furchungsteilungen«, in zwei Hälften, dann entwickelt sich jede
von ihnen zu einem vollständigen Frosch und nicht, wie man vielleicht erwarten würde,
zu je einer Froschhälfte. In dieser Phase besitzt jede Zelle – obwohl sie ein Teil des Em-
bryos ist – noch das genetische Potential, um notfalls zu einem ganzen Frosch heranzu-
wachsen; sie ist ein echtes, janusgesichtiges Holon. Mit jedem weiteren Entwicklungs-
schritt spezialisieren sich die nachfolgenden Zellgenerationen mehr und mehr, und der
Entwicklungsspielraum für ein bestimmtes Zellgewebe – sein genetisches Potential –
wird mehr und mehr eingeengt. So hat zum Beispiel ein Stück der äußeren Zellschicht,
des Ektoderms, immer noch die Möglichkeit, sich zu einer Cornealinse oder zu einer
Schweißdrüse zu entwickeln, es kann sich aber nicht mehr zu einer Leber oder einer
Lunge ausbilden. Wie auf anderen Gebieten, so führt auch hier die Spezialisierung zu
einer Abnahme der Flexibilität. Man könnte diesen Prozeß mit der Auswahl von Stu-

81
dienmöglichkeiten vergleichen, die dem Studenten offenstehen: von der ersten groben
Alternative zwischen der Naturwissenschaft und den Geisteswissenschaften bis hin zur
schließlichen »Determination«, die aus ihm einen Meereszoologen macht, der sich auf
Stachelhäuter spezialisiert. An jedem Entscheidungspunkt, von dem aus mehrere Pfade
weiterführen, kann irgendein an sich belangloser Zufall zum Auslöser werden, der eine
»induzierende« Wirkung ausübt und ihn zu dieser oder jener Entscheidung veranlaßt.
Nach einem bestimmten Zeitraum wird jede Entscheidung weitgehend zu einem irrever-
siblen Faktum. Ist der Student erst einmal Zoologe, dann stehen ihm noch zahlreiche
Spezialisierungsmöglichkeiten offen, er kann jedoch kaum noch seine bisherigen
Schritte rückgängig machen und Anwalt oder Physiker werden. Auch hier gilt das
»Schritt-für-Schritt-Gesetz« aller Hierarchien.
Ist die Entscheidung über die zukünftige Entwicklung eines bestimmten Gewebestückes
gefallen, dann kann es sich bemerkenswert »determiniert« verhalten. Im Gastrulastadi-
um sieht der Embryo zwar noch wie ein eingestülpter Sack aus, aber man kann trotzdem
bereits voraussagen, welche Organe die einzelnen Gastrulabezirke bilden werden.
Transplantiert man in dieser frühen Phase von einem Amphibienembryo ein Gewebe-
stück, aus dem normalerweise ein Auge entstehen würde, auf das Schwanzende eines
anderen, älteren Embryos, dann entwickelt sich dieses Gewebestück nicht zu einem Au-
ge, sondern zu einem Nierentrakt oder einem anderen für diese Region charakteristi-
schen Organteil. Zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Embryos geht je-
doch diese »Lenksamkeit«, »Gefügigkeit« des präsumtiven Augenbezirks verloren, und
er entwickelt sich zu einem Auge, ohne Rücksicht darauf, wohin er transplantiert wird –
sogar auf dem Schenkel oder Bauch des Wirtsembryos. Hat eine Zellgruppe dieses Sta-
dium erreicht, dann bezeichnet man sie als morphogenetisches Feld, Primitivorgan oder
Organanlage. Nicht nur das präsumtive Auge, auch ein noch im Keimzustand befindli-
ches Primitivorgan, das in eine andere Position (auf dem gleichen oder auf einem ande-
ren Embryo) transplantiert wird, entwickelt sich zu einem vollständigen Organ; selbst
ein Herz kann sich an der Seite des Wirtsembryos herausbilden. In dieser »rücksichtslo-
sen« Entschlossenheit der morphogenetischen Felder zur Beibehaltung ihrer Individua-
lität spiegelt sich – nach unserer Terminologie – das Prinzip der Selbstbehauptung auch
im Entwicklungsprozeß wider.
Jedes morphogenetische Feld beziehungsweise Primitivorgan besitzt den holistischen
Charakter einer autonomen Einheit, eines selbstregulierenden Holons. Entfernt man die
Hälfte des Gewebes eines solchen morphogenetischen Feldes, dann bildet sich aus dem
restlichen Gewebestück nicht eine Organhälfte, sondern ein vollständiges Organ. Spaltet
man in einer bestimmten Entwicklungsphase die Augenblase in mehrere isolierte Teile
auf, dann bildet jedes Fragment ein normales, wenn auch etwas kleineres Auge; selbst
künstlich zermalmte und durchgefilterte Gewebezellen regenerieren sich, wie wir gese-
hen haben (siehe Seite 49), von neuem.
Die autonomen, selbstregulierenden Eigenschaften von Holons innerhalb des heran-
wachsenden Embryos erweisen sich als fundamentale Sicherheitsvorrichtung; sie sorgen
dafür, daß das Endprodukt der Norm entspricht, auch wenn sich im Verlauf der Ent-
wicklung Zufälle und Schwierigkeiten ergeben. Angesichts der Millionen und Abermil-
lionen von Zellen, die sich teilen und differenzieren und in der variablen Umwelt von
Flüssigkeiten und benachbarten Geweben umherbewegen – Waddington nannte das
»die epigenetische Landschaft« –, muß man annehmen, daß niemals, nicht einmal im
Fall von eineiigen Zwillingen, zwei Embryos sich auf genau die gleiche Art herausbil-
den.
Man hat die selbstregulierenden Mechanismen (welche die Abweichungen von der
Norm ausgleichen und sozusagen die Form des Endprodukts garantieren) mit den ho-
meostatischen Steuerungen im ausgewachsenen Organismus verglichen; Biologen spre-
chen in diesem Fall von einer Entwicklungs-Homeostase. Das zukünftige Individuum
ist in den Chromosomen des befruchteten Eies bereits potentiell festgelegt; aber um die-
sen Bauplan in das fertige Produkt zu transponieren, müssen Milliarden von speziali-

82
sierten Zellen erstellt und zu einer integrierten Struktur gestaltet werden. Es scheint un-
vorstellbar, daß die Gene des befruchteten Eies eingebaute Vorkehrungen für alle er-
denklichen Zufälle enthalten sollten, denen jede einzelne ihrer 56 Generationen von
Tochterzellen im Verlauf des Entwicklungsprozesses möglicherweise begegnen könnte.
Das Problem erscheint jedoch etwas zugänglicher, wenn wir die Konzeption vom »ge-
netischen Bauplan«, der starr kopiert werden muß, durch die Konzeption von geneti-
schen Spielregeln ersetzen, die zwar feststehen, aber hinlänglich Spielraum für Alterna-
tivmöglichkeiten offenlassen: für flexible Taktiken, die durch feedbacks aus der Umwelt
der Zelle gesteuert werden. Wie aber läßt sich diese allgemeine Formel auf den Spezial-
fall der embryonalen Entwicklung anwenden?

9.2 Die genetische Tastatur


Die Zellen eines Embryos – alle identischen Ursprungs – differenzieren sich zu so ver-
schiedenartigen Produkten wie Muskelzellen, mehreren Arten von Blutzellen, einer
Vielzahl verschiedener Nervenzellen und so weiter; das geschieht trotz der Tatsache,
daß jede einzelne von ihnen in ihren Chromosomen genau die gleichen Erbinstruktionen
enthält. Die Zelltätigkeit wird – sowohl im Embryo als auch im ausgewachsenen Indivi-
duum – von den in den Chromosomen enthaltenen Genen kontrolliert. Da wir jedoch
schlüssige Beweise dafür haben, daß alle Zellen im Körper, ohne Rücksicht auf ihre je-
weilige Funktion, den gleichen vollständigen Chromosomensatz enthalten, muß man
sich fragen: Wie können zum Beispiel eine Nervenzelle und eine Nierenzelle so ver-
schiedenartige Aufgaben erfüllen, wenn sie doch von den gleichen Gesetzen regiert
werden?*
* Die Sachlage wird noch durch die Tatsache kompliziert, daß es auch cytoplasmische Erbträger gibt,
doch sind diese für unsere Untersuchungen nicht relevant.
Noch vor einer Generation schien die Antwort auf diese Frage recht einfach zu sein. Ich
will sie hier in eine etwas frivole Analogie kleiden. Stellen wir uns vor, die Chromoso-
men würden durch die Tastatur eines großen Konzertflügels repräsentiert, eines sehr
großen Flügels mit Tausenden von Tasten. Jede Taste entspräche demnach einem Gen.
Jede Zelle im Körper enthält in ihrem Kern eine mikroskopisch kleine, dabei aber voll-
ständige Tastatur. Allerdings darf jede spezialisierte Zelle nur einen einzigen – ihrer
Spezialisierung entsprechenden – Ton anschlagen; der Rest der genetischen Tastatur ist
mit einem durchsichtigen Klebestreifen unbrauchbar gemacht. Das befruchtete Ei und
die ersten Generationen seiner Tochterzellen hatten noch die komplette Tastatur zu ihrer
Verfügung. Aber die nachfolgenden Generationen haben dann immer weitere Bereiche
der Tastatur durch Klebestreifen außer Betrieb gesetzt. Zum Schluß kann dann zum
Beispiel eine Muskelzelle nur noch dieses eine tun: sich zusammenziehen, das heißt ei-
nen einzigen Ton anschlagen.
Im genetischen Fachjargon bezeichnet man den Klebestreifen als »Repressor«, den
Faktor, der die Taste anschlägt und das Gen aktiviert, als »Induktor«. Ein Gen, das eine
Mutation erlitten hat, ist einer Saite vergleichbar, die »verstimmt« ist. Nun wollte man
uns weismachen, wenn eine beträchtliche Anzahl von Saiten arg verstimmt sei, dann sei
das Ergebnis eine stark verbesserte, wundervolle neue Melodie – ein Reptil, das sich in
einen Vogel, oder ein Affe, der sich in einen Menschen verwandelt hat. Da muß doch
irgendwo mit der Theorie etwas schiefgegangen sein.
Die Ursache dafür ist in der atomistischen Konzeption vom Gen zu suchen. Als die Ge-
netik gerade in Schwung kam, stand der Atomismus in voller Blüte: Reflexe waren Ver-
haltensatome, und Gene waren Atome der Erbmasse. Ein Gen war für die Augenfarbe
verantwortlich, ein zweites für glattes oder krauses Haar, ein drittes für die Bluterkrank-
heit und so weiter; man betrachtete den Organismus als eine Ansammlung dieser von-
einander unabhängigen Einheiten, als ein Mosaik von Elementarbestandteilen, zusam-
mengesetzt nach dem Vorbild, wie Mechos seine Uhren zusammenbaute. Um die Mitte
unseres Jahrhunderts wurde jedoch die starre atomistische Konzeption der Mendelschen

83
Genetik beträchtlich aufgelockert. Man erkannte, daß ein einzelnes Gen eine Reihe ganz
verschiedener Merkmale bedingen konnte (Pleiotropie) und daß umgekehrt eine größere
Zahl von Genen bei der Ausprägung eines einzigen Merkmals zusammenwirken konnte
(Polygenie). Einige triviale Merkmale, wie etwa die Augenfarbe, mögen durchaus von
einem einzigen Gen bedingt sein, im allgemeinen herrscht jedoch die Polygenie vor,
und die fundamentalen Prägemerkmale des Organismus hängen von der Gesamtheit der
Gene ab, dem Genkomplex beziehungsweise Genom als Ganzes.
In den Kindertagen der Genetik konnte ein Erbmerkmal »dominant« oder »rezessiv«
sein, und das war ungefähr alles, was man darüber wissen mußte; allmählich mußte man
jedoch immer neue Begriffe in die Terminologie aufnehmen: Repressoren, Apo-Repres-
soren, Co-Repressoren, Induktoren, modifizierende Gene, Austausch-Gene, Operator-
Gene, die andere Gene aktivieren, und sogar Gene, die die Mutationsquote in den Genen
regulieren. So faßte man die Tätigkeit des Genkomplexes ursprünglich als das Abspie-
len einer simplen linearen Folge auf, ähnlich wie ein Tonband oder die Reflexkette des
Behavioristen. Heute wird jedoch mehr und mehr deutlich, daß die genetischen Kon-
trollen als eine selbstregulierende Mikrohierarchie operieren, ausgerüstet mit feed-
backs, die ihre flexiblen Taktiken steuern.* Dadurch wird der heranwachsende Embryo
nicht nur gegenüber den Zufälligkeiten der Ontogenese abgeschirmt, sondern auch ge-
genüber den evolutionären Zufälligkeiten der Phylogenese, das heißt den schädlichen
Mutationen in seiner eigenen Erbmasse – den ziellosen Kapriolen des Affen an der
Schreibmaschine.
* Bezeichnenderweise gibt Waddington seinem bedeutenden Buch über die theoretische Biologie den
Titel THE STRATEGIE OF THE GENES (1957).
Zur Zeit treffen derartige Annahmen bei den orthodoxen Genetikern noch auf beträcht-
liche Skepsis, wohl in erster Linie deswegen, weil ihre Akzeptierung, wie sich im fol-
genden Kapitel zeigen wird, notgedrungen zu einer entscheidenden Schwerpunktverla-
gerung innerhalb unserer Konzeption vom Evolutionsprozeß führen muß.
Da sich aber die Differenzierung und die Morphogenese in hierarchisch geordneten
Schritten vollziehen, leuchtet ein, daß auch die kooperative Tätigkeit des Genkomplexes
in hierarchischer Ordnung vor sich gehen muß. Der gesamte Genkomplex befindet sich
im Zellkern. Dieser Zellkern ist umgeben vom Zellkörper. Der Zellkörper ist umgeben
von einer Zellmembran, die ihrerseits wieder umgeben ist von Körperflüssigkeit und
von anderen Zellen, die ein Gewebestück bilden; dieses steht wiederum in Kontakt mit
anderen Gewebestücken. Anders ausgedrückt: der Genkomplex operiert in einer Hier-
archie von Umwelten (siehe Seite 72).
Die verschiedenen Arten von Zellen (Gehirnzellen, Muskelzellen etc.) unterscheiden
sich voneinander in der Struktur und in den chemischen Eigenschaften ihres Zellkör-
pers. Diese Unterschiede gehen auf die Wechselwirkung zwischen dem Genkomplex,
dem Zellkörper und der Zellumwelt zurück. In jedem heranwachsenden und sich diffe-
renzierenden Gewebestück ist ein anderer Teilbereich des gesamten Genkomplexes ak-
tiv – nämlich nur jener Zweig der Genhierarchie, der für die dem betreffenden Gewebe-
stück zugewiesenen Funktionen zuständig ist –, die übrigen Gene sind sozusagen »ab-
geschaltet«. Und wenn wir fragen, wer oder was es ist, wodurch die Gene ein- und ab-
geschaltet werden, dann stoßen wir erneut auf die uns vertrauten Mechanismen: Auslö-
ser und Rückkoppelung. Als »Auslöser« fungieren die bereits erwähnten Induktoren,
Organisatoren, Operatoren, Repressoren und so weiter. Wie sie operieren, können wir
allerdings nur recht unvollkommen begreifen; die Prägung neuer Termini ist manchmal
die bequemste Methode zur Verschleierung unserer Unkenntnis. Wir kennen jedoch
zumindest in groben Zügen die hier wirksamen Prinzipien. Es handelt sich um einen
Prozeß, der kreisförmig verläuft – und zwar in Kreisen, die, wie die Rollen einer Spira-
le, immer enger werden, je mehr sich die Zelle spezialisiert. Die Gene kontrollieren die
Tätigkeit der Zelle durch Instruktionen, die in den komplexen Operationen des Zellkör-
pers zum Tragen gebracht werden. Aber auch die Tätigkeit der Gene wird ihrerseits mit
Hilfe von Rückkoppelungen zum Zellkörper gesteuert, der wiederum der Hierarchie von

84
Umwelten ausgesetzt ist. Letztere enthält, abgesehen von chemischen Auslösern, eine
Anzahl anderer Faktoren in der »epigenetischen Landschaft«, die für die Zukunft der
Zelle relevant sind und über die die Gene informiert werden müssen. Die Zelle muß –
nach James Bonner54 – in der Lage sein, ihre Nachbarn »auf Fremdheit und Ähnlichkeit
hin und nach vielen anderen Aspekten zu testen«. Indem er Informationen über die
Umwelt an den Genkomplex zurückleitet, ist auch der Zellkörper daran mitbeteiligt, zu
bestimmen, welche Gene aktiviert und welche vorübergehend oder dauernd abgeschaltet
werden sollen.
Letztlich hängt also das Schicksal einer Zelle von ihrer Position im heranwachsenden
Embryo ab – von ihrer genauen Lage innerhalb der epigenetischen Landschaft. Zellen,
die zum gleichen morphogenetischen Feld gehören (etwa zum zukünftigen Arm), müs-
sen die gleiche genetische Instrumentierung haben und sich wie Teile einer kohärenten
Einheit verhalten; ihre weitere Spezialisierung zu »Solospielern (einzelnen Fingern)
hängt ebenfalls von ihrer Position innerhalb des morphogenetischen Feldes ab. Jedes
Primitivorgan ist ein janusgesichtiges Holon: verglichen mit seinen früheren Entwick-
lungsphasen ist sein Schicksal als ein Ganzes unwiderruflich »determiniert« – hinsicht-
lich seiner zukünftigen Entwicklung sind seine Teile jedoch noch »bildsam«, und sie
differenzieren sich entlang desjenigen Entwicklungszweiges, der ihrer lokalen Umwelt
am angemessensten ist. »Determination« und »Bildsamkeit« (»Lenksamkeit«), das
selbstbehauptende und das integrative Potential, sind die beiden Seiten derselben Me-
daille.
Bei den vorher erörterten Hierarchien hat der Zeitfaktor nur eine relativ untergeordnete
Rolle gespielt. Bei der Entwicklungshierarchie ist der Scheitelpunkt das befruchtete Ei,
die Achse des sich verzweigenden Baumes ist der zeitliche Fortschritt, und die einzel-
nen Stufen der Hierarchie sind die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien. Die
Struktur des heranwachsenden Embryos ist zu jedem bestimmten Zeitpunkt ein Quer-
schnitt im rechten Winkel zur Zeitachse; die beiden Janusgesichter sind der Vergangen-
heit und der Zukunft zugewandt.

9.3 Zusammenfassung
Es war nicht der Sinn dieses Kapitels, einen Überblick über die embryonale Entwick-
lung zu geben, sondern es sollten die Grundprinzipien herausgestellt werden, die diese
Entwicklung mit andern Arten von hierarchischen Prozessen, die in den vorausgehen-
den Kapiteln erörtert werden, gemeinsam haben. J. Needham sprach einmal von dem
»Streben der Blastula, sich zu einem Küken zu entwickeln«. Man kann die diversen
Mechanismen, die dieser Bemühung zum Erfolg verhelfen, als »pränatale Fertigkeiten«
des Organismus bezeichnen. Ich zitiere nochmals James Bonner: »Wir wissen, daß die
Natur – ebenso wie der Mensch – komplexe Aufgaben dadurch bewältigt, daß sie sie in
viele einfache Einzelaufgaben aufgliedert.«55 Entwicklung, Reifung, Lernen und Han-
deln sind kontinuierliche Prozesse; wir müssen daher annehmen, daß die pränatalen und
die postnatalen Fertigkeiten von den gleichen allgemeingültigen Prinzipien bestimmt
werden. Einige dieser in der embryonalen Entwicklung reflektierten Prinzipien* sind:
die hierarchische Ordnungsfolge bei der Differenzierung und der Morphogenese; die
»Aufgliederung« dieser Ordnung in selbstregulierende Holons auf verschiedenen Stufen
(Phasen): ihr Januscharakter (Autonomie kontra Abhängigkeit, Determination kontra
Lenksamkeit); ihre fixierten genetischen Spielregeln und schmiegsamen Taktiken, die
durch Rückkoppelung von der Umwelthierarchie gesteuert werden; die Tätigkeit von
Auslösern (Induktoren etc.) und von Abtastvorrichtungen (»Tests«); die Abnahme der
Flexibilität mit zunehmender Spezialisierung und Differenzierung.
* Ich möchte den Leser daran erinnern, daß er im Anhang eine Zusammenfassung dieser Prinzipien findet.

85
10 Evolution: Thema mit Variationen
Ich weigere mich zu glauben,
daß Gott mit der Welt Würfel spielt.
Albert Einstein
Im vorigen Kapitel haben wir uns mit der Ontogenese befaßt, mit der Entwicklung des
Einzelindividuums. Jetzt können wir uns der Phylogenese zuwenden und damit dem
Problem des evolutionären Aufstiegs.
Die orthodoxe (»neodarwinistische« oder »synthetische«) Theorie versucht alle evolu-
tionären Wandlungen durch Zufallsmutationen (und Neukombinationen) von Genen zu
erklären; danach sind die meisten Mutationen schädlich, aber ein geringer Teil von ih-
nen ist zufällig nützlich und wird durch die nützliche Zuchtwahl beibehalten. Wie schon
erwähnt, bedeutet »Zufälligkeit« in diesem Zusammenhang, daß die durch Mutationen
herbeigeführten erblichen Veränderungen keinen irgendwie gearteten Bezug zu den ad-
aptiven Erfordernissen des Tieres haben – daß sie also seine Körperbeschaffenheit und
sein Verhalten in jeder beliebigen Richtung verändern können. Nach dieser Auffassung
ist die Evolution eine Art von Blindekuhspiel. Oder, mit den Worten von Professor
Waddington, den man als einen Trotzkisten im Lager der Orthodoxie bezeichnen könnte
und den ich in diesem Kapitel noch des öfteren zitieren werde:
Geht man von der Annahme aus, die Evolution der so vorzüglich ad-
aptierten biologischen Mechanismen beruhe lediglich auf einer se-
lektiven Auswahl aus einer Reihe von Varianten, die ihr Entstehen
dem blinden Zufall verdanken, dann könnte man ebensogut be-
haupten, daß, wenn wir fortfahren, Ziegelsteine zu Haufen zusam-
menzuwerfen, wir schließlich ein ideales Wohnhaus vorfinden wer-
den.56
Zur Illustrierung dieses Problems möge ein einfaches Beispiel dienen. Der Riesenpanda
(Bambusbär) besitzt an seinen vorderen Tatzen einen zusätzlichen sechsten Finger; die-
ser erweist sich als sehr nützlich für die Manipulierung der Bambusschößlinge, die die
Hauptnahrung des Tieres bilden. Ohne die zugehörigen Muskelpartien und Nerven-
stränge wäre jedoch der zusätzliche Finger nur ein nutzloses Anhängsel. Die Möglich-
keit, daß unter allen denkbaren Mutationen gerade diejenigen, die die zusätzlich erfor-
derlichen Knochen, Muskelpartien und Nervenstränge hervorbrachten, sich unabhängig
voneinander entwickelt haben, ist natürlich infinitesimal gering. Dabei spielen im vor-
liegenden Fall nur drei variable Faktoren eine Rolle. Handelte es sich, sagen wir, um
zwanzig derartige Faktoren (und das ist immer noch eine bescheidene Schätzung für die
Entwicklung eines komplexen Organs!), dann erscheint die Möglichkeit einer zufällig
gleichzeitigen Transformation sämtlicher Faktoren einfach absurd; anstatt mit einer wis-
senschaftlichen Erklärung aufwarten zu können, könnte man sich nur in die Annahme
purer Wunder hineinretten.
Nehmen wir nun ein weniger primitives Beispiel. Die Eroberung des trockenen Landes
durch die Wirbeltiere begann mit der Evolution der Reptilien aus einer primitiven am-
phibischen Form. Die Amphibien vermehrten sich im Wasser, und ihre Jungen waren
Wassertiere. Das entscheidend Neue bei den Reptilien war, daß sie, im Gegensatz zu
den Amphibien, ihre Eier aufs trockene Land legten; sie waren nicht mehr vom Wasser
abhängig und konnten sich nun über die Kontinente hin ausbreiten. Das ungeborene
Reptil innerhalb des Eies benötigte aber immer noch ein flüssiges Umweltmilieu: es
mußte Wasser haben, sollte es nicht schon vor seiner Geburt austrocknen. Es brauchte
auch viel Nahrung: Amphibien schlüpfen als Larven aus, die sich ganz allein versorgen,

86
Reptilien dagegen schlüpfen erst aus, wenn sie voll entwickelt sind. Das Reptilienei
mußte also sehr viel Eidotter als Nahrung enthalten, außerdem Albumin – Eiweiß – als
Flüssigkeit. Weder das Eigelb noch das Eiweiß hätten für sich allein irgendeinen selek-
tiven Nutzwert. Überdies brauchte das Eiweiß eine schützende Hülle, damit sein Feuch-
tigkeitsvorrat nicht verdunstete. Es mußte also, als Zugabe, eine Schale aus lederartigem
oder kalkhaltigem Material entstehen. Das ist jedoch noch nicht alles. Der Reptilienem-
bryo konnte – wegen eben dieser Schale – seine Exkrete nicht loswerden. Dem weich-
schaligen Amphibienembryo stand der ganze Teich als »Toilette« zur Verfügung, der
Reptilienembryo dagegen mußte mit einer Blase als Abfallbehälter ausgerüstet werden.
Man bezeichnet sie als Allantois (Urharnsack), und sie ist in gewisser Hinsicht die
Vorläuferin der Placenta bei den Säugetieren. Aber selbst wenn dieses Problem gelöst
ist, würde der Embryo im Innenraum der harten Schale gefangen bleiben; er benötigte
ein Werkzeug, um herauszukommen. Die Embryos einiger Fische und Amphibien, de-
ren Eier von einer gelatinösen Membran umgeben sind, haben an ihrem Maulteil Drü-
sen: wenn die Zeit gekommen ist, sondern sie ein chemisches Produkt ab, das die Mem-
bran auflöst. Embryos, die von einer harten Schale umgeben sind, brauchen jedoch ein
mechanisches Werkzeug: so besitzen Schlangen und Eidechsen einen Zahn, der sich in
eine Art Büchsenöffner verwandelt, Vögel dagegen haben eine Karunkel, einen harten
Auswuchs nahe der Schnabelspitze, der den gleichen Zweck erfüllt. Bei manchen Vo-
gelarten – etwa beim Honigkuckuck –, die ihre Eier in fremde Nester legen, hat die Ka-
runkel noch eine zusätzliche Funktion: sie wächst zu einem scharfen Haken heran; mit
seiner Hilfe tötet der eben ausgeschlüpfte Eindringling zunächst seine Ziehgeschwister
und stößt danach den mörderischen Haken freundlicherweise ab.
Das eben Gesagte bezieht sich nur auf einen einzigen Aspekt des Evolutionsprozesses
von Reptilien; selbstverständlich waren noch zahlreiche weitere wesentliche Transfor-
mationen in der Struktur und in der Verhaltensweise erforderlich, um die neu entstande-
nen Kreaturen auch lebensfähig zu machen. Diese Veränderungen konnten sich natür-
lich schrittweise vollziehen; aber bei jedem neuen Schritt – wie geringfügig er auch sein
mochte – mußten alle beteiligten Faktoren harmonisch zusammenwirken. Der Flüssig-
keitsvorrat im Ei ist ohne die Schale sinnlos. Die Schale wiederum wäre ohne die Al-
lantois und ohne den »Büchsenöffner« sinnlos, ja sie hätte sogar eine mörderische Wir-
kung. Für sich allein genommen, wäre jede dieser Neuerungen schädlich und würde die
Überlebenschancen verringern. Die Entwicklung kann nicht so vor sich gehen, daß zu-
nächst die Mutation A allein in Erscheinung tritt und durch natürliche Zuchtwahl erhal-
ten bleibt – und dann soll man ein paar tausend oder ein paar Millionen Jahre warten,
bis die Mutation B und schließlich auch die Mutationen C und D sich vollziehen. Jede
einzeln für sich allein auftretende Mutation würde in diesem Fall ausgelöscht werden,
bevor sie mit anderen kombiniert werden könnte. Alle sind wechselseitig voneinander
abhängig. Die Doktrin, ihr zeitliches Zusammenfallen sei einer Reihe von blinden Zu-
fällen zu verdanken, ist nicht nur ein Affront gegen den gesunden Menschenverstand,
sondern verstößt auch gegen die Grundprinzipien wissenschaftlicher Methodik.
Die Verfechter der orthodoxen Theorie mögen wohl das unbehagliche Gefühl gehabt
haben, daß irgend etwas Wesentliches fehle; sie legten gelegentlich ein Lippenbekennt-
nis zu »ungelösten Problemen« ab, begnügten sich aber dann damit, sie schleunigst
»unter den Tepich zu kehren«. Sir Peter Medawar (der selbst nicht gerade besonders
tolerant gegenüber den Meinungen anderer ist) sagt:
Vor zwanzig Jahren schien alles so einfach: mit der Mutation als Ur-
sache für die verschiedenen Varianten, mit der Zuchtwahl als Ausle-
seprinzip ... Unsere frühere Selbstzufriedenheit läßt sich vermutlich
auf einen verständlichen Fehler in der Charakteranlage zurückfüh-
ren: Wissenschaftler neigen dazu, sich nur solche Fragen zu stellen,
für die sie zumindest die Rudimente einer Antwort haben. Peinliche

87
Fragen werden für gewöhnlich nicht gestellt oder, wenn sie gestellt
werden, grob abgewehrt.*
* Man vergleiche diese Stelle mit Sir Julian Huxleys ex-cathedra-Ausspruch: »Auf dem Gebiet der Evo-
lution hat die Genetik die grundlegenden
57
Fragen beantwortet, und die Evolutionsbiologen können sich
nun anderen Problemen zuwenden.«
Ein bequemer Weg, lästigen Fragen dieser Art auszuweichen, bestand darin, seine Auf-
merksamkeit auf die statistische Bewertung von Mutationen in großen Populationen der
Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, zu konzentrieren – sie ist das Lieblingstier der
Genetiker, da sie sich sehr rasch vermehrt und nur vier Chromosomenpaare besitzt. Die
Methode basiert auf der statistischen Erfassung von Varianten einiger isolierter – und
meist trivialer – Merkmale, wie der Augenfarbe oder der Verteilung der Borsten auf
dem Körper der Fliege. Befangen in der atomistischen Tradition, waren die Verfechter
dieser Theorie offensichtlich nicht imstande einzusehen, daß diese – praktisch durch-
wegs schädlichen – Mutationen eines einzelnen Erbfaktors für das zentrale Problem des
evolutionären Fortschritts völlig irrelevant waren, denn hier sind gleichzeitige Verände-
rungen bei allen Faktoren erforderlich, die für die Struktur und Funktion eines komple-
xen Organs von Bedeutung sind. Die Vorliebe der Genetiker für die Borsten der Frucht-
fliege und die Vorliebe der Psychologen für Hebelversuche mit Ratten haben eine mehr
als oberflächliche Ähnlichkeit. Beide entstammen einer mechanistischen Weltanschau-
ung, die das lebendige Geschöpf als ein Mosaik von Verhaltensatomen (S-R-Einheiten)
und Erbgutatomen (Mendelschen Genen) betrachten.

10.1 Innere Selektion


Die hier vorgeschlagene Alternative ist die Konzeption der offenen Hierarchie. Wir
wollen sehen, ob sich diese Konzeption auf den Evolutionsprozeß anwenden läßt. Zu-
nächst möchte ich Waddingtons Antwort auf Probleme der Art zitieren, wie sie sich et-
wa beim zusätzlichen Finger des Bambusbären stellen.
Für einige von uns scheinen die orthodoxen modernen Erklärungen
nicht sehr befriedigend zu sein. Ein wohlbekanntes Problem ist das
folgende: Viele Organe haben eine sehr komplexe Struktur; um ir-
gendeine Verbesserung in ihrer Funktionsweise zu bewirken, wäre es
erforderlich, Veränderungen bei mehreren verschiedenen Faktoren
gleichzeitig herbeizuführen – und das, so scheint es, ist etwas, wovon
man nicht glauben kann, daß es sich ausschließlich unter dem Ein-
fluß des Zufalls ereignet.
Es hat stets anerkannte Biologen gegeben – und gibt sie noch heute
–, die das Gefühl hatten, Erwägungen dieser Art ließen es zweifelhaft
erscheinen, daß rein zufällige Veränderungen im Erbgut eine ausrei-
chende Grundlage für den Evolutionsvorgang ergeben könnten. Ich
glaube jedoch, dieses Problem löst sich weitgehend von selbst, wenn
man daran denkt, daß ein Organ wie etwa das Auge nicht einfach ei-
ne Kollektion von Einzelelementen ist (Retina, Linse, Iris und so
weiter), die zusammengefügt werden und zufällig auch zusammen-
passen. Ein Organ ist etwas, was sich, während sich das heran-
wachsende Tier aus dem Ei entwickelt, allmählich bildet; während
das Auge sich bildet, beeinflussen die einzelnen Teile einander wech-
selseitig. Mehrfach ist experimentell nachgewiesen worden, daß wenn
man die Retina und den Augapfel künstlich vergrößert, dies allein
schon bewirkt, daß auch eine größere Linse von ungefähr angemes-
sener Größe entsteht. Es ist daher nicht einzusehen, warum nicht
auch eine zufällige Mutation das gesamte Organ in harmonischer

88
Weise beeinflussen sollte; und es besteht durchaus die vernünftige
Möglichkeit, daß dieser Vorgang zu einem Fortschritt führen könnte
... Eine zufällige Veränderung in einem Erbfaktor hat für gewöhnlich
nicht nur eine Änderung in einem Element des ausgewachsenen Tie-
res zur Folge; sie führt vielmehr zu einer Umschichtung im gesamten
Entwicklungssystem und kann auf diese Weise sehr wohl ein kom-
plexes Organ in seiner Gesamtheit verändern.58
Wir erinnern uns vom vorausgegangenen Kapitel her, daß die heranwachsende Augen-
blase des Embryos ein autonomes Holon ist: entfernt man Teile seines Gewebes, dann
entwickelt es sich, dank seiner selbstregulierenden Eigenschaften, trotzdem zu einem
normalen Auge. Es wäre durchaus keine Überraschung, wenn dieses Holon die gleichen
selbstregulierenden Kräfte und »flexiblen Taktiken« auch dann an den Tag legen würde,
wenn die Störung nicht künstlich hervorgerufen, sondern von einem mutierten Gen aus-
gelöst würde, wie Waddington meint. Die zufällige Mutation wirkt lediglich als Auslö-
ser; die »pränatalen Fertigkeiten« des Embryos besorgen den Rest, und zwar in jeder
nachfolgenden Generation. Das vergrößerte Auge ist zu einer evolutionären Neuheit
geworden.*
* Man sollte noch hinzufügen, daß das Beispiel vom vergrößerten Auge typisch ist für das, was ein mutie-
rendes Gen tut. Gene regulieren die chemischen Reaktionsraten, einschließlich der Wachstumsrate; eine
der häufigsten Auswirkungen von Gen-Mutationen besteht darin, daß die Wachstumsgeschwindigkeit ei-
nes Teils im Verhältnis zu anderen Teilen geändert und dadurch die Proportionen des Organs modifiziert
werden.
Die embryonale Entwicklung ist ein vielschichtiger hierarchischer Prozeß; wir dürfen
daher erwarten, daß selektive und regulierende Kontrollen auf mehreren Niveaus ope-
rieren, um schädliche Mutationen zu eliminieren und die Wirkungen der akzeptablen
Mutationen zu koordinieren. Verschiedene Autoren* vertreten die Auffassung, dieser
Siebungsprozeß beginne möglicherweise bereits auf der Basislinie der Hierarchie, auf
dem Niveau der Molekularchemie des Genkomplexes.
* Bertalanffy, Darlington, Spurway, Lima da Faria, L. L. Whyte.
Mutationen sind chemische Veränderungen, die vermutlich durch die Einwirkung kos-
mischer Strahlungen und anderer Faktoren auf die Keimzellen verursacht werden. Diese
führen zu Änderungen in der Reihenfolge der chemischen Einheiten in den Chromoso-
men, den vier Buchstaben des genetischen Alphabets. Meistens handelt es sich dabei
gewissermaßen um »Druckfehler«. Aber auch hier scheint wieder eine Hierarchie von
Korrektoren am Werk zu sein, um diese Druckfehler zu eliminieren. »Der Kampf ums
Überleben einer Mutation beginnt in demselben Augenblick, in dem das Mutieren er-
folgt«, schreibt L. L. Whyte. »Es ist klar, daß völlig willkürliche Veränderungen weder
physisch noch chemisch oder funktionell stabil sein können ... Nur diejenigen Verände-
rungen können überleben, die zu einem mutierten System führen, das bestimmte uner-
läßliche physische, chemische und funktionelle Voraussetzungen erfüllt.«59 Alle ande-
ren werden eliminiert, und zwar entweder durch das frühzeitige Absterben der mutierten
Zelle und ihrer Nachkommenschaft oder, wie sich noch zeigen wird, durch die bemer-
kenswerten selbsterneuernden Fähigkeiten des gesamten Genkomplexes.
Nach der orthodoxen Theorie ist die natürliche Auslese ausschließlich auf die Einwir-
kung der Umwelt zurückzuführen, die die unvorteilhaften Varianten ausmerzt und den
lebensfähigen eine reiche Nachkommenschaft beschert. Bevor jedoch eine neue Mutati-
on die Chance hat, sich dem Darwinschen Überlebenstest in der äußeren Umwelt zu
unterwerfen, muß sie erst den Test der inneren Selektion hinsichtlich ihrer physischen,
chemischen und biologischen Lebensfähigkeit über sich ergehen lassen.
Die Konzeption von der inneren Selektion – einer Hierarchie von Kontrollstationen, mit
deren Hilfe die Folgen schädlicher Gen-Mutationen eliminiert und die Auswirkungen

89
nützlicher Mutationen koordiniert werden – ist das in der orthodoxen Theorie fehlende
Bindeglied zwischen den »Atomen« der Vererbung und dem lebendigen Strom der
Evolution. Ohne dieses Bindeglied sind beide sinnlos. Es kann kein Zweifel darüber be-
stehen, daß rein zufällige Mutationen tatsächlich vorkommen: sie lassen sich bei Labor-
versuchen beobachten. Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß die Darwin-
sche Selektion ein wirkungsvoller Faktor ist. Aber zwischen diesen beiden Vorgängen –
zwischen den chemischen Veränderungen in einem Gen und dem Auftreten des fertigen
Produkts als Neuling auf der Evolutionsbühne – spielt sich eine ganze Hierarchie inne-
rer Prozesse ab, die den Bereich möglicher Mutationen stark einschränken und die Be-
deutung des Zufallsfaktors erheblich reduzieren. Man kann sagen, der Affe arbeitet an
einer Schreibmaschine, die die Hersteller so programmiert haben, daß sie nur sinnvolle
Silben wiedergibt, nicht aber sinnlose Buchstabenfolgen. Wird eine unsinnige Folge auf
die Tasten gedrückt, dann eliminiert die Maschine sie automatisch. Um bei der gleichen
Metapher zu bleiben, müssen wir dann auf den höheren Stufen der Hierarchie Korrekto-
ren und Redakteure ansetzen, deren Aufgabe nicht mehr darin besteht, zu eliminieren,
sondern zu korrigieren, zu reparieren und zu koordinieren – wie beim Beispiel des mu-
tierten Auges.
Diese Mikrohierarchie kontrolliert die »pränatalen Fertigkeiten« des Embryos, die die-
sen befähigen, das gesteckte Endziel zu erreichen, ohne Rücksicht darauf, welchen
Fährnissen er im Verlauf seiner Ontogenese begegnet. Nun ist aber die Phylogenese
nichts weiter als eine Serie solcher Ontogenesen, und wir stehen daher vor der interes-
santen Frage, ob auch der Mechanismus der Phylogenese mit einer Art von evolutionä-
rer Instruktionsbroschüre ausgestattet ist. Mit anderen Worten: Gibt es eine Strategie
des Evolutionsprozesses, die der »Strategie der Gene« – dem »Zielgerichtetsein« der
Ontogenese – vergleichbar ist?
Fassen wir noch einmal zusammen. Der Atomismus in der Genetik ist erledigt. Die Sta-
bilität der Erbmasse und die Veränderungen in der Erbmasse beruhen beide nicht auf
einem Mosaik von Genen, sondern auf der Tätigkeit des Genkomplexes »in seiner Ge-
samtheit«. Aber dieser prestigewahrende Ausdruck – der sich zunehmender Beliebtheit
erfreut – ist im Grunde, wie so viele andere holistische Formulierungen, völlig nichtssa-
gend, wenn wir nicht zwischen den Genkomplex in seiner Gesamtheit und das einzelne
Gen eine Hierarchie von genetischen Teilgebilden interpolieren – selbstregulierende
Holons der Erbmasse, die nicht nur die Entwicklung der Organe kontrollieren, sondern
auch deren mögliche evolutionäre Modifikationen, und zwar dadurch, daß sie die Aus-
wirkungen zufallsbedingter Mutationen in geeignete Bahnen lenken. Eine Hierarchie
mit ihren eingebauten selbstregulierenden Mechanismen ist stets ein stabiler Faktor. Sie
kann nicht »hier ein bißchen eingezogen, dort ein bißchen ausgelassen« werden, in der
Art wie Patou mit dem Modell umgeht. Sie ist durchaus zu Varianten und Veränderun-
gen fähig, jedoch nur in koordiniertem Zusammenwirken und nur nach bestimmten
Richtungen hin. Läßt sich über die allgemeinen Prinzipien, die für diese Richtungen be-
stimmend sind, irgend etwas aussagen?

90
10.2 Das Rätsel der Homologie
Das fundamentalste Prinzip der evolutionären Taktik ist, ähnlich wie bei der Parabel
von den beiden Uhrmachern, die Standardisierung von Teilgebilden. Da jedoch die
meisten von uns keine sehr klare Vorstellung vom Mechanismus unserer Uhren haben,
wollen wir statt dessen lieber einen Blick auf ein Auto werfen. Hier lassen sich die Teil-
gebilde leicht aufzählen: Chassis, Motor, Batterie, Steuerung, Bremsen, Getriebe und so
weiter bis zum Scheibenwischer und zur Heizanlage. Jeder dieser Bestandteile ist mehr
oder weniger eine in sich geschlossene Einheit, ein selbständiges mechanisches Holon.
Man kann einen Motor oder eine Standardbatterie aus dem Wagen herausnehmen und
für sich allein funktionieren lassen, ähnlich wie etwa ein Organ in vitro. Man kann sie
auch in einen anderen Wagentyp, ja sogar in eine andere Art von Maschine einbauen,
etwa in ein Motorboot. Welchen Entwicklungsprozeß machen nun Automobile durch?
Die Hersteller wissen sehr wohl, daß es sich nicht lohnt, ein neues Modell auch von
Grund auf neu zu entwerfen; sie bedienen sich bereits bestehender Standardkomponen-
ten (Chassis, Bremsen etc.), die auf Grund langjähriger Erfahrungen entwickelt worden
sind, und beschränken sich darauf, diese oder jene Komponente zu modifizieren oder zu
verbessern.
Ähnliche Beschränkungen sind nachweislich auch bei der biologischen Evolution wirk-
sam. Vergleicht man die Vorderräder des neuesten Automodells mit denen eines alten
Vorkriegswagens, so stellt man fest, daß beide auf demselben Prinzip basieren. Ver-
gleicht man die Struktur der Vordergliedmaßen beim Menschen mit denen beim Hund,
beim Vogel und beim Wal, so merkt man, daß die Evolution hier stets das gleiche
Grundmuster beibehalten hat.
Den menschlichen Arm und den Flügel des Vogels bezeichnet man als homologe Orga-
ne, weil sie – hinsichtlich der Knochen, Muskeln, Blutgefäße und Nerven – das gleiche
Strukturmuster zeigen und weil sie von der gleichen Ahnform des Organs abstammen.
Die Funktionen eines Arms und eines Flügels sind so unterschiedlich, daß man logi-
scherweise eigentlich annehmen müßte, beide hätten eine voneinander völlig verschie-
dene Struktur. In Wirklichkeit vollzog sich jedoch der Evolutionsprozeß so – ähnlich
wie im Beispiel von den Autofabrikanten –, daß nicht jedesmal ganz von vorne ange-
fangen, sondern daß eine bereits bestehende Komponente mehr oder weniger modifi-
ziert wurde (im vorliegenden Fall die Vordergliedmaßen der Reptilien, aus denen heraus
sich vor mehr als zweihundert Millionen Jahren Vögel und Säugetiere in ihrer Ent-
wicklung abgespalten haben). Hat die Natur erst einmal ein Patent für die Schaffung ei-
nes Organs entwickelt, dann hält sie zäh daran fest: das Organ ist zu einem stabilen
evolutionären Holon geworden.
Dieses Prinzip hat allgemeine Gültigkeit, von der subzellularen Stufe bis hinauf zum
Anlageplan des Primatengehirns. Organellen der gleichen Bauart funktionieren in den
Zellen von Mäusen und Menschen; kontraktiles Protein von gleicher Beschaffenheit
sorgt für die Bewegung von Amöben und der Finger eines Pianisten; die vier gleichen
chemischen Grundeinheiten bilden das genetische Alphabet im gesamten Tier- und
Pflanzenreich – nur die einzelnen »Wörter« sind für jede Kreatur verschieden. Die viel-
zitierte »verschwenderische Großzügigkeit« der Natur wird kompensiert durch ihren –
weniger offensichtlichen – Konservatismus und ihre Sparsamkeit (man könnte fast sa-
gen Knausrigkeit) im Bereich der homologen Grundmuster, von den Organellen bis hin
zu den Gehirnstrukturen. »Dieses Konzept der Homologie«, schrieb Sir Alistair Hardy,
»ist von absolut fundamentaler Bedeutung für alle Probleme, die mit der Evolution zu-
sammenhängen. In Wirklichkeit«, fügte er nachdenklich hinzu, »sind wir jedoch auch
nicht annähernd in der Lage, es mit den Begriffen der heutigen theoretischen Biologie
zu erklären.«60

91
Abbildung 5: Vordergliedmaßen von Wirbeltieren
(nach Life, AN INTRODUCTION TO BIOLOGY, von G. G. Simpson u.a.)
Der Grund dafür ist, daß die orthodoxe Theorie von der Voraussetzung ausgeht, homo-
loge Strukturen bei verschiedenen Arten seien auf die gleichen »atomistischen« Gene
zurückzuführen, die vom gemeinsamen Vorfahren vererbt wurden; heute dagegen gibt
es zahlreiche Beweise dafür, daß homologe Strukturen sehr wohl auch durch die Tätig-
keit ganz verschiedener Gene hervorgerufen werden können. Der Ausweg aus dieser
Sackgasse scheint darin zu bestehen, den genetischen Atomismus, der so drastisch ver-
sagt hat, durch die Konzeption der genetischen Mikrohierarchie zu ersetzen; einer Hier-
archie mit eingebauten »Spielregeln«, die eine Vielzahl von Variationen zulassen – je-
doch nur in bestimmte Richtungen und nur zu einer begrenzten Anzahl von Themen.
Das bedeutet die Wiederbelebung einer alten Vorstellung, die bis auf Goethe und noch
weiter, bis auf Platon zurückgeht. Sie rechtfertigt einen kleinen historischen Exkurs, der
auch zur Klärung der Frage beitragen mag, warum das Konzept der Homologie von so
großer Bedeutung ist, und zwar nicht nur für den Biologen, sondern auch für den Philo-
sophen.

10.3 Archetypen in der Biologie


Schon lange vor Darwin waren die Naturforscher in zwei Lager gespalten, in die An-
hänger der Evolution (BBuffon, Lamarck, St-Hilaire und andere) und in die Antievolutio-
nisten; letztere glaubten, der Schöpfer habe die erste Giraffe, den ersten Moskito und
das erste Walroß zur gleichen Zeit als fertige Produkte auf der Erde in Umlauf gesetzt.
Aber sowohl die Anhänger als auch die Gegner der Evolutionstheorie waren gleicher-
maßen verblüfft über die Ähnlichkeit der Organe und Strukturmuster bei sonst vonein-
ander völlig verschiedenen Arten. Den Begriff »homologes Organ« prägte Geoffroy St-
Hilaire. Sein 1818 erschienenes Werk PHILOSOPHIE ANATOMIQUE beginnt mit der Frage:
»... Stimmt man nicht allgemein darin überein, daß die Wirbeltiere alle nach einem ein-
heitlichen Plan aufgebaut sind – daß zum Beispiel die Vordergliedmaßen zum Laufen,
Klettern, Schwimmen oder Fliegen modifiziert werden können, die Anordnung der
Knochen aber doch stets die gleiche bleibt ...?«61
Goethe war schon lange vorher zu einem Verfechter der Evolution geworden, und zwar
auf Grund seiner Studien über die Morphologie (ein Begriff, den er geprägt hat!) von
Pflanzen und Tieren. In seinem 1790 erschienenen Werk DIE METAMORPHOSE DER
PFLANZEN postulierte er, alle existierenden Pflanzen ließen sich von einer gemeinsamen
Ahnform ableiten: der Urpflanze; und alle Organe der Pflanzen seien homologe* Modi-

92
fikationen eines einzigen Strukturmodells, das sich in einfachster Form im Blatt der
Pflanze ausdrückt.
* Allerdings verwendete Goethe nicht diesen Terminus.
Obwohl Goethe damals bereits auf der Höhe seines Ruhmes stand, stieß DIE ME-
TAMORPHOSE DER PFLANZEN auf Ablehnung (so unglaublich es auch klingt, er mußte
sich an Cotta in Gotha wenden, da sein eigener Verleger in Leipzig das Werk nicht her-
ausbringen wollte); es übte jedoch einen starken Einfluß auf die deutschen Naturphilo-
sophen aus, die in ihrer Philosophie vergleichende Anatomie mit transzendentalem My-
stizismus verbanden. Diese Männer waren durchaus keine Anhänger der Evolutionsleh-
re, aber sie waren fasziniert von der universalen Wiederkehr der gleichen Grundmuster
in der Struktur von Tieren und Pflanzen; sie bezeichneten diese Muster als »Archety-
pen« und glaubten, damit den Schlüssel zum Schöpfungsplan Gottes gefunden zu ha-
ben.
Die Idee, daß sich alle existierenden Blumen, Bäume, Gemüse und so weiter aus einer
einzigen Urpflanze ableiten, scheint Goethe während seines Aufenthaltes in Sizilien ge-
kommen zu sein, wo er einen Großteil seiner Zeit botanischen Studien gewidmet hatte.
Nach seiner Rückkehr schrieb er am 17. Mai 1787 an Herder:
Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zwei-
fellos gefunden; alles übrige seh ich auch schon im Ganzen, und nur
noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird
das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Na-
tur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu
kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die kon-
sequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren,
doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische
Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und
Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Le-
bendige anwenden lassen.62
Diese »innerliche Wahrheit und Notwendigkeit«, mit der alle existierenden und mögli-
chen Lebensformen konform gehen müßten, konnte Goethe natürlich nicht definieren;
seine Intuition sagte ihm jedoch, daß dazu nicht phantastische, willkürliche Wesenhei-
ten gehören konnten, die der ungezügelten Einbildungskraft von Malern oder science-
fiction-Autoren entstammten. Sie müssen bestimmten archetypischen Formen entspre-
chen, deren Bereich durch die Grundstruktur und die chemischen Eigenschaften der or-
ganischen Materie abgegrenzt ist. Die Evolution kann nicht ein zufälliger Vorgang sein,
bei dem man »hier ein wenig einzieht« und »dort ein wenig ausläßt«: sie muß sich nach
einem geordneten Plan vollziehen.
Goethes deutsche Anhänger, die Naturphilosophen, übernahmen zwar von ihm die Kon-
zeption der Archetypen, nicht aber seinen Glauben an die Evolution. Sie betrachteten
die Archetypen nicht, wie Goethe, als Ahnformen, aus denen sich homologe Organe
entwickelt hatten, sondern als von Gott entworfene Schnittmuster oder Leitmotive, die
in allen möglichen Varianten seit Erschaffung der Welt koexistieren. Einige bedeutende
europäische Anatomen dieser Zeit, unter ihnen Richard Owen, vertraten im großen und
ganzen die gleiche Auffassung. Owen definierte homologe Organe als »das gleiche Or-
gan bei verschiedenen Tieren in allen Varianten der Form und der Funktion«. Während
er pausenlos auf die Vielzahl derartiger Organe im Tierreich hinwies, führte er sie auf
das Sparsamkeitsprinzip des göttlichen Schöpfers zurück – ebenso wie Kepler seine Ge-
setze der Planetenbewegungen dem Scharfsinn des göttlichen Mathematikers zuge-
schrieben hatte.

93
Aber welche Auffassung diese Männer auch immer vertraten, die Konzeption von der
Homologie setzte sich durch und wurde zu einem Eckpfeiler der modernen Evolutions-
theorie. Tiere und Pflanzen bestehen aus homologen Organellen wie den Mitochondri-
en, homologen Organen wie Kiemen und Lungen und homologen Gliedmaßen wie Ar-
men und Flügeln. Sie sind die stabilen Holons im ständig fließenden Strom der Ent-
wicklung. Die Phänomene der Homologie implizieren tatsächlich das hierarchische
Prinzip sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese. Dieser Punkt wurde je-
doch nie klar herausgestellt, und man kümmerte sich kaum um die Prinzipien der hier-
archischen Ordnung – eine Tatsache, die auch der Grund dafür sein mag, daß die inne-
ren Widersprüche der orthodoxen Theorie so lange unbemerkt bleiben konnten.

10.4 Das Gleichgewichtsprinzip


Für das, was ich als Stabilität von evolutionären Holons bezeichnet habe, gibt es auch
Manifestationen auf noch höheren Ebenen der Hierarchie. Dazu gehören die von d’Arcy
Thompson entdeckten geometrischen Relationen, welche zeigen, daß eine Art sehr wohl
in eine andere transformiert werden und dabei trotzdem ihr eigenes Grundmuster beibe-
halten kann. Die untenstehenden Zeichnungen zeigen den Igelfisch (Diodon hystnix)
und den Sonnenfisch (Orthogoriscus mola), so wie sie in dem 1917 erschienenen klassi-
schen Werk Thompsons ON GROWTH AND FORM abgebildet sind.

Abbildung 6: Sonnenfisch und Igelfisch (nach d’Arcy Thompson).

94
Ich habe die Evolution von homologen Organen mit dem Verfahren verglichen, das
Autofabrikanten beim Lancieren eines neuen Modells anwenden, das sich von vorange-
gangenen nur durch gewisse Modifikationen der einen oder anderen Komponente unter-
scheidet, während die übrigen standardisierten Teile weiterhin unverändert bleiben. Im
Fall der beiden Fische ist nicht ein bestimmtes Organ modifiziert worden, sondern das
»Chassis« als Ganzes. Die Neuformung geschah trotzdem nicht in willkürlicher Weise.
Die Grundstruktur ist die gleiche geblieben. Sie ist nur mittels einer einfachen mathe-
matischen Gleichung gleichmäßig verzerrt worden. Stellen wir uns vor, die Zeichnung
vom Igelfisch und das dazugehörige Gitternetz von kartesischen Koordinaten seien auf
eine Gummiunterlage aufgedruckt. Diese ist am Kopfende dicker und daher auch wider-
standsfähiger als am Schwanzende. Faßt man nun die Gummiunterlage am oberen und
am unteren Rande an und zieht sie auseinander, dann entsteht durch die ungleichmäßige
Dehnung das Modell des Sonnenfisches. Korrespondierende anatomische Punkte der
beiden Fische haben dabei die gleichen Koordinaten (so liegt etwa das Auge auf der
Längskoordinate 0,5 und auf der Breitenkoordinate c).
Thompson fand heraus, daß dieses Phänomen ganz allgemein gültig war. Setzt man die
Umrißzeichnung eines Tieres in ein Gitternetz von Koordinaten und zeichnet man dann
ein anderes zur gleichen zoologischen Gruppe gehöriges Tier, dann kann man mit Hilfe
eines einfachen Tricks aus dem Bereich der »Gummigeometrie«, der sich auch in einer
mathematischen Formel ausdrücken läßt, die eine Figur in die andere transformieren.
Die folgenden Zeichnungen in Abbildung 7 zeigen, wie mit Hilfe eines harmonisch ver-
zerrten Gitternetzes von kartesischen Koordinaten der Schädel eines Pavians zunächst in
den eines Schimpansen und dann in den eines Menschen transformiert wird.

Abbildung 7: Schädel eines Pavians, eines Schimpansen und eines Menschen


(nach d’Arcy Thompson).
Das alles sind durchaus keine müßigen mathematischen Spielereien. Im Gegenteil, man
erhält auf diese Weise einen realistischen Einblick in die Evolutionswerkstatt. Es folgt
nun d’Arcy Thompsons eigener Kommentar dazu:
Wir wissen im vorhinein, daß der Hauptunterschied zwischen dem
Menschen und dem Menschenaffen in der Vergrößerung bezie-
hungsweise Ausdehnung des Gehirns und der Hirnschale beim Men-
schen und in der relativen Verkleinerung beziehungsweise Abschwä-
chung seines Kiefergerüsts besteht. Gleichzeitig erhöht sich der Ge-
sichtswinkel beim Menschen von einem stumpfen Winkel bis fast zu
einem rechten, und die Konfiguration aller Gesichts- und Schädel-
knochen ändert sich ebenfalls. Wir wissen zunächst nicht – und er-
fahren es auch nicht mit Hilfe der üblichen Vergleichsmethoden –,
inwieweit diese Veränderungen einer einzigen harmonischen und
kongruenten Transformation angehören, oder ob wir die Umformun-
gen in der Stirnpartie, der Okzipitalregion, der Maxilla und der Man-
dibelregion als eine lose Anhäufung von separaten Modifikationen,
als unabhängige Variationen betrachten sollen. Sobald wir jedoch im

95
Schädel des Gorillas oder des Schimpansen einige Stellen markiert
haben, die mit denen korrespondieren, die wir in unserem Koordi-
natennetz beim menschlichen Schädel fixiert haben, können wir
feststellen, daß sich die korrespondierenden Punkte sofort mit kur-
venförmigen Schnittlinien verbinden lassen, die ein neues Koordina-
tensystem bilden und eine einfache »Projektion«* unseres menschli-
chen Schädels darstellen ... Kurzum, es wird sofort deutlich, daß die
Modifikationen am Kiefergerüst, an der Hirnschale und an den da-
zwischenliegenden Partien allesamt einem kontinuierlichen Gesamt-
prozeß angehören.63
* Im Sinne der darstellenden Geometrie.
Dieser Prozeß ist offensichtlich das genaue Gegenteil von einer durch Zufallsmutatio-
nen bedingten Evolution »nach allen Richtungen hin«. Wäre letzteres tatsächlich der
Fall, dann ergäbe sich – wie Thompson es nennt – »eine lose Anhäufung von separaten
Modifikationen oder unabhängigen Variationen«. In Wirklichkeit sind die verschiede-
nen Variationen wechselseitig voneinander abhängig und müssen vom Scheitelpunkt
der Hierarchie aus kontrolliert werden; er koordiniert die Gesamtstruktur, indem er die
relativen Wachstumsraten der verschiedenen Teile aufeinander abstimmt.
Die rapide Ausdehnung des anthropoiden Gehirns war verknüpft mit entsprechenden
Veränderungen in anderen Schädelpartien, die durch eine einfache und elegante geo-
metrische Transformation herbeigeführt wurden. Das achtzehnte Jahrhundert war mit
diesem Phänomen durchaus vertraut, das zwanzigste brauchte lange Zeit, um es wieder-
zuentdecken. Goethe nannte es den »Haushaltsplan der Natur«, Geoffroy St-Hilaire »loi
du balancement«, das »Gleichgewichtsprinzip« der Organe.
Von der Konzeption der Homeostase in der Ontogenie bedarf es nur noch eines logi-
schen Schrittes zur Konzeption der Homeostase in der Phylogenie – zum Gleichge-
wichtsprinzip im Evolutionsprozeß. In Anlehnung an Goethe könnte man von einer Be-
harrung der Archetypen im Wandel der Zeit sprechen und ihrem Streben nach optimaler
Verwirklichung.

10.5 Die Doppelgänger


Bei dem letzten Phänomen, das in diesem Zusammenhang erörtert werden muß, handelt
es sich um ein doppeltes Rätsel. Das erste betrifft die Marsupialier – die in Australien
lebenden Beuteltiere –, das zweite die Frage, warum die Evolutionstheoretiker nicht se-
hen wollen, daß es sich um ein Rätsel handelt.
Fast alle Säugetiere sind entweder Marsupialier oder plazentale Säugetiere. (Das ein-
schränkende »fast« bezieht sich auf die nahezu ausgestorbenen Monotremen – die
Kloakentiere – wie das Schnabeltier, das Eier legt gleich den Reptilien, aber seine Jun-
gen säugt.) Die Marsupialier könnte man als die »armen Verwandten« von uns »nor-
malen«, das heißt plazentalen Säugetieren bezeichnen; sie haben sich entlang eines Par-
allelzweiges am Evolutionsbaum entwickelt. Der Embryo der Beuteltiere empfängt,
während er sich im Mutterleib befindet, nur sehr geringe Nahrung. Er wird in unreifem
Zustand geboren und reift dann in einem elastischen Beutelsack am Bauch der Mutter
heran. Ein neugeborenes Känguruh ist in der Tat ein halbfertiges Produkt: es ist etwa 2
bis 3 Zentimeter lang, nackt, blind, mit embryonalen Hinterbeinen. Man könnte Speku-
lationen darüber anstellen, ob das menschliche Baby sich in einem Beutelsack wohler
fühlen würde als in einer Wiege – und ob sich dadurch sein Ödipuskomplex noch inten-
sivieren würde. Wie dem auch sei, das Entscheidende ist, daß sich die Fortpflanzungs-
methoden bei den Marsupialiern und bei den plazentalen Säugetieren gründlich vonein-
ander unterscheiden.

96
Abbildung 8: Oben: Plazentale und marsupiale Wüstenspringmaus.
Mitte: Plazentales Flughörnchen und marsupialer Flugbeutler (nach Hardy).
Unten: Schädel des plazentalen Wolfs, verglichen mit dem Schädel
des marsupialen Beutelwolfs (nach Hardy).
Die beiden Arten haben sich ganz zu Beginn der Evolution der Säugetiere voneinander
getrennt, im Zeitalter der Reptilien; und sie haben sich aus einer gemeinsamen, maus-
ähnlichen Ahnform heraus über einen Zeitraum von etwa einhundertfünfzig Millionen
Jahren hin gesondert voneinander entwickelt. Das Rätselhafte aber ist, warum so viele
Arten, die aus der unabhängigen Entwicklungslinie der Marsupialier hervorgingen, den
plazentalen Säugetieren so verblüffend ähnlich sind. Das ist etwa so, als hätten zwei
Künstler, die einander nie kennengelernt, voneinander nie gehört und auch nie das glei-
che Modell gehabt haben, eine parallele Serie von nahezu identischen Porträts angefer-
tigt. Abbildung 8 zeigt auf der linken Seite eine Reihe von plazentalen Säugetieren, auf
der rechten ihre »Pendants« im Bereich der Marsupialier.

97
Ich wiederhole noch einmal: wir wissen, daß sich – entgegen dem Anschein – die bei-
den Tierreihen völlig unabhängig voneinander entwickelt haben. Australien wurde wäh-
rend des späten Kretazeums vom asiatischen Festland abgetrennt, zu einem Zeitpunkt,
da es an Säugetieren nur winzige Kreaturen gab, die gar nicht vielversprechend aussa-
hen. Die Marsupialier scheinen sich früher als die plazentalen Säugetiere aus einer ge-
meinsamen eierlegenden Ahnform heraus entwickelt zu haben, die teilweise Reptilien-
charakter, teilweise Säugetiercharakter aufwies; auf jeden Fall gelangten die Marsupia-
lier nach Australien, bevor der Erdteil abgetrennt wurde, die plazentalen Säugetiere da-
gegen nicht. Diese Einwanderer waren, wie schon gesagt, mausähnliche Kreaturen,
vermutlich nicht unähnlich der heute noch existenten gelbfüßigen Beutelmaus, aber we-
sentlich primitiver als diese.
Und dennoch haben sich die auf ihrem Inselkontinent isolierten Mäuse vermehrt, ver-
zweigt, und es entstanden aus ihnen im Lauf der Entwicklung Beuteltierversionen von
Maulwürfen, Ameisenbären, Flughörnchen, Katzen und Wölfen – und jedes dieser Tiere
glich einer etwas unbeholfenen Kopie des korrespondierenden plazentalen Säugetiers.*
* Marsupialier haben sich – ebenfalls völlig unabhängig – auch in Südamerika entwickelt.
Wenn die Evolution auf Zufällen beruht und nur durch die Zuchtwahl eingeschränkt ist,
warum entstanden dann in Australien keinerlei Fabeltiere aus der science fiction? Die
einzige halbwegs unorthodoxe Schöpfung dieser isolierten Insel im Verlauf von Millio-
nen Jahren sind die Känguruhs gewesen; die übrige Fauna Australiens besteht aus min-
derwertigen Kopien von erfolgreicheren plazentalen Typenvariationen einer begrenzten
Zahl von archetypischen Themen.*
* Die Gründe für die Inferiorität der Marsupialier im Vergleich zu den plazentalen Säugetieren werden im
Kapitel 16 erörtert.
Wie läßt sich dieses Rätsel erklären? Die von der orthodoxen Theorie gegebene Erklä-
rung findet man kurz zusammengefaßt in der folgenden Passage eines – im übrigen aus-
gezeichneten – Lehrbuchs, aus dem ich schon wiederholt zitiert habe: »Sowohl Beutel-
wölfe als auch plazentale Wölfe sind Raubtiere, die sich ihre Beute unter anderen Tieren
von etwa gleicher Größe und gleichen Lebensgewohnheiten aussuchen. Adaptive Ähn-
lichkeit (das heißt Anpassung an ähnliche Umweltverhältnisse) bedingt Ähnlichkeit von
Struktur und Funktionsweise. Der Mechanismus einer solchen Evolution ist die natürli-
che Auslese.«64 Und G. G. Simpson, ein führender Kopf von der Harvard-Universität,
kommt zu dem gleichen Schluß: die Erklärung bestehe in der »Auslese aus zufälligen
Mutationen«.65
Wieder einmal der deus ex machina. Sollen wir wirklich glauben, der vage gemeinsame
Nenner »Beute von etwa gleicher Größe und gleichen Lebensgewohnheiten«, der sich
auf Hunderte verschiedener Arten anwenden ließe, sei eine hinreichende Erklärung da-
für, daß in zwei Evolutionsvorgängen völlig unabhängig voneinander die beiden nahezu
identischen Wolfsschädel (in Abbildung 8) entstanden sind? Ebensogut könnte man sa-
gen, es gebe nur eine Möglichkeit, einen Wolf zu machen, nämlich die, daß man ihn wie
einen Wolf aussehen läßt.

98
10.6 Die sechunddreißig Grundthemen
Die Serie der Abtast- und Filtermechanismen, die unsere Sinneswahrnehmungen passie-
ren müssen, bevor sie zum Bewußtsein vordringen und der Aufbewahrung für wert er-
achtet werden, habe ich in Kapitel 6 mit den siebzehn Eingangstoren des Kremls vergli-
chen. Die Sinnesrezeptoren der Augen, der Ohren und der Haut sind einem ununterbro-
chenen Bombardement von Reizen seitens der Außenwelt ausgesetzt; wären die Posten
an den Eingangstoren weniger wachsam und streng, so würden wir bald von »irrele-
vanten Reizen« überschwemmt werden, und in unserem Bewußtsein und Gedächtnis
würde ein völliges Durcheinander herrschen.
Wir können nun dieselbe Metapher auf die umsichtigen Wachposten beziehen, die die
Tore unseres Erbguts vor dem Chaos bewahren, das zweifellos eintreten würde, wenn
beliebige Zufallsmutationen »in allen erdenklichen Richtungen« ungehindert Zutritt
hätten. Wir müssen annehmen, daß Mutationen auf dem elementaren Quantenniveau
unter der Einwirkung von Strahlungen und anderen Faktoren auf den Genkomplex stän-
dig vorkommen. Die Riesenmoleküle der Chromosomenkette, die aus Millionen von
Atomen bestehen, müssen ebenfalls einem Bombardement von seiten ihres eigenen
submikroskopischen Universums ausgesetzt sein. Die meisten dieser Einwirkungen sind
wohl nur vorübergehender Natur und werden durch die selbstregulierenden Mechanis-
men des Genkomplexes sogleich berichtigt, oder sie haben keine nennenswerte Auswir-
kung auf seine Funktionsweise. Die relativ wenigen Mutationen, die potentiell eine Be-
einflussung der Erbmasse bewirken könnten, würden dann auf sukzessiv höheren Stufen
der Hierarchie Sichtungs- und Siebungsprozessen unterworfen werden. Ich habe mehre-
re Stufen dieses Prozesses erwähnt, für die es einwandfreie Beweise gibt: die Eliminie-
rung von »falsch buchstabierten Silben« im genetischen Kode; die ontogenetische Ho-
meostase, die dazu beiträgt, daß die Mutationen ein Organ in seiner Gesamtheit in har-
monischer Form beeinflussen; ähnliche Prozesse auf höheren Ebenen (T Thompsons
»Transformationen«, die »loi du balancement«), die für die Aufrechterhaltung des an-
gemessenen Gleichgewichts zwischen den Organen sorgen; und schließlich die Evoluti-
on von homologen Organen aus verschiedenen Genkombinationen sowie die Evolution
ähnlicher Arten unabhängigen evolutionären Ursprungs (Marsupialier).
Aus dem oben Gesagten ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der evolutionären Vielfäl-
tigkeit einheitliche Gesetze zugrunde liegen müssen, die unbegrenzte Variationen zu ei-
ner begrenzten Anzahl von Themen gestatten. Das bedeutet, daß der Evolutionsprozeß,
wie alle hierarchischen Operationen, von festen Spielregeln regiert und von »adaptiven
Taktiken« gesteuert wird. Letztere sind teils von der Umwelt bedingt; aber die Gesetze,
die die evolutionären Entwicklungen auf bestimmte Hauptrichtungen einschränken, las-
sen sich nicht durch Umwelteinflüsse erklären, die ja erst dann in Aktion treten, wenn
eine Mutation die inneren Kremltore des Organismus passiert hat. Diese inneren Kon-
trollen sind die Gesetzgeber der Evolution.
Mehrere hervorragende Biologen haben in den letzten Jahren mit dieser Idee geliebäu-
gelt, ohne jedoch ihre weitgehenden Konsequenzen auszuarbeiten.*
* Eine kurze kritische Erörterung dieses Problems findet man in L. L. Whytes Werk INTERNAL FACTORS
INEVOLUTION und in W. H. Thorpes Besprechung dieses Buches in der Zeitschrift Nature vom 14. Mai
1966.
So schrieb Bertalanffy:
Zwar erkennen wir die moderne Selektionstheorie durchaus an, aber
wir kommen trotzdem zu einer wesentlich anderen Auffassung von
der Evolution. Sie scheint nicht aus einer Reihe von Zufällen im
Rahmen eines chaotischen Mutationsmaterials zu bestehen ..., son-
dern sie wird von festen Gesetzen bestimmt; wir glauben, daß die

99
Entdeckung dieser Gesetze für uns eine der wichtigsten Zukunfts-
aufgaben darstellt.66
Waddington und Hardy haben Goethes Konzept der archetypischen Formen wiederent-
deckt, und Helen Spurway kam auf Grund des homologischen Beweismaterials zu dem
Schluß, der Organismus habe nur »ein begrenztes Mutationsspektrum«, das für seine
»Evolutionsmöglichkeiten bestimmend ist«.67
Was verstehen nun diese Autoren – exakt – unter Formulierungen wie »archetypische
Auswahl«, »organische Gesetze, die mitbestimmend auf die Evolution einwirken«,
»Mutationsspektrum« oder »Einflüsse, die den evolutionären Wandel in bestimmte
Bahnen lenken«?68 Sie scheinen in der Tat, ohne das allerdings deutlich zum Ausdruck
zu bringen, folgende Ansicht zu vertreten: Unter den Bedingungen, die auf unserem
Planeten herrschen, den chemischen Eigenschaften und der Temperatur seiner Atmo-
sphäre sowie den verfügbaren Energien und Baumaterialien, konnte sich das Leben von
seinen Uranfängen im ersten lebendigen Schleimkügelchen an nur nach bestimmten
Richtungen hin in einer begrenzten Anzahl von Gestaltmöglichkeiten entwickeln. Damit
wird jedoch impliziert, daß, ebenso wie der australische und der europäische Wolf be-
reits potentiell in der mausähnlichen Ahnform angelegt waren, auch diese mausähnliche
Kreatur ihrerseits bereits in der Ahnfom der Chordatier potentiell angelegt war und so
fort bis zum Ahnprotisten und zur ersten selbstreplizierenden Nukleinsäurefaser.
Ist diese Schlußfolgerung richtig, dann wirft sie zusätzliches Licht auf den Status des
Menschen in diesem Universum. Sie bereitet den Phantasien der science fiction hin-
sichtlich möglicher zukünftiger Lebensformen auf Erden ein Ende. Anderseits aber im-
pliziert sie durchaus nicht ein starr determiniertes Universum, das wie ein mechanisches
Uhrwerk abschnurrt. Sie besagt lediglich – um noch einmal auf eines der Leitmotive
dieses Buches zurückzukommen –, daß die Evolution des Lebens nach bestimmten
Spielregeln abläuft, die ihre Möglichkeiten begrenzen, dabei aber genügend Spielraum
für eine unbegrenzte Zahl von Variationen offenlassen. Die feststehenden Regeln sind
ein inhärenter Faktor in der Grundstruktur der lebenden Materie; die Variationen leiten
sich von den adaptiven Strategien ab.
Mit anderen Worten: die Evolution beruht weder auf Zufallswillkür, noch ist sie die
Ausführung eines starr prädeterminierten Computerprogramms. Man könnte sie eher
mit einer musikalischen Komposition vergleichen, deren Möglichkeiten durch die Har-
monielehre und durch die Struktur der diatonischen Tonleitern begrenzt sind, die jedoch
eine unermeßliche Zahl von originalen Schöpfungen zulassen. Man könnte sie auch mit
dem Schachspiel vergleichen, das einem festen Regelkanon unterworfen ist, aber gleich-
falls unerschöpfliche Variationen zuläßt. Schließlich könnte man noch die riesige Zahl
der heute existierenden Tierarten (etwa eine Million) und die relativ geringe Zahl der
Klassen (etwa fünfzig) und der größeren Stämme (etwa zehn) mit der riesigen Zahl der
literarischen Werke und der relativ geringen Zahl der ihnen zugrunde liegenden
Grundthemen vergleichen. Alle literarischen Werke sind Variationen zu einer begrenz-
ten Anzahl von Leitmotiven, die sich aus den archetypischen Erfahrungen und Konflik-
ten des Menschen herleiten, die aber immer wieder einer neuen Umwelt angepaßt wer-
den – den Kostümen, den Konventionen und der Sprache der jeweiligen Zeitperiode.
Nicht einmal Shakespeare vermochte ein originales Thema zu »erfinden«. Goethe zi-
tierte zustimmend den italienischen Dramatiker Carlo Gozzi,* nach dessen Auffassung
es nur 36 tragische Situationen gibt. Goethe selbst war sogar der Ansicht, ihre Zahl sei
vermutlich noch geringer; die genaue Anzahl ist uns nicht bekannt, sie ist ein wohlge-
hütetes Geheimnis der Dichter und Schriftsteller. Ein literarisches Werk besteht aus
thematischen Holons, die – ebenso wie die homologen Organe – durchaus nicht eine
gemeinsame Ahnform gehabt haben müssen.
* Autor von TURANDOT und vielen anderen erfolgreichen Werken.

100
Mindestens dreimal – vermutlich sogar noch häufiger – haben sich mit Linsen ausge-
stattete Augen unabhängig voneinander entwickelt, und zwar bei so grundverschiedenen
Tierarten wie Mollusken, Spinnen und Wirbeltieren. Die meisten Insekten haben – im
Gegensatz zur Spinne – Facettenaugen (Komplexaugen), doch stellen diese nur eine
Modifikation desselben optischen Prinzips dar: die gewölbte Oberfläche der Photolinse
ist hier aufgegliedert in eine Wabe von kleinen Cornealinsen, von denen jede ihr eigenes
lichtempfindliches Rezeptorröhrchen besitzt. Dies sind die beiden einzigen Grundtypen
von abbilderproduzierenden Augen im gesamten Tierreich. Aber auch hier gibt es wie-
der zahlreiche Variationen und Verfeinerungen: vom »Lochauge« des Nautilus – das,
ohne Linse, nach dem Prinzip der Camera obscura funktioniert – über die rudimentären
Linsen des Seesterns (»Grubenauge«) bis hin zu den Präzisionsmechanismen, mit deren
Hilfe verschiedene Tiergruppen imstande sind, ihre Augen auf Objekte in unterschiedli-
chen Entfernungen einzustellen. Fische bringen die ganze Linse näher an die Retina,
wenn sie entfernte Objekte fokussieren. Die Säugetiere – einschließlich des Menschen –
haben eine elegantere Methode entwickelt: sie ändern die Kurvatur der Linse, indem sie
sie für die nahe Sicht abflachen und für das Sehen in die Ferne den Wölbungsgrad erhö-
hen. Raubvögel wenden eine noch wirkungsvollere Taktik an, um ihre Beute im Brenn-
punkt zu behalten, während sie auf sie herabstoßen: anstatt die relativ schwerfällige
Linse zu adjustieren, verändern sie in rascher Folge die Kurvatur der flexibleren Cor-
nealinse. Eine weitere wichtige Verfeinerung, das Farbsehen, hat sich ebenfalls mehrere
Male unabhängig voneinander entwickelt. Schließlich führte die allmähliche Verlage-
rung der Position der Augen von der Außenseite zur Vorderseite des Kopfes zum bino-
kularen Sehen, zur Verschmelzung der Abbilder beider Augen zu einem einzigen drei-
dimensionalen Abbild im Gehirn.
Die Absicht des vorausgegangenen Abschnitts bestand nicht darin, ein Loblied auf das
Sehvermögen zu singen, sondern darin, die bemerkenswerten Errungenschaften der ad-
aptiven Strategien zu betonen, die aus den beschränkten Möglichkeiten des Organismus
das Beste zu machen verstehen. Die Beschränkungen sind ein inhärenter Faktor der
physikalisch-chemischen Struktur der lebenden Materie, so wie sie auf unserer Erde
existiert – und vermutlich auf jedem anderen Planeten, dessen Voraussetzungen denen
auf der Erde auch nur entfernt ähneln. Doch sind die Möglichkeiten, die ein Künstler
aus Gozzis karger Liste von 36 Grundthemen herausholen kann, unbegrenzt.

101
11 Evolution (Fortsetzung):
Fortschritt durch Initiative
Wenn man nicht weiß,
wohin eine Straße führt,
dann gelangt man todsicher dorthin.
Leo Rosten
Ausdrücke wie »adaptive Taktik« oder »die Möglichkeiten ausschöpfen« implizieren
ein aktives Streben nach der optimalen Realisierung des evolutionären Potentials.
In den letzten Jahren hält man es wieder für wissenschaftlich vertretbar, vom »Zielge-
richtetsein« in der Ontogenese zu sprechen – von der Kanalisierung der embryonalen
Entwicklung bis zur Zielstrebigkeit des instinktiven und des erlernten Verhaltens. Das
gilt jedoch nicht für die Phylogenese. Hier läßt sich die offizielle Einstellung etwa in
dem folgenden Zitat von G. G. Simpson zusammenfassen:
Es hat den Anschein, als wäre das Problem [der Evolution] jetzt prin-
zipiell gelöst und der Adaptionsmechanismus bekannt. Er erweist
sich als ein im Grunde materialistischer Faktor – nichts spricht da-
für, daß die Zielgerichtetheit als Variable bei der Gestaltung des Le-
bens mitwirkt, und der »zielbewußte Schöpfungsfaktor« ist ein eben-
so mystischer Begriff wie das Primum mobile ... Der Mensch ist das
Ergebnis eines ziellosen materialistischen Prozesses, der ihn nicht
geplant hat. Er war nicht beabsichtigt.69
Es bedarf jedoch keiner philosophischen Debatte über derartige Außerungen, denn sie
beruhen auf falschen Alternativen. Nach Simpson ist die Evolution entweder ein »im
Grunde materialistischer Prozeß« (was immer auch das in diesem Zusammenhang be-
deuten mag), oder es muß einen zielbewußten Schöpfer geben, einen Gott; der Mensch
ist entweder das Produkt eines ziellosen Prozesses, oder er muß von Anfang an »fest
geplant« gewesen sein. Der Begriff »Zielstrebigkeit« impliziert jedoch in seinem biolo-
gischen Zusammenhang weder einen zielbewußten Schöpfer noch eine klar definierte
Vorstellung von dem angestrebten Endziel. Das Raubtier, das sich auf seinen nächtli-
chen Raubzug begibt, sucht nicht nach einem bestimmten Kaninchen oder Hasen, es
sucht nach irgendeiner möglichen Beute; der Schachspieler kann im allgemeinen nicht
die schließliche Mattsituation voraussehen oder planen: er setzt sein Können ein, um die
Möglichkeiten auf dem Brett möglichst vorteilhaft auszunutzen. Zweckbewußtsein be-
inhaltet: Zielgerichtetheit an Stelle von Zufallsakten, flexible Taktik an Stelle starrer
Mechanik, und adaptives Verhalten – aber eine Art der Adaption, deren Bedingungen
von der Funktionsweise des Organismus bestimmt werden: er paßt sich einer kalten
Umgebung nicht an, indem er seine Körpertemperatur senkt, sondern indem er mehr
Brennstoff verbraucht.
Nach E. W. Sinnott ist vorsätzliches Verhalten die »zielgerichtete Tätigkeit individuel-
ler Organismen, durch die sich die lebenden Kreaturen von den unbelebten Objekten
unterscheiden«.70 Nach der Auffassung des Nobelpreisträgers H. J. Muller »ist Zielstre-
bigkeit nicht etwas, das wir in die Natur hineinprojizieren, und man braucht sich nicht
den Kopf darüber zu zerbrechen, als wäre sie ein vom Leben verschiedener, rätselhafter
oder göttlicher Faktor, der sich ins Leben hineinmischt und es in Gang hält ... sie ist ein-
fach ein Merkmal der biologischen Organisation, und man sollte sie eher gründlich stu-
dieren als bewundern und erklären«.71

102
Fassen wir noch einmal zusammen: Es ist wieder wissenschaftlich vertretbar geworden,
vom »Zielgerichtetsein« – beziehungsweise von Zielstrebigkeit in diesem begrenzten
Sinn – in der Ontogenese zu sprechen; diese Begriffe auch auf die Phylogenese anzu-
wenden, gilt jedoch immer noch als Häresie (oder zumindest als üble Manier). Aber der
Begriff »Phylogenese« ist eine Abstraktion, und er bekommt nur dann einen konkreten
Sinn, wenn wir begreifen, daß die »Phylogenese, die evolutionäre Deszendenz, aus ei-
ner Folge von Ontogenesen besteht« und daß »sich der Evolutionsprozeß auf Grund von
Neuerungen in der Ontogenese vollzieht«. Diese Zitate stammen ebenfalls von Simp-
son,72 und sie geben Antwort auf die von ihm gestellte Frage nach dem hinter der Ziel-
strebigkeit stehenden zielbewußten Schöpfungsfaktor. Als zielbewußten Schöpfer kann
man vom Ursprung des Lebens an jeden individuellen Organismus betrachten, der be-
müht und bestrebt war, aus seinen begrenzten Möglichkeiten das Beste herauszuholen.

11.1 Aktion vor der Reaktion


Wenn orthodoxe Anhänger der Evolutionstheorie von »Adaptionen« reden, dann ver-
stehen sie darunter – ebenso wie die Behavioristen, wenn sie von »Reaktionen« spre-
chen – einen im Prinzip passiven Prozeß oder Mechanismus, der von der Umwelt kon-
trolliert wird. Diese Auffassung mag im Einklang mit ihrer Philosophie stehen, sie steht
jedoch nicht im Einklang mit dem verfügbaren Beweismaterial, welches zeigt, daß –
nach einem Ausspruch von G. E. Coghill – »der Organismus in der Umwelt agiert, be-
vor er auf die Umwelt reagiert.73 Coghill hat nachgewiesen, daß im Embryo die motori-
schen Nerventrakte aktiv werden und Bewegungen erkennbar sind, bevor die sensori-
schen Nerven funktionsfähig werden. In dem Augenblick, in welchem die Kreatur aus
dem Ei schlüpft oder geboren wird, legt sie sich mit der – flüssigen oder festen – Um-
welt an, bearbeitet sie mit ihren Zilien, Flagellen oder Muskeln; sie kriecht, schwimmt,
gleitet, pulsiert; sie stößt, schreit, atmet und frißt nach Herzenslust. Sie paßt sich nicht
nur der Umwelt an, sondern sie paßt auch ständig die Umwelt den eigenen Bedürfnissen
an: sie verzehrt und trinkt ihre Umwelt, sie kämpft und paart sich mit ihr, sie gräbt in ihr
und baut auf ihr; sie antwortet ihrer Umwelt nicht nur, sondern sie stellt ihr auch Fragen
und erkundet sie. Dieser »Explorationstrieb« wird heute von der jüngeren Generation
der Tierpsychologen als primärer biologischer Instinkt ebenso anerkannt wie der Nah-
rungstrieb und der Geschlechtstrieb; ja er kann sich gelegentlich sogar als mächtiger
denn diese erweisen. Zahllose Experimentatoren,* angefangen von Darwin, haben ge-
zeigt, daß Neugier und die Suche nach Erlebnisreizen als instinktives Triebelement so-
wohl bei Ratten, Vögeln, Delphinen und Schimpansen als auch beim Menschen wirk-
sam sind; das gleiche gilt für das, was die Behavioristen mit einem verschämten La-
teinwort als »ludisches« Verhalten bezeichnen – und das bei gewöhnlichen Sterblichen
einfach Verspieltheit genannt wird.
* Siehe THE ACT OF CREATION, Buch II, Kapitel 8.
Der Explorations- oder Erforschungstrieb hat eine ganz unmittelbare Beziehung zur
Evolutionstheorie. Das erkannten schon um die Jahrhundertwende mindestens zwei her-
vorragende Biologen – Baldwin und Lloyd Morgan –, aber man vergaß es prompt wie-
der. In den letzten Jahren haben jedoch Hardy und Waddington den sogenannten
»Baldwin-Effekt« unabhängig voneinander neu entdeckt. Was mit diesem Begriff ge-
meint ist, will ich an einem amüsanten Beispiel darlegen, das Sir Alistair Hardy 1956
beim Kongreß der Linné-Gesellschaft anführte. Vor mehreren Jahren hatten einige
Blaumeisen bemerkt, daß die Flaschen, die der Milchmann vor die Haustür stellte, eine
rätselhafte weiße Flüssigkeit enthielten; sie fanden eine Methode, an sie heranzukom-
men, indem sie die Kapseln am oberen Flaschenende mit ihren Schnäbeln entfernten. Es
stellte sich heraus, daß die weiße Flüssigkeit köstlich schmeckt. Bald lernten die Vögel,
auch mit Pappdeckelverschlüssen und Metallverschlüssen fertig zu werden. Diese neue

103
Geschicklichkeit verbreitete sich – augenscheinlich durch Nachahmung – »in der ge-
samten Meisenpopulation Europas«.74
Niemals wieder werden unsere Milchflaschen vor den Vögeln sicher sein. Würde es
sich nun bei den Flaschen um lebendige Organismen handeln – etwa um eine Art Mu-
scheln mit durchsichtiger zylindrischer Schale – und würden nach einem bestimmten
Zeitraum nur die Flaschen mit stärkeren Verschlußkapseln überleben, dann würde in-
folge der natürlichen Auslese eine Spezies von »Flaschen mit dicken Kapseln« entste-
hen – aber möglicherweise zugleich auch eine Meisenart mit »speziell ausgebildeten,
büchsenöffnerförmigen Schnäbeln zum Öffnen der Flaschenverschlüsse«.75
Das Auftauchen einer Spezies von »Flaschenkreaturen« mit starken Verschlußkappen
wäre ein gutes Beispiel für die passive, Darwinsche Evolution infolge des Selektions-
drucks von »Raubvögeln« in der Umwelt. Die Evolution von Meisen mit wirkmächtige-
ren Schnäbeln ist jedoch als ein Beispiel für eine ganz andere Art des Entwicklungsvor-
ganges gemeint, denn er basiert auf der Initiative einiger unternehmungsfreudiger Indi-
viduen der betreffenden Spezies. Diese entdecken eine neue Ernährungsmethode, eine
Fertigkeit, die sich durch Imitation weiter ausbreitet und zu einem festen Bestandteil der
Lebensweise dieser Spezies wird. Die Mutation (beziehungsweise Neukombination von
Genen), die sich als Glückstreffer erweist, indem sie die für die neue Fertigkeit ange-
messene Schnabelform hervorbringt, tritt erst nachher ein, als eine Art genetische Be-
kräftigung der neuen Entdeckung. Den Initialakt dieses Prozesses – sozusagen die evo-
lutionäre Pionierarbeit – stellten die Erkundungsaktivitäten der Meisen dar: ihre Neu-
gier, die sie dazu antrieb, die Umwelt zu erforschen – und sich nicht bloß ihrem Druck
anzupassen. Wir haben gesehen, daß die berühmte Schreibmaschine des Affen von einer
inneren Selektion kontrolliert wird; nun ist die Maschine noch weiter programmiert
worden: der Affe braucht nur seine Versuche fortzusetzen, bis er eine bestimmte prä-
spezifizierte Taste niederdrückt.
Das Beispiel des büchsenöffnerförmigen Schnabels ist natürlich imaginär, aber die
Schlußfolgerungen daraus werden durch viele Beobachtungen bestätigt. So pickt zum
Beispiel ein »Darwin-Fink« auf den Galapagosinseln – C. pallidus – ein Loch oder ei-
nen Spalt in die Baumrinde, »dann nimmt er einen Kaktusstachel oder ein etwa zwei bis
fünf Zentimeter langes Zweiglein, hält es in Längsrichtung in seinem Schnabel, stochert
damit im Spalt herum und läßt schließlich das Zweiglein fallen, um das Insekt zu pak-
ken, sobald es sich blicken läßt ... Manchmal trägt der Vogel einen Stachel oder ein
kleines Zweiglein mit sich umher, sucht einen Baum nach dem anderen ab und stochert
damit in Spalten und Ritzen herum. Diese erstaunliche Gewohnheit ... ist einer der we-
nigen Fälle, in denen Vögel Werkzeuge benutzen« (H Hardy).76
Nach der orthodoxen Theorie müßten wir annehmen, irgendeine zufällige Mutation, die
eine Veränderung der Schnabelform bewirkte (der Schnabel unterscheidet sich aller-
dings nicht wesentlich von dem anderer Finkenarten), sei die Ursache gewesen, die die-
se erfinderische Methode bei der Insektenjagd hervorbrachte. Und wir müßten auch
glauben, daß es der gleiche deus ex machina – die Zufallsmutation – war, der die Mei-
sen dazu trieb, die Milchflaschen zu öffnen. Das ist doch wohl eine allzu starke Zumu-
tung. Wir halten uns dann doch lieber an Hardys Auffassung, daß »der Schwerpunkt in
den heute vertretenen Ansichten irgendwie falsch gesetzt sein muß«, daß der wichtigste
Kausalfaktor bei der evolutionären Höherentwicklung nicht der Selektionsdruck der
Umwelt ist, sondern die Initiative des lebendigen Organismus, »das rastlose, die Um-
welt wahrnehmende und erkundende Tier, das neue Lebensformen und neue Nahrungs-
quellen entdeckt, genauso wie die Meisen den Wert der Milchflaschen entdeckt haben ...
Nur die von der Aktivität des Tieres, von seiner rastlosen Erkundung der Umwelt, sei-
ner Initiative verursachten Adaptionen, nur diese bedingen die divergierenden Hauptli-
nien der Evolution; seine dynamischen Eigenschaften führten zu den verschiedenen
Rollen im Leben, die sich für eine neu entstehende Tiergruppe in jener Phase ihrer Aus-

104
breitung eröffnen, die man als ›adaptive Radiation‹ bezeichnet – auf diese Art entstan-
den die verschiedenen Gruppen der Lauftiere, Klettertiere, Wühltiere, Schwimmtiere
und der Eroberer der Lüfte«.77
Man kann diesen Vorgang als »Fortschritt durch Initiative« oder als »Do-it-yourself-
Evolutionstheorie« bezeichnen. Diese Konzeption schließt Zufallsmutationen keines-
wegs ganz aus, schränkt aber die Rolle, die sie im Gesamtprozeß spielen, doch weitge-
hend ein – sie sind Glückstreffer auf ein bereits abgestecktes Ziel, die früher oder später
einmal eintreten müssen. Ist dieser Fall dann eingetreten, wird die spontan erworbene
Gewohnheit beziehungsweise Fertigkeit zu einem Erbfaktor, eingebettet in das angebo-
rene Verhaltensrepertoire des Tieres: sie braucht nicht mehr erfunden oder erlernt zu
werden, sie hat sich zu einem vom Genkomplex bekräftigten Instinkt verdichtet.* Auf
Grund der verschiedenen, in diesem und im vorhergehenden Kapitel aufgezählten Fak-
toren sind Wirkungsbereich und Bedeutung von Zufallsmutationen in der Tat so einge-
schränkt worden, daß die gesamte Darwin-Lamarck-Kontroverse stark an Bedeutung
verliert.
* In einer Reihe von Experimenten mit der Drosophila hat Waddington nachgewiesen, daß eine solche
»genetische Assimilation« (wie er sie nennt), bei der erworbene Eigenschaften zu Erbfaktoren werden,
tatsächlich vorkommt. Das bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, Lamarck sei im Recht gewesen
und das erworbene Merkmal (im vorliegenden Fall eine Veränderung in der Flügelstruktur der Fliege, die
dadurch hervorgerufen wurde, daß man die Puppen starker Wärmeeinwirkung aussetzte) sei die unmittel-
bare Ursache dafür gewesen, daß die Mutation nach einigen Generationen erblich wurde, so daß die ver-
änderte Flügelstruktur nun auch ohne Wärmeeinwirkung im Puppenstadium auftrat. Es könnte nämlich
der Fall sein, daß sich bereits einige dieser durch Mutation entstandenen Varianten in der betreffenden
Fliegenpopulation befanden und dann auf darwinistischer Basis zum Überleben selektiert wurden; ander-
seits könnte die entsprechende Mutation auch erst durch Zufall im Verlauf des Prozesses entstanden sein.
Waddington läßt die Frage offen, ob er eine experimentelle Bestätigung der Lamarckschen These erbracht
hat oder eine Imitation des Lamarckschen Vererbungsvorgangs vermittels eines darwinistischen Mecha-
nismus; er kommt zu dem Schluß, »es wäre unklug, die Möglichkeit von zielgerichteten, umweltbezoge-
nen Mutationen a priori auszuschließen«,
78
und »es scheint am besten, wenn man dieses Thema vorurteils-
frei weiter im Auge behält«. Das ist ein erheblicher Gegensatz zu der fast fanatischen Einstellung, die
man in der Zitadelle des Neodarwinismus praktiziert. – Waddington ging sogar noch weiter und vertrat
die Auffassung: wenn die natürliche Auslese sich in erster Linie zugunsten eines formbaren, adaptiven
Verhaltens auswirke, dann werde der Kanalisierungsprozeß während der Entwicklung schon in sich selbst
so flexibel, daß eine spezielle Gen-Mutation zur Bekräftigung des neuen Merkmals nicht mehr unbedingt
erforderlich sei, sondern nur »eine zufällige Mutation zur Übernahme der Schaltfunktion des ursprüngli-
chen Umweltreizfaktors. Die von Baldwin ins Auge gefaßte
79
Art der erblichen Veränderung ist daher weit
wahrscheinlicher, als er selbst damals ahnen konnte«.
Der Zusammenhang wird noch einleuchtender, wenn wir eine Parallele ziehen zwischen
der Rolle des Zufalls in der Evolution und in der wissenschaftlichen Entdeckung. Wie
schon gezeigt, neigen Behavioristen dazu, jede schöpferische Idee dem puren Zufall zu-
zuschreiben. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns jedoch, daß die meisten Ent-
deckungen mehr oder minder gleichzeitig – und voneinander unabhängig – von mehre-
ren Leuten gemacht werden*; allein diese Tatsache ist (abgesehen von sonstigen Erwä-
gungen) ein hinreichender Beweis dafür, daß, wenn die Zeit für eine bestimmte Entdek-
kung oder Erfindung reif ist, das günstige Zufallselement, das sie schließlich auslöst,
früher oder später mit Sicherheit in Erscheinung tritt. »Das Glück begünstigt den Geist,
der bereit ist«, schrieb Pasteur, und man kann ohne weiteres hinzufügen: Glückhafte
Mutationen begünstigen das Tier, das darauf vorbereitet ist.
* Siehe The Act of Creation, Der göttliche Funke, Seite 109 ff.
Ein fleißiger Famulus Wagner könnte in der Tat eine Geschichte der Wissenschaften als
eine Geschichte der glücklichen Zufälle abfassen: der steigende Wasserspiegel in der
Badewanne des Archimedes, Galileis schwingender Kronleuchter, Newtons Apfel, Ja-
mes Watts Teekessel, Harveys Fischherz, Gutenbergs Weinpresse, Pasteurs verdorbene
Bakterienkultur, Flemings tropfende Nase und tausend andere noch. Er müßte aber
schon sehr vernagelt sein, würde er nicht erkennen, daß, wenn ein spezielles Zu-
fallsereignis nicht eingetreten wäre, zahllose andere den gleichen Auslöseeffekt hätten

105
haben können – entweder beim gleichen wachen und bereiten Geist oder aber bei ir-
gendeinem anderen Zeitgenossen, dessen Forschungen in die gleiche Richtung gingen;
nur einem sehr perversen Historiker könnte verborgen bleiben, daß die primäre Ursache
und treibende Kraft des wissenschaftlichen Fortschritts die Neugier und die Initiative
der Wissenschaftler sind und nicht das zufällige Auftauchen von Kronleuchtern, Äpfeln,
Teekesseln und tropfenden Nasen »in allen nur erdenklichen Richtungen«.
Aber gerade diese perverse Auffassung ist es, von der sich die orthodoxe Interpretation
bestimmen läßt, und zwar nicht nur die der Evolution neuer Tierformen, sondern auch
die Interpretation neuer Verhaltensarten bei Tieren. Die einzige Erklärung, die der Neo-
darwinismus zu bieten hat, ist die, daß auch neue Verhaltensformen auf Grund von zu-
fälligen Mutationen entstehen, die auf das Nervensystem einwirken, und daß sie durch
die natürliche Auslese weiter erhalten bleiben. Wenn die Evolution des Verhaltens (zum
Unterschied von der Evolution von Körperstrukturen) immer noch ein unerforschtes
Gebiet ist, dann mag der Grund dafür in einer unbewußten Abneigung liegen, das be-
reits reichlich strapazierte theoretische Gerüst der neodarwinistischen Genetik einer er-
neuten Belastung zu unterwerfen. Um ein recht triviales Beispiel zu zitieren:
Ein einfacher Singvogel, eine Dohle oder ein Sperling, stößt, wenn er einen Raubvogel
erblickt, einen Alarmruf aus, um die ganze Vogelschar zu warnen. »Diese Alarmrufe«,
betont Tinbergen, »sind ein deutlicher Beweis für ein Verhalten, das der Gruppe in ihrer
Gesamtheit dienlich ist, das Einzelindividuum jedoch gefährdet.«80 Sollen wir wirklich
annehmen, die »Schaltungsanlage« im Nervensystem des Sperlings, die den Alarmruf
als Reaktion auf den Reiz in Gestalt eines Raubvogels auslöst, sei durch Zufallsmuta-
tionen entstanden und dann trotz ihres negativen Überlebenswertes für den Mutanten
durch die natürliche Auslese beibehalten worden? Die gleiche Frage könnte man hin-
sichtlich des phylogenetischen Ursprungs der ritualisierten Scheinkämpfe bei einer
Vielzahl von Tieren stellen, so bei Hirschen, Leguanen, Vögeln, Hunden und Fischen.
Hunde zum Beispiel legen sich zum Zeichen der Niederlage und Kapitulation auf den
Rücken und bieten so ihre verwundbaren Bauchpartien und Halsadern den Reißzähnen
des Siegers dar. Man ist geneigt, das als ein ziemlich riskantes Verhalten zu bezeichnen;
und worin liegt schließlich der individuelle Überlebenswert der Angewohnheit, nicht
unter die Gürtellinie zu schlagen beziehungsweise zu beißen oder mit den Hörnern zu
stoßen?
Man könnte ganze Bände mit Beispielen für komplexe zweckgerichtete Verhaltenswei-
sen bei Tieren füllen, die sich jeder Erklärung durch Zufallsmutationen und Zuchtwahl
widersetzen. Die Liste könnte bereits bei einem einzelligen Meerestier – einem Ver-
wandten der Amöbe – beginnen, das aus den Skelettnadeln von Schwämmen kunstvolle
Bauten errichtet. Von diesem primitiven Protozoon ohne Augen und Nervensystem, das
bloß aus einer gelatinösen Masse von Protoplasma besteht, über die architektonischen
Fähigkeiten von Spinnen und Insekten, weiter über die Verschlußkappen raubenden
Vögel und die Werkzeug herstellenden Schimpansen bis hinauf zum Menschen begeg-
nen wir immer dem gleichen Element: der Entfaltung von instinktiven und erlernten
Verhaltensstrukturen, die sich auf keinen Fall durch zufällige Neubildungen in der Kör-
perstruktur erklären lassen. Dr. Ewer vertritt die gleiche Ansicht: »Der Verhaltensmo-
dus zeigt die Tendenz, der Struktur stets um einen Sprung voraus zu sein und so eine
entscheidende Rolle im Evolutionsprozeß zu spielen.«81 Im Licht solcher Erkenntnisse
erscheint der Evolutionsvorgang nicht mehr als »Die Erzählung eines Idioten«, sondern
eher als ein Epos, das von einem Stotterer vorgetragen wird, zeitweilig stockend und
mühsam, dann aber plötzlich sprunghaft und explosiv.

106
11.2 Nochmals Darwin und Lamarck
Es bleibt jedoch noch eine Anzahl von »hartnäckigen« Phänomenen übrig, die sich ei-
ner Erklärung im Rahmen der bisher erörterten Prozesse widersetzen und die nach einer
Lamarckschen Erklärung als Vererbung von erworbenen Eigenschaften zu drängen
scheinen. So gibt es zum Beispiel das uralte Problem, warum die Haut an unseren Fuß-
sohlen viel dicker ist als an anderen Körperteilen. Entstünde diese Verdickung erst nach
der Geburt, als Folge der natürlichen Abnutzung, dann gäbe es kein Problem. Es ist aber
so, daß die Verdickung der Fußsohlen bereits beim Embryo in Erscheinung tritt, der
weder barfuß noch sonstwie herumgeht. Ein ähnliches, noch eindrucksvolleres Phäno-
men stellen die harten Hornhautstellen an den Hand- und Fußgelenken des afrikani-
schen Warzenschweines dar, auf die sich das Tier bei der Nahrungsaufnahme stützt;
ferner die Hornhaut an den Knien der Kamele, und schließlich – am merkwürdigsten
von allen – die beiden knollenförmigen Verdickungen, eine vorne, eine hinten, am Un-
terkörper des Straußes, auf die der ungelenke Vogel sich niederhockt. Alle diese Horn-
hautbildungen treten – genau wie die dicke Haut an unseren Fußsohlen – bereits beim
Embryo in Erscheinung. Es handelt sich also um erbliche Merkmale. Aber ist es vor-
stellbar, daß sich diese Hornhautbildungen durch Zufallsmutationen ausgerechnet an je-
nen Stellen entwickelt haben sollten, wo das Tier sie benötigt? Oder sollen wir anneh-
men, es bestehe ein kausaler Zusammenhang – im Sinne Lamarcks – zwischen dem Be-
darf des Tieres und der Mutation, die ihn befriedigt? Selbst Waddington, der die Mög-
lichkeit der Lamarckschen Vererbung funktioneller Anpassung nicht völlig ausschließt,
zieht hier zur Erklärung den Baldwin-Effekt und den Kanalisierungsprozeß während der
Entwicklung heran – obwohl nicht leicht einzusehen ist, wie sie die obigen Phänomene
erklären sollen.
Anderseits ist es nicht minder schwierig, zu begreifen, wie eine erworbene Hornhautbil-
dung Veränderungen im Genkomplex hervorrufen könnte. Schwierig, aber nicht absolut
unmöglich. Zwar trifft es zu, daß die Keimzellen gegen Einflüsse der sonstigen Körper-
zellen abgeschirmt sind, aber diese Isolierung ist nicht ganz vollständig: Sie können
durch Strahlungen, Wärmeeinwirkungen und bestimmte Chemikalien beeinflußt wer-
den. Es wäre in der Tat unklug, wie Waddington bemerkte, a priori die Möglichkeit
auszuschließen, daß Störungen in der Gentätigkeit von Körperzellen unter gewissen
Umständen auch Störungen in der Gentätigkeit von Keimzellen bewirken könnten, und
zwar mit Hilfe von Hormonen und Enzymen. Auch Herrick82 hat sich diesem Problem
gegenüber stets aufgeschlossen gezeigt. Waddington hat sogar ein spekulatives Modell
für zielgerichtete Mutationen vorgeschlagen, um zu zeigen, daß nach dem augenblickli-
chen Stand der Biochemie ein solcher Prozeß theoretisch vorstellbar ist.83
Es wäre müßig, die Argumente und Gegenargumente, die immer wieder ins Gefecht ge-
führt worden sind, hier noch einmal durchzukauen. In wenigen Jahren wird vermutlich
die ganze erbitterte Fehde nur noch von historischem Interesse sein, wie etwa die Kon-
troverse zwischen Newton und Huyghens über die Korpuskeltheorie kontra Wellentheo-
rie des Lichts. Zweifellos kommen Darwinsche Auslesen von Zufallsmutationen vor,
aber sie zeigen nicht das vollständige Bild, ja nicht einmal einen sehr wesentlichen Teil
des Bildes, und das aus zwei simplen Gründen: erstens wird der Wirkungsbereich des
Zufalls durch die oben erörterten Faktoren beträchtlich eingeschränkt, und zweitens,
weil in der gegenwärtigen Form der orthodoxen Theorie der Begriff der Auslese seine
Schärfe eingebüßt hat. Früher bedeutete er das »Überleben der Lebensfähigsten«; aber,
um Waddington noch einmal – zum letztenmal – zu zitieren:
Überleben bedeutet natürlich nicht das körperliche Überdauern ei-
nes einzelnen Individuums, bis es älter als Methusalem geworden ist.
Dieser Begriff, so wie er heute interpretiert wird, bezieht sich auf das

107
Fortleben in zukünftigen Generationen. Dasjenige Individuum
»überlebt« am besten, das die zahlreichste Nachkommenschaft hat.
Auch der Begriff »am lebensfähigsten« bedeutet bei einem Tier nicht
unbedingt, daß es am stärksten oder am gesündesten ist, oder daß
es einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Im Prinzip bedeutet
es nicht mehr als eine maximale Nachkommenschaft. Das grundle-
gende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl läuft im Grunde auf die
Feststellung hinaus, daß die Individuen, die die zahlreichste Nach-
kommenschaft haben, diejenigen sind, die die zahlreichste Nach-
kommenschaft haben. Das ist, wie man sieht, eine Tautologie.84
Auf der anderen Seite ist es den Lamarckisten bisher nicht gelungen, experimentelle
Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften zu erbringen, die sich nicht auf
darwinistischer Basis hätten interpretieren – oder wegerklären – lassen können. Auch
das beweist natürlich nichts – außer der Tatsache, daß die Lamarcksche Vererbung,
wenn sie überhaupt vorkommt, ein relativ seltener Vorgang sein muß. Es könnte gar
nicht anders sein. Denn wenn jede neugewonnene Erfahrung der Ahnen ihre Spur im
Erbgut der Nachkommenschaft hinterließe, dann wäre das Resultat ein Chaos von For-
men und ein Wirrwarr von Instinkten. Aber einige der hartnäckigsten Fälle lassen zu-
mindest die Möglichkeit offen, daß gewisse wohldefinierte strukturelle Adaptionen wie
die Verdickung der Haut an unseren Fußsohlen oder die Hornhautbildungen beim
Strauß, die Generation für Generation neu erworben werden, am Ende doch zu Verände-
rungen im Genkomplex führten, durch die sie zu erblichen Merkmalen wurden. Die
Biochemie schließt eine solche Möglichkeit nicht ganz aus; das geradezu fanatische Be-
harren auf ihrer Ablehnung ist nur ein weiteres Beispiel für die Intoleranz und den
Dogmatismus wissenschaftlicher Orthodoxien.
Es hat also den Anschein, als handelte es sich bei der neodarwinistischen und der neo-
lamarckistischen Methode der Evolution um extreme Fälle an entgegengesetzten Enden
eines breiten Spektrums von Evolutionsphänomenen. Eine Anzahl von diesen habe ich
hier besprochen; es bleibt jedoch noch ein Phänomen zu erörtern, das von spezieller Be-
deutung für den Menschen ist.

108
12 Evolution (Fortsetzung):
Abbau und Neuformierung
Who has seen the wind?
Neither you nor I.
But when the trees
bow down their heads
The wind is passing by.*
Christina Rossetti
* Kein Mensch hat je den Wind gesehen. Doch wenn die Wipfel erdwärts wehen, dann geht der Wind
vorbei.
Es hat Perioden von »adaptiver Radiation« gegeben – plötzliche »Explosionen« von
neuen Formen, die in relativ kurzer Zeit aus dem Baum der Evolution hervorbrachen.
Das war zum Beispiel der Fall bei der Reptilien-»Explosion« im Mesozoikum und bei
der Säugetier-»Explosion« im Paleozän; die erste ereignete sich vor 200 Millionen, die
zweite vor 80 Millionen Jahren. Das entgegengesetzte Phänomen ist der Niedergang
und das Aussterben ganzer evolutionärer Gruppen. Man schätzt, daß auf jede der einen
Million existenter Spezies Hunderte entfallen, die in der Vergangenheit zugrunde ge-
gangen sind. Soweit man das beurteilen kann, haben auch die meisten Arten, die nicht
ausgestorben sind, ein Stadium der Stagnation erreicht – ihre Evolution kam zu ver-
schiedenen Zeiten der Vergangenheit zum Stillstand.

12.1 Sackgassen
Die Hauptursache für die Stagnation und das Aussterben ist die einseitige Spezialisie-
rung. Der Koala oder Australische Beutelbär ist ein rührendes Geschöpf, das aus-
schließlich die Blätter einer ganz bestimmten Art von Eukalyptus frißt, sonst nichts; an-
stelle von Fingern hat er hakenähnliche Klauen, die sich ideal dazu eignen, sich an die
Baumrinde zu klammern – sonst sind sie zu gar nichts nütze. Sein menschliches Pendant
– allerdings ohne den gleichen Charme – ist der Pedant, der Sklave seiner Gewohnhei-
ten, dessen Denk- und Verhaltensweisen sich nach starren Schablonen vollziehen.
(Manche unserer Universitätsfakultäten scheinen speziell auf die Züchtung von Koala-
bären eingestellt zu sein.)
Vor einigen Jahren gab Sir Julian Huxley in der Yale Review folgende kurze Übersicht
über den Evolutionsprozeß:
Der Evolutionsprozeß scheint sich im großen und ganzen etwa fol-
gendermaßen abgespielt zu haben. Von einer gemeinsamen früheren
Urform breiteten sich verschiedene Entwicklungsreihen strahlenför-
mig aus und machten sich die Umwelt auf verschiedene Weise nutz-
bar. Einige von ihnen erreichten schon verhältnismäßig früh die
Grenzen ihrer Entwicklung, zumindest soweit es sich um Verände-
rungen größeren Ausmaßes handelte. Danach beschränkten sie sich
auf geringere Veränderungen, wie die Bildung neuer Gattungen und
Arten. Andere dagegen sind so veranlagt, daß sie ihre Entwicklungs-
laufbahn fortsetzen und dabei neue Formen schaffen können, die
infolge ihrer besseren Kontrolle über die Umwelt und durch ihre grö-
ßere Unabhängigkeit von dieser den Existenzkampf erfolgreich be-
stehen können. Solche Veränderungen bezeichnet man zu Recht als
»progressiv«. Die neue Form wiederholt diesen Prozeß. Sie breitet sich
strahlenförmig in einer Anzahl von Entwicklungsreihen aus, von de-

109
nen sich jede nach einer bestimmten Richtung hin spezialisiert. Die
überwiegende Mehrzahl dieser Entwicklungsreihen gerät in eine
Sackgasse und kann sich nicht weiterentwickeln; die Spezialisierung
ist ein einseitiger Fortschritt und erreicht früher oder später ein »bio-
chemisches Limit« ...
Manchmal haben alle Zweige eines bestimmten Urtyps ihr Limit erreicht und sind dann
entweder ausgestorben oder haben ohne wesentliche Änderungen weiterbestanden. Das
geschah etwa bei den Echinodermen, den Stachelhäutern: die Seeigel, Seewalzen, See-
sterne und andere inzwischen ausgestorbene Formen hatten ihren Lebensdrang in Sack-
gassen getrieben; sie haben sich seit etwa einhundert Millionen Jahren weder weiter-
entwickelt noch irgendwelche wesentliche neue Formen hervorgebracht.
In anderen Fällen erlitten alle Entwicklungsreihen mit ein oder zwei Ausnahmen gleiche
Schicksale. Alle Reptilienreihen waren Sackgassen – mit zwei Ausnahmen: eine von ih-
nen entwickelte sich weiter zu Vögeln, die andere zu Säugetieren. Von der Urform der
Vögel gerieten alle Entwicklungsreihen in eine Sackgasse, von den Säugetieren alle bis
auf eine: aus ihr entstand der Mensch.«85
Nach diesen Ausführungen zog Huxley jedoch eine Schlußfolgerung, die weit weniger
überzeugend ist. »Die Evolution«, so stellt er fest, »besteht also aus einer ungeheuren
Anzahl von Sackgassen, und nur sehr selten führt ein Weg zur Höherentwicklung. Sie
ist so etwas wie ein Labyrinth, in welchem fast alle Abzweigungen falsche Abzweigun-
gen sind.«86
Das klingt ähnlich wie die Anschauung der Behavioristen, die die Ratte im Labyrinth
als Paradigma menschlichen Lernens hinstellen. In beiden Fällen besteht die ausdrückli-
che oder stillschweigende Annahme darin, daß der Fortschritt vom blinden Zufall be-
herrscht wird: von Zufallsmutationen, die durch natürliche Auslese, und von Zufallsak-
tionen, die durch Belohnungen fixiert werden – und weiter ist nichts zu sagen.

12.2 Ausweg aus der Spezialisierung


In den drei vorangegangenen Kapiteln habe ich eine Anzahl von Phänomenen erörtert,
die den Zufallsfaktor auf eine untergeordnete Rolle reduzieren. Nun möchte ich noch
einen weiteren Ausweg aus dem Labyrinth erörtern, der den Evolutionsexperten unter
dem unschönen Namen Pädomorphose bekannt ist – einem Begriff, den Garstang vor
nahezu einem halben Jahrhundert geprägt hat. Zwar erkennt man die Existenz dieses
Phänomens an, es wird jedoch in Lehrbüchern kaum erwähnt, da es – ähnlich wie der
Baldwin-Effekt oder das Rätsel um die Marsupialier – dem Zeitgeist zuwiderläuft. Das
Phänomen der Pädomorphose deutet, einfach ausgedrückt, darauf hin, daß die Evolution
unter bestimmten Voraussetzungen ihre Schritte rückgängig machen kann, entlang des
Weges, der in die Sackgasse hineinführte, und daß sie dann in einer anderen, vielver-
sprechenderen Richtung neu beginnen kann. Der entscheidende Punkt dabei ist das
Auftauchen einer nützlichen evolutionären Neuheit in der larvalen oder embryonalen
Phase des Anzestors – einer Neuheit, die wieder verschwinden kann, nachdem sie das
Erwachsenenstadium erreicht hat, die aber später im Erwachsenenstadium des Nach-
kommen erneut auftaucht und erhalten bleibt. Das folgende Beispiel soll diesen verwik-
kelten Prozeß verdeutlichen.
Reichhaltiges Beweismaterial spricht heute zugunsten der schon 1928 von Garstang
vorgebrachten Theorie, daß die Chordatiere – und somit auch wir, die Wirbeltiere – von
der larvalen Phase eines primitiven Stachelhäuters abstammen, der vielleicht dem Seei-
gel oder der Seewalze ähnelte. Freilich scheint die ausgewachsene Seewalze nicht gera-
de ein Ahne zu sein, für den man sich begeistern könnte – sie ist eine träge Kreatur, die
auf dem Meeresgrund liegt und wie eine schlecht gefüllte Wurst mit lederartiger Haut

110
aussieht. Ihre frei schwimmende Larve erscheint jedoch erheblich vielversprechender:
im Gegensatz zur ausgewachsenen Seewalze ist die Larve bilateral symmetrisch gebaut
wie ein Fisch; sie hat ein Ziliarband – einen Vorläufer des Nervensystems – und einige
weitere differenzierte Merkmale, die man beim ausgewachsenen Tier nicht mehr vor-
findet. Wir müssen annehmen, daß das ausgewachsene Tier, das seßhaft auf dem Mee-
resboden ruht, auf die mobilen Larven angewiesen war, um diese Spezies in den Ge-
wässern des Ozeans auszubreiten, ähnlich wie etwa Pflanzen ihre Samen im Wind ver-
streuen; daß ferner die Larven, die auf sich angewiesen und einem weit stärkeren Selek-
tionsdruck ausgesetzt waren als die ausgewachsenen Tiere, dadurch allmählich immer
fischähnlicher wurden; daß sie schließlich die sexuelle Reife erreichten, während sie
sich noch in der frei schwimmenden larvalen Phase befanden – und daß sie auf diese
Weise eine neue Tierform hervorbrachten, die sich nicht mehr auf dem Meeresgrund
niederließ, und die senile, seßhafte Seewalzenphase völlig aus ihrem Lebensablauf eli-
minierten.
Die Beschleunigung der sexuellen Reife im Verhältnis zur Entwicklung des übrigen
Körpers oder, anders ausgedrückt, die allmähliche Verzögerung der körperlichen Ent-
wicklung über das Alter der sexuellen Reife hinaus ist ein bekanntes Evolutionsphäno-
men, das man als Neotenie (Eintritt der Geschlechtsreife im Larvenzustand) bezeichnet.
Sie führt im Endeffekt dazu, daß das Tier beginnt, Nachkommenschaft hervorzubringen,
während es sich noch im larvalen oder im Jungtierzustand befindet; häufig kommt es
dabei vor, daß das ausgereifte Erwachsenenstadium niemals erreicht wird, es wird aus
dem Lebenszyklus abgestoßen.
Diese Tendenz zu einer verlängerten Kindheit mit der korrespondierenden Abstoßung
der späten Erwachsenenstadien stellt so etwas wie eine Verjüngung und Entspezialisie-
rung der betreffenden Tierfamilie dar – einen Ausweg aus der Sackgasse im Irrgarten
der Evolution.*
* Mr. D. Lang Stevenson möchte ich hier dafür danken, daß er mich auf Garstangs Arbeiten aufmerksam
gemacht hat.
J. Z. Young, der Garstangs Ansichten teilt, schreibt:
Die Frage, die noch zu klären ist, heißt in Wirklichkeit nicht: »Wie
haben sich die Wirbeltiere aus Seescheiden gebildet?«, sondern: »Wie
haben die Wirbeltiere das (erwachsene) Seescheidenstadium aus ih-
rem Lebensablauf eliminiert?« Es ist durchaus berechtigt, anzuneh-
men, daß das mit Hilfe der Pädomorphose geschah.87
Die Neotenie bedeutet in der Tat so etwas wie ein Neuaufziehen der biologischen Uhr,
wenn die Evolution Gefahr läuft, abzulaufen und zum Stillstand zu kommen. Gavin de
Beer hat die klassische Auffassung von der Evolution (wie sie sich zum Beispiel in
Huxleys Metapher vom Labyrinth ausdrückt) mit der klassischen Theorie vom Univer-
sum als einem mechanischen Uhrwerk verglichen.
Nach dieser Auffassung würde die Phylogenese sich allmählich ver-
langsamen und schließlich ganz zum Stillstand kommen. Der be-
treffende Stamm wäre nicht mehr in der Lage, sich noch weiterzu-
entwickeln, und würde sich in einem Zustand befinden, den man mit
dem Begriff »rassische Seneszenz« bezeichnet. Man könnte unter die-
sen Umständen nur schwer begreifen, wie die Evolution so viele
phylogenetische Entwicklungen im Tierreich hat hervorbringen kön-
nen, und man müßte zu dem Schluß kommen, daß die Evoluti-
onsuhr langsam abzulaufen beginnt. Ein solcher Stand der Dinge
würde uns vor ein Dilemma stellen, das eine gewisse Analogie zu
dem Dilemma aufweist, das sich aus der Theorie ergibt, das Univer-
sum sei einmal in Gang gesetzt worden, und sein freier Energievorrat

111
gehe nun langsam, aber unwiderruflich zur Neige. Wir wissen nicht,
wie im physikalischen Universum der Energievorrat wieder aufgela-
den wird, es hat aber den Anschein, als sei der analoge Prozeß dazu
im Bereich der organischen Evolution die Pädomorphose. Ein Stamm
kann sich verjüngen, indem er das Erwachsenenstadium seiner Indi-
viduen vom Ende ihrer Ontogenesen abstößt; danach könnte sich ein
solcher Stamm nach allen Richtungen hin strahlenförmig ausbreiten,
... bis schließlich die auf die Gerontomorphose (siehe unten) zurück-
zuführende rassische Seneszenz erneut einsetzt.88
Durch die »Verjüngung« des Stammes ergibt sich die Möglichkeit, daß die evolutionä-
ren Veränderungen auf die frühen, noch formbaren Phasen der Ontogenese einwirken
können: daher der Begriff Pädomorphose, »Formung des Jungen«. Im Gegensatz dazu
besteht die Gerontomorphose (nach dem griechischen geros = Greisenalter) aus der
Modifizierung voll ausgewachsener Strukturen, die bereits stark spezialisiert sind.*
* Das Wort »Gerontomorphose« wurde von de Beer geprägt, als Kontrastbegriff zu Garstangs »Pädomor-
phose«.
Das hört sich wie eine bloß fachtechnische Unterscheidung an, ist aber in Wirklichkeit
von entscheidender Bedeutung. Die Gerontomorphose kann nicht zu radikalen Verände-
rungen und zu einem Neubeginn führen; sie kann nur eine bereits stark spezialisierte
Entwicklungsreihe noch einen Schritt weiter in die gleiche Richtung führen – und das
bedeutet in der Regel: in eine Sackgasse des evolutionären Labyrinths. Noch einmal sei
hier de Beer zitiert:
Die Begriffe Gerontomorphose und Pädomorphose bezeichnen also
nicht nur die Phase im Lebensablauf eines Tieres, mit der sie sich
befassen, sondern sie weisen auch auf die rassische Seneszenz und
Verjüngung hin.
Es ist interessant, festzustellen, daß Child89 auf Grund von Erwägungen, die auf ganz
anderen Gedankengängen beruhen, zu einer ähnlichen Auffassung kam:
Wenn die Evolution gewissermaßen aus der säkularen Differenzie-
rung und Seneszenz des Protoplasmas besteht, dann darf man auch
die Möglichkeit einer evolutionären Verjüngung nicht übersehen.
Möglicherweise läßt sich der relativ rasche Anstieg und Aufstieg be-
stimmter Formen im Verlauf der Evolution als Ausdruck von Prozes-
sen dieser Art erklären.90

12.3 Anlauf zum Sprung


Es hat den Anschein, als habe sich dieses Rückgängigmachen von Schritten, um einen
Ausweg aus den Sackgassen des Irrgartens zu finden, an jedem entscheidenden Wende-
punkt der Evolution wiederholt. Die Evolution von Wirbeltieren aus der larvalen Form
eines primitiven Stachelhäuters wurde bereits erwähnt. Die Insekten haben sich aller
Wahrscheinlichkeit nach aus einem tausendfüßlerähnlichen Anzestor entwickelt – aller-
dings nicht aus erwachsenen Tausendfüßlern, deren Struktur bereits allzu stark speziali-
siert ist, sondern aus ihren larvalen Formen. Die Eroberung des trockenen Festlandes
wurde durch Amphibien eingeleitet, deren Anzestoren bis auf eine ganz primitive Form
der Lungenfische zurückgehen; dagegen endete die Entwicklung der späteren, hochspe-
zialisierten Kiemfische durchwegs in Sackgassen. Die gleiche Geschichte wiederholte
sich bei der nächsten entscheidenden Etappe, bei den Reptilien: sie leiten sich von frü-
hen, primitiven Amphibienarten ab und nicht von den späten, uns bekannten Formen.

112
Schließlich kommen wir zum eindrucksvollsten Fall von Pädomorphose, zur Evolution
unserer eigenen Spezies. Es wird heute allgemein anerkannt, daß der erwachsene
Mensch mehr dem Embryo eines Affen ähnelt als einem ausgewachsenen Affen. So-
wohl beim Embryo des Menschenaffen als auch beim erwachsenen Menschen ist das
Gewichtsverhältnis vom Gehirn zum Gesamtkörper unverhältnismäßig hoch. Bei beiden
verzögert sich die Schließung der Suturen zwischen den Schädelknochen, um eine Aus-
dehnung des Gehirns zu ermöglichen. Die Achse durch den menschlichen Kopf – das
heißt die Richtung seiner Sehlinie – steht im rechten Winkel zu seiner Wirbelsäule, eine
Anordnung, die man bei Affen und anderen Säugetieren nur im Embryonalzustand vor-
findet, nicht jedoch im Erwachsenenstadium. Das gleiche gilt auch für den Winkel zwi-
schen dem Rückgrat und dem Urogenitalkanal – woraus sich erklärt, daß der Mensch als
einziges Wesen den Geschlechtsverkehr von Angesicht zu Angesicht vollzieht. Weitere
embryonale – oder, um Bolks Ausdruck zu gebrauchen, fötale Merkmale beim erwach-
senen Menschen sind: das Fehlen von Augenbrauenwülsten; die Spärlichkeit und das
späte Auftreten der Körperbehaarung; die Blässe der Haut; das verzögerte Wachstum
der Zähne sowie eine Reihe weiterer Merkmale – darunter auch »die rosigen Lippen des
Menschen, die sich vermutlich als Adaptation an das prolongierte Säugen entwickelt
haben und dann – möglicherweise unter dem Einfluß der geschlechtlichen Selektion –
im Erwachsenenzustand erhalten geblieben sind« (d de Beer).91
»Wenn die Evolution des Menschen sich nach den gleichen Prinzipien fortsetzen sollte
wie in der Vergangenheit«, sagt J. B. S. Haldane, »dann wird sie vermutlich zu einer
noch weitgehenderen Prolongation der Kindheit und zu einer weiteren Verzögerung des
Reifungsprozesses führen. Einige der Eigenschaften, die den erwachsenen Menschen
auszeichnen, werden dann wohl verlorengehen.«92 Es gibt dabei allerdings auch eine
Kehrseite der Medaille, auf die Aldous Huxley in einem seiner späteren pessimistischen
Romane hingewiesen hat: die künstliche Verlängerung der absoluten Lebensspanne des
Menschen könnte dazu führen, daß Merkmale der ausgewachsenen Primaten bei sehr
alten Leuten wiederauftauchen: Methusalem würde sich in einen behaarten Affen ver-
wandeln.* Diese gespenstische Perspektive ist jedoch für unser Thema nicht relevant.
* Huxley, NACH VIELEN SOMMERN: »Manche physischen Merkmale bei sehr alten Leuten scheinen darauf
hinzudeuten, daß die Gene, die eine solche Transformation bewirken konnten, in unseren Keimdrüsen
immer noch existieren, daß sie aber durch die Neotenie daran gehindert sind, aktiv zu sein. Daraus muß
man schließen, daß die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne nur dann wünschenswert ist, wenn
sie gleichzeitig von Techniken begleitet wird, die einen parallelen Einfluß auf die genetische Kontrolluhr
ausüben.«
Das charakteristische an der Pädomorphose ist das Zurückweichen der Evolution von
den spezialisierten Erwachsenenformen der Körperstruktur und des Verhaltensmodus
auf eine frühere, primitivere, zugleich aber auch formbarere und weniger festgelegte
Entwicklungsphase – ein Rückzug, auf den dann ein plötzlicher Vorstoß in einer neuen
Richtung folgt. Es ist, als hätte der Lebensstrom zeitweilig seine Richtung umgekehrt
und sei bergauf geflossen, um sich dann in ein neues Flußbett zu ergießen. Ich werde
versuchen, zu zeigen, daß dieses reculer pour mieux sauter – ein Zurückweichen, um
Anlauf zum Sprung zu nehmen – eine entscheidende Rolle in der Strategie des Evoluti-
onsprozesses spielt; und daß ähnliche Erscheinungen auch bei den Fortschritten im Be-
reich der Kunst und der Wissenschaft vorkommen.
Abbildung 9 stammt aus Garstangs Originalabhandlung93 und soll den Fortschritt der
Evolution auf Grund der Pädomorphose verdeutlichen. Z bis Z 9 stellt die Progression
von Zygoten (befruchteten Eiern) entlang der Evolutionsleiter dar; A bis A 9 gibt die
Erwachsenenformen wieder, die aus jeder Zygote hervorgehen. So stellt die Linie, die
von Z 4 nach A 4 führt, die Ontogenese dar, die Transformation eines Eies in ein er-
wachsenes Geschöpf; die punktierte Linie von A nach A 9 repräsentiert die Phylogenese
– die Evolution von höheren Formen. Aber die dünnen Linien, die den evolutionären
Fortschritt kennzeichnen, führen nicht direkt von, sagen wir, A 4 nach A 5 – das wäre

113
eine Gerontomorphose, die evolutionäre Transformation einer Erwachsenen-Form. Die
Progressionslinie zweigt vom unfertigen, embryonalen Stadium A 4 ab. Das stellt eine
Art evolutionären Rückzugs von dem fertigen auf den unfertigen Zustand dar und einen
Vorstoß in Richtung auf die evolutionäre Neuheit Z 5 – A 5. A 4 könnte zum Beispiel
eine ausgewachsene Seewalze sein: dann wäre der Abzweigungspunkt auf der Linie A 4
– Z 4 ihre Larve; oder aber A 8 könnte der Primatenanzestor des Menschen sein und der
Abzweigungspunkt sein Embryo, der so viel stärker A 9 ähnelt – uns selbst.

Abbildung 9: (Nach Garstang); siehe Text.


Garstangs Diagramm könnte aber auch einen fundamentalen Aspekt in der Evolution
von Ideen darstellen. Das Auftauchen von biologischen Neuheiten und die Schöpfung
von geistigen Neuheiten sind Prozesse, die gewisse Analogien aufweisen. Es ist natür-
lich eine Binsenwahrheit, daß bei der geistigen Evolution das soziale Erbgut (mündlich
oder schriftlich) an die Stelle des genetischen Erbguts tritt. Die Analogie ist jedoch tie-
fergreifend: weder die biologische Evolution noch der geistige Fortschritt folgen einer
kontinuierlichen Linie, etwa von A 6 nach A 7. Keiner der beiden Prozesse ist im stren-
gen Wortsinn kumulativ – in dem Sinn nämlich, daß eine Generation dort weiterbaut,
wo die vorige Generation aufgehört hat. Beide Prozesse vollziehen sich in dem im Dia-
gramm gezeigten Zickzackkurs. Die revolutionären Umwälzungen in der Geschichte der
Wissenschaft sind erfolgreiche Ausbrüche aus Sackgassen. Kontinuierlich verläuft die
Evolution der Wissenschaft nur während der Perioden der Konsolidierung und Ausar-
beitung, die stets auf einen größeren Durchbruch folgen. Früher oder später führt jedoch
die Konsolidierung in zunehmende Starrheit und Orthodoxie und damit in die Sackgasse
der Überspezialisierung, zum Koalabären. Schließlich kommt es zu einer Krise und zu
einem neuen »Ausbruch« aus der Sackgasse – gefolgt von einer weiteren Periode der
Konsolidierung und einer neuen Orthodoxie; und so fort.
Aber die neue Theorie, die aus der Umwälzung hervorgeht, baut sich nicht auf dem al-
ten Lehrgebäude auf; sie zweigt von demjenigen Punkt ab, an dem es mit ihrem Vorläu-

114
fer schiefging. Die großen revolutionären Wendepunkte in der Evolution der Ideen las-
sen einen entschieden pädomorphen Charakter erkennen. Jede Zygote im Diagramm
würde in diesem Fall die schöpferische Keimidee darstellen, den Samen, aus dem sich
eine neue Theorie entwickelt, bis sie ihr voll ausgereiftes Stadium erreicht hat. Man
könnte diesen Vorgang als die Ontogenese einer Theorie bezeichnen. Die Geschichte
der Wissenschaft besteht aus einer Reihe derartiger Ontogenesen. Echte Neuerungen
leiten sich nicht unmittelbar aus einer vorausgegangenen ausgereiften Theorie ab, son-
dern aus einer neuen schöpferischen Keimidee – nicht vom seßhaften Seeigel, sondern
aus einer mobilen Larve. Nur in den friedlichen Perioden der Konsolidierung begegnen
wir der Gerontomorphose – kleinen Verbesserungen an einer voll ausgereiften, wohl-
etablierten Theorie.
In der Geschichte der Literatur und der Kunst tritt der Zickzackkurs noch augenfälliger
in Erscheinung. Garstangs Diagramm hätte auch entworfen sein können, um zu zeigen,
wie Perioden kumulativer Progression innerhalb einer bestimmten Schule und Technik
unvermeidlich in Stagnation, Manierismus oder Dekadenz enden, bis die Krise schließ-
lich durch eine revolutionäre Neuorientierung des Empfindens, der Emphase oder des
Stils wieder behoben wird.*
* Siehe THE ACT OF CREATION, Buch I, Kapitel 10 und 23.
Auf den ersten Blick mag diese Analogie etwas weit hergeholt erscheinen; ich werde
versuchen zu zeigen, daß sie eine solide faktische Basis hat. Die biologische Evolution
ist weitgehend eine Geschichte von Ausbrüchen aus den Sackgassen der Überspeziali-
sierung, die Evolution von Ideen eine Folge von Ausbrüchen aus der Versklavung durch
Denkgewohnheiten; der Mechanismus basiert in beiden Fällen auf dem Prinzip von Ab-
bau, Neuformung, Rückzug und Vorstoß.

12.4 Zusammenfassung
Nach diesem antizipatorischen Exkurs wollen wir zum letztenmal zu unserem Aus-
gangspunkt zurückkehren: zum Affen an der Schreibmaschine. Nach der orthodoxen
Evolutionstheorie müßte der Affe nach dem Prinzip des Zufalltreffens operieren, ebenso
wie die geistige Evolution – nach behavioristischer Doktrin – von günstigen Zufällen
abhängt. In beiden Fällen wird der Fortschritt durch Belohnungen und Strafen sicherge-
stellt: die erfolgreichen Mutationen und Manipulationen werden festgehalten, die miß-
lungenen ausgemerzt.
Die hier vorgeschlagene Alternativauffassung leugnet keinesfalls, daß das Prinzip von
Versuch und Irrtum ein inhärenter Faktor in jeder progressiven Entwicklung ist. Aber es
besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen den Zufallsversuchen des Affen an der
Schreibmaschine und den verschiedenen zielgerichteten Prozessen, die in den vorausge-
henden Kapiteln dargelegt wurden – beginnend mit den hierarchischen Kontrollen im
Genkomplex und kulminierend in dem »Rückzug und Vorstoß« der Pädomorphose. Die
orthodoxe Theorie postuliert eine Art tibetanischer Gebetsmühle, die so lange Mutati-
onsversuche herunterleiert, bis sie durch Zufall das Richtige trifft. Versuch und Irrtum
spielen in der Evolution zweifellos eine wesentliche Rolle – jeder Ausweg aus der
Sackgasse, dem ein neuer Ausbruch folgt, entspricht ja diesem Prinzip –, aber auf eine
ungleich komplexere, subtilere und zielgerichtetere Art: es geht um ein Tasten und Er-
kunden, ein Zurückweichen und Vorrücken auf höhere Daseinsformen zu. Um H. J.
Muller nochmals zu zitieren:
Zielstrebigkeit ist nicht etwas, was in die Natur hineinprojiziert wur-
de ... Sie ist in ihr einfach implizite enthalten.94
Jedes der in den vorangehenden Kapiteln erwähnten Phänomene ist an sich seit einiger
Zeit bekannt gewesen, aber von den Anhängern der orthodoxen Evolutionstheorie über-

115
wiegend ignoriert worden. Faßt man jedoch diese isolierten Phänomene zu einer Syn-
these zusammen, dann lassen sie das Evolutionsproblem in einem neuen Licht erschei-
nen. Es mag einen Affen geben, der auf der Schreibmaschine draufloshämmert, aber
diese Maschine ist so organisiert, daß sie über den Affen triumphiert. Die Evolution ist
ein Prozeß, der sich nach festen Spielregeln vollzieht, aber mit Hilfe flexibler Strategi-
en. Die Spielregeln sind durch die Lebensverhältnisse auf unserem Planeten bedingt, sie
beschränken die Höherentwicklung auf eine begrenzte Anzahl von gangbaren Wegen;
gleichzeitig strebt jedoch die gesamte lebendige Materie nach der optimalen Nutzbar-
machung der gebotenen Möglichkeiten. Das Wirken dieser beiden Faktoren manifestiert
sich auf jedem Niveau: in der Mikrohierarchie des Genkomplexes, der Kanalisierung
bei der embryonalen Entwicklung und ihrer Stabilisierung durch die ontogenetische
Homeostase. Homologe Organe – evolutionäre Holons – und parallele Tierformen ent-
stehen unabhängig voneinander und stellen die archetypische Einheit-in-der-Vielfalt
dar. Die Initiative des Tieres, seine Neugier, sein Exploriertrieb wirken als Schrittma-
cher der Entwicklung; in seltenen Fällen mag sie auch durch einen Quasi-Larmarck-
schen Vererbungsmechanismus begünstigt werden; die Pädomorphose bietet einen Aus-
weg aus Sackgassen und eröffnet neue Entwicklungsbahnen; und schließlich wirkt auch
die Darwinsche Selektion innerhalb ihres begrenzten Spielraums.
Die günstige Zufallsmutation spielt jetzt nur noch die Rolle des Auslösers, der die koor-
dinierte Tätigkeit des Systems in Gang setzt; und wer behauptet, die Evolution sei das
Produkt blinder Zufälle, der verwechselt die simple Aktion des Auslösers mit den kom-
plexen, zielgerichteten Prozessen, die er auslöst. Ihr Zielgerichtetsein manifestiert sich
auf verschiedenen Stufen der Hierarchie in verschiedener Weise; auf jeder Stufe ist das
Prinzip von Versuch und Irrtum wirksam, nimmt aber immer komplexere Formen an.
Vor einigen Jahren verursachten zwei hervorragende Experimentalpsychologen, Tolman
und Krechevsky, einigen Aufruhr, als sie verkündeten, die Ratte lerne aus dem Laby-
rinth herauszukommen, indem sie bestimmte Hypothesen aufstelle.95 Vielleicht wird es
bald statthaft sein, auf analoge Art zu sagen, der Fortschritt der Evolution sei bedingt
durch das Aufstellen und Verwerfen von Hypothesen im Verlauf der schrittweisen Kon-
kretisierung einer Idee.

116
13 Der Mensch als Schöpfer
Wir alle liegen in der Gosse,
aber einige von uns blicken nach den Sternen.
Oscar Wilde
Die Aktivitäten von Tieren und Menschen reichen von maschinenhaften Automatismen
bis zur erfinderischen Improvisation.* Eine monotone Umwelt führt zur Mechanisie-
rung von Gewohnheiten und zur stereotypen Routine, die, unter den gleichen einförmi-
gen Bedingungen wiederholt, dem gleichen einförmigen Kurs folgen. Der Pedant, der
zum Sklaven seiner Gewohnheiten geworden ist, denkt und handelt wie ein auf Schie-
nen montierter Automat, sein biologisches Äquivalent ist das überspezialisierte Tier –
der gute Beutelbär, der sich an seinen Eukalyptusbaum klammert.
* Siehe Kapitel 8.
Anderseits stellt uns eine abwechslungsreiche, variable Umwelt vor Aufgaben, die sich
nur durch flexibles Verhalten, variable Taktiken und einen wachen Sinn für die Ausnut-
zung günstiger Mögltchkeiten bewältigen lassen. Die biologische Parallele dazu stellen
die evolutionären Strategien dar, die wir in den vorausgehenden Kapiteln erörtert haben.
Die Herausforderung durch die Umwelt kann jedoch eine kritische Grenze überschrei-
ten, so daß sie mit den üblichen Fertigkeiten des Organismus nicht mehr zu bewältigen
ist. In einer derartigen Krise – sowohl die biologische Evolution als auch die Geschichte
des Menschen sind durchsetzt von solchen – kann eine der beiden folgenden Möglich-
keiten eintreten. Die erste ist degenerativ: sie führt je nach Lage der Dinge zu Stagnati-
on, zu biologischer Seneszenz oder zum plötzlichen Aussterben. Im Verlauf der Evolu-
tion hat sich das endlos wiederholt; auf jede überlebende Spezies kommen hundert an-
dere, die den Test nicht bestanden haben. In Teil III dieses Buches werden wir die
Möglichkeit erörtern, daß unsere eigene Spezies sich gegenwärtig in einer solchen Krise
befindet und der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt ist, den Test nicht zu bestehen.
Die Alternativmöglichkeit, auf eine kritische Situation zu reagieren, ist regenerativ im
weitesten Sinne des Wortes: sie bedingt eine umfassende Reorganisation der Struktur
und des Verhaltens, die nicht nur die Krise bewältigt, sondern darüber hinaus zu biolo-
gischem oder geistigem Fortschritt führt. In beiden Fällen dient das Prinzip vom »Rück-
zug und Vorstoß« als Grundlage des Regenerationsprozesses, der schöpferische Poten-
tiale, die in der normalen Daseinsroutine ungenutzt bleiben, aktiviert. Bei der Phyloge-
nese sind alle größeren Fortschritte auf die Aktivierung des embryonalen Potentials
durch die Pädomorphose zurückzuführen. Bei der geistigen Evolution scheint sich an
jedem entscheidenden Wendepunkt ein analoger Prozeß abzuspielen. Das Bindeglied
zwischen dem Auftauchen biologischer Neuheiten und dem geistiger Neuheiten ist die
Fähigkeit der Selbsterneuerung, eine der Grundeigenschaften der lebendigen Organis-
men. Sie ist von ebenso fundamentaler Bedeutung wie die Fähigkeit zur Fortpflanzung;
bei einigen niederen Organismen, die sich ungeschlechtlich vermehren, sind die beiden
häufig überhaupt nicht voneinander zu unterscheiden.

117
13.1 Formen der Selbsterneuerung
Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muß man schrittweise vorgehen, von den pri-
mitiven zu den höheren Tieren und schließlich zum Menschen. Needham bezeichnete
die Regeneration als »einen der spektakulären Zaubertricks im Repertoire der lebendi-
gen Organismen«.96 Seine eindrucksvollsten Manifestationen findet man bei den niede-
ren Kreaturen wie Plattwürmern und Polypen. Schneidet man einen Plattwurm quer in
zwei Teile durch, dann wächst am Kopfende ein neuer Schwanzteil nach und am
Schwanzende ein neuer Kopf; selbst wenn man ihn in sechs oder mehr Teile zerschnei-
det, kann sich jeder einzelne Wurmteil zu einem vollständigen Tier regenerieren.
Bei den höheren Tieren sind die Amphibien imstande, ein verlorenes Glied oder Organ
zu regenerieren. Amputiert man einem Salamander ein Bein, dann entdifferenzieren sich
die Gewebe in der Nähe der Wundoberfläche und nehmen das Aussehen von embryo-
nalen Zellen an.97 Etwa am vierten Tag bildet sich ein Blastem beziehungsweise eine
»Regenerationsknospe«, ähnlich der »Organknospe« beim normalen Embryo; von da an
vollzieht sich der Prozeß weitgehend nach dem Muster der embryonalen Entwicklung.
Die Region des Amputationsstumpfes hat sich zu einer Art Embryonalzustand zurück-
entwickelt und entfaltet ein genetisches Wachstumspotential, das bei normalen Gewe-
ben im Erwachsenenzustand blockiert ist.*
* Genaugenommen
98
ist der Ursprung der Materie, die das Blastem bildet, noch etwas umstritten. Nach
Hamburger besteht sie teils aus entdifferenzierten Zellen, teils aus undifferenzierten, mesenchymartigen
Bindegewebszellen, die eine ähnliche Funktion erfüllen wie die »Reserve«- beziehungsweise »Regenera-
tionszellen« bei primitiven Organismen.
Ich habe (siehe Seite 83) den Genkomplex in einer spezialisierten Zelle mit einem Piano
verglichen, bei dem die meisten Tasten mit einem Klebestreifen unbrauchbar gemacht
sind; regenerierende Gewebe haben jedoch die gesamte Tastatur zur Verfügung. Der
»Zauber« der Selbsterneuerung besteht also aus einer regressiven (katabolischen) und
einer progressiven (anabolischen) Phase; also wieder »Rückzug und Vorstoß«. »Das
Trauma spielt bei der Regeneration eine ähnliche Rolle wie die Befruchtung bei der
embryonalen Entwicklung« (H Hamburger):99 der Schock löst die schöpferische Reaktion
aus.
Die Neubildung eines verlorenen Gliedes oder eines verlorenen Auges ist ein Phänomen
ganz anderer Art als die adaptiven Prozesse in einer normalen Umwelt. Man könnte die
Regeneration als »Meta-Adaption« auf ein traumatisches Erlebnis bezeichnen. Aber die
Gabe, dergleichen Kunststücke auszuführen, manifestiert sich nur in kritischen Situatio-
nen. Die Fähigkeit zur Regeneration ist also für die Spezies eine Art zusätzlicher Si-
cherheitsvorsorge, die erst in Aktion tritt, wenn die normalen adaptiven Maßnahmen
versagen – so wie die hydraulischen Stoßdämpfer eines Autos erst in Aktion treten,
wenn das Elastizitätslimit der Federung überschritten wird.
Es handelt sich jedoch um mehr als eine bloße Sicherheitsanlage: wir haben ja gesehen,
daß auch die Phylogenese mit Hilfe gelegentlicher Rückzüge vom Erwachsenenstadium
auf embryonale Formen operiert. Die Entwicklung, die zu unserer Spezies geführt hat,
könnte man in der Tat als eine Reihe von Operationen phylogenetischer Selbsterneue-
rung bezeichnen: jede stellte eine Rettung aus einer Sackgasse dar durch Abbau und
Neuformung alter Strukturen.*
* Offensichtlich bringt die Selbsterneuerung beim einzelnen Tier keine evolutionäre Neuheit hervor; sie
stellt nur seine Fähigkeit wieder her, in einer stabilen Umwelt normal zu funktionieren; dagegen impli-
ziert die »phylogenetische Selbsterneuerung« evolutionäre Anpassungen an eine sich verändernde Um-
welt.
Steigen wir die Evolutionsleiter höher hinauf, vom Reptil zum Säugetier, so stellen wir
fest, daß die Fähigkeit zur Regeneration körperlicher Strukturen abnimmt und ersetzt

118
wird durch die zunehmende Fähigkeit des Nervensystems, das Verhalten zu reorganisie-
ren. Vor mehr als einem Jahrhundert hat der deutsche Physiologe Eduard Pflüger de-
monstriert, daß selbst ein geköpfter Frosch nicht bloß ein Reflexautomat ist. Ließ man
einen Säuretropfen auf die Rückseite seines linken Vorderbeins fallen, dann wischte er
ihn mit dem auf derselben Seite befindlichen Hinterbein weg – das ist der normale Spi-
nalreflex. Immobilisierte man jedoch das linke Hinterbein, dann benutzte der Frosch
statt dessen das rechte Hinterbein, um die Säure wegzuwischen. So erweist sich selbst
die »kopflose« Kreatur – man bezeichnet sie euphemistisch als »Spinalpräparat« – als
durchaus fähig zur Improvisation, wenn sie an der Reflexaktion gehindert wird.
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts untergruben die Experimente K. S. Lashleys
und seiner Mitarbeiter die alte Vorstellung, das Nervensystem sei ein starrer Mechanis-
mus. »Die Ergebnisse«, schrieb Lashley, »zeigen deutlich: wird die Funktionsweise der
bei der Ausübung einer Fertigkeit gewöhnlich benutzten motorischen Organe durch Ent-
fernung oder Paralyse blockiert, so treten sofort und spontan andere motorische Systeme
in Aktion, die vorher mit der Ausführung der betreffenden Tätigkeit nichts zu tun hat-
ten.«100 Der Frosch, der beim Kratzreflex das rechte statt des linken Hinterbeins be-
nutzte, ist dafür ein gutes Beispiel; Lashley zeigte, daß das Nervensystem noch zu viel
überraschenderen Leistungen fähig ist; daß Partien des Gehirngewebes, die normaler-
weise eine spezielle Funktion haben, unter gewissen Umständen die Funktion anderer,
beschädigter Partien des Gehirngewebes übernehmen können – ähnlich wie in einem
Bienenstock die Nahrungssucher die Funktionen der aus dem Stock entfernten »Bauar-
beiter« übernehmen (siehe Seite 74 unten ff). Ich will hier nur eines von vielen Bei-
spielen anführen: Lashley trainierte Ratten, zwischen zwei Alternativzielen stets das
relativ hellere Ziel zu wählen. Dann entfernte er das Sehfeld der Ratten, und wie zu
vermuten war, ging ihr optisches Unterscheidungsvermögen verloren. Aber im Gegen-
satz zu dem, was man erwarten würde, waren die verstümmelten Ratten trotzdem in der
Lage, die gleiche Fertigkeit noch einmal zu erwerben. Eine andere Gehirnregion, die
normalerweise nicht auf visuelle Lernvorgänge spezialisiert war, muß die Funktion der
entfernten Gehirnregion übernommen haben.
Eine Ratte, die gelernt hatte, den Weg durch ein Labyrinth zu finden, wird auch dann
dem richtigen Weg folgen, wenn Teile ihrer motorischen Hirnrinde – gleichviel, welche
Teile – beschädigt sind; wenn die Läsion sie unfähig macht, eine Rechtswendung auszu-
führen, dann erreicht sie ihr Ziel durch eine Dreiviertelwendung nach links. Die Ratte
kann blind, ihres Geruchsinns beraubt oder auf verschiedene Weise teilgelähmt sein –
jede dieser Schädigungen müßte den Kettenreflexautomaten, der sie angeblich sein soll,
völlig außer Betrieb setzen; sie ist es aber nicht! »Eine schleppt sich mit ihren Vorder-
pfoten (durch das Labyrinth) hindurch; eine andere fällt bei jedem Schritt hin, und doch
kommt sie schließlich mit Hilfe einer Reihe von Sprüngen durch; eine dritte überschlägt
sich bei jeder Wendung, aber sie vermeidet es, in die Sackgassen hineinzurollen, und
absolviert einen fehlerlosen Lauf.«101

119
13.2 Höhere Formen der Selbsterneuerung
An der Spitze der Leiter angelangt, müssen wir feststellen, daß beim Menschen die Fä-
higkeit zur physischen Regeneration auf ein Minimum reduziert ist, aber dieser Mangel
wird kompensiert durch seine einzigartige Fähigkeit zur Umstrukturierung seiner Ver-
haltensweisen, um kritische Situationen durch schöpferische Reaktionen zu meistern.
Selbst auf dem Niveau der elementaren Wahrnehmung finden wir diese Fähigkeit be-
stätigt: in dem Experiment mit der Umkehrbrille, die die Welt auf den Kopf stellt (siehe
Seite 56). Experimente ähnlicher Art hat man auch mit Tieren durchgeführt; sie über-
winden diese »Milieustörung« nie. Menschen mit Umkehrbrillen dagegen kommen dar-
über hinweg. Zunächst ist man völlig verwirrt: man erblickt den eigenen Körper auf den
Kopf gestellt, die Füße haften an einem Fußboden, der zur Decke des Raumes geworden
ist. Bei Gläsern mit seitlicher Umkehrwirkung versucht man, sich von einer Mauer zu
entfernen – und stößt prompt in sie hinein. Nach einiger Zeit – es kann mehrere Tage
dauern – gewöhnt sich jedoch der Mensch daran, in der verkehrten Welt zu leben, und
sie erscheint ihm wieder mehr oder minder normal. Das Netzhautbild und seine Projek-
tion in der optischen Hirnrinde sind zwar immer noch auf den Kopf gestellt, aber dank
der Intervention der höheren Instanzen in der Hierarchie ist das geistige Vorstellungs-
bild reorganisiert worden. Nach dem augenblicklichen Stand unseres Wissens kann die
Physiologie keine zufriedenstellende Erklärung für dieses Phänomen geben. Alles, was
man sagen kann, ist: Wenn die Orientierung und die motorischen Reaktionen auf opti-
sche Wahrnehmungen von den Schaltanlagen in unserem Gehirn abhängig sind, dann
muß das Leben in einer umgekehrten Welt einen gründlichen Abbau und Neuaufbau der
Stromkreise erfordern.
Umkehrbrillen sind Apparate mit drastischer Wirkung; aber die meisten von uns gehen
durch das Leben mit Kontaktlinsen auf den Augen, deren wir uns nicht bewußt sind und
die unsere Wahrnehmungen auf subtilere Weisen verfälschen. Die Psychotherapie alter
und neuer Schule, vom Schamanismus angefangen bis zu den zeitgenössischen Metho-
den der analytischen und der Abreagierungstechniken, hat sich immer auf jene Spielart
des Abbau-und-Neuaufbau-Prozesses gestützt, die Ernst Kris als »Regression im Dien-
ste des Ichs« bezeichnet hat.102 Der Neurotiker mit seinen Zwangsvorstellungen, seinen
Phobien und seinen komplizierten Abwehrmechanismen ist ein Opfer einer starren Spe-
zialisierung – ein armer Beutelbär, der sich angsterfüllt an einen kahlen Telegraphen-
mast klammert. Ziel des Therapeuten ist, im Patienten eine zeitliche Regression herbei-
zuführen: er soll seine Schritte bis zu jenem Punkt rückgängig machen, an welchem er
in die Irre ging, und danach verwandelt und neugeboren in die Zukunft schreiten.
Das gleiche Prinzip spiegelt sich in zahlreichen Varianten des Tod- und Auferstehungs-
Motivs in der Mythologie wider. Joseph wird in einen Brunnen geworfen; Mohammed
geht hinaus in die Wüste; Jesus steht aus seinem Grabe auf; Jonas wird aus dem Bauch
des Walfisches wiedergeboren. Goethes »Stirb und Werde«, Toynbees »Withdrawal and
Return«, des Mystikers dunkle Nacht der Seele, die der spirituellen Wiedergeburt vor-
ausgeht: sie alle leiten sich aus dem gleichen Archetypus ab – aus dem Schritt zurück,
um Anlauf zum Sprung zu nehmen. (Das französische reculer pour mieux sauter drückt
es eleganter aus.)

120
13.3 Selbstheilung und Selbstverwirklichung
Es gibt keine scharfe Trennungslinie zwischen Selbstheilung und Selbstverwirklichung.
Jede schöpferische Tätigkeit ist eine Art Do-it-yourself-Therapie, ein Versuch, mit
traumatisierenden Erfahrungen fertig zu werden. Beim Wissenschaftler mag das Trauma
durch neue Beobachtungsfaktoren verursacht werden, die seine Theorien Lügen strafen,
durch Beobachtungen, die einander zu widersprechen scheinen, durch Probleme, die
nicht mit den herkömmlichen Methoden lösbar sind. Der Künstler seinerseits steht vor
der Aufgabe, Erlebnisse und Empfindungen darzustellen, die sich ob ihrer Intensität
oder Neuartigkeit mittels traditioneller Techniken nicht darstellen lassen – er soll das
Unaussprechliche zum Ereignis machen.
An dieser Stelle können wir den Faden aus dem vorausgegangenen Kapitel wieder auf-
nehmen: die entscheidenden Durchbrüche in Wissenschaft, Kunst und Philosophie sind
jeder eine geglückte Flucht aus der Sackgasse, aus der Verknechtung durch die Ge-
wohnheit, aus Orthodoxie und Überspezialisierung. Die Rettung erfolgt nach der glei-
chen Methode des Abbaus und der Neuformierung wie bei der biologischen Evolution;
und der Zickzackkurs des Fortschritts in Kunst und Wissenschaft spiegelt das Zickzack
der Phylogenese in Garstangs Diagramm (siehe S. 114, Abb. 9) wider.
Jede Revolution hat einen destruktiven und einen konstruktiven Aspekt. Die Destrukti-
on wird dadurch bewirkt, daß scheinbar unangreifbare Doktrinen und anscheinend
selbstverständliche Denkaxiome über Bord geworfen werden. Der Fortschritt der Wis-
senschaft ist wie ein uralter Wüstenpfad übersät mit ausgebleichten Skeletten verworfe-
ner Theorien, die einmal unsterbliches Leben zu besitzen schienen. Der Fortschritt in
der Kunst erfordert ebenso peinliche Umwertungen von Werten, Relevanzkriterien,
Wahrnehmungssystemen und Ausdrucksmethoden. Wenn wir die Evolution von Kunst
und Wissenschaft vom Standpunkt des Historikers aus erörtern, dann erscheinen Abbau
und Neuformierung als normale, unvermeidliche Episoden der Entwicklung. Wenn wir
jedoch das konkrete Individuum ins Auge fassen, das die revolutionäre Umwälzung in
die Wege geleitet hat, dann stehen wir den psychologischen Problemen vom Wesen der
menschlichen Kreativität gegenüber.
Ich habe dieses Problem ausführlich in einem früheren Buch behandelt, aber es ist so
eng mit unserem Thema verknüpft, daß ich noch einmal kurz darauf zurückkommen
muß. Lesern, die das frühere Buch kennen, mögen einige Passagen dieses Kapitels ver-
traut vorkommen; sie werden aber auch finden, daß es die Erörterung um noch einen
Schritt weiterführt.
Ein rascher Blick auf die Entwicklung der Astronomie soll das »Zickzackmuster« ver-
deutlichen. Newton hat einmal gesagt, wenn er weiter sehen könne als andere, so ver-
danke er das der Tatsache, daß er auf den Schultern von Giganten stehe. Aber stand er
wirklich auf ihren Schultern – oder auf einem anderen Teil ihrer Anatomie? Er über-
nahm Galileis Fallgesetze, aber er verwarf Galileis Astronomie. Er übernahm Keplers
Gesetze der Planetenbewegungen, aber er verwarf den Rest der Keplerschen Theorien.
Er wählte als seinen Ausgangspunkt nicht die kompletten, ausgewachsenen Theorien,
sondern ging zurück bis zu dem Punkt, an dem sie in die Sackgasse gefahren waren.
Auch das Keplersche Theoriegebäude baute sich nicht auf dem des Kopernikus auf. Die
baufällige Struktur der Epizyklen riß er ein – er behielt nur die Fundamente bei. Aber
auch Kopernikus hatte nicht dort angesetzt, wo Ptolemäus aufgehört hatte. Er ging
zweitausend Jahre zurück bis auf Aristarchos von Samos. Alle großen Revolutionen
zeigen, wie bereits erwähnt, diesen bemerkenswert »pädomorphen« Charakter. Sie er-
fordern ebensoviel Abbau und Zerstörung wie Neuordnung und Neuformierung.

121
Aber um eine durch Dogma und Tradition sanktionierte Denkweise über Bord zu wer-
fen, muß man die Kraft haben, sehr starke intellektuelle und emotionale Hemmungen zu
überwinden. Ich meine damit nicht nur den Widerstand der Orthodoxie; das primäre
Widerstandsnest gegen häretische Neuerungen befindet sich im Schädel des Individu-
ums, das sie kreiert. Als Kepler entdeckt hatte, daß die Planeten sich nicht in kreisför-
migen, sondern in elliptischen Bahnen bewegen, rief er voll Angst: »Wer bin ich, Jo-
hannes Kepler, daß ich die göttliche Symmetrie der kreisförmigen Umlaufbahn zerstö-
ren soll!« Das Umlernen ist schwieriger als das Lernen; und es scheint, als könnte die
Aufgabe, starre Denkstrukturen zu zertrümmern und sie zu einer neuen Synthese zu-
sammenzufügen, in der Regel nicht im vollen Tageslicht des bewußten, rationalen Ver-
standes bewältigt werden. Es bedarf dazu eines Rückzugs auf jene weniger starren und
spezialisierten Denkformen, die normalerweise in den Dämmerzonen des Bewußtseins
operieren.

13.4 Die Wissenschaft und das Unbewußte


Nach einem weitverbreiteten Irrglauben machen Wissenschaftler ihre Entdeckungen mit
Hilfe streng rationaler, präziser und artikulierter Denkvorgänge. Die Beobachtung zeigt,
daß sie nichts dergleichen tun.*
* Siehe THE ACT OF CREATION, Buch I, Kapitel 5 bis 11.
Im Jahre 1945 führte Jacques Hadmard unter den führenden Mathematikern Amerikas
eine Umfrage durch, um ihre Arbeitsmethoden zu ergründen. Das Ergebnis der Umfrage
zeigte, daß – mit nur zwei Ausnahmen – alle von ihnen weder in verbalen Begriffen
noch in algebraischen Symbolen dachten, sondern daß sie sich auf vage, verschwom-
mene Vorstellungsbilder visueller Natur stützten. Auch Einstein beantwortete den Fra-
gebogen; er schrieb:
Die Wörter unserer Sprache, wie sie geschrieben oder gesprochen
werden, scheinen in meinem Denkmechanismus keine Rolle zu spie-
len; die physikalischen Einheiten, die offensichtlich als Denkele-
mente fungieren, sind bestimmte Zeichen oder mehr oder minder
klare Bilder, die »willkürlich« reproduziert und auch kombiniert wer-
den können ... Die ganz oben genannten Elemente sind in jedem Fall
visueller Natur, einige auch motorischer. Es will mir scheinen, als sei
das, was Sie als volles Bewußtsein bezeichnen, ein Grenzfall, der nie
völlig erreicht werden kann, denn die Bewußtheit ist nur ein schma-
ler Steg.103
Einsteins Aussage ist typisch. Nach dem Zeugnis der schöpferischen Denker, die sich
der Mühe unterzogen haben, ihre Arbeitsmethoden schriftlich festzuhalten, spielt im
allgemeinen nicht nur das verbale Denken, sondern auch das bewußte Denken in der
kurzen, entscheidenden Phase des Schöpfungsaktes nur eine untergeordnete Rolle. Ihre
praktisch einstimmige Betonung spontaner Intuitionen unbewußten Ursprungs, die sie
nicht erklären können, deutet darauf hin, daß die Rolle des streng rationalen, sprachlich
artikulierten Denkens stark überschätzt worden ist. In den schöpferischen Prozeß sind
stets auch irrationale Episoden eingebettet, und das gilt nicht nur für den Bereich der
Kunst (wo uns das nicht erstaunt), sondern auch für den Bereicb der exakten Wissen-
schaften.
Der Wissenschaftler, der hartnäckig mit einem Problem ringt und dabei vom präzisen
verbalen Denken auf vage visuelle Bildvorstellungen zurückgreift, scheint Wood-
worths’ Rat zu befolgen: »Häufig müssen wir von der Sprache wegkommen, um klar
denken zu können.« Die Sprache kann sich wie eine Wand zwischen den Denker und

122
die Wirklichkeit schieben; der Schöpfungsprozeß beginnt häufig dort, wo die Sprache
aufhört, indem er auf präverbale Stufen des Denkens hinabsteigt.
Das bedeutet freilich nicht, daß im Schädel des Wissenschaftlers ein kleiner sokratischer
Dämon haust, der seine Schulaufgaben für ihn schreibt. Man darf auch nicht die unbe-
wußte Geistestätigkeit mit Freuds Primärem Vorgang verwechseln. Den Primären Vor-
gang definiert Freud als bar jeder Logik, beherrscht vom Lustprinzip, begleitet von mas-
siven Affektentladungen und mit der Tendenz behaftet, Perzeption und Halluzination
miteinander zu verwechseln. Es scheint, als müßten wir zwischen diesem sehr primiti-
ven Primären Vorgang und dem vom Realitätsprinzip beherrschten Sekundären Vor-
gang noch mehrere Schichten geistiger Tätigkeit einschieben, die nicht bloß Mixturen
aus »primären« und »sekundären« Elementen sind, sondern selbständige Denksysteme
mit ihren eigenen Spielregeln. Die Wahnvorstellung der Paranoiker, den Traum, den
Tagtraum, die freie Assoziation, die Mentalität von Kindern auf verschiedenen Alters-
stufen und die von primitiven Stämmen in verschiedenen Entwicklungsphasen darf man
nicht zusammen in einen Topf werfen, denn sie folgen ein jedes ihrer eigenen Logik.
Aber obwohl sich diese Denkweisen in vielen Aspekten voneinander unterscheiden, las-
sen sie doch auch gemeinsame Züge erkennen, denn sie sind ontogenetisch und mögli-
cherweise auch phylogenetisch älter als diejenigen der erwachsenen Individuen unseres
Kulturkreises. Sie sind weniger starr, mehr tolerant, stets bereit, scheinbar unvereinbare
Ideen miteinander zu verbinden und verborgene Analogien zu entdecken. Man könnte
sie als »verbotene Spiele« bezeichnen; denn ließe man sie frei im Bewußtsein toben,
dann geriete das disziplinierte Denken bald aus dem Geleise. Unter außergewöhnlichen
Umständen jedoch, wenn das disziplinierte Denken mit seinem Latein am Ende ist, kann
eine zeitweilige Regression zu diesen »verbotenen Spielen« eine unerwartete Lösung
des Problems ergeben – eine weithergeholte, verwegene Gedankenkombination, die
dem nüchternen, rationalen Geist niemals eingefallen, und wenn, von ihm sogleich als
inakzeptabel abgetan worden wäre. An anderer Stelle habe ich für diese sprunghaften
Einfälle schöpferischer Einbildungskraft das Wort »Bisoziation« vorgeschlagen, um sie
gegenüber den nüchternen assoziativen Routinevorgängen abzusondern. Ich werde
gleich noch einmal darauf zurückkommen; zunächst einmal wollen wir festhalten, daß
sich auch der schöpferische Akt in der geistigen Evolution nach dem Muster des reculer
pour mieux sauter vollzieht: einer zeitweiligen Regression folgt ein Sprung nach vorne.
Man kann diese Analogie noch weiterspinnen und den Heureka-Ruf als Signal für eine
geglückte Rettung aus einer Sackgasse des Denkens interpretieren.

123
13.5 Assoziation und Bisoziation
Eine einfache Definition für das assoziative Denken gibt uns Humphrey:104
Der Begriff »Assoziation« beziehungsweise »geistige Assoziation« ist
eine allgemein gehaltene Bezeichnung, die man häufig in der Psy-
chologie verwendet, um die Bedingungen auszudrücken, unter denen
sich geistige Vorgänge – im Bereich des Erlebens oder des Verhaltens
– vollziehen.
Mit anderen Worten, der Begriff »Assoziationen« bezeichnet einfach den Prozeß, ver-
mittels dessen eine Idee zu einer weiteren Idee führt.
Eine Idee hat jedoch assoziative Verbindungen mit vielen anderen, durch vergangene
Erfahrungen etablierten Ideen; welche von diesen Verbindungen in einer bestimmten
Situation aktiviert werden, hängt von der Art des Denkens ab, mit der wir in diesem
Augenblick befaßt sind. Geordnetes Denken wird stets von festen Regeln bestimmt, und
selbst Träume und Tagträume haben ihre eigenen Spielregeln. Im psychologischen La-
boratorium legt der Experimentator die Regel fest: Gegensätze assoziieren. Sagt er
»dunkel«, so antwortet die Versuchsperson mit »hell«. Sind jedoch »Synonyme« als
Regel vorgeschrieben, dann assoziiert die Versuchsperson »dunkel« mit »schwarz«,
»Nacht« oder »Schatten«. Es ist sinnlos, von Reizen zu sprechen, als ob sie in einem
Vakuum operierten; welche Reaktion ein Reiz wie das Wort »dunkel« auslöst, hängt
von den Regeln des Spiels ab, das wir zu dieser Zeit gerade spielen. Wir leben jedoch
nicht in Laboratorien, in denen die Spielregeln durch ausdrückliche Befehle festgelegt
werden; bei normalen Routineprozessen des Denkens und Sprechens sind die Regeln
stillschweigend inbegriffen und bleiben uns unbewußt.
Das gilt nicht nur für die Regeln der Grammatik, der Syntax und der »Wald-und-
Wiesen-Logik«, sondern auch für diejenigen, die für die komplexeren Strukturen Gül-
tigkeit haben, die wir als »Bezugssysteme«, »Denkwelten«, »assoziative Kontexte« be-
zeichnen. Allgemein gesprochen, beruhen die Systeme des assoziativen Denkens auf
geistigen Gewohnheiten und Fertigkeiten, die von festen Spielregeln bestimmt werden
und mit flexiblen Taktiken an Aufgaben herangehen. Mit anderen Worten: unsere Denk-
routinen besitzen alle die Eigenschaften von Holons, die wir in den vorangegangenen
Kapiteln erörtert haben. Sie werden von ihren Spielregeln kontrolliert, aber auch durch
feedbacks, durch Rückkoppelungen aus der Verteilung der Figuren auf dem Schach-
brett, aus der Beschaffenheit des zu bewältigenden Problems und so weiter. Sie können
pedantisch, starr oder schmiegsam sein und lassen sich sowohl in »vertikale« Hierarchi-
en einordnen als auch in »horizontale« assoziative Netzgeflechte.
Fassen wir noch einmal zusammen: Alle routinemäßigen Denkvorgänge gleichen Spie-
len nach festgesetzten Regeln und mit mehr oder minder flexiblen Taktiken. Im Schach
gibt es weit mehr taktische Auswahlmöglichkeiten als im Damespiel. Aber auch hier
gibt es eine Grenze: man kann auf dem Schachbrett in hoffnungslose Situationen gera-
ten, aus denen man sich auch mit der subtilsten Strategie nicht mehr befreien kann – es
sei denn, man offeriert seinem Gegenspieler ein paar mächtige Cocktails. Nun gibt es
zwar beim Schachspiel keine Regel, die einen daran hindert, so etwas zu tun. Aber je-
manden absichtlich betrunken machen, während man selbst nüchtern bleibt – das ist ein
ganz anderes Spiel mit ganz anderen Assoziationen. Kombiniert man diese beiden art-
fremden Spiele, so ergibt das eine »Bisoziation«. Mit anderen Worten, das assoziative
Routinedenken spielt sich nach gegebenen Regeln auf einer gegebenen Ebene ab. Der
bisoziative Akt kombiniert artfremde Spielregeln und spielt sich auf mehreren Ebenen
gleichzeitig ab.

124
Ich möchte den Wert gesetzestreuer Routineprozesse keinesfalls herabsetzen. Sie geben
dem Verhalten Kohärenz und Stabilität, den Denkvorgängen Ordnung und Struktur. In
Krisensituationen jedoch erweisen sich Routineprozesse als nicht mehr ausreichend. Die
Welt dreht sich weiter, und neue Tatsachen kommen auf uns zu: aus ihnen ergeben sich
Probleme, die sich innerhalb der konventionellen Bezugssysteme nicht lösen lassen.
Daher die verzweifelte Suche nach einem Heilmittel nach der unorthodoxen Improvisa-
tion, die zu der neuen Synthese führen soll – zum geistigen Regenerationsprozeß.
Das lateinische Wort cogito leitet sich von co-agitare ab: Zusammenschütteln. Bisozia-
tion bedeutet: zwei bisher voneinander unabhängige Denkstrukturen so miteinander zu
verbinden, daß der Hierarchie eine neue Stufe hinzugefügt wird, die die vorher separa-
ten Strukturen in sich einschließt. Das Phänomen der Gezeiten war uns seit undenkli-
chen Zeiten bekannt; die Phasen des Mondes ebenfalls. Aber die Idee, diese beiden mit-
einander zu verbinden – die Idee, daß die Gezeiten auf die Anziehungskraft des Mondes
zurückzuführen sind – hatte, soweit wir wissen, zum erstenmal ein deutscher Astronom
des 17. Jahrhunderts entdeckt. Als Galilei davon erfuhr, tat er das als okkulte Phantaste-
rei ab. Moral: Je vertrauter die vorher unabhängigen Strukturen sind, um so verblüffen-
der die neue Synthese. Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte von Heira-
ten zwischen Ideen, die einander vorher fremd waren und für unvereinbar gehalten wur-
den. Natürliche Magneten waren in der Antike als eine Kuriosität bekannt. Im Mittelal-
ter fand man für sie eine zweifache Verwendung: als nautischen Kompaß und als das
beste Mittel, ein abtrünniges Weib zu ihrem Gatten zurückzulocken. Ebenso bekannt
waren die seltsamen Eigenschaften des Bernsteins, der, wenn man ihn rieb, leichte Ob-
jekte an sich heranzog. Das griechische Wort für Bernstein ist Elektron, aber die Grie-
chen waren an der Elektrizität nicht interessiert, und auch das Mittelalter nicht. Nahezu
zweitausend Jahre lang betrachtete man die Elektrizität und den Magnetismus als ge-
sonderte Phänomene, die nichts miteinander zu tun hatten. 1820 entdeckte Hans Christi-
an Oersted, daß der durch einen Draht fließende elektrische Strom auf einen magneti-
schen Kompaß einwirkte, der zufällig auf seinem Tisch lag. In diesem Augenblick be-
gannen die beiden Phänomene zu einem einzigen zu verschmelzen: zum Elektromagne-
tismus. Die Bisoziation löste eine Art Kettenreaktion aus, die immer noch anhält.

13.6 Die AHA-Reaktion


Von Pythagoras, der Arithmetik und Geometrie miteinander verband, über Newton, der
Galileis Untersuchungen über die Bewegung von Projektilen mit Keplers Gleichungen
für die Planetenbahnen verband, bis hin zu Einstein, der Energie und Materie in einer
einzigen, unheilvollen Gleichung vermählte, sehen wir stets den gleichen Vorgang. Der
schöpferische Akt bringt nicht – wie der Gott im Alten Testament – irgend etwas aus
dem Nichts hervor; er kombiniert, mischt und verbindet bereits existierende, aber bisher
voneinander getrennte Ideen, Fakten, Wahrnehmungssysteme, assoziative Kontexte.
Dieser Akt der Kreuzbefruchtung – beziehungsweise der Selbstbefruchtung innerhalb
des gleichen Gehirns – scheint der Wesenskern der Kreativität zu sein und die Bezeich-
nung »Bisoziation« zu rechtfertigen.*
* Ähnliche Auffassungen hat, neben anderen Forschern, auch der Mathematiker Henri Poincaré vertreten;
in einem häufig zitierten Vortrag erklärte er Entdeckungen mit dem glücklichen Zusammentreffen von
»gedanklichen Atomen« im Bereich des Unterbewußten. Nach Sir Frederick Bartlett ist »das wesentlich-
ste Kennzeichen experimentellen schöpferischen Denkens das Entdecken
105
einer Überschneidung
106
..., wo
man bislang nur Isolierung und Unterschiedlichkeit gesehen hatte«. 107Jerome Brunner sieht in jeder
Form von Kreativität das108
Ergebnis »kombinatorischer Akte«. McKellar spricht von der »Fusion« von
Wahrnehmungen, Kubie von der »Entdeckung unerwarteter Zusammenhänge zwischen den Dingem«.
Das geht so weiter, zurück bis zu Goethes »Verbinden, immer verbinden«.
Nehmen wir das Beispiel von Johannes Gutenberg, der die Druckerpresse erfand (oder
doch zumindest unabhängig von anderen erfand). Zuerst hatte er die Idee, Lettern zu
gießen, so wie man Siegel oder Siegelringe anfertigte. Wie aber konnte er Tausende von

125
kleinen Siegeln so zusammenmontieren, daß sie eine gleichmäßige Spur auf dem Papier
hinterließen? Jahrelang quälte er sich mit diesem Problem ab, bis er schließlich eines
Tages zu einer Weinlese in seiner rheinischen Heimat ging und sich dort vermutlich ei-
nen Schwips antrank. In einem Brief berichtete er darüber:
Ich sah zu, wie der Wein aus der Presse floß; von der Wirkung auf
die Ursache zurückgehend, habe ich die Arbeitsweise dieser Presse,
der nichts widerstehen kann, genau untersucht ...
In diesem Augenblick fiel sozusagen der Groschen: die Kombination von Siegel und
Weinpresse ergab die Druckerpresse. Der Psychologe Karl Bühler prägte ein neues
Wort für den »Blitz der Erleuchtung«, wenn die Einzelteile des Problems sich plötzlich
zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen: er nannte es das AHA-Erlebnis.
Es ist jedoch nicht die einzige Art von Reaktion, die ein bisoziativer Akt bewirken kann.
Eine ganz andere Art von Reaktion löst die Erzählung einer Anekdote aus:
Ein Marquis am Hof Ludwigs XV. war unerwartet von einer Reise zu-
rückgekehrt und fand seine Frau, als er ihr Boudoir betrat, in den
Armen eines Bischofs. Der Marquis zögerte einen Augenblick, dann
ging er gelassen zum Fenster hin, lehnte sich hinaus und fing an, die
Leute auf der Straße zu segnen. »Was macht Ihr da?« rief die veräng-
stigte Frau. »Monseigneur vollziehen meine Pflichten«, erwiderte der
Marquis, »also vollziehe ich die seinen.«*
* Ich habe diese Anekdote bereits anderen Ortes erzählt und trage sie hier wegen ihrer klaren Struktur er-
neut vor. Bei den meisten Anekdoten benötigt man erst ausführliche Erläuterungen, um ihre Struktur
klarzulegen.
Das Lachen kann man als HAHA-Reaktion bezeichnen.* Wir wollen nun kurz seine
verschiedenen Aspekte erörtern, zunächst den logischen, dann den emotionellen.
* Ich möchte Dr. Brennig James dafür danken, daß er diesen Terminus als Pendant zur AHA-Reaktion
vorgeschlagen hat.

13.7 Die HAHA-Reaktion


Das Verhalten des Marquis kommt zugleich unerwartet und ist doch vollkommen lo-
gisch – aber nicht von jener Art der Logik, die man üblicherweise auf eine solche Situa-
tion anwendet. Es ist die Logik der Arbeitsteilung; ihre Spielregeln sind das quid pro
quo, der Austausch von Gütern oder Leistungen. Wir hatten natürlich erwartet, die Re-
aktionen des Marquis würden von einer ganz anderen Spielregel bestimmt werden, von
der der Geschlechtsmoral. Aber gerade das Aufeinanderprallen der beiden sich wechsel-
seitig ausschließenden Assoziationskontexte ruft die komische Wirkung hervor. Es
zwingt uns, die Situation gleichzeitig mit Hilfe von zwei in sich selbst konsequenten,
gewöhnlich jedoch nicht miteinander vereinbaren Bezugssystemen zu erfassen; wir sind
sozusagen gezwungen, zu gleicher Zeit auf zwei verschiedenen Wellenlängen zu funk-
tionieren. Solange diese ungewöhnliche Situation anhält, wird der sich abspielende
Vorgang nicht – wie das normalerweise der Fall ist – mit einem einzigen Bezugssystem
erfaßt, sondern mit zweien bisoziiert.
Diese ungewöhnliche Situation hält allerdings nicht lange an. Der Akt der wissen-
schaftlichen Entdeckung führt zu einer dauerhaften Synthese, zu einer Fusion der beiden
vorher separaten Bezugssysteme; die komische Bisoziation stellt eine Kollision zwi-
schen den unvereinbaren Bezugssystemen dar, deren Wege sich für einen kurzen Au-
genblick durchkreuzen. Der Unterschied ist allerdings nicht absoluter Natur. Ob die Be-
zugssysteme miteinander vereinbar sind oder nicht, das hängt von subjektiven Faktoren
ab. In Keplers Kopf gingen die Bewegungen des Mondes und die Bewegungen der Ge-
zeiten eine Fusion ein, sie wurden zu Zweigen der gleichen Kausalhierarchie. Galilei je-

126
doch behandelte Keplers Theorie buchstäblich als einen Witz. In der Geschichte der
Wissenschaft gibt es viele Beispiele dafür, daß neue Entdeckungen mit Hohngelächter
aufgenommen wurden, weil sie eine Vermählung unvereinbarer Partner zu sein schie-
nen – bis sich die Ehe als fruchtbar und die angebliche Unvereinbarkeit der Partner als
Vorurteil erwies. Der Humorist dagegen bringt ganz bewußt inkompatible Sitten oder
Denkweisen zum Zusammenstoß, um ihre versteckten Absurditäten zu enthüllen. Die
komische Entdeckung weist auf ein Paradoxon hin – die wissenschaftliche Entdeckung
hebt es auf.
Vom Standpunkt des Marquis aus gesehen, entsprang seine Geste einer schöpferischen
Inspiration. Hätte er sich an die konventionellen Spielregeln gehalten, dann hätte er den
Bischof verhauen oder umbringen müssen. Am Hofe Ludwigs XV. hätte man jedoch
den Totschlag an einem Bischof, wenn auch nicht unbedingt als Verbrechen, so doch
zumindest als unpassendes Verhalten angesehen; das ging also nicht. Um das Problem
zu lösen – das heißt, um sein Gesicht zu wahren und gleichzeitig seinen Gegenspieler zu
demütigen –, mußte ein zweites, von ganz anderen Spielregeln beherrschtes Bezugssy-
stem herangezogen und mit dem ersten kombiniert beziehungsweise bisoziiert werden.
Jede originale Erfindung im Bereich des Komischen ist ein schöpferischer Akt, eine
maliziöse [boshafte, heimtückische, hämische] Entdeckung.

13.8 Lachen und Emotion


Der Nachdruck liegt auf dem Wort maliziös, und das bringt uns von der Logik des Hu-
mors zum emotionalen Faktor der HAHA-Reaktion. Wenn ein geübter Erzähler eine
Anekdote erzählt, dann schafft er eine gewisse Spannung, die mit fortschreitender Er-
zählung ständig zunimmt. Sie erreicht jedoch niemals den erwarteten Höhepunkt. Die
Pointe wirkt wie eine Guillotine, die die logische Entwicklung der Situation abrupt
durchschneidet; sie spottet sozusagen unserer hochgespannten Erwartungen auf einen
dramatischen Abschluß, die Spannung überschlägt sich und entlädt sich in Gelächter.
Anders ausgedrückt: das Lachen führt die sinnlos gewordene Spannung ab, es bietet ei-
nen Widerstand, um sie abzureagieren.
Sieht man sich einmal die grobe Art der Volksbelustigung in einer Tavernenszene von
Hogarth oder Rawlinson genauer an, dann bemerkt man sofort, daß sich diese Leute ih-
res Überschusses an Adrenalin entledigen – die Kontraktionen der Gesichtsmuskeln, das
Sich-auf-die-Schenkel-Hauen, die explosiven Atemstöße aus der halbgeschlossenen
Glottis sind Formen des Abreagierens, der Energieabfuhr. Die Affekte, deren sie sich
beim Lachen entledigen, sind Aggression, Lüsternheit, Schadenfreude, bewußter und
unbewußter Sadismus – alle operieren mit Hilfe des adrenerg-sympathischen Systems.
Schaut man sich jedoch eine geistvolle Karikatur an, dann weicht das homerische Ge-
lächter einem verdünnten, amüsierten Lächeln; der Zufluß von Adrenalin hat sich zu ei-
nem Körnchen attischen Salzes destilliert. Oder nehmen wir jene klassische Definition:
»Wer ist ein Sadist? Ein Mensch, der zu einem Masochisten gut ist ...« Das deutsche
Wort »Witz« bedeutet sowohl Spaß als auch Scharfsinn und leitet sich von Wissen her;
im Englischen ist es ähnlich. Die Bereiche des HAHA und des AHA sind kontinuier-
lich, ohne scharfe Trennungslinien. Bewegen wir uns von den gröberen auf die subtile-
ren Formen des Humors zu, dann wandelt sich der Scherz zum Epigramm und zum Rät-
sel, der komische Vergleich zur verborgenen Analogie, und die Affektreaktionen lassen
eine ähnliche Verwandlung erkennen. Die emotionale Spannung, die sich im groben
Gelächter entlädt, besteht aus einer ihrer Zielsetzung beraubten Aggression; die in der
AHA-Reaktion aufgelöste Spannung dagegen leitet sich aus einer intellektuellen Her-
ausforderung ab. Sie löst sich in dem Augenblick auf, in welchem der Groschen fällt –
wenn wir das im Vexierbild verborgene Gesicht entdeckt, die Denkaufgabe oder das
wissenschaftliche Problem gelöst haben.

127
Fassen wir noch einmal zusammen: die beiden Bereiche des Humors und der Entdek-
kung bilden ein Kontinuum. Bewegen wir uns entlang dieses Kontinuums gewisserma-
ßen von links her nach der Mitte zu, dann wandelt sich allmählich des emotionale Klima
von der Bosheit des Spaßmachers zum desinteressierten Scharfsinn des Weisen. Setzen
wir nun unseren Weg in der gleichen Richtung fort, dann stellen wir fest, daß ebenso
allmähliche Übergänge in den dritten schöpferischen Bereich hinüberleiten, in den des
Künstlers. Auch der Künstler bedient sich mehr der Andeutung als der Aussage; auch er
erlegt Rätsel auf und zeigt uns Vexierbilder; und so treffen wir hier, auf dem Weg zum
anderen Ende des Spektrums, auf Übergänge in symmetrisch umgekehrter Folge: von
intellektuellen, wissenschaftlich angehauchten Kunstformen zu mehr sensualistischen
und affektiven und schließlich zum gedankenfreien Nirwana des Mystikers.

13.9 Die AH-Reaktion


Wie aber definiert man das emotionale Klima in der Kunst? Wie klassifiziert man die
Affekte, die uns das Erlebnis der Schönheit vermitteln? Blättert man die Lehrbücher der
experimentellen Psychologie durch, dann findet man kaum einen Anhaltspunkt. Wenn
die Behavioristen das Wort »Emotion« benützen, dann beziehen sie es fast immer auf
Hunger, Sex, Wut und Furcht und verwandte Auswirkungen der Absonderung von Ad-
renalin. Für die eigenartige Reaktion, die man erlebt, wenn man einem Mozart-Quartett
lauscht, das Meer betrachtet oder zum erstenmal John Donnes HOLY SONNETS liest, ha-
ben sie keine Erklärung zu bieten. Man findet in den Lehrbüchern auch keine Beschrei-
bung der physiologischen Prozesse, die mit derartigen Reaktionen verbunden sind: das
Feuchtwerden des Auges, das Anhalten des Atems, gefolgt von einer Art entrückter
Stille, dem Nachlassen aller Spannungen. Wir wollen das als die AH-Reaktion bezeich-
nen und so die Trinität vervollständigen.
HAHA! AHA AH ...

Lachen und Weinen, die griechischen Masken der Komödie und der Tragödie, bezeich-
nen die extremen Enden dieses kontinuierlichen Spektrums; bei beiden handelt es sich
um »Abfuhrreflexe«, die Affekte abladen – aber in jeder anderen Hinsicht sind sie phy-
siologische Gegenpole. Das Lachen wird durch den sympathico-adrenalen Zweig des
autonomen Nervensystems vermittelt, das Weinen durch den parasympathischen Zweig;
ersteres zeigt die Tendenz, den Körper in gesteigerte Aktivität zu versetzen, letzteres die
Tendenz zu Katharsis und Passivität. Man braucht sich nur selbst beim Lachen zu beob-
achten: auf ein langes und tiefes Luftholen folgen heftige Atemstöße beim Ausatmen –
ha, ha, ha! Beim Weinen tut man genau das Gegenteil: auf kurze, keuchende Züge beim
Einatmen – Schluchzen – folgen lange, seufzende Züge beim Ausatmen – a-a-h, aah ...
Die Emotionen, die bei der AH-Reaktion überquellen, sind ebenfalls das genaue Ge-
genteil von denjenigen, die sich beim Gelächter entladen. Letztere gehören zu den adre-
nergischen, aggressiv-defensiven Emotionen. Nach unserer Theorie sind das Manifesta-
tionen der selbstbehauptenden Tendenz. Ihre Gegenpole wollen wir als selbsttranszen-
dierende Emotionen bezeichnen, die sich aus der integrativen Tendenz ableiten. Man
könnte sie auch, nach Freud, das »ozeanische Gefühl« nennen: jene grenzenlose Erwei-
terung des Bewußtheitsraumes, die man gelegentlich in einer leeren Kathedrale empfin-
det, wenn die Ewigkeit durch das Fenster der Zeit blickt – in ihr scheint das eigene Ich
sich aufzulösen wie ein Körnchen Salz im Meer.

128
13.10 Kunst und Emotion
Die Polarität zwischen den integrativen und den selbstbehauptenden Tendenzen ist, wie
sich gezeigt hat, ein inhärenter Faktor in allen hierarchischen Ordnungen; sie manife-
stiert sich auf jeder Stufe, von der embryonalen Entwicklung bis zur internationalen Po-
litik. Die integrative Tendenz, mit der wir uns hier vor allem befassen, reflektiert die
»Teilheit« eines Holons, seine Abhängigkeit von und seine Zugehörigkeit zu einem
größeren Ganzen. Sie ist überall wirksam, von der physischen Symbiose im Bereich der
Organellen über die Aggregation im Schwarm und in der Herde bis hinauf zu den kohä-
siven Kräften in Insektenstaaten und Primatenverbänden.
Das Einzelindividuum repräsentiert, als Ganzes betrachtet, den Scheitelpunkt der orga-
nismischen Hierarchie, gleichzeitig ist es aber auch ein Teil, eine Elementareinheit in
der Sozialhierarchie. Diese Dichotomie spiegelt sich in seiner emotionalen Natur wider.
Seine Selbstbehauptung als ein autonomes, unabhängiges Ganzes drückt sich je nach
Lage der Dinge in seinem Ehrgeiz, seiner Wettbewerbsfreudigkeit und in seinem ag-
gressiv-defensiven Verhalten aus. Seine integrative Tendenz findet ihren Niederschlag
in seiner Abhängigkeit – als Teil – von Familie, Stamm und Gesellschaft. Aber – und es
handelt sich hier um ein sehr wesentliches »aber« – die Zugehörigkeit zur Sozialgruppe
reicht nicht immer aus, um die integrative Tendenz eines Individuums zu befriedigen;
manchen Menschen gewährt sie überhaupt keine Befriedigung. Jeder Mensch ist ein
Holon und hat das Bedürfnis, als Teil zu etwas Größerem zu gehören, das die engen
Grenzen des eigenen Ichs überschreitet; dieses Bedürfnis ist die Wurzel aller »selbst-
transzendierenden« Emotionen. Es kann durch eine soziale Identifizierung – auf die wir
in Teil III dieses Buches zu sprechen kommen – erfüllt werden. Aber jene höhere Ganz-
heit, zu deren Gunsten das Individuum seine eigene Identität gerne aufheben möchte,
kann auch Gott, die Natur oder die Kunst sein: die Magie der Formen, das Meer der Tö-
ne oder die mathematischen Symbole für die Konvergenz im Unendlichen. Von dieser
Art sind die Emotionen, die bei der AH-Reaktion zum Ausdruck kommen.
Die selbsttranszendierenden Emotionen zeigen einen großen Variationsbereich. Sie
können freudiger oder trauriger, tragischer oder lyrischer Natur sein; ihr gemeinsamer
Nenner – um das noch einmal zu wiederholen – ist das Gefühl der integrativen Teil-
nahme an einem Erlebnis, das die Grenzen des eigenen Ichs überschreitet.
Die selbstbehauptenden Emotionen lassen eine Tendenz zu körperlicher Betätigung er-
kennen, die selbsttranszendierenden sind im wesentlichen passiver und kathartischer
Natur. Erstere manifestieren sich in allen Abarten des aggressiv-defensiven Verhaltens;
letztere im Einfühlungsvermögen, in der Identifizierung, in Bewunderung und Hingabe
an eine Person oder eine Idee. Das Vergießen von Tränen ist ein Ventil für einen Über-
schuß an selbsttranszendierenden Emotionen, so wie das Lachen ein Ventil für die
selbstbehauptenden Emotionen ist. Aber ihre Funktionsweise ist verschieden. Beim La-
chen wird die Spannung plötzlich entladen, die Emotion verpufft plötzlich; beim Wei-
nen klingt sie allmählich aus, ohne die Kontinuität der Stimmung zu unterbrechen:
Denken und Fühlen bleiben vereint. Die selbsttranszendierenden Emotionen tendieren
nicht zur Tätigkeit, sondern zur Ruhe hin. Atmung und Puls werden verlangsamt; »Ver-
zückung« ist ein Schritt zu jenem tranceähnlichen Zustand hin, der kontemplativen My-
stikern eigen ist; Emotionen dieser Art können in aktiven Tätigkeiten ausgelebt werden.
Man kann ein Gebirgspanorama nicht mit nach Hause nehmen; man kann nicht mit Hil-
fe körperlicher Bemühung mit dem Unendlichen verschmelzen; man wird von Ehr-
furcht, von Staunen »überwältigt«, von einem Lächeln »hingerissen«, von Schönheit
»bezaubert« – jedes dieser Worte drückt ein passives Sich-Hingeben aus. Der Über-
schuß an Emotion läßt sich nicht durch irgendwelche willentliche Muskeltätigkeit ab-

129
reagieren, er kann nur durch innerliche – viszerale und glanduläre – Prozesse abgebaut
werden.
Die verschiedenen Ursachen, die zu einem Überquellen der Tränen führen können –
ästhetische oder religiöse Verzückung, Trauer, Freude, Mitleid, Selbstmitleid –, sie alle
haben ein Grundelement gemeinsam: die intensive Sehnsucht danach, die Grenzen des
verinselten Ichs zu überschreiten und eine symbiotische Gemeinschaft mit einem – le-
benden oder toten – menschlichen Wesen einzugehen oder mit einer – realen oder ima-
ginären – höheren Entität, als deren Teil sich das Ich fühlt.
Die selbsttranszendierenden Emotionen sind die Stiefkinder der Psychologie, aber sie
sind von ebenso fundamentaler Bedeutung und ebenso fest in der Biologie verankert
wie ihre Gegenpole. Insbesondere Freud und Piaget haben die Tatsache betont, daß das
Kind in seinen früheren Lebensphasen keinen Unterschied zwischen dem eigenen Ich
und der Umwelt macht. Die nährende Mutterbrust erscheint ihm als ein viel intimerer
Besitz als die Zehen seines eigenen Körpers. Es ist sich dessen bewußt, was in der Um-
welt vor sich geht, nicht aber seiner selbst als einer gesonderten Entität. Es lebt in einem
Zustand psychischer Symbiose mit der Außenwelt, einer kontinuierlichen Fortsetzung
der biologischen Symbiose im Mutterleib. Das Ich ist im Brennpunkt der Welt, es ist die
Welt – Piaget bezeichnete diesen Zustand als »protoplasmische« oder »symbiotische«
Bewußtheit.*
* In jüngster Zeit hat E. G. Schachtel dieses Thema behandelt, und zwar in seinem bedeutenden Werk
METAMORPHOSIS, das 1963 erschien.
Man kann sie vielleicht mit einem flüssigen Universum vergleichen, das von dynami-
schen Strömungen durchzogen wird, vom rhythmischen Steigen und Fallen physiologi-
scher Bedürfnisse, die keine Spuren hinterlassen. Allmählich weichen die Fluten zu-
rück, die ersten Inseln der objektiven Wirklichkeit tauchen auf; ihre Konturen werden
fester und schärfer; die Inseln weiten sich zu Kontinenten aus, der feste Boden der Rea-
lität wird abgegrenzt; aber daneben bleibt auch die flüssige Welt bestehen, sie umgibt
das Festland, durchsetzt es mit Kanälen und Binnenseen, den rudimentären Überbleib-
seln der einstigen symbiotischen Gemeinschaft. Das ist der Ursprung jenes »ozeani-
schen Gefühls«, das Künstler und Mystiker auf einer höheren Entwicklungsebene, einer
höheren Windung der Spirale, wiederzugewinnen suchen.
Hier hat auch der Sympathiezauber seinen Ursprung, der von allen primitiven Völkern
praktiziert wird. Wenn der Medizinmann sich als Regengott verkleidet, dann zaubert er
Regen hervor. Zeichnet man das Bild eines erlegten Bisons auf das Felsengestein, dann
garantiert das eine erfolgreiche Jagd. Das ist die uralte Quelle, aus der sich der rituelle
Tanz und Gesang, die Mysterienspiele der Achäer und die Kalendarien der babyloni-
schen Priester-Astronomen ableiten. Die Schatten in Platons Höhle sind Symbole für die
Einsamkeit des Menschen, die Malereien in den Höhlen von Lascaux sind Symbole für
seine magischen Kräfte.
Lascaux und Altamira liegen weit zurück, aber die Inspirationen des Künstlers und die
Intuitionen des Wissenschaftlers leiten sich auch heute noch aus der gleichen gemein-
samen Quelle ab – obschon wir sie heute eher als einen unterirdischen Fluß bezeichnen
sollten. Wünsche können keine Berge versetzen, aber in unseren Träumen tun sie es
noch immer. Das symbiotische Bewußtsein läßt sich niemals völlig auslöschen, aber es
wird in jene primitiven Schichten der psychischen Hierarchie abgedrängt, in denen die
Grenzen des Ichs noch fließend und verschwommen sind – ebenso verschwommen etwa
wie die Unterscheidung zwischen dem Schauspieler und dem Helden, den er personifi-
ziert, und mit dem ihn der Zuschauer identifiziert. Der Schauspieler auf der Bühne ist
zugleich er selbst und jemand anderer – Tänzer und Regengott in einer Person. Die
dramatische Illusion entsteht aus der Koexistenz zweier, logisch nicht miteinander zu
vereinbarender Welten im Kopf des Zuschauers; sie exemplifiziert den bisoziativen

130
Prozeß in seiner eindrucksvollsten Form. Um so mehr, als der Zuschauer dabei physi-
sche Symptome hervorbringt wie Herzklopfen, erhöhten Puls oder Tränen – aus Mitleid
mit einer Desdemona, von der er genau weiß, daß sie nur als Schatten auf dem Fernseh-
schirm existiert.

13.11 Die schöpferische Trinität


Aber wehe, wenn Othello plötzlich den Schluckauf bekommt – statt der Koexistenz der
beiden Welten im Kopf des Zuschauers kommt es nun zur Kollision zwischen ihnen.
Komische Personifikationen lösen eine HAHA-Reaktion aus, weil der Parodist aggres-
sive und maliziöse Tendenzen wachruft; während der Tragöde den Zuschauer zum
Identifizieren veranlaßt und die AH-Reaktion auslöst. Identifikation erregt die selbst-
transzendierenden und hemmt oder neutralisiert die selbstbehauptenden Emotionen.
Selbst wenn im Zuschauer Furcht und Zorn hervorgerufen werden, sind das sozusagen
nur stellvertretende Emotionen, die sich aus der Identifizierung mit dem Helden ableiten
– ein Vorgang, der in sich selbst einen selbsttranszendierenden Akt darstellt. Die auf
diese Weise erweckten stellvertretenden Emotionen sind von einem dominierenden
Element der Sympathie geprägt, das die Katharsis ermöglicht – in Übereinstimmung mit
der Definition des Aristoteles: »Vorgänge, die Schrecken und Mitleid erregen, bewirken
die Reinigung von solchen Gefühlen.« Die Kunst ist eine Schule des Selbsttranszendie-
rens.
Wir gelangen so zu einer weiteren Verallgemeinerung. Die HAHA-Reaktion signalisiert
die Kollision von bisoziierten Kontexten, die AHA-Reaktion signalisiert ihre Fusion, die
AH-Reaktion ihre Koexistenz.*
* Dieser Unterschied spiegelt sich in der quasi-kumulativen Progression der Wissenschaft durch eine
Reihe von aufeinanderfolgenden Fusionen wider, im Gegensatz zu dem quasi-zeitlosen Charakter der
Kunst, ihrer kontinuierlichen Neuformulierung von archetypischen Erlebnisstrukturen in ständig wech-
selnden Idiomen. Ich habe zweimal den Ausdruck »quasi« gebraucht, denn der Unterschied ist nur ein
relativer: die Progression der Wissenschaft verläuft nicht im strengen Sinn des Wortes kumulativ – sie
vollzieht sich eher in einem Zickzackkurs als in einer geraden Linie; anderseits läßt die Entwicklung einer
bestimmten Kunstform innerhalb einer bestimmten Zeitperiode häufig eine kumulative Progression er-
kennen.
Wenn jemand ein Gedicht liest, dann wirken in ihm zwei Bezugssysteme aufeinander
ein: das eine wird vom Inhalt beherrscht, das andere von rhythmischen Klangstrukturen.
Außerdem aber operieren die beiden auch noch auf zwei verschiedenen Bewußtseinse-
benen – die erste im hellen Tageslicht, die zweite viel tiefer unten, in jenen archaischen
Schichten der psychischen Hierarchie, die auf das rhythmische Getrommel der Zauber-
priester ansprechen und uns besonders empfänglich und suggestibel machen für Bot-
schaften, die in rhythmischer Verkleidung zu uns gelangen.*
* »Im Reim«, so schreibt Proust, »ist die Überlagerung von zwei Systemen – eines von ihnen geistiger,
das andere metrischer Natur ... – ein primäres Element der geordneten Vielfalt, das heißt des Schönen.«
Routinemäßige Denkprozesse spielen sich auf nur einer Ebene ab; künstlerische Erleb-
nisse stets auf mehr als einer. Bei Rhythmus und Metrik, Reim und Euphonie handelt es
sich nicht um künstlerische Sprachornamente, sondern um Kombinationen von zeitge-
mäßen, intellektuellen Denkstrukturen mit Klangstrukturen, die eine effektive Resonanz
auslösen. Ähnliches gilt für die dichterische Bildersprache: das visuelle Denken ist eine
frühere Form geistiger Tätigkeit als das Denken in Worten; wir träumen meist in Bil-
dern. Allgemein gesagt, erfordert die schöpferische Tätigkeit stets eine zeitweilige Re-
gression auf diese archaischen Stufen der Psyche, während gleichzeitig ein Parallelpro-
zeß auf der hellwachen Oberfläche des Bewußtseins vor sich geht; der Dichter ist so et-
was wie ein Sporttaucher mit einem Schnorchel.
Zu den Spielen des Unbewußten gehört auch das Auffinden unerwarteter Analogien.
Als Salomon in seinem Hohelied den Hals der Sulamit mit einem Elfenbeinturm ver-

131
gleicht, sah er eine Analogie, die niemand vor ihm gesehen hatte; als Harvey das Herz
eines Fisches mit einer mechanischen Pumpe verglich, tat er das gleiche – und wenn der
Karikaturist eine Nase wie eine Gurke zeichnet, dann tut er ebenfalls das gleiche. In der
Tat sind alle bisoziativen Kombinationen trivalent – dreiwertig, sie können, je nach
Sachlage, in den Dienst des Humors, der wissenschaftlichen Entdeckung oder der Kunst
treten.
Der Künstler zwingt der Natur sein eigenes Wahrnehmungsschema auf, indem er Kon-
turen oder Flächen, Stabilität oder Bewegung, Kurven oder Zacken hervorhebt. Das
gleiche tut natürlich auch der Karikaturist, nur sind bei ihm andere Motive und Rele-
vanzkriterien wirksam. Und das gleiche gilt für den Wissenschaftler. Eine geographi-
sche Landkarte steht im selben Verhältnis zu einer Landschaft wie eine Charakterskizze
zu einem Gesicht; jedes Diagramm oder Modell, jede schematische oder symbolische
Darstellung physischer oder psychischer Prozesse ist eine leidenschaftslose Karikatur,
ein stilisiertes Porträt der Realität.
In der Ausdrucksweise der Behavioristen müßten wir sagen, Cézanne empfängt, wenn
er auf eine Landschaft blickt, einen Reiz, auf den er dadurch reagiert, daß er einen Farb-
klecks auf die Leinwand setzt – und das wäre alles. In Wirklichkeit spielen sich bei ihm
zwei Aktivitäten auf zwei verschiedenen Ebenen ab. Der stimulierende Reiz kommt aus
der einen Umwelt, der entfernten Landschaft. Die Reaktion setzt sich mit einer anderen
Umwelt auseinander, einer rechteckigen Fläche in den Ausmaßen von 25 x 40 Zenti-
meter. Die beiden Umwelten gehorchen unterschiedlichen Gesetzen. Ein isolierter Pin-
selstrich stellt nicht einen isolierten Teil der Landschaft dar. Es gibt keine Punkt-für-
Punkt-Übereinstimmung zwischen den beiden Ebenen; jede richtet sich nach einer ande-
ren Spielregel. Die Sehweise des Künstlers ist bifokal, ebenso wie die Stimme des
Dichters bivokal ist, wenn er Klang und Sinn bisoziiert.

13.12 Zusammenfassung
Im vorliegenden Kapitel habe ich klarzumachen versucht, daß alle Arten von schöpferi-
scher Tätigkeit – die bewußten und die unbewußten Prozesse, die sich in den drei Berei-
chen der künstlerischen Inspiration, der wissenschaftlichen Entdeckung und der komi-
schen Erfindungsgabe abspielen – eine gemeinsame Grundstruktur haben: das Verkup-
peln von bereits bestehenden, bisher jedoch getrennten Wissensbereichen, Wahrneh-
mungssystemen oder Denkwelten. Das bewußte rationale Denken erweist sich dabei
nicht immer als der beste Cocktailmixer. Die schöpferische Tätigkeit setzt ein, wenn die
üblichen Denkroutinen versagt haben; sie spielt sich nach dem Muster von Rückzug und
Vorstoß ab, durch eine vorübergehende Regression, die in dem bisoziativen Akt kulmi-
niert. Es handelt sich hier um die höchste Form des regenerativen Prozesses, der Erret-
tung aus den Sackgassen der Stagnation; doch finden sich analoge Phänomene bereits
auf den unteren Sprossen der evolutionären Stufenleiter, die in den vorausgehenden Ka-
piteln erörtert wurden.
Die drei schöpferischen Bereiche bilden ein Kontinuum. Die Grenzen zwischen Wis-
senschaft und Kunst, zwischen der AH-Reaktion und der AHA-Reaktion, sind fließend,
ganz gleich, ob es sich um Architektur, Kochkunst, Psychiatrie oder Geschichtsschrei-
bung handelt. Nirgendwo gibt es eine scharfe Trennlinie, an der die Wissenschaft auf-
hört und die Kunst beginnt. Das emotionale Klima in den drei Bereichen läßt gleicher-
maßen kontinuierliche Übergänge erkennen. Am einen Ende des Spektrums finden wir
den Spaßmacher, voll aggressiver Bosheit – am entgegengesetzten Ende den Künstler
mit seiner Sehnsucht nach Selbsttranszendenz. Die Motivierung des Wissenschaftlers in
der Mittelzone des Kontinuums beruht auf einer wohlabgestimmten Kombination der
beiden Grundtendenzen: Ehrgeiz und Konkurrenzsucht werden aufgewogen durch die
selbsttranszendierende Hingabe an das Werk. Wissenschaft ist neutrale Kunst.

132
Die Wissenschaft – so besagt ein uraltes Klischee – strebt nach der Wahrheit, die Kunst
nach der Schönheit. Doch die Kriterien der Wahrheit – wie die Bestätigung einer Theo-
rie durch das Experiment – sind keineswegs so scharf und klar, wie wir gerne glauben
möchten. Die gleichen Experimentierergebnisse lassen sich häufig auf mehr als eine Art
interpretieren – deshalb gibt es auch in der Geschichte der Wissenschaft ebenso viele
leidenschaftliche Kontroversen wie in der Geschichte der Literaturkritik. Überdies
kommt die Bestätigung – oder Widerlegung – einer Entdeckung immer erst nach dem
Entdeckungsakt; der schöpferische Akt selbst ist für den Wissenschaftler ebenso wie für
den Künstler stets ein Sprung ins Ungewisse, bei welchem beide gleichermaßen auf ihre
trügerischen Intuitionen angewiesen sind. Und die bedeutendsten Mathematiker und
Physiker haben bekannt, daß sie sich in dem entscheidenden Augenblick, in dem sie den
Sprung gewagt hatten, nicht von der Logik leiten ließen, sondern von einem Schönheits-
sinn, den sie nicht definieren können. Umgekehrt ließen sich Maler und Bildhauer, ganz
zu schweigen von Architekten, stets von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftli-
chen Theorien und Wahrheitskriterien leiten, die häufig zu fixen Ideen ausarteten – der
Goldene Schnitt, die Gesetze der Perspektive, Dürers und Leonardos Proportionslehren
für die Darstellung des menschlichen Körpers, Cézannes Doktrin, alles in der Natur sei
nach dem Modell der Kugel und des Zylinders aufgebaut, Braques Alternativtheorie,
Kuben seien an die Stelle der Kugeln zu setzen. Das gleiche gilt natürlich auch für den
Bereich der Literatur – von den formalen Gesetzen, die man der griechischen Tragödie
auferlegte, bis zu denen verschiedener Schulen aus der jüngsten Zeit; und ebenso für die
Harmonielehre und die Gesetze des Kontrapunkts im Bereich der Musik. Mit anderen
Worten: das Erlebnis der Wahrheit, wie subjektiv es auch immer sein mag, ist eine
Grundvoraussetzung für das Erlebnis der Schönheit – und umgekehrt: die »elegante«
Lösung eines Problems erweckt beim Kenner das Erlebnis der Schönheit. Die geistige
Erleuchtung und die emotionale Katharsis sind komplementäre Aspekte eines unteilba-
ren Prozesses.
Im vorliegenden Kapitel habe ich versucht, die in einem früheren Werk entwickelte
Theorie vom schöpferischen Akt in Kunst und Wissenschaft in einem kurzen Abriß dar-
zulegen – und sie noch einen Schritt weiterzuentwickeln. Ein Abriß kann notgedrungen
nur skizzenhaft sein; ich möchte daher den interessierten Leser auf das Originalwerk
verweisen und mich dafür entschuldigen, daß ich ein paar Passagen daraus hier noch
einmal wiederholt habe.

133
14 Das Gespenst in der Maschine
Die wirklich großen Fragen sind jene,
die ein intelligentes Kind stellt
und von denen es nicht mehr spricht,
wenn es keine Antwort bekommen hat.
George Wald
Der Leser, der der Darstellung bis hierher gefolgt ist, mag an dieser Stelle Protest erhe-
ben und sagen, es sei ein Sakrileg, das Komponieren einer Brahms-Symphonie oder
Newtons Entdeckung der Bewegungsgesetze als eine »Flucht aus der Sackgasse« zu be-
zeichnen und sie mit der Mutation einer Seescheide, der Regeneration eines Salaman-
dergliedes oder der Heilung von Patienten durch die Psychotherapie zu vergleichen. Ich
bin nicht dieser Ansicht, im Gegenteil, ich glaube, dieser kurze Überblick über die bio-
logische und die geistige Evolution zeigt deutlich, daß überall schöpferische Kräfte am
Werk sind, die die optimale Verwirklichung des in der lebenden Materie und im leben-
digen Geist vorhandenen Potentials erstreben – daß eine universale Tendenz wirksam ist
in Richtung auf »eine spontane Entwicklung von Strukturen mit größerer Heterogenität
und Komplexität« (H Herrick).109 Diese nüchternen Worte eines bedeutenden Physiologen
weisen auf eine Grundeigenschaft aller lebenden Materie hin, die die Wissenschaft lan-
ge Zeit aus den Augen verloren hatte und erst jetzt langsam wiederentdeckt.

14.1 Der »Zweite Hauptsatz«


Das Evangelium der Wissenschaft von der »Flachen Erde« war der berühmte »Zweite
Hauptsatz der Thermodynamik« von Rudolf Clausius. Danach läuft das Universum wie
ein von Metallmüdigkeit betroffenes Uhrwerk allmählich ab, weil seine Energie ständig
und in unaufhaltsamer Weise abgebaut wird und sich in Wärme umsetzt, bis es sich
schließlich in eine formlose, homogene Gasblase auflösen wird, mit einer Temperatur
knapp über dem absoluten Nullpunkt – das ist der kosmische Wärmetod. Erst in jüngster
Zeit begann die Wissenschaft sich von der hypnotischen Wirkung dieses Alptraums zu
erholen und zu erkennen, daß der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nur auf den
speziellen Fall der sogenannten geschlossenen Systeme anwendbar ist (wie zum Bei-
spiel Gas, das in einem vollkommen isolierten Behälter eingeschlossen ist). Aber derar-
tige geschlossene Systeme gibt es nicht einmal in der unbelebten Natur (ob das Univer-
sum als Ganzes in diesem Sinn ein geschlossenes System darstellt, weiß niemand zu sa-
gen). Alle lebenden Organismen sind jedoch »offene Systeme«, das heißt, sie bewahren
ihre komplexen Formen und Funktionen durch einen kontinuierten Austausch von
Energie und Materie mit ihrer Umwelt.* Anstatt abzulaufen wie ein mechanisches Uhr-
werk, das seine Energie durch ständige Reibung abbaut, baut der lebendige Organismus
ständig komplexere Substanzen aus den Substanzen auf, aus denen er sich ernährt,
komplexere Energieformen aus den Energien, die er absorbiert, und komplexere Infor-
mationsstrukturen – Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken – aus der Reizzufuhr
seiner Sinnesorgane.
* Der Begriff »offenes System« in diesem fachtechnischen Sinn hat natürlich nichts mit der Konzeption
von nach oben und unten »offenen« Hierarchien zu tun.
Die hierarchische Organisation einerseits und die Charakteristika
der offenen Systeme anderseits sind fundamentale Prinzipien der le-
benden Natur; und die Fortschritte der theoretischen Biologie müs-
sen sich in erster Linie auf diese beiden Grundprinzipien stützen.110

134
So schrieb vor vielen Jahren Bertalanffy, einer der Pioniere der neuen Richtung in der
Biologie; seine Worte wurden jedoch nicht mit übermäßigem Enthusiasmus aufgenom-
men. Die Vorstellung, daß Organismen – im Gegensatz zu Maschinen – in erster Linie
auf Aktion und nicht auf eine bloß passive Reaktion ausgerichtet waren, daß sie sich
nicht passiv ihrer Umwelt anpaßten, sondern »schöpferisch in dem Sinn waren, daß sie
ständig neue Formen und Verhaltensweisen hervorbrachten« (H Herrick),111 das ging ge-
gen den Zeitgeist. Diese »offenen Systeme«, die die Fähigkeit besaßen, sich unbegrenzt
in dynamischem Gleichgewicht zu erhalten, erinnerten auf fatale Weise an das Perpetu-
um mobile – das von dem unerbittlichen Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für
unmöglich erklärt wurde. Daß dieser Zweite Hauptsatz auf die lebende Materie nicht
anwendbar war, ja daß er sich in gewissem Sinn bei der lebenden Materie sogar ins Ge-
genteil verkehrte, das erschien einer Orthodoxie inakzeptabel, die immer noch davon
überzeugt war, alle Phänomene des Lebens ließen sich letztlich auf physikalische Ge-
setze reduzieren. Es war in der Tat ein Physiker und nicht ein Biologe – nämlich der
Nobelpreisträger Erwin Schrödinger –, der die Situation in einem berühmt gewordenen
Paradoxon zusammenfaßte: »Wovon sich ein Organismus ernährt, das ist negative
Entropie.«112 Nun ist Entropie (»umgewandelte Energie«) die Bezeichnung für abge-
baute Energie, die durch Reibung und andere Abbauprozesse in die Zufallsbewegungen
von Molekülen aufgelöst worden ist und nicht wiedergewonnen werden kann. Mit ande-
ren Worten, Entropie ist eine Maßeinheit für den Energieverlust, für den allmählichen
Zerfall geordneter Prozesse in ungeordnete Prozesse. Der Zweite Hauptsatz von Clausi-
us läßt sich auch so ausdrücken, daß man sagt, die Entropie eines geschlossenen Sy-
stems zeigt stets die Tendenz, auf einen Maximalwert anzusteigen, bei dem dann alle
Ordnung aufgelöst ist wie bei der chaotischen Bewegung von Gasmolekülen;* wenn al-
so das Universum ein geschlossenes System ist, dann muß es letztlich vom Kosmos
zum Chaos zerfallen.
* Das Wort Gas leitet sich in der Tat vom griechischen Chaos ab.
So wurde die Entropie zu einer Schlüsselkonzeption der mechanistisch orientierten Wis-
senschaft – ihr Pseudonym für Thanatos, den Gott des Todes. Schrödingers »negative
Entropie« ist somit der etwas pervers formulierte Hinweis auf den gegenteiligen Prozeß:
auf den Aufbau im Organismus von komplexen Systemen aus einfachen Elementen, von
Form aus Formlosigkeit, von Ordnung aus der Unordnung. Gleichermaßen charakteri-
stisch ist die Tatsache, daß in der modernen Kommunikationstheorie auch der Informa-
tionsgehalt einer Botschaft als »negative Entropie«113 angesehen wird. Wenn man so
weiterfährt, kann man auch das Wissen als negative Ignoranz definieren, Amüsements
als das Fehlen von Langeweile und den Kosmos als die Abwesenheit von Chaos. Aber
wie die Terminologie auch immer lauten mag, die Tatsache bleibt bestehen, daß leben-
dige Organismen die Fähigkeit haben, aus dem Chaos von Sinnesreizen, das auf sie ein-
dringt, geordnete Wahrnehmungen und komplexe Wissenssysteme aufzubauen; das Le-
ben saugt Informationen aus der Umwelt, auf gleiche Art wie es Nährstoffe und Energi-
en aus ihr aufnimmt. Die gleiche, spontane Aufbautendenz manifestiert sich in der
Phylogenese, in dem Phänomen der »Evolution durch Initiative«, in dem stetigen Fort-
schritt zu komplexeren Funktionen und Formen hin, im Aufbau neuer Stufen in der or-
ganismischen Hierarchie und neuer Methoden bei der Koordination, die zur besseren
Beherrschung der Umwelt führen.
Wir brauchen uns also nicht darüber aufzuregen, daß man Negative benutzt, um diese
ganz augenfällig positiven Prozesse zu beschreiben, denn darin spiegelt sich nur die un-
bewußte Furcht des Wissenschaftlers wider, er könnte der Häresie des Vitalismus ver-
fallen und wieder auf die Entelechien des Aristoteles, die Monadenlehre von Leibnitz
oder Bergsons élan vital zurückgreifen. Damit wäre in der Tat nichts gewonnen. Es er-
scheint weiser, sich an die vorsichtigen Formulierungen hartgesottener Empiriker zu
halten, die sich dennoch weigern, zu glauben, die Erde sei flach. Für Herbert Spencer

135
zum Beispiel bestand das Gesetz der Evolution in »Integration von Materie ... aus einer
inkohärenten Homogenität zu einer kohärenten Heterogenität«.114 Der deutsche Biologe
Woltereck prägte den Begriff »Anamorphose« für die primäre und allgegenwärtige
Tendenz in der Natur, komplexere Formen hervorzubringen; L. L. Whyte bezeichnete
sie als »das fundamentale Prinzip der Entwicklung von Strukturen«.*
* »Bei allen Vorgängen in der Natur treten zwei miteinander kontrastierende Tendenzen hervor: die eine
in Richtung auf lokale Ordnung, die andere in Richtung auf uniforme allgemeine Unordnung. Die erste
Tendenz ist in allen Prozessen erkennbar, in denen eine Region der Ordnung sich von einer weniger ge-
ordneten Umwelt zu differenzieren sucht. Das zeigt sich bei der Kristallbildung, bei chemischen Verbin-
dungen und bei den meisten organischen Prozessen. Die zweite Tendenz wird in den Prozessen der Ra-
diation und der Diffusion erkennbar und führt zu einer Uniformität von ›thermaler Unordnung‹. Norma-
lerweise wirken diese beiden Tendenzen in einander entgegengesetzten Richtungen,114a wobei die erste Re-
gionen von differenzierter Ordnung hervorbringt, die zweite sie dispersiert.« (W
Whyte .)
Einstein verwarf die Konzeption von der Zufälligkeit des evolutionären Geschehens
durch seine »Weigerung, daran zu glauben, Gott spiele mit der Welt Würfel«; Schrö-
dinger sah sich gezwungen, die Existenz eines Ichs zu postulieren, das letztlich »die
Bewegungen der Atome kontrolliert«.115 Zuletzt will ich noch einmal Bertalanffy zitie-
ren: »Nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zeigt die allgemeine Richtung
physikalischer Prozesse eine Tendenz zum Zerfall von Ordnung und Organisation. Im
Gegensatz dazu scheint die in der Evolution erkennbare Richtung eine Tendenz zu zu-
nehmender Ordnung zu haben.«116
In der hier vorgebrachten Theorie bezeichnen wir diesen Richtungsfaktor als »integrati-
ve Tendenz«. Ich habe zu zeigen versucht, daß sie vom Begriff der hierarchischen Ord-
nung untrennbar ist und sich auf jeder Stufe manifestiert, von der Symbiose der Orga-
nellen in der Zelle bis zu den ökologischen Gemeinschaften und menschlichen Sozial-
verbänden. Jedes lebendige Holon zeigt die dualistische Tendenz, seine Individualität zu
bewahren und zu behaupten, aber gleichzeitig als integrierter Teil eines bestehenden
oder sich entwickelnden Ganzen zu funktionieren.
Soviel kann man, glaube ich, mit einiger Sicherheit sagen. Jenseits davon sind die An-
fänge der Evolutionsgeschichte verborgen hinter dem Big Bang, mit welchem laut Ex-
plosionstheorie das Universum begann – wenn es so begann –, oder hinter der kontinu-
ierlichen Entstehung von Materie aus dem Nichts – falls die Dinge so liegen. Die Evo-
lution ist, wie ein Klischee besagt, eine Reise von einem unbekannten Ursprungsort zu
einem unbekannten Bestimmungsort – eine Segelfahrt über einen weiten Ozean; wir
können jedoch zumindest die Route rekonstruieren, die uns vom Stadium der Seegurke
bis zur Eroberung des Mondes geführt hat; und die Weigerung anzuerkennen, daß auf
diesem Ozean ein Wind geht, der die Segel treibt, ist ein Zeichen von metaphysischer
Verstocktheit.
Aber ob wir nun sagen, der Wind, der aus einer fernen Vergangenheit kommt, treibt das
Boot voran, oder ob wir sagen, er zieht es in die Zukunft hinein, das ist nicht so wichtig.
Die Zielgerichtetheit aller Lebensvorgänge: das Streben der Blastula, sich zu einem Kü-
ken zu entwickeln, gleichgültig, welchen Fährnissen und Zufällen es ausgesetzt sein
mag, die erfinderischen Improvisationen, die sich Tiere und Menschen einfallen lassen,
um das Ziel ihrer Bemühungen zu erreichen – all das könnte den unvoreingenommenen
Betrachter zu dem Schluß verleiten, die Zugkraft der Zukunft sei ein ebenso realer und
gelegentlich sogar noch entscheidenderer Faktor als die Schubkraft der Vergangenheit.
Der Schub läßt sich mit der Kraft vergleichen, die von einer zusammengepreßten Feder
ausgeübt wird, der Zug mit der Kraft einer in der Richtung der Zeitachse gedehnten Fe-
der. Keine von beiden ist mehr oder weniger mechanistisch als die andere. Die moderne
Physik ist gerade dabei, ihre Vorstellungen von der Zeit neu zu durchdenken. Ist die
Zukunft völlig determiniert, im Sinne von Laplace, dann ist die eine Beschreibung
ebenso zutreffend wie die andere; ist sie jedoch unbestimmt, im Sinne von Heisenberg,
und gibt es einen uns noch unbekannten Faktor, der innerhalb der Luftblasen im Strom

136
der Kausalität wirksam ist, dann könnte dieser von der Zukunft ebenso beeinflußt wer-
den wie von der Vergangenheit. Wir sollten versuchen, den Problemen von Kausalität
und Finalität vorurteilslos und aufgeschlossen gegenüberzutreten – auch dann, wenn das
dem Zeitgeist nicht zu entsprechen scheint.*
* Es ist interessant, festzustellen, daß Waddington sich117
in einem erst kürzlich erschienenen Buch zugun-
sten einer »quasi-finalistischen Auffassung« ausspricht.

14.2 Das Pendel schwingt hin und her


In seinem Buch THE CONCEPT OF MIND (1949) hat Professor Gilbert Ryle – ein Philo-
soph aus Oxford mit stark behavioristischen Tendenzen – die übliche Unterscheidung
zwischen physischen und geistigen Vorgängen attackiert und letztere (»mit bewußter
Ironie«, wie er sagt) als »Gespenst in der Maschine« bezeichnet. In einer Rundfunksen-
dung der BBC hat er dann seine Metapher weiter ausgebaut, und aus dem Gespenst in
der Maschine wurde ein Pferd in einer Lokomotive.118 Professor Ryle ist ein prominen-
ter Repräsentant der sogenannten Oxfordschule in der Philosophie, die nach den Worten
eines ihrer Kritiker »echtes Denken als eine Krankheit ansieht« (G Gellner).119 Diese selt-
same philosophische Irrlehre hat heute an Bedeutung stark verloren«,* und wir wollen
nicht bei ihr verweilen; denn trotz ihrer Bemühungen, die fundamentalen Probleme von
Geist und Materie, von Willensfreiheit und Determinismus als Scheinprobleme abzutun,
haben diese sogar noch an Dringlichkeit gewonnen – nicht als Thema von philosophi-
schen Erörterungen, sondern wegen ihrer unmittelbaren Bedeutung für die politische
Ethik und die private Moral, für das Strafrechtswesen und die Psychiatrie sowie für un-
sere gesamte Lebensauffassung. Schon allein durch die Tatsache, daß wir die Existenz
des Gespenstes in der Maschine leugnen – des Geistes, der auf die Aktionen des Kör-
pers angewiesen, aber auch für sie verantwortlich ist –, laufen wir Gefahr, daß es sich in
ein recht bösartiges Gespenst verwandelt.
120 121 122 123
* Siehe – unter anderem – Smythies, John Beloff, Gellner und Kneale.
Bevor es den Behaviorismus gab, waren es die Psychologen und Logiker, die nach-
drücklich die Auffassung vertraten, die Bewußtseinsvorgänge besäßen spezielle Eigen-
schaften, durch die sie sich von den Vorgängen im materiellen Bereich unterschieden;
während die Physiologen im allgemeinen zu der materialistischen Auffassung neigten,
alle geistigen Vorgänge ließen sich auf die Tätigkeit der »automatischen Telephonzen-
trale« im Gehirn reduzieren. Während der letzten fünfzig Jahre hat sich jedoch die Si-
tuation nahezu ins Gegenteil verkehrt. Die Logikprofessoren in Oxford spötteln über das
Pferd in der Lokomotive, aber jene Männer, die ihre Lebensarbeit der Anatomie, der
Physiologie, der Pathologie und der Chirurgie des Gehirns widmeten, haben sich in zu-
nehmendem Maß zur gegenteiligen Ansicht bekehrt. Was sie dazu veranlaßt hat, mag
das folgende Beispiel erklären.
Einer der führenden Neurochirurgen, Wilder Penfield von der McGill-Universität, hat
neue Techniken für Experimente an Patienten während einer Gehirnoperation entwik-
kelt. Der Patient ist bei Bewußtsein; die Experimente – die schmerzlos sind – bestehen
in der Stimulierung bestimmter Punkte an der bloßgelegten Großhirnrinde mit
Schwachstromelektroden. Da die Hirnrinde unempfindlich ist, ist sich der Patient der
Stimulierungen nicht bewußt, wohl aber der Bewegungen, die auszuführen ihn der
Strom veranlaßt. Penfield berichtet:
Appliziert der Neurochirurg eine Elektrode an der motorischen Regi-
on der Großhirnrinde des Patienten und löst damit eine Bewegung
der gegenüberliegenden Hand aus, und fragt er dann den Patienten,
warum er seine Hand bewegt hat, dann erhält er zur Antwort: »Ich
hab’s nicht getan. Sie haben mich gezwungen, es zu tun.« – Man
könnte sagen, der Patient glaubt, sein Ich führe eine von seinem

137
Körper unabhängige Existenz. Als ich einmal einem Patienten vorher
mitteilte, ich würde jetzt die Elektrode ansetzen und ihn auffordern,
seine Hand während der Applikation der Elektrode nicht zu bewegen,
packte er sie mit der anderen Hand und bemühte sich krampfhaft,
sie stillzuhalten. Eine Hand stand also unter der Kontrolle der rech-
ten Hemisphäre, die durch eine Elektrode angetrieben wurde, die
andere Hand kontrollierte er selbst durch seine linke Hemisphäre,
und beide waren gezwungen, gegeneinander zu kämpfen. Hinter der
»Gehirntätigkeit« der einen Großhirnhemisphäre stand der Geist des
Patienten – hinter der Tätigkeit der anderen Hemisphäre die Elektro-
de.124
Penfield schloß seinen denkwürdigen Vortrag mit folgenden Worten:*
Es gibt also, wie Sie sehen, viele nachweisbare Mechanismen (im Ge-
hirn). Sie arbeiten automatisch für die Zielsetzung der Psyche, wenn
sie dazu veranlaßt werden ... Aber was ist die Beschaffenheit der In-
stanz, die diese Mechanismen zu ihrer Tätigkeit aufruft und die dem
einen gegenüber dem anderen den Vorzug gibt? Handelt es sich hier
um einen weiteren Mechanismus, oder gibt es im Geist etwas von
unterschiedlicher Substanz? ... Wenn man behauptet, diese beiden
Dinge seien ein und dasselbe, dann heißt das noch lange nicht, daß
sie es auch tatsächlich sind. Aber eine derartige Behauptung hemmt
in der Tat den Fortschritt der Forschung.125
* Gehalten auf dem »Control-of-the-Mind«-Symposion am University of California Medical Centre in
San Franzisko (1961).
Es ist interessant, die Reaktion von Penfields Patienten mit der Reaktion von Ver-
suchspersonen zu vergleichen, die einen posthypnotischen Auftrag ausführen sollen –
den Sitz wechseln, ihre Knöchel berühren oder »Februar« sagen, wenn sie das Wort
»drei« hören. In beiden Fällen ist es der Experimentator, der die Tätigkeit der Ver-
suchsperson auslöst; während jedoch die Versuchsperson, die nicht weiß, daß sie einen
posthypnotischen Befehl ausführt, automatisch eine mehr oder minder plausible ratio-
nale Erklärung dafür findet, daß sie ihren Knöchel berührt hat, erkennen Penfields Pati-
enten, daß sie einem physischen Zwang gehorchen: »Niemals hat ein Patient zu mir ge-
sagt: ›Ich wollte das ja ohnehin gerade tun!‹« Man ist versucht, zu sagen: der Hypnoti-
seur zwingt seinen Willen dem Geist, der Neurochirurg nur dem Gehirn der Ver-
suchsperson auf.
Zwei Symposien aus jüngerer Zeit – »Control of the Mind« (1961)126 und »Brain and
Conscious Experience« (1966)127 – haben eindrucksvoll demonstriert, wohin das Pendel
ausgeschlagen hat. Der wohl bedeutendste Neurologe unseres Jahrhunderts, Sir Charles
Sherrington, war damals nicht mehr am Leben, aber seine Auffassung vom Geist-
Körper-Problem klang wiederholt als eine Art Leitmotiv an:
Daß unser Wesen aus zwei fundamentalen Elementen bestehen soll,
hat – wie ich glaube – keine größere Unwahrscheinlichkeit für sich
als die Ansicht, es bestehe nur aus einem solchen Element ... Wir
müssen wohl davon ausgehen, daß die Beziehung zwischen Geist
und Gehirn nicht nur ein immer noch ungelöstes Problem ist, son-
dern daß wir noch nicht einmal einen ersten Ansatzpunkt zu seiner
Lösung gefunden haben.128

138
14.3 Die Bühne und die Schauspieler
Den Anhängern der »Flache-Erde-Theorie« ist es zwar keineswegs gelungen, ihre Be-
hauptung zu beweisen, das Geist-Körper-Problem sei nur ein Scheinproblem, aber es
wäre gleichermaßen töricht, ins andere Extrem zu verfallen und auf den kartesischen
Dualismus zurückzugreifen. Es hätte nicht viel Sinn, hier noch einmal die verschiede-
nen Theorien auszubreiten, die zur Überbrückung dieser Kluft vorgebracht wurden –
Wechselwirkung, Parallelismus, Epiphänomenalismus, Identitätshypothese und so wei-
ter.* Statt dessen wollen wir lieber untersuchen, ob man mit Hilfe der Konzeption von
der offenen Hierarchie neues Licht auf dieses sehr alte Problem werfen kann.
* Neben den bereits vorher erwähnten Symposien, die dieses Problem vom neurophysiologischen Stand-
punkt aus angingen, gibt es noch ein ausgezeichnetes philosophisches Symposion, in Buchform heraus-
gegeben von J. R. Smythies: BRAIN AND MIND (1965).
Der erste und gleichzeitig entscheidende Schritt besteht darin, sich von der Denkscha-
blone der nur zweischichtigen Dichotomie Geist-Materie frei zu machen und an ihre
Stelle die Vorstellung der vielschichtigen Hierarchie zu setzen. Die Materie selbst ist ja
längst nicht mehr ein einheitlicher Begriff, die Hierarchie von mikroskopischen, mole-
kularen, atomaren und subatomaren Schichten stößt niemals auf einen festen Grund,
und schließlich löst sich die harte Materie anscheinend in Energiekonzentrate und
Raumspannungen auf. In der entgegengesetzten Richtung erleben wir das gleiche: die
aufsteigende Folge von Stufen führt von automatischen und halbautomatischen Reak-
tionen über Bewußtheit, Selbstbewußtheit und so fort, ohne jemals an eine letzte Grenze
zu stoßen.
Die kartesische Tradition, die Psyche mit dem »bewußten Denken« zu identifizieren,
hat sich in unseren Denkgewohnheiten tief eingeprägt und läßt uns ständig die ganz of-
fensichtliche und triviale Tatsache vergessen, daß das Bewußtsein nicht eine Frage von
Ja oder Nein ist, sondern eine Frage der Abstufungen. Es existiert eine kontinuierliche
Skala von Abstufungen, und diese reicht von der Bewußtlosigkeit, die eintritt, wenn
man einen Schlag auf den Kopf bekommt, über die begrenzten Bewußtseinszustände im
traumlosen Schlaf, beim Träumen, beim Tagträumen, bei Schläfrigkeit, bei epilepti-
schen Automatismen und so weiter bis hinauf zum klaren, hellwachen Zustand. Das
sind die allgemeinen Grade des Bewußtseins, welche für die – hellere oder weniger
helle – Beleuchtung auf der Bühne sorgen, auf der die geistige Tätigkeit sich abspielt.
Das untere Ende dieser Skala verliert sich im Ungewissen. Ethologen, die ihr Leben
lang Tiere beobachten, weigern sich entschieden, im Tierreich eine Grenze zu ziehen,
wo das Bewußtsein aufhört; Neurophysiologen sprechen von einem »spinalen Bewußt-
sein« bei niederen Tieren, und Biologen sogar vom »protoplasmischen Bewußtsein« bei
den einzelligen Lebewesen.* Bergson ging noch weiter:
Die Unbewußtheit eines fallenden Steins ist etwas anderes als die
Unbewußtheit eines heranwachsenden Kohlkopfs.
* Wie zum Beispiel bei den bereits früher erwähnten Foraminiferen (siehe Kapitel 11), die aus den Ske-
lettnadeln toter Schwämme mikroskopisch kleine Bauten errichten – Bauten, die Hardy als »wahre Kon-
struktionswunder, wie nach einem festen Plan gebaut«, bezeichnet hat. Und diese einzelligen Lebewesen
besitzen natürlich kein Nervensystem.
Beim Menschen lassen sich die Bewußtseinszustände durch Drogen beeinflussen, die
die gesamte Funktionsweise des Gehirns verändern; aber auch durch die Art der Tätig-
keit, die auf der Bühne vor sich geht – ob ich abends im Bett einen Kriminalroman lese
oder anfange, Schafe zu zählen. Es ergibt sich also die paradoxe Situation eines Rück-
koppelungskreises, in welchem die Tätigkeit des Schauspielers automatisch die Büh-
nenbeleuchtung erhellt oder abdunkelt – die wiederum ihrerseits die Tätigkeit des
Schauspielers beeinflußt. Die Dramaturgie des Träumens ist nicht die gleiche, die für
die vollerleuchtete Bühne gilt.

139
Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen allgemeinen Bewußtseinszuständen – Stu-
fen der Wachsamkeit, Ermüdung, Intoxikation – und dem Grad der Bewußtheit einer
spezifischen Tätigkeit. Der erste Begriff bezieht sich auf das »bei Bewußtsein sein«, der
zweite auf »sich einer Sache bewußt sein«. Der erste entspricht der allgemeinen Aus-
leuchtung der gesamten Bühne, der zweite dem Scheinwerferstrahl, der sich auf einen
bestimmten Schauspieler konzentriert. Daß beide eine wechselseitige Wirkung aufein-
ander ausüben, haben wir bereits festgestellt. Aber auch die Bewußtheit beim Vollzug
einer speziellen Tätigkeit hat ihre eigene Variationsskala. Beim Menschen reicht diese
Skala von den stummen, selbstregulierenden Tätigkeiten der Eingeweide und der Drü-
sen – also von physiologischen Prozessen, deren wir uns normalerweise nicht bewußt
werden – über Wahrnehmungen in den Randzonen der Bewußtheit, über Gewohnheits-
handlungen, die wir mechanisch wie ein Roboter vollziehen, bis hinauf zur vollen Kon-
zentration auf ein bestimmtes Problem, im Brennpunkt der Bewußtheit – der Scheinwer-
fer hat sich einen Schauspieler ausgesucht, der momentan die Szene beherrscht; der
Rest der Bühne ist im Dämmerlicht.

14.4 Verlagerung der Kontrolle


Wir kommen jetzt zu einem wichtigen Punkt. In Kapitel 8 haben wir festgestellt, daß die
gleiche Tätigkeit – zum Beispiel das Autofahren – je nach Sachlage entweder automa-
tisch ausgeführt werden kann, ohne daß wir uns der eigenen Handlungsakte bewußt
werden, oder auf mehr oder minder bewußte Art. Fahre ich auf einer mir vertrauten, ru-
higen Straße, dann kann ich das der automatischen Steuerungsanlage, dem »Autopilo-
ten« in meinem Nervensystem überlassen und inzwischen über etwas anderes nachden-
ken. Das Überholen von anderen Fahrzeugen auf einer Autobahn ist meistens ein halb-
bewußter Routineprozeß; in einer verzwickten Situation jedoch erfordert das Überholen,
daß ich mir dessen, was ich tue, voll bewußt bin. Diese Alternativmöglichkeiten gelten
nicht nur für sensorischmotorische Fertigkeiten wie Autofahren oder Maschineschrei-
ben, sondern auch für kognitive Fertigkeiten wie das Zusammenrechnen einer Spalte
von Zahlen oder das Mundaufreißen bei einem Vortrag – wie das Lashleys Freund getan
hat (siehe Kapitel 2).
Es scheint mehrere Faktoren zu geben, die darüber bestimmen, wieviel bewußte Auf-
merksamkeit man einer Tätigkeit zuwenden muß. Das Erlernen einer neuen Fertigkeit
erfordert zunächst ein hohes Maß an Konzentration; mit zunehmender Beherrschung
und Praxis kann man sie jedoch auch »im Schlaf« ausüben, weil jetzt die Spielregeln
der Fertigkeit unter der Bewußtseinsschwelle operieren; und das gilt gleichermaßen für
manipulierte, perzeptorische und intellektuelle Fertigkeiten. Der Kondensationsprozeß,
der aus Lernen Gewohnheit macht, vollzieht sich unaufhörlich; er bewirkt eine konti-
nuierliche Umwandlung von »geistigen Aktivitäten« in »mechanische Aktivitäten« –
von »psychischen Vorgängen« in »maschinelle Prozesse«.
Auf negative Weise läßt sich also Bewußtsein bezeichnen als diejenige mit einer Tätig-
keit verbundene Qualität, die proportional zur Gewohnheitsbildung abnimmt. Der
Übergang vom Lernen zur Routine wird begleitet von einer allmählichen Dämpfung des
Bewußtheitslichtes. Daher erwarten wir, daß sich, wenn die Routine in ihrem Ablauf
gestört wird, der umgekehrte Prozeß vollzieht: daß dann ein Wechsel vom »mechani-
schen« zum »bewußten« Verhalten eintritt. Die Alltagserfahrung bestätigt diese Ver-
mutung – aber was ergibt sich daraus?
Gewohnheiten und Fertigkeiten sind Verhaltens-Holons mit festen Spielregeln und fle-
xiblen Taktiken, das heißt Auswahlmöglichkeiten zwischen mehreren Alternativen. Es
stellt sich nun die Frage, auf welche Weise diese Auswahlen getroffen werden. Auto-
matisierte Routinefertigkeiten sind in dem Sinn selbstregulierend, daß ihre Taktik auto-
matisch durch Rückkoppelungen aus der Umwelt gesteuert wird, ohne daß sich die

140
Notwendigkeit ergibt, Entscheidungen an höhere Instanzen zu verweisen. Wie ein Ser-
vomechanismus oder ein radargesteuertes Fluglandesystem operieren sie mit Hilfe von
geschlossenen Rückkoppelungskreisen. Der Knabe auf dem Fahrrad und der Seiltänzer,
der seine Balance mit Hilfe einer Bambusstange aufrecht erhält, sind Beispiele dieser
Art von »kinetischer Homeostase«. Sicherlich führt der Seiltänzer sehr subtile, flexible
Manöver aus, aber sie erfordern keine bewußten Entscheidungen; die visuelle und die
kinästhetische Rückkoppelung besorgen die Steuerung des Bewegungsablaufes. Das
gleiche gilt auch für das Autofahren – solange sich nichts Unerwartetes ereignet, etwa
daß eine Katze quer über die Straße läuft. In diesem Augenblick ist eine Entscheidung
erforderlich, die jenseits des Kompetenzbereiches des automatisierten Routineprozesses
liegt* und daher einer »höheren Instanz« vorgelegt werden muß. Diese Verlagerung der
Kontrolle über eine Tätigkeit von einer gegebenen auf eine höhere Stufe der Hierarchie
– von einem »mechanischen« auf ein »geistiges« Niveau des Verhaltens – liefert uns
den Schlüssel zu dem subjektiven Erlebnis des freien Willens. Es handelt sich hier um
das gleiche Phänomen, das der Patient auf dem Operationstisch in extremer Form erlebt,
wenn er bewußt versucht, mit seiner linken Hand die maschinenartige Bewegung seiner
rechten zu bremsen, und das, wie Penfield sagt, dazu führt, daß der Patient glaubt, »sein
Ich führe eine von seinem Körper unabhängige Existenz«.
* In der Computersprache würde man sagen: »... für die er nicht programmiert worden ist.«

14.5 Dualismus und Pluralismus


An diesem Punkt laufen wir jedoch Gefahr, wieder in den nur zweischichtigen kartesi-
schen Dualismus zurückzufallen. Der Patient auf dem Operationstisch ist, wie gesagt,
ein extremer Ausnahmefall. Der Fahrer, der eine rasche Entscheidung darüber fällen
muß, ob er die Katze überfahren oder die Sicherheit seiner Mitfahrenden gefährden soll,
hat nicht das Gefühl, sein Ich führe eine von seinem Körper unabhängige Existenz. Was
sich im Augenblick der Krise ereignet, ist eine plötzliche Verlagerung der Kontrolle auf
eine höhere Stufe der vielstufigen Hierarchie, von einem halbautomatischen zu einem
bewußten Handlungsvollzug – das ist etwas Relatives, nicht etwas Absolutes. Und wie
immer die bewußt gefällte Entscheidung ausfallen mag, ihre konkrete Ausführung muß
immer noch den automatischen Teilfertigkeiten (Bremsen, das Steuerrad herumreißen
und so weiter) auf den unteren Stufen der Hierarchie überlassen bleiben.
»Das Bewußtsein«, sagt Thorpe, »ist eine primäre Tatsache des Daseins und kann als
solche nicht erschöpfend definiert werden ...«129 Alles Beweismaterial deutet darauf hin,
daß das Bewußtsein auf den unteren Sprossen der Evolutionsleiter – wenn es dort über-
haupt existiert – von sehr allgemeiner Art, das heißt sozusagen unstrukturiert sein muß;
und daß mit der Entwicklung von zielgerichteten Verhaltensweisen und intensivierter
Aufmerksamkeit das erwartungsvolle Bewußtsein ständig lebhafter und präziser
wird.«130
Nach dem vorher Gesagten aber findet man solche Abstufungen der Strukturierung,
Lebhaftigkeit und Präzision des Bewußtseins nicht nur auf der Evolutionsleiter, sondern
auch bei Mitgliedern der gleichen Spezies sowie innerhalb desselben Individuums in
verschiedenen Entwicklungsstadien und verschiedenen Situationen. Jeder Schritt »auf-
wärts« in der Hierarchie führt zu lebhafteren und schärfer strukturierten Bewußtseinszu-
ständen, jeder Schritt abwärts hat die gegenteilige Wirkung zur Folge. Wir wollen die-
ses Phänomen noch ein wenig ausführlicher erörtern.
Nur ein Bruchteil der in der Großhirnrinde eintreffenden Reize erreicht das Bewußtsein,
und wiederum nur ein Bruchteil von ihnen gerät in das Scheinwerferlicht der fokalen
Bewußtheit. Aber alle, die das Bewußtsein erreichen, sind schon vorher bearbeitet und
transformiert worden: bestimmte Wellenbänder elektromagnetischer Wellen haben be-
reits die subjektive Qualität von Farben angenommen, Luftdruckwellen die Qualität von

141
Klängen, und so fort. Das ist der erste Schritt in dem vielstufigen Prozeß, in dessen
Verlauf »physische Vorgänge« in »psychische Vorgänge« umgewandelt werden; eine
Anzahl von Philosophen betrachtet ihn als das fundamentale Mysterium des Lebens,
andere leugnen, daß es da überhaupt ein Problem gibt, und weisen darauf hin, daß auch
Bienen Farben wahrnehmen können und daß Hunde in einer Privatwelt von Gerüchen
leben. Ich will dieser alten Kontroverse absichtlich ausweichen, denn mit jedem Schritt
aufwärts in den Hierarchien des Wahrnehmens, des Tuns und des Wissens ergibt sich
das gleiche Problem von neuem. Luftschwingungen werden nicht in Musik verwandelt
mittels einer einzigen magischen Transformation vom Physischen zum Psychischen,
sondern durch eine ganze Serie von Operationen, in deren Verlauf Figuren im Zeitab-
lauf abstrahiert und dann auf den höheren Stufen der Hierarchie zu umfassenden Struk-
turen zusammengefügt werden. Die bewußte Wahrnehmung der Musik wird von dieser
Stufenfolge bedingt, und der Grad des »musikalischen Verständnisses« korrespondiert
mit dem Grad, in welchem die melodischen, harmonischen und kontrapunktischen Figu-
ren zu einem kohärenten Ganzen integriert sind.
Ein weiteres Beispiel, das wir bereits in Kapitel 2 erörtert haben, ist die Art und Weise,
wie wir Luftschwingungen in Ideen und wieder zurückverwandeln. Das Verstehen der
Sprache basiert sozusagen auf einer Serie von Quantensprüngen von einem Niveau der
Sprachhierarchie zum anderen: Phoneme lassen sich nur auf dem Niveau der Morpheme
interpretieren, Wörter müssen auf den zugehörigen Kontext bezogen werden, Sätze auf
einen umfassenderen Zusammenhang – und dahinter stehen die Intention, die präverbale
Idee, die flüchtigen Gedankenzüge. Aber Züge brauchen Weichensteller, die sie auf ih-
rem Kurs steuern; die Weichensteller wiederum benötigen Instruktionen. Wer instruiert
sie? Die unendlich regressierende Serie ist nicht eine Erfindung der Philosophen. In ei-
ner von Alfred Hayes’ Kurzgeschichten* grübelt die Heldin über die Kette der Ereignis-
se nach, die zum Unfalltod ihres Kindes geführt haben:
Weil wir immer glauben, die Dinge ereigneten sich in einer Art Abfol-
ge. Und dann sagen wir: weil. Und wir denken, das »Weil« erkläre
schon alles. Und dann untersucht man das »Weil« – o Gott, wie oft
habe ich das seither getan! –, und es öffnet sich, und innen drin ist
ein weiteres »Weil«, ein kleineres, ein »Weil« innerhalb des anderen
»Weil«, und man fährt fort, sie zu öffnen, und entdeckt in ihnen im-
mer neue »Weils« ...
* The Beach of Ocean View.
Der klassische Dualismus kennt nur eine Barriere zwischen Körper und Geist. Die hier-
archische Auffassung dagegen impliziert eine vielstufige an Stelle einer zweistufigen
Anordnung. Jeder Schritt aufwärts in der Stufenfolge bei der Apperzeption von Musik
oder Sprache bedeutet das Überschreiten einer Barriere von einem niederen zu einem
höheren Bewußtseinszustand. Der umgekehrte Vorgang spielt sich bei der Ausführung
einer Idee ab: die »luftigen Nichts-Gestalten« des Sommernachtstraums werden in die
mechanische Bewegung der Stimmbänder umgewandelt. Auch das geschieht mittels ei-
ner Serie von Schritten, deren jeder vorprogrammierte »Mechanismen« von zunehmend
automatisierter Art auslöst. Die noch nicht verbalisierte Vorstellung oder Idee, die den
Prozeß in Gang bringt, gehört einem mehr vergeistigten Bereich an als ihre Verkörpe-
rung in der Sprache; die satzgestaltende Maschinerie mit ihren zahlreichen Stufen
nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem rein Ideellen und den völlig mechanisierten
Muskelkontraktionen zur Artikulierung der Sprachlaute ein. Jeder Schritt abwärts hat
die Delegation von Verantwortung an stärker automatisierte Automatismen zur Folge –
jeder Schritt aufwärts ihre Delegation an mehr vergeistigte Prozesse der Geistestätig-
keit. Die Dichotomie Geist-Maschine wird nicht nur an der Grenze zwischen Ich und
Umwelt offenbar, sondern ist auf jeder Stufe der Hierarchie gegenwärtig. Es handelt

142
sich hier in der Tat um eine Manifestation unseres altvertrauten Freundes, des doppelge-
sichtigen Gottes Janus.
Anders ausgedrückt: die Ausführung einer Absicht – ganz gleich, ob es sich um die Ab-
sicht, etwas zu sagen, handelt oder um das Anzünden einer Zigarette – ist ein Partikula-
risierungsprozeß, bei welchem Teilfertigkeiten in Gang gesetzt werden – funktionelle
Holons von untergeordnetem, autonomem Teilcharakter. Anderseits handelt es sich bei
der Verweisung von Entscheidungen an höhere Instanzen ebenso wie bei der Interpreta-
tion von Wahrnehmungen um integrative Prozesse, die einen höheren Grad der Einheit
und Ganzheit des Erlebens bewirken. Jeder Schritt aufwärts beziehungsweise jeder
»Quantensprung« in der Hierarchie stellt danach einen gleichsam holistischen Bewe-
gungszug dar, jeder Schritt abwärts einen partikularistischen Bewegungszug; ersterer ist
gekennzeichnet durch erhöhte Bewußtheit und geistige Attribute, letzterer durch abge-
schwächte Bewußtheit und mechanistische Attribute.
Bewußtsein ist danach ein aufsteigender Faktor, der sich in der Phylogenese zu komple-
xeren und präziseren Zuständen entwickelt, die höchste Manifestation der integrativen
Tendenz zur Schaffung von Ordnung und Unordnung und von »Information« aus Ge-
räusch. Ein hervorragender Neurophysiologe unserer Zeit, R. W. Spery, schrieb kürz-
lich:
Bevor die bewußte Wahrnehmung in der Evolution zum erstenmal in
Erscheinung trat, vollzog sich der gesamte kosmische Prozeß wie ein
Drama, das vor leeren Sitzen gespielt wird, farblos und lautlos, denn
nach dem heutigen Stand der Physik gab es, bevor das Gehirn in Er-
scheinung trat, im Universum keine Farbe und keine Töne und auch
nicht Geschmack oder Aroma, und vermutlich hatte das Ganze
kaum einen Sinn, und es gab weder Empfindungen noch Gefühle.
Bevor es Gehirne, gab, war die Welt auch frei von Schmerz und
Angst ... Im gesamten Bereich der Wissenschaft gibt es kein wichti-
geres Problem, als daß man versucht, jene sehr eigenartigen Vorgän-
ge in der Evolution zu begreifen, mit deren Hilfe das Gehirn das
Kunststück vollbracht hat, den kosmischen Bauplan zu bereichern
mit Farben, Klängen, Schmerz, Freude und was es sonst noch an
Aspekten der bewußten Erfahrung gibt.131

14.6 Das Ich des Plattwurms


Blickt er nach innen, dann hat jeder Mensch das Gefühl, in ihm existiere ein Persönlich-
keitskern, ein Scheitelpunkt der Hierarchie, »der sein Denken kontrolliert und den
Scheinwerferstrahl seiner Aufmerksamkeit steuert« (P Penfield) – ein Gefühl der Ganz-
heit. Blickt er nach außen, dann ist er sich nur seiner momentanen Tätigkeit bewußt –
eine Art Teilbewußtheit, die in absteigender Folge in das Zwielicht der Routinevorgän-
ge übergeht und schließlich in die Unbewußtheit der viszeralen Prozesse, des heran-
wachsenden Kohlkopfs und des fallenden Steins.
Aber auch nach oben hin ist die Hierarchie gleichermaßen offen. Das Ich, das den
Scheinwerferkegel meiner Aufmerksamkeit steuert, kann von ihm niemals fokal erfaßt
werden. Selbst die Operationen, die die Sprache gestalten, schließen Prozesse ein, die
sich nicht durch die Sprache ausdrücken lassen (siehe Seite 24 f.). Ein Paradoxon, das
so alt ist wie das von Achilles und der Schildkröte, besagt, daß das wahrnehmende
Subjekt niemals völlig zum Objekt seiner Wahrnehmung werden kann; bestenfalls kann
es eine stufenweise Annäherung erreichen. Wenn Lernen und Erkenntnis darin beste-
hen, daß man sich ein privates Modell der Welt konstruiert,* dann folgt daraus, daß die-
ses Modell niemals ein vollständiges Modell seiner selbst einschließen kann, denn es

143
muß notgedrungen immer einen Schritt hinter dem Prozeß herhinken, den es repräsen-
tieren soll. Bei jedem Aufwärtsschritt der Bewußtheit zum Gipfel der Hierarchie hin –
dem Ich als einem integrierten Ganzen – weicht er wie eine Fata Morgana um die glei-
che Distanz zurück. »Erkenne dich selbst« ist eine der altehrwürdigsten und zugleich
unmöglichsten Maximen.
* Siehe das Werk von Craig: THE NATURE OF EXPLANATION (1943), das ein Eckpfeiler der modernen
Kommunikationstheorie ist.
Anderseits bewirkt schon die begrenzte und unvollständige Fähigkeit der Selbst-
Bewußtheit des Menschen, daß man ihm eine Sonderstellung zwischen allen Lebewesen
einräumen muß. Selbst der Plattwurm zeigt anscheinend Zeichen von Aufmerksamkeit
und Erwartung, die man als primitive Bewußtheitsformel bezeichnen könnte; Primaten
und Haustiere mögen Rudimente von Selbst-Bewußtheit besitzen; trotzdem stellt der
Mensch einen einsamen Gipfel dar.
Wir haben gesehen (Kapitel 4), daß jedes der Segmente, in die man einen Plattwurm
zerschnitten hat, imstande ist, sich zu einem vollständigen Tier zu regenerieren; der An-
hänger des klassischen Dualismus müßte folglich annehmen, der Geist oder die Seele
des Wurmes sei ebenfalls in sechs »Teilseelen« aufgespalten worden (Seite 49). Nach
unserer Theorie wird jedoch das Ich beziehungsweise die Psyche nicht als geschlossene
Entität angesehen, als ein Ganzes im absoluten Sinn des Wortes; vielmehr wird jedem
ihrer Holons in der vielstufigen Hierarchie ein gewisses Maß von Individualität zuge-
sprochen – mit den janusgesichtigen Attributen der Teilheit und der Ganzheit; und der
Grad ihres Integriertseins zu einer einheitlichen Persönlichkeit ist je nach den Umstän-
den verschieden, aber er ist niemals absolut. Die totale Bewußtheit der Eigenpersön-
lichkeit, die Identität von Erkennendem und Erkanntem ist zwar stets in Sicht, aber sie
wird niemals ganz erreicht. Das könnte nur auf dem Gipfel der Hierarchie geschehen –
dieser Gipfel aber weicht vor dem Bergsteiger beständig zurück.
Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es nicht länger absurd, anzunehmen, die Frag-
mente des Plattwurms, deren Gewebe zum Embryonalzustand zurückgekehrt sind, hät-
ten nun ganz von neuem begonnen, eine Geist-Körper-Hierarchie aufzubauen – viel-
leicht sogar mit der Begleiterscheinung einer dämmernden Bewußtheit der Eigenper-
sönlichkeit.
Das allmähliche Emporkommen der Bewußtheit in der Phylogenese spiegelt sich bis zu
einem gewissen Grad auch in der Ontogenese wider. Im vorhergehenden Kapitel zitierte
ich Piagets und Freuds Befunde über den »flüssigen« Erlebnisstrom des neugeborenen
Kindes, in welchem es noch keine festen Grenzen zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich
gibt. In einer Reihe von klassischen Studien hat Piaget gezeigt, daß die Entstehung die-
ser Grenze ein gradueller Prozeß ist und daß das durchschnittliche Kind sich erst im
Alter von etwa sieben oder acht Jahren seiner gesonderten, ganz persönlichen Identität
voll bewußt wird. »Diese spezielle Komponente des Ichs, die Selbst-Bewußtheit, muß
allmählich durch Erfahrung aufgebaut werden«, hat Adrian festgestellt.132 Aber dieser
Aufbauprozeß ist niemals beendet. Man kann ihn mit einer unendlichen mathematischen
Reihe vergleichen, die auf die Zahl Eins zu konvergiert,* oder mit einer Spiralkurve, die
auf ein Zentrum zuläuft, das sie jedoch nur nach einer unendlichen Anzahl von Win-
dungen erreichen kann.
* Die einfachste Reihe dieser Art ist: S = (½ + ¼ + ⅛ + 1/16 + ... 1/n), wobei n sich dem Unendlichen nä-
hern muß, damit die Summe S sich der Zahl Eins nähert.
Die Suche nach dem Ich ist ein abstrakter Zeitvertreib für Philosophen; für gewöhnliche
Sterbliche gewinnt sie erst dort an Bedeutung, wo moralische Entscheidungen oder das
Gefühl der Verantwortung für das Geschehene – mit anderen Worten: das Problem des
freien Willens – auf dem Spiele stehen. Die Rätsel um den Weichensteller, der unser
Denken in bestimmte Bahnen lenkt, und um den Aufseher, der dem Weichensteller sagt,

144
was er tun soll, die machen uns nur dann zu schaffen, wenn wir uns wegen unserer tö-
richten, sündhaften oder müßigen Gedanken – oder Handlungen – schuldig fühlen.
Man stelle sich ein Tischgespräch in einem der altehrwürdigen Colleges in Oxford vor,
zwischen einem älteren Philosophen von streng deterministischer Richtung und einem
jungen australischen Dozenten mit etwas ungeschliffenen Manieren.
Der Australier: »Wenn Sie noch weiter leugnen, daß ich in meinen Ent-
scheidungen frei bin, dann muß ich Ihnen wirklich eine herunterhauen.«
Der alte Mann wird blaurot im Gesicht: »Ich gestehe, daß ich Ihr Be-
nehmen unverzeihlich finde.«
»Entschuldigen Sie, bitte. Ich habe mich hinreißen lassen.«
»Sie sollten sich wirklich besser beherrschen.«
»Danke. Das Experiment ist gelungen.«
Das war in der Tat der Fall. »Unverzeihlich«, »Sie sollten« und »sich beherrschen« sind
Ausdrücke, die voraussetzen, daß das Verhalten des Australiers nicht durch Erbanlage
und Umwelt determiniert war, daß er frei darüber entscheiden konnte, ob er höflich oder
grob sein sollte. Welche philosophischen Überzeugungen man auch immer haben mag,
im täglichen Leben kommt man unmöglich aus ohne den stillschweigenden Glauben an
eine persönliche Verantwortlichkeit; und Verantwortlichkeit impliziert freie Wahl.
Ich darf hier wohl etwas zitieren, was ich vor langer Zeit geschrieben habe, als ich noch
in erster Linie an den politischen Implikationen dieses Problems interessiert war:
Es ist jetzt sechs Uhr abends, ich habe gerade einen Martini getrun-
ken und fühle mich versucht, noch einen zu trinken und dann mit
Freunden auszugehen, anstatt diesen Essay zu schreiben. Während
der letzten Viertelstunde habe ich mit der Versuchung gekämpft, und
schließlich habe ich den Gin und den Wermut in den Schrank ge-
schlossen und mich an den Schreibtisch gesetzt, mit mir selbst zu-
frieden. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus ist diese Zufrie-
denheit völlig eitel, da die Frage bereits entschieden war, ehe ich sie
selbst stellte; es war auch bereits entschieden, daß ich diese falsche
Zufriedenheit empfinden und das schreiben würde, was ich jetzt
schreibe. Natürlich glaube ich in meinem Innersten nicht, daß dem
so ist, und ganz gewiß glaubte ich es vor einer Viertelstunde nicht.
Hätte ich es geglaubt, so hätte sich der sogenannte »innere Kampf«
nicht vollzogen, und ich hätte ruhig weitertrinken können mit der
Ausrede, daß es eben so vorherbestimmt war. So muß also meine
Ablehnung des Determinismus in der Kausalkette mit enthalten sein,
die mein Verhalten determiniert; eine der Bedingungen für die Er-
füllung der vorbestimmten Handlung ist, daß ich nicht glauben darf,
sie sei vorbestimmt. Das Schicksal kann sich nur durchsetzen, in-
dem es mich zwingt, nicht daran zu glauben. So schließt der Begriff
des Determinismus an sich eine Spaltung zwischen Denken und Tun
in sich ein; er verdammt den Menschen dazu, in einer Welt zu leben,
in der die Regeln des Verhaltens auf einem »Als ob« und die Regeln
der Logik auf dem »Weil« beruhen.
Dieses Paradoxon ist nicht auf den wissenschaftlichen Determinis-
mus beschränkt – der Muselmann, der in einer Welt des religiösen
Determinismus lebt, ist mit derselben geistigen Spaltung behaftet.
Obwohl er nach den Worten des Korans glaubt, daß »jeder Mensch
sein Schicksal um den Hals gebunden trägt«, so verwünscht er doch
seine Feinde – und sich selbst, wenn er einen Fehler macht, als ob
jeder frei entscheiden könnte. Er benimmt sich auf seine Art genau
wie der alte Karl Marx, welcher lehrte, daß die geistige Prägung des

145
Menschen ein Produkt seiner Umwelt sei, aber jeden wüst be-
schimpfte, der, seinen Umweltbedingungen gehorchend, mit ihm
nicht einer Meinung war.133
Das subjektive Erlebnis der Freiheit ist eine ebenso feststehende Gegebenheit wie die
Wahrnehmung von Farben oder das Empfinden von Schmerz. Es ist das Gefühl, eine
nicht aufgezwungene, nicht unausweichliche Wahl zu treffen. Es scheint von innen nach
außen zu wirken und seinen Ursprung im Kern der Persönlichkeit zu haben. Selbst
Psychiater der deterministischen Schule stimmen darin überein, daß das Aufgeben des
Glaubens an einen eigenen Willen zu einem Zusammenbruch der gesamten geistigen
Struktur des Patienten führt. Basiert diese trotzdem auf einer Illusion?
Die Mehrzahl der Teilnehmer an dem obenerwähnten Symposion »Brain and Conscious
Experience« (Das Gehirn und das bewußte Erleben) war der gegenteiligen Ansicht. Ei-
ner der Redner, Professor MacKay, ein Kommunikationstheoretiker und Computer-Ex-
perte, von dem man eigentlich erwarten würde, daß er zu einer mechanistischen Auffas-
sung tendiert, schloß seinen Vortrag wie folgt:
Unser Glaube, daß wir normalerweise frei in der Wahl unserer Ent-
scheidungen sind, ist nicht nur in keiner Weise anfechtbar, es gibt
für ihn keine gültige Alternative selbst vom Standpunkt einer noch so
deterministisch orientierten prä-Heisenbergschen Physik aus.134*
* Heisenbergs »Unbestimmtheitsprinzip« (»Unschärferelation«), eines der Fundamente der modernen
Physik, besagt, daß auf dem Niveau der Elementarquanten ein strenger Determinismus nicht mehr an-
wendbar ist.
MacKay stützte seine Argumentation teils auf Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip der
modernen Physik, hauptsächlich aber auf das Paradoxon, auf das ich bereits angespielt
habe: Der Determinismus impliziert die Voraussagbarkeit des Verhaltens, das heißt, daß
ein idealer Computer, dem alle relevanten Informationen über mich eingespeist worden
sind, voraussagen könnte, was ich jeweils tun werde; diese Informationen müßten je-
doch auch meinen Unglauben an die Voraussagbarkeit meiner Handlungen mit ein-
schließen und dem Computer gleichfalls eingespeist werden. An diesem Punkt führt das
Argument in einen Zirkelschluß der symbolischen Logik; bezüglich seiner Einzelheiten
muß ich den Leser auf das Original verweisen.
Mir erscheinen jedoch die Argumente der Logik und der Epistemologie weniger über-
zeugend als jene, die sich aus der hierarchischen Konzeption ergeben. Die Spielregeln,
die das Verhalten eines Holons regieren, lassen ihm einen Spielraum der Auswahl zwi-
schen verschiedenen Alternativmöglichkeiten. Auf dem viszeralen Niveau ist die Wahl
durch die geschlossenen Rückkoppelungskreise der homeostatischen Regulierungen
festgelegt; auf den höheren Niveaus nehmen jedoch die Auswahlmöglichkeiten mit zu-
nehmender Komplexität ständig zu; und die Entscheidung hängt dann immer weniger
von solchen geschlossenen Funktionskreisen und stereotypen Routineprozessen ab.
Vergleichen wir das Mühlespiel mit dem Schachspiel. In beiden Fällen ist die Wahl des
nächsten Zuges »frei« in dem Sinn, daß sie von den Spielregeln zwar eingeengt, aber
nicht bestimmt wird. Während es jedoch beim Mühlespiel nur eine geringe Auswahl
von Zügen gibt, die von einfachen, fast automatischen Taktiken bestimmt werden, läßt
sich der Schachspieler bei seinen Entscheidungen von strategischen Erwägungen auf ei-
ner viel höheren Stufe der Komplexität leiten; und die Regeln der Strategie sind noch
viel lockerer als die Spielregeln selbst. Sie bilden ein delikates, elastisches Gewebe aus
Für und Wider. Dieses Aufwärtsverlegen der Entscheidung auf eine höhere Stufe der
Hierarchie ist es, was die Wahl zu einer bewußten Wahl macht, und das labile Gleich-
gewicht zwischen Für und Wider erweckt dabei das subjektive Empfinden der Freiheit.
Vom objektiven Standpunkt aus gesehen scheint mir der entscheidende Faktor der zu
sein, daß die Freiheitsgrade (im Sinne des Physikers) in aufsteigender Ordnung zuneh-

146
men. Je höher also die Stufe, der die Entscheidungsbefugnis übertragen wird, desto we-
niger läßt sich voraussagen, welche Wahl schließlich getroffen wird; und die letzten
Entscheidungen bleiben dem Gipfel vorbehalten – aber der Gipfel bleibt nicht still. Er
weicht ständig zurück. Das Ich, das letztlich die Verantwortung für die Handlungen des
Menschen trägt, läßt sich niemals im Scheinwerferstrahl seiner Bewußtheit einfangen;
folglich können auch seine Handlungen, selbst von einem perfekten Computer, niemals
vorausgesagt werden, auch wenn er noch so viele Angaben eingespeist erhält: denn die
Angaben müssen notwendigerweise immer unvollständig bleiben.* Am Ende führen sie
wieder zu einer unendlichen, regressiven Reihe von Rädern, die sich innerhalb von Rä-
dern drehen, und zu den »Weils« innerhalb der »Weils«.
135
* Das steht in enger Beziehung zu MacKays Argumentation und ebenfalls zu Karl Poppers Behaup-
tung, kein Informationssystem (wie etwa ein Computer) könne in sich selbst eine auf den neuesten Stand
gebrachte Repräsentation seiner selbst – einschließlich dieser Repräsentation – umfassen. Ein ähnliches
Argument hat Michael Polanyi vorgebracht
136
mit Bezug auf die Unbestimmtheit der Grenzverhältnisse bei
physikalisch-chemischen Systemen.

14.7 Eine Art Maxime


Beim umgekehrten Prozeß, der in der Hierarchie abwärts führt, werden die Entschei-
dungen zunächst halbautomatischen, dann vollautomatischen Routineinstanzen überlas-
sen; mit jeder weiteren Verlegung der Kontrolle auf niedere Stufen vermindert sich das
subjektive Erlebnis der Freiheit und der Bewußtheit des Handelns. Gewöhnung ist der
Feind der Freiheit; die Mechanisierung von Gewohnheiten tendiert zur rigor mortis des
roboterähnlichen Pedanten. Maschinen können niemals Menschen werden, wohl aber
Menschen Maschinen.
Der zweite Feind der Freiheit ist die Leidenschaft, genau gesagt, die Kategorie der
selbstbehauptenden aggressiv-defensiven Affekte. Wenn sie wachgerufen werden, geht
die Kontrolle über Entscheidungen auf jene primitiven Stufen der Hierarchie über, die
unsere Vorfahren »die Bestie in uns« nannten und die in der Tat von phylogenetisch äl-
teren Strukturen im Nervensystem beeinflußt sind (siehe unter Kapitel 16). Die Einbuße
an Freiheitsgraden bei dieser Verlagerung der Kontrolle nach unten spiegelt sich auch in
dem Rechtsbegriff »verminderte Zurechnungsfähigkeit« wider – und in dem subjektiven
Gefühl, man handle unter einem Zwang: »Ich konnte nicht anders«, »Ich verlor den
Kopf«, »Ich muß von Sinnen gewesen sein«. Auch hier handelt es sich wieder um den
Janus-Effekt: In der inneren Schau fühle ich mich frei, im Ausblick auf die Umwelt sind
meine Handlungen von ihr bedingt.
Das ist der Punkt, an welchem das Dilemma des moralischen Urteils über andere ein-
setzt. Wie kann ich in Erfahrung bringen, ob und in welchem Ausmaß der Andere in
seiner Zurechnungsfähigkeit vermindert war, als er seine Tat beging – und ob er viel-
leicht wirklich »nicht anders konnte«? Innerer Zwang und innere Freiheit sind entge-
gengesetzte Pole auf einer kontinuierlichen Skala; es gibt aber keinen Zeiger, der mir
die Skala ablesen hilft. Die ungefährlichste Hypothese ist, dem Anderen ein Minimum,
sich selbst aber ein Maximum an Verantwortung zuzusprechen. Ein französisches
Sprichwort heißt: Tout comprendre c’est tout pardonner – Alles verstehen heißt alles
verzeihen. Auf Grund der oben angeführten Hypothese sollte man es ändern in: Tout
comprendre, ne rien se pardonner – Alles verstehen, sich selbst nichts verzeihen. Das
hört sich an wie moralische Demut, gemischt mit intellektueller Arroganz. Aber es ist
ein relativ harmloses Rezept.

147
14.8 Die offene Hierarchie
Während die selbstbehauptenden Emotionen das Bewußtseinsfeld einengen (die Leiden-
schaft ist vielleicht nicht gerade »blind«, aber sie trägt Scheuklappen), haben die selbst-
transzendierenden Emotionen die gegenteilige Wirkung einer Ausweitung des Bewußt-
seins, bis sich das Ich schließlich im »ozeanischen Gefühl« der mystischen Kontempla-
tion oder ästhetischen Verzückung aufzulösen scheint. Die selbstbehauptenden Emotio-
nen zeigen die Tendenz, die Freiheit der Wahl einzuengen, die selbsttranszendierenden
Emotionen tendieren zur Freiheit von der Wahl, des Nirgends-Anhängens.
Diese »Ent-Ichung« des Ichs scheint das genaue Gegenteil des Strebens nach der totalen
Selbstbewußtheit zu sein. In der Literatur des Mystizismus sind jedoch beide anschei-
nend eng miteinander verbunden. So besteht zum Beispiel das Ziel von Hatha Joga
darin, eine höhere Stufe der Selbstbewußtheit dadurch zu erreichen, daß man viszerale
Prozesse und individuelle Muskeln der Kontrolle des Willens unterstellt. Diese Übun-
gen gelten jedoch nur als ein Mittel zum Zweck, »einen Zustand des ›puren Bewußt-
seins‹ zu erlangen, dessen einziger Inhalt das Bewußtsein selbst ist«.* Man glaubt, daß
in diesem Zustand das vergängliche Ich eine Art geistige Osmose mit dem Atman, dem
Weltgeist, eingeht – und mit ihm zu einer Einheit verschmilzt. Andere Schulen des My-
stizismus versuchen das gleiche Ziel auf anderen Wegen zu erreichen; alle scheinen sich
jedoch darin einig zu sein, daß die Herrschaft über das Ich ein Mittel zu dessen Trans-
zendierung ist.
* Siehe Von Heiligen und Automaten, Teil I.
Ich bin mir bewußt, daß ich in diesem Kapitel gewissen Grundproblemen ausgewichen
bin. Ich habe nicht den Versuch unternommen, das Bewußtsein zu definieren; da es die
Vorbedingung aller geistigen Tätigkeit ist, läßt es sich mit Hilfe eben dieser Tätigkeit
nicht definieren. Ich stimme da ganz mit MacKay überein:
Mein eigenes Bewußtsein ist eine primäre Tatsache; es wäre unsin-
nig, es in Zweifel zu ziehen, denn es ist ja die Grundlage, auf der sich
mein Zweifel auf baut.137
Wir können nicht sagen, was das »Bewußtsein« ist, wir können aber sagen, ob mehr
oder weniger davon vorhanden ist und ob es eine grobe oder delikate Struktur aufweist.
Es ist ein in der Entwicklungsgeschichte aufsteigender Faktor, der sich auf Zustände
von zunehmender Komplexität hin entwickelt und untrennbar verbunden ist mit der Ge-
hirntätigkeit. Der klassische Dualismus sah geistige und körperliche Tätigkeit als sepa-
rate Kategorien an, die Monisten sahen in ihnen komplementäre Aspekte ein und des-
selben Prozesses; dabei bleibt aber immer noch das Problem offen, in welcher Art von
Beziehung zueinander die beiden stehen. Die hierarchische Auffassung macht aus dieser
absoluten Unterscheidung eine relative, sie ersetzt die dualistische Theorie durch eine
serialistische Hypothese, nach der die Begriffe »geistig« und »mechanisch« nur relative
Attribute sind und das Vorherrschen des einen oder anderen Attributs von den Ver-
schiebungen des Kontrollniveaus innerhalb der Hierarchie abhängt. Natürlich bleibt
immer noch eine ganze Reihe von Problemen ungelöst, aber es ergeben sich wenigstens
einige neue Fragestellungen. Auf Grund unserer Hypothese könnte sich zum Beispiel
eine neue Einstellung gegenüber den Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung
als einer in Bildung begriffenen höheren Stufe überindividueller Bewußtheit ergeben –
oder umgekehrt als einer früheren Version von »psychosymbiotischer« Bewußtheit, die
der Selbst-Bewußtheit vorausgeht und die die Evolution schließlich zugunsten der letz-
teren abgestoßen hat. Aber dieses Problem liegt jenseits unseres Themas.
Die eng miteinander verbundenen Konzeptionen der »offenen Hierarchie« und des
»endlosen Zurückweichens« sind auf den Seiten dieses Buches ein immer wiederkeh-
rendes Leitmotiv gewesen. Eine Anzahl von Wissenschaftlern hegt eine starke Abnei-
gung gegen die Konzeption der unendlich regressierenden Reihe, da sie stark an das

148
»Männeken innerhalb des Männekens innerhalb des Männekens« erinnert und auch an
die strapaziösen Paradoxa wie das vom kretischen Lügner. Man kann das Problem aber
auch unter einem anderen Blickwinkel sehen. Das Bewußtsein ist mit einem Spiegel
verglichen worden, in welchem der Körper seine eigenen Handlungsakte betrachtet.
Man käme dem Kern der Sache aber wohl näher, wenn man das Bewußtsein mit einer
Art Spiegelsaal vergliche, wo ein Spiegel das in einem anderen Spiegel reflektierte Bild
seiner selbst widerspiegelt, und so fort. Wir können dem Unendlichen nicht entrinnen.
Es starrt uns überall ins Gesicht, ob wir nun in die Atome hinein- oder zu den Sternen
hinaufblicken oder auf die Ursachen hinter den Ursachen, bis zurück in die Ewigkeit.
Die Flache-Erde-Wissenschaft kann mit dem Begriff der Unendlichkeit genausowenig
anfangen wie die Theologie des Mittelalters; aber eine wahre Wissenschaft vom Leben
muß dem Unendlichen Eintritt gewähren und darf es niemals ganz aus den Augen ver-
lieren. Anderenorts habe ich zu zeigen versucht,138 daß die Bahnbrecher in der Ge-
schichte der Wissenschaft sich stets der Transparenz der Phänomene nach einer höheren
Ordnung der Realität bewußt waren – sie wußten um das »Gespenst in der Maschine«,
selbst in so einfachen »Maschinen« wie dem magnetischen Kompaß oder der Leidener
Flasche. Wenn ein Wissenschaftler den Sinn für das Geheimnis hinter den Dingen ver-
liert, kann er zwar ein ausgezeichneter Fachmann bleiben, aber er hört auf, ein Zauberer
zu sein. Einer der größten Zauberer aller Zeiten, Louis Pasteur, hat das in einem meiner
Lieblingszitate zusammengefaßt:
Überall in der Welt sehe ich die unausweichlichen Manifestationen
des Unendlichen ... Der Begriff der Gottheit ist nichts anderes als ei-
ne Form des Begriffs der Unendlichkeit. Solange das Geheimnis des
Unendlichen auf dem menschlichen Geist lastet, solange werden
Tempel dem Kult des Unendlichen geweiht werden, ob man es nun
Brahma, Allah, Jehova oder Jesus nennt ... Die Griechen wußten um
die geheimnisvolle Macht der verborgenen Seite der Dinge. Sie haben
uns eines der schönsten Worte unserer Sprache geschenkt – das
Wort Enthusiasmus: en theos, ein Gott, der von innen wirkt. Die
Größe menschlicher Taten wird an der Inspiration gemessen, der sie
entspringen. Glücklich, wer seinen Gott innen in sich trägt und ihm
gehorcht. Das Ideal der Kunst, das Ideal der Wissenschaft leuchten
im Widerschein des Unendlichen.139
Das ist ein Glaubensbekenntnis, dem man sich gerne anschließt, und ein passender Ab-
schluß für diesen Teil des Buches.
In ihm habe ich versucht, die allgemeinen Prinzipien einer Theorie der offenen hierar-
chischen Systeme (O.H.S.) darzulegen, als eine Alternative zu den geläufigen orthodo-
xen Theorien. Es handelt sich dabei im wesentlichen um einen Versuch, drei bestehende
Gedankenrichtungen – von denen keine ganz neu ist – miteinander zu verschmelzen und
sie zu einem einheitlichen System zu formen. Sie lassen sich durch drei Symbole dar-
stellen: den Baum, die Kerze und den Steuermann. Der Baum symbolisiert die hierar-
chische Ordnung. Die Kerzenflamme, die ständig ihre Materie wechselt und dennoch
ihre Form beibehält, ist das einfachste Beispiel für ein »offenes System«. Der Steuer-
mann steht als Symbol für die kybernetische Kontrolle. Fügen wir noch das Doppelge-
sicht des Janus hinzu, das die Dichotomie von Teilheit und Ganzheit repräsentiert, und
das mathematische Symbol des Unendlichen (eine liegende 8), dann haben wir eine Art
Bildstreifenversion der O.H.S.-Theorie. Leser, die das Pittoreske nicht mögen, seien
hier nochmals auf den Anhang verwiesen, wo die Grundprinzipien der Theorie kurz zu-
sammengefaßt sind.
Wir müssen nun die »Ordnung« verlassen und uns der »Unordnung« zuwenden – dem
Übel, das den Menschen von innen her bedroht, und dem Versuch, seine Ursachen zu
diagnostizieren.

149
Teil III
Unordnung

15 Der Mensch und sein Dilemma


Alle unsere Gerechtigkeit
ist wie ein unflätig Kleid.
Jesaja, Kap. 14
Die postulierte Polarität zwischen dem integrativen und dem selbstbehauptenden Poten-
tial in biologischen und sozialen Systemen ist für die hier vorgebrachte Theorie von
fundamentaler Bedeutung; sie ist vom Begriff der hierarchischen Ordnung untrennbar.
Das integrative Potential eines Holons erweckt in ihm die Tendenz, sich als Teil einer
größeren, komplexeren Einheit zu verhalten; sein selbstbehauptendes Potential erzeugt
in ihm die Tendenz, sich zu verhalten, als sei es selbst ein komplettes, autonomes Gan-
zes. In jeder Art von Hierarchie, die wir erörtert haben, und auf jeder Stufe dieser Hier-
archien fanden wir diese Polarität in der Koexistenz von Gegensätzen. Sie manifestiert
sich manchmal in anscheinend paradoxen Phänomenen, die unter den Biologen erbit-
terte Kontroversen ausgelöst haben, weil es von den jeweiligen Versuchsbedingungen
abhing, welche der beiden entgegengesetzten Tendenzen stärker in Erscheinung trat. In
der embryonalen Entwicklung, zum Beispiel, kann ein Zellgewebe in verschiedenen
Phasen mehr »regulative« oder mehr »Mosaik«-Merkmale hervorkehren. In sozialen
Gemeinschaften ist die Dichotomie zwischen Zusammenarbeit und Konkurrenz nur all-
zu augenfällig – von den ambivalenten Spannungen in der Familie bis zur dornenrei-
chen Koexistenz der Vereinten Nationen. Wir wollen uns nun ihren paradoxen und ge-
fährlichen Auswirkungen auf das emotionale Verhalten des einzelnen Individuums zu-
wenden.

15.1 Die drei Dimensionen der Emotion


Emotionen sind geistige Zustände, die von intensiven Gefühlen und physiologischen
Vorgängen verschiedenster Art begleitet werden. Man hat sie auch als »überhitzte Trie-
be« bezeichnet. Ein auffallendes Kennzeichen aller Emotionen ist die ihnen anhaftende
Empfindung von Lust beziehungsweise Unlust. Freud glaubte, Lust leite sich »aus der
Abnahme, Herabsetzung oder Erlöschung der psychischen Erregung ab« und »Unlust
aus ihrer Steigerung«.140
Das ist natürlich richtig, wenn es sich um die Befriedigung oder Frustrierung dringender
biologischer Bedürfnisse handelt. Aber es trifft ganz offenkundig nicht auf jene Art von
Erlebnissen zu, die wir als angenehme Erregung oder als Nervenkitzel bezeichnen. Die
Präliminarien, die dem Geschlechtsakt vorausgehen, verursachen zweifellos eine Steige-
rung der Erregung und müßten daher eine Unlustempfindung auslösen; die Erfahrung
lehrt jedoch, daß das durchaus nicht der Fall ist. Auf diesen peinlich banalen Einwand
gibt Freud in seinen Werken nirgendwo eine befriedigende Antwort.* Im Freudschen
System ist der Geschlechtstrieb im wesentlichen etwas, was »abgeführt« werden muß –
durch Befriedigung oder durch Sublimation; das Vergnügen kommt nicht davon her,
daß man sich ihm hingibt, sondern daß man ihn los wird.
141
* Eine ausführliche Abhandlung über Freuds Einstellung zum Lustproblem findet man bei Schachtel.

150
Die behavioristische Schule, von Thorndike bis Hull, vertrat eine ähnliche Auffassung;
sie erkannte nur einen Grundtyp der Motivierung an, und das war negativer: »Triebre-
duktion« – das heißt Verminderung der sich aus biologischen Bedürfnissen ergebenden
Spannungen. In Wirklichkeit haben jedoch die Untersuchungen über »Stimulusdepriva-
tion«* gezeigt, daß der Organismus eine ständige Zufuhr von Reizen benötigt; und daß
sein Hunger nach Erlebnissen und sein Durst nach stimulierender Erregung wohl ebenso
fundamentaler Natur sind wie eben Hunger und Durst. Berlyne hat das so ausgedrückt:
»Menschen und höhere Tiere verbringen den größten Teil ihrer Zeit in einem Zustand
relativ hoher Erregung und ... setzen sich mit großem Eifer stimulierenden Reizsituatio-
nen aus.«142 Nach dem Brot kommen immer zuerst die Zirkusspiele dran.
* Die Absicht dieser Versuche war es, die Reaktion von Astronauten auf das tagelange Verharren in einer
monotonen Umwelt zu studieren.
Die Unlust wird in der Tat nicht durch eine Steigerung der Erregung als solcher verur-
sacht; sie entsteht, wenn die Befriedigung eines Triebs blockiert wird, oder wenn seine
Intensität so zunimmt, daß die normalen Abfuhrkanäle unzureichend sind, oder auch aus
beiden angeführten Gründen. Eine »Überhitzung« in begrenztem Ausmaß mag sogar als
ein angenehmer Erregungszustand empfunden werden, während man sich in seiner Vor-
stellung den Befriedigungsakt ausmalt oder vorwegnimmt. Die physischen Unlustge-
fühle bei der Ausübung körperlich anstrengender Sportarten werden in der angenehmen
Vorfreude auf die Belohnung bereitwillig akzeptiert – wobei die Belohnung lediglich in
der Genugtuung zu bestehen braucht, es geschafft zu haben. Das Gefühl der Frustration
verwandelt sich in Erleichterung, sobald das Ziel in Sicht ist, also lange bevor der ei-
gentliche Prozeß der Triebbefriedigung beginnt. Überdies gibt es »stellvertretende«
Emotionen, die sich aus der partiellen Identifizierung mit einer anderen Person oder mit
dem Schauspieler auf der Filmleinwand ableiten und die stellvertretende Befriedigun-
gen einbringen; die Erfüllung wird in der Phantasie durchlebt, durch internalisierte Pro-
zesse statt durch nach außen gerichtete Handlungen. So hängt also die Lust-Unlust-
Tönung von mehreren Faktoren ab und beruht im wesentlichen auf feedback-Signalen,
die den günstigen oder verhinderten Triebablauf auf ein reales, vorweggenommenes
oder imaginäres Ziel hin signalisieren.
Emotionen lassen sich nach ihrem Ursprung klassifizieren, das heißt nach dem Wesen
des Triebes, der sie auslöst – Hunger, Sexualität, Neugier, Betreuung der Jungen etc.
Der zweite Faktor, den man in Betracht ziehen muß, ist ihre Lust-Unlust-Quote. Mit
Hilfe einer etwas groben, aber doch nützlichen Analogie ließe sich unsere emotionale
Anlage mit einer Taverne vergleichen, in der es eine Reihe von Zapfhähnen für ver-
schiedene Arten von Getränken gibt; diese werden je nach Bedarf auf- und zugedreht;
dann würde jeder Zapfhahn einen anderen Trieb repräsentieren, und die Lustquote wür-
de davon abhängen, wie das Getränk aus dem Zapfen fließt – ob es glatt und fröhlich
heraussprudelt, oder ob es durch Luftblasen behindert wird oder durch zuviel oder zu-
wenig Druck im Zapfen.
Nun kommen wir zu einem dritten Faktor, dem Toxizitätsgrad des einzelnen Gebräus.
Die selbstbehauptende, aggressiv-defensive Tendenz einer bestimmten Emotion soll
durch den toxischen Alkoholgehalt symbolisiert werden, die selbsttranszendierende
Tendenz durch den Gehalt an milder, neutraler Flüssigkeit. Wir kommen daher zu einer
dreidimensionalen Theorie der Emotionen. Der erste Faktor ist das Wesen ihres Ur-
sprungs, repräsentiert durch den speziellen Zapfhahn; der zweite Faktor ist die Lust-
Unlust-Quote, repräsentiert durch den Abflußverlauf, der dritte das proportionale Ver-
hältnis zwischen Selbstbehauptung und Selbsttranszendenz. Wir wollen uns hauptsäch-
lich mit diesem dritten Aspekt befassen.
Eine der Schwierigkeiten, die sich bei der Erörterung dieses Themas ergeben, ist die
Tatsache, daß wir selten eine reine Emotion erleben. Der Barmann neigt dazu, die Ge-
tränke aus den verschiedenen Zapfhähnen miteinander zu mischen: der Geschlechtstrieb

151
kann mit Neugier verbunden sein und praktisch mit jedem anderen Trieb. Lust und Un-
lust neigen ebenfalls zur Ambivalenz; die Vorfreude kann eine momentane Unlustemp-
findung als lustvoll erscheinen lassen, die unbewußte Komponente des Triebes kann Af-
fekte auslösen, die ein Plus- in ein Minuszeichen verwandeln; der Schmerz, den der
Masochist empfindet, kann auf einem anderen Bewußtseinsniveau als Lust empfunden
werden. Uns kommt es hier jedoch auf eine dritte Art von Ambiguität an. Wenn wir von
den Extremen der blinden Wut am einen und der mystischen Trance am anderen Ende
des Spektrums absehen, so stellt sich heraus, daß die meisten unserer emotionalen Zu-
stände paradoxe Kombinationen der integrativen und der selbstbehauptenden Grundten-
denzen sind.
Nehmen wir zum Beispiel den Instinkttrieb der Wartung der Nachkommenschaft, den
alle Säugetiere und Vögel haben. Welcherart immer die Emotionen sind, die dieser
Trieb bei Tieren auslöst (und einige ihrer Manifestationen sind ziemlich paradox), beim
Menschen äußern sie sich häufig in einer verhängnisvoll ambivalenten Form. Die Eltern
betrachten das Kind als »ihr eigen Fleisch und Blut« – ein biologisches Band, das die
Grenzen des Ichs transzendiert; gleichzeitig sind übereifrige Mütter und despotische
Väter klassische Beispiele übersteigerter Selbstbehauptungstendenz.
Wenden wir uns von der elterlichen Liebe der geschlechtlichen Liebe zu, dann finden
wir wieder beide Tendenzen vor – auf der einen Seite Impulse der Aggressivität,
Herrschsucht und Unterwerfung, auf der anderen Einfühlung und Identifizierung. Die
Skala erstreckt sich von der platonischen Anbetung bis zur brutalen Vergewaltigung – je
nach der Toxizität des Zaubertrankes.
Hunger ist dem Anschein nach ein einfacher biologischer Trieb, und man würde kaum
erwarten, daß er komplexe und ambivalente Emotionen auslösen könnte. Die Zähne
sind Symbole der Aggression; Beißen, Schnappen, Hinunterschlingen des Futters sind
grobe Manifestationen der Selbstbehauptungstendenz. Die Nahrungsaufnahme hat aber
auch einen anderen, magisch-rituellen Aspekt; man könnte ihn als »Empathie durch
Einverleibung« bezeichnen. Das Teilhaben am Fleisch des getöteten Tieres, Menschen
oder Gottes führt zu einem Prozeß der Transsubstantiation; die Tugend und Weisheit
des verzehrten Opfers wird einverleibt und stellt eine Art mystischer Kommunion her.
Die Gebräuche und Rituale wechselten im Wandel der Zeit, aber das Prinzip des Aus-
tausches einer geistigen Substanz zwischen Gott, Tier und Mensch blieb das gleiche, ob
es sich nun um primitive australische Wilde, um die hochzivilisierten mexikanischen
Azteken oder um die Griechen in der Blütezeit des dionysischen Kults handelt. In der
eindrucksvollsten Version der Legende wird Dionysos in Stücke gerissen und verzehrt,
von den bösartigen Titanen, die dann ihrerseits wieder vom Blitz des Zeus erschlagen
werden; aus ihrer Asche entsteht der Mensch, Erbe ihrer Verruchtheit, aber zugleich
auch Teilhaber am Fleisch des Gottes. Auf dem Weg über den orphischen Mysterienkult
fand die Tradition der Teilhabe an Fleisch und Blut des zerrissenen Gottes in subli-
mierter und symbolischer Form auch Eingang in die Riten der Christenheit. Noch im 16.
Jahrhundert wurden Menschen aus der lutherischen Kirche exkommuniziert, weil sie
sich der Doktrin von der »Ubiquität« widersetzten – von der physischen Präsenz des
Blutes und Fleisches Christi in der geweihten Hostie. Für den Gläubigen ist die heilige
Kommunion das höchste Erlebnis der Selbsttranszendenz auf dem Wege der Transsub-
stantiation.
Anklänge an diese uralte Form der Kommunion haben sich in verschiedenen Riten der
»Tischgesellschaft« erhalten: Taufmahl und Leichenschmaus, das symbolische Darbie-
ten von Brot und Salz, das indische Tabu, das das Essen mit Angehörigen anderer Ka-
sten verbietet. Orale Erotik und bezeichnende Redewendungen wie »Ich hab’ dich zum
Fressen gern«, die in den meisten Sprachen vorkommen, erinnern uns ebenfalls daran,
daß der Mensch, selbst wenn er ißt, nicht vom Brot allein lebt und daß selbst der
scheinbar simpelste Akt der Selbsterhaltung eine Komponente der Selbsttranszendenz
enthalten kann.

152
Umgekehrterweise bezeugen die hingebende Pflege der Kranken, die aktive Mitarbeit
an wohltätigen Organisationen oder Tierschutzvereinen gewiß einen bewundernswerten
Altruismus – und sind doch oft ebenso wirksame Ausdrucksmittel für unbewußte
Herrschsucht; sie bezeugen die unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten zwischen den
integrativen und den selbstbehauptenden Tendenzen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll noch darauf hingewiesen werden, daß nach
der oben dargelegten Theorie der Emotionen Selbstbehauptung und Selbsttranszendenz
nicht spezifische Emotionen sind, sondern Tendenzen, die bei allen Emotionen mitwir-
ken. Aber um Umständlichkeit zu vermeiden, ist es oft bequemer, einfach von »selbst-
transzendierenden Emotionen« zu reden und nicht von »Emotionen, bei denen die
selbsttranszendierenden Tendenzen dominieren«.

15.2 Pathologie der Aggression


Wir wollen noch einmal kurz zusammenfassen: Das Einzelindividuum, als Ganzes be-
trachtet, stellt den Gipfel einer organismischen Hierarchie dar – als Teil betrachtet, ist es
die unterste Einheit einer Sozialhierarchie. An dieser Grenzlinie zwischen physiologi-
scher und sozialer Organisation manifestieren sich die beiden einander entgegengesetz-
ten Wirkkräfte, denen wir auf jeder einzelnen Stufe begegnet sind, in der Form von
emotionalen Verhaltensweisen. Solange alles gutgeht, halten sich die selbstbehaupten-
den und die integrativen Tendenzen des Individuums in seinem emotionalen Leben
mehr oder minder die Waage; der Mensch lebt in einer Art dynamischen Aquilibriums
mit der Familie, dem Stamm, der sozialen Gemeinschaft, zu der er gehört, aber auch mit
den Wert- und Glaubensvorstellungen, die seine geistige Umwelt bilden.
Ein gewisses Maß von Selbstbehauptungswillen, »ausgeprägtem Individualismus«, Am-
bition und Konkurrenzlust ist in einer dynamischen Gesellschaft ebenso unentbehrlich,
wie dem Organismus die Autonomie und die Selbständigkeit seiner Holons unentbehr-
lich sind. Eine wohlmeinende, aber verschwommene Ideologie, die nach den Schrecken
der letzten Jahrzehnte zur Mode geworden ist, behauptet, Aggressivität sei in allen ihren
Formen von Übel und daher zu verdammen. Ohne ein bescheidenes Maß von aggressi-
vem Individualismus könnte es jedoch weder im sozialen noch im kulturellen Bereich
Fortschritte geben. Was John Donne als die »heilige Unzufriedenheit« des Menschen
bezeichnet hat, ist ein unerläßlicher Ansporn für den Reformer, den Satiriker, den
Künstler und den Denker. Wir haben gesehen, daß die schöpferische Originalität in
Kunst und Wissenschaft eine konstruktive und eine destruktive Seite hat – destruktiv in
ihrer Wirkung auf herkömmliche Konventionen, Stilarten, Dogmen und Vorurteile. Und
da die Wissenschaft von Wissenschaftlern gemacht wird, muß der destruktive Aspekt
wissenschaftlicher Revolutionen auf einem destruktiven Element in der Mentalität des
Wissenschaftlers beruhen; auf einer Bereitschaft, rücksichtslos mit altehrwürdigen Vor-
stellungen aufzuräumen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Künstler.
Die Aggression ist wie Arsen: in kleinen Dosen ein Stimulans, in großen Dosen Gift.


Wir wollen uns nun der giftigen Seite der selbstbehauptenden Emotionen zuwenden. In
Krisensituationen zeigt ein übererregtes Organ die Tendenz, sich von den Kontrollen,
die seine Funktionen regulieren, freizumachen und sich zum Nachteil des Ganzen zu
behaupten. Das gleiche geschieht, wenn die koordinierenden Kräfte des Ganzen so sehr
geschwächt sind – durch Seneszenz oder Trauma –, daß es nicht länger fähig ist, die
Kontrolle über seine Teile auszuüben.*
143
* Nach der Terminologie von C. M. Child wird der Teil »physiologisch vom Ganzen isoliert«.
In extremen Fällen kann das zu irreversiblen pathologischen Veränderungen führen wie
bei bosartigen Geschwülsten mit ungehemmter Wucherung von Geweben, die sich von

153
der genetischen Kontrolle losgesagt haben. Auf weniger extreme Weise kann jedes Or-
gan beziehungsweise jede Funktion vorübergehend oder teilweise außer Kontrolle ge-
raten. Bei heftigen Schmerzen neigt der betroffene Teil dazu, die Aufmerksamkeit des
gesamten Organismus zu monopolisieren; im Gefolge emotionaler Spannungen können
die Magensäfte die Magenwand angreifen; bei Zorn und Panik reißt der sympathi-
coadrenale Apparat die Herrschaft über den Organismus an sich, und wenn der Ge-
schlechtstrieb erwacht, scheint das Kommando vom Gehirn auf die Gonaden überzuge-
hen.
Nicht nur Teile des Körpers können in Krisensituationen in schädlicher Weise das Gan-
ze dominieren, sondern auch geistige Strukturen. Die fixe Idee, die Obsessionen des
Sonderlings sind geistige Holons, die aus den Fugen geraten sind. Es gibt eine ganze
Skala von Geistesstörungen, bei denen ein untergeordnetes Gefüge der geistigen Hierar-
chie eine tyrannische Herrschaft über das Ganze ausübt: von der relativ harmlosen Ver-
narrtheit in irgendeine Lieblingstheorie über die insidiöse Beherrschung des Geistes
durch »verdrängte« Komplexe (F Freud nennt sie charakteristischerweise »autonome
Komplexe«, denn sie unterliegen nicht der Kontrolle des Ichs) bis zu den klinischen
Psychosen, bei denen sich große Teilbereiche der Persönlichkeit abgespalten zu haben
scheinen und nun eine gleichsam unabhängige Existenz führen. In den Halluzinationen
des Paranoikers ist nicht nur die intellektuelle, sondern auch die Wahrnehmungshierar-
chie unter die Herrschaft des entfesselten Holons geraten, das ihr seine besonderen
Spielregeln aufzwingt.
Bei den klinischen Psychosen handelt es sich jedoch nur um extreme Manifestationen
von Tendenzen, die auch im normalen Individuum – beziehungsweise in dem, was wir
dafür halten – angelegt sind. Verirrungen des menschlichen Geistes sind, weitgehend
auf die Obsession mit einer Teilwahrheit zurückzuführen, die man behandelt, als sei sie
eine ganze. Religiöse, politische und philosophische Fanatismen, die Hartnäckigkeit des
Vorurteils, die Intoleranz wissenschaftlicher Orthodoxien und künstlerischer Cliquen,
sie alle bezeugen die Tendenz, »geschlossene Systeme« auf einer Teilwahrheit aufzu-
bauen und ihre absolute Gültigkeit zu behaupten. In extremen Fällen kann sich ein ent-
fesseltes Mental-Holon wie ein bösartiges Geschwür verhalten, das alle geistigen Ge-
webe durchsetzt.
Wenden wir uns von dem Einzelnen zur Gruppe – zu den Berufsklassen oder den ethni-
schen Holons –, dann finden wir auch hier wieder, daß sie, solange alles gutgeht, mit ih-
rer natürlichen und sozialen Umwelt in einer Art dynamischem Aquilibrium leben. In
Sozialhierarchien treten natürlich an die Stelle der physiologischen Kontrollen des Or-
ganismus institutionelle Kontrollen, die die selbstbehauptenden Tendenzen auf allen
Stufen in Schranken halten. Auch hier basiert das Ideal eines reibungslosen, idyllischen
Zusammenwirkens – ohne Konkurrenz und ohne Spannungen – auf einer Verwechslung
des Wünschenswerten mit dem Möglichen. Ohne ein gewisses Maß an Selbstbehaup-
tungswillen seiner Teile würde die soziale Gemeinschaft ihre Individualität und Artiku-
lierung verlieren und sich in eine Art amorpher Gallerte auflösen. Umgekehrt kann in
Konfliktsituationen, wenn die Spannungen ein kritisches Limit überschreiten, das eine
oder andere soziale Holon – die Armee, die Bauern oder die Gewerkschaften – seinen
Selbstbehauptungswillen zum Schaden des Ganzen durchsetzen, als handelte es sich um
ein übererregtes Organ. – Auch der Verfall der integrativen Kräfte des Ganzen kann zu
ähnlichen Symptomen führen, wies es der Niedergang von Weltreichen immer wieder
lehrt.

154
15.3 Pathologie der Devotion
Die selbstbehauptenden Tendenzen des Individuums sind also ein notwendiger und kon-
struktiver Faktor – solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Von diesem Standpunkt
aus gesehen, kann man die Manifestationen von Grausamkeit und Gewalt als pathologi-
sche Extreme von im Prinzip gesunden Impulsen abschreiben, denen aus dem einen
oder anderen Grund die normale Befriedigung versagt geblieben ist. Man gebe bloß der
Jugend ein harmloses Betätigungsfeld für aggressive Gelüste – Spiele, Wettkämpfe,
Abenteuer, sexuelles Experimentieren –, und alles wird in Ordnung sein.
Leider haben diese Rezepte, sooft man sie auch versuchte, nie richtige Erfolge gehabt.
In den letzten drei- oder viertausend Jahren haben hebräische Propheten, griechische
Philosophen, indische Mystiker, chinesische Weise, christliche Prediger, französische
Humanisten, englische Utilitarier, deutsche Moralisten und amerikanische Pragmatiker
vor den Gefahren der Gewaltträchtigkeit gewarnt und an die edleren Regungen im Men-
schen appelliert – leider ohne merkbares Ergebnis. Für diesen Fehlschlag muß es einen
Grund geben.
Der Grund liegt, wie ich glaube, in einer Reihe von fundamentalen Mißverständnissen
der Faktoren, die die Geschichte des Menschen verunstalten, ihn daran hindern, aus der
Vergangenheit zu lernen, und gegenwärtig sein Überleben in Frage stellen. Das erste
dieser Mißverständnisse besteht darin, daß man die Schuld an unserem Elend der
Selbstsucht und Habgier des Einzelnen zuschreibt – mit anderen Worten, seinen aggres-
siven, selbstbehauptenden Tendenzen. Demgegenüber will ich versuchen zu zeigen, daß
die Selbstsucht nicht der primäre Schuldfaktor ist und daß Appelle an das »höhere Stre-
ben« im Menschen notgedrungen unwirksam sein mußten – denn die Hauptgefahr liegt
ja gerade in dem, was wir als »höheres Streben« im Menschen bezeichnen. Mit anderen
Worten, ich bin der Auffassung, daß die integrativen Tendenzen des Individuums un-
vergleichlich gefährlicher sind als seine selbstbehauptenden. Die Predigten der Refor-
mer mußten auf taube Ohren treffen, weil sie die Schuld dort suchten, wo sie nicht lag.
Das mag paradox klingen, aber ich glaube, die meisten Historiker würden darin überein-
stimmen, daß die Impulse der selbstsüchtigen, persönlichen Aggressivität bei den gro-
ßen Massenmorden der Geschichte nur eine relativ geringe Rolle gespielt haben; in er-
ster Linie war das Abschlachten stets als Opfer für Gott, Kaiser und Vaterland oder für
eine glücklichere Zukunft der Menschheit gemeint. Die Verbrechen eines Caligula er-
scheinen unbedeutend, verglichen mit denen eines Torquemada. Die Anzahl derer, die
in irgendeiner Periode der Geschichte Räubern, Banditen, Lustmördern, Gangstern und
anderen Verbrechern zum Opfer fielen, ist unbedeutend, verglichen mit den Hekatom-
ben jener, die im Namen der einzig wahren Religion, der politischen Gerechtigkeit oder
einer korrekten Ideologie fröhlich abgeschlachtet wurden. Häretiker wurden nicht aus
Motiven persönlicher Grausamkeit gefoltert und verbrannt, sondern aus Sorge um das
Heil ihrer unsterblichen Seele. Stammeskriege wurden nicht im Interesse des Einzelnen
geführt, sondern stets im angeblichen Interesse des Stammes. Religionskriege führte
man, um irgendeinen heiklen Punkt der Theologie oder der Logik zu klären; Erbfolge-
kriege, dynastische Kriege, nationale Kriege und Bürgerkriege führte man, um Fragen
zu entscheiden, die mit den persönlichen Interessen der Kombattanten ebensowenig zu
tun hatten.*
* Vergewaltigung und Plünderung sind im Krieg zweifellos ein Anreiz für eine Minderheit von Söldnern
und Abenteurern; aber sie sind es nicht, die die historischen Entscheidungen treffen.
Die kommunistischen Säuberungsaktionen waren – wie schon das Wort »Säuberung«
besagt – als Operationen der sozialen Hygiene gemeint, um die Menschheit auf das
Goldene Zeitalter der klassenlosen Gesellschaft vorzubereiten. Die Gaskammern und
Krematorien arbeiteten für eine alternative Version des Himmelreichs auf Erden. Eich-

155
mann war (wie Hannah Arendt in ihrem Prozeßbericht dargelegt hat)144 weder ein Un-
geheuer noch ein Sadist, sondern ein gewissenhafter Bürokrat, der es als seine Pflicht
ansah, die ihm erteilten Befehle durchzuführen, und der die Auffassung vertrat, Gehor-
sam sei die höchste Tugend; er war so wenig ein Sadist, daß ihm schlecht wurde, als er
das einzige Mal in seinem Leben dem Vorgang in der Gaskammer zusah.
Um es noch einmal zu sagen: die aus persönlichen und selbstsüchtigen Motiven heraus
begangenen Verbrechen sind, historisch gesehen, relativ unbedeutend, wenn man sie
mit denjenigen vergleicht, die ad majorem Dei gloriam begangen wurden aus selbstauf-
opfernder Hingabe an eine Fahne, einen Führer, einen religiösen Glauben oder eine po-
litische Überzeugung. Der Mensch ist immer bereit gewesen, nicht nur zu töten, sondern
auch sein Leben zu opfern im Dienst einer Sache, ob es nun eine gute, schlechte oder
völlig hirnverbrannte Sache war. Und was könnte ein schlüssigerer Beweis für die Exi-
stenz seines selbsttranszendierenden Dranges sein als die Bereitschaft, für ein Ideal sein
Leben hinzugeben?
Welche Periode der Geschichte wir auch im Auge haben mögen, die moderne, die anti-
ke oder die prähistorische, die Tatsachen weisen immer in die gleiche Richtung: die
Tragödie des Menschen hat ihre Ursache nicht in seiner Streitsucht und Grausamkeit,
sondern in seiner Anfälligkeit für Wahnideen. »Der gefährlichste aller Verrückten ist
ein verrückter Heiliger«, schrieb einst Pope, und sein Epigramm ist für alle Geschichts-
perioden gültig, von den ideologischen Kreuzzügen des totalitären Zeitalters bis zurück
zu jenen Riten, die das Leben der Primitiven beherrschten.

15.4 Nicht erhörte Menschenopfer


Viel zuwenig haben die Anthropologen der frühesten, allgemeinen Manifestation des
menschlichen Wahns ihre Aufmerksamkeit gewidmet: ich meine die Institution des
Menschenopfers, die rituelle Tötung von Kindern, Jungfrauen, Königen und Helden, um
die Götter zu besänftigen und zu erfreuen. Man begegnet ihr seit der Morgendämme-
rung der Zivilisation in allen Teilen der Welt; sie erhielt sich während der Zeit der anti-
ken und der präkolumbianischen Kulturen und wird in einigen entfernten Ecken der
Welt noch heute praktiziert. Gewöhnlich tut man dieses Phänomen als ein unerquickli-
ches Kuriosum ab, als Überbleibsel aus den Zeiten des dunkelsten Aberglaubens; damit
aber weicht man dem wahren Problem, nämlich der Universalität dieses Phänomens,
nur aus, ignoriert den Hinweis, den es auf des Menschen Anfälligkeit für Wahnvorstel-
lungen bietet und geht an seiner Bedeutung für die Probleme der Gegenwart vorbei.
Ich möchte hier eine persönliche Anekdote einfügen. Im Jahre 1959 verbrachte ich eini-
ge Zeit als Gast bei meinem inzwischen verstorbenen Freund Dr. Verrier Elwin in sei-
nem Haus in Shillong, Assam. Dr. Elwin war als Anthropologe der führende Fachmann
auf dem Gebiet des indischen Stammeslebens; er war für diesen Bereich Chefberater der
indischen Regierung und hatte ein Mädchen aus dem Orissa-Stamm geheiratet. Eines
Tages bat mich einer seiner drei Söhne – ein stiller, intelligenter Junge von etwa zehn
Jahren –, mich auf meinem Morgenspaziergang begleiten zu dürfen. Als wir das Haus
aus den Augen verloren, wurde der Junge ängstlich und bestand darauf, daß wir um-
kehrten. Ich gab nach, fragte ihn aber, was denn eigentlich los sei; erst druckste er eine
Weile herum, dann gestand er, daß er Angst habe, bösen Männern zu begegnen – den
Khasis, die kleine Jungen töteten. Später berichtete ich darüber meinem Freund Verrier;
er erklärte mir, das Kind habe nur seine Anweisung befolgt, sich nicht außer Sichtweite
des Hauses zu begeben. Die Khasis sind ein in Assam lebender Stamm, von dem man
argwöhnte, er bringe heimlich noch immer Menschenopfer dar. Von Zeit zu Zeit tauch-
ten Gerüchte über das Verschwinden eines kleinen Kindes auf. Die Gefahr, in der Um-
gebung von Shillong marodierenden Khasis zu begegnen, sei natürlich sehr gering, aber
man müsse immerhin vorsichtig sein ... Dann erklärte er mir, mit der Gründlichkeit des

156
Anthropologen, die traditionelle Opfermethode der Khasis bestehe darin, durch die Na-
senlöcher des Kindes hindurch zwei Stöcke in das Gehirn hineinzutreiben; je mehr das
Kind schreie und blute, desto mehr erfreue das die Götter.
Ich erzähle diese Geschichte, um ein Beispiel dafür anzuführen, was der abstrakte Be-
griff »Menschenopfer« in konkreter Gestalt bedeutet. Diese Khasis müssen doch ver-
rückt gewesen sein?! Und damit sind wir beim Kern der Sache: der Akt deutet auf Gei-
stesgestörtheit hin. Aber es handelt sich hier um eine universale Form von Geistesge-
störtheit, die in allen Rassen und Kulturen anzutreffen ist. Um aus einer zeitgenössi-
schen Abhandlung zu zitieren:
Das Opfer war eine symbolische Geste: die höchste Art von Geste,
wenn man so will. Es gibt keine Gegend in der Welt, mag sie auch
noch so entfernt sein, in der nicht in der einen oder anderen Form
das Opfer eine wesentliche Rolle im Leben der Völker gespielt hat ...
Das Opfer, und häufig handelte es sich dabei um Menschenopfer,
war ein wesentlicher Teil der priesterlichen Riten, und sehr oft war
das Töten auch mit dem Verzehr menschlichen Fleisches verbunden
... Die Praxis des Kannibalismus ist gewiß eine weit weniger verbrei-
tete Institution als das Menschenopfer. Sieht man von den Bewoh-
nern der Fidschi-Inseln und den Angehörigen anderer melanesischer
Stammesgruppen ab, bei denen der Appetit auf Menschenfleisch im
Vordergrund gestanden zu haben scheint, dann war das Grundmotiv
dennoch das gleiche: Sowohl dem Menschenopfer selbst als auch
dem Verzehr des Fleisches liegt stets das Prinzip der Übertragung
von »seelischer Substanz« zugrunde ... In Mexiko waren die sakralen
Riten vermutlich noch komplizierter als sonstwo in der Welt. Men-
schenfleisch betrachtete man dort als die einzig akzeptable Nahrung
für die Götter, die man sich geneigt machen wollte. Daher wählte
man sorgfältig die Opfer aus, die man als Verkörperung von Gott-
heiten wie Quetzalcoatl und Tetzcatlipoca ansah und die man
schließlich im Gefolge zeremonieller Riten gerade jenen Göttern op-
ferte, die sie verkörperten; wobei die Zuschauer eingeladen wurden,
am Fleisch der Geopferten teilzuhaben, um sich so mit den Göttern
zu identifizieren, denen das Opfer dargebracht worden war.145
All das hat nichts mit den sieben Todsünden zu tun – Hoffart, Geiz, Unkeuschheit,
Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit –, gegen die sich die Predigten der Moralisten in
erster Linie richteten. Die achte Todsünde, tödlicher als alle anderen – Selbsttranszen-
denz durch irregeleitete Hingabe –, ist in der Liste nicht enthalten.
Aber wo sind die Geschworenen, die entscheiden sollen, ob die Hingabe »gerechtfer-
tigt« – oder »irregeleitet« ist? Da wir gerade bei den Azteken sind, will ich hier eine
Passage von Prescott anführen, die die Lehre aus ihren Wahnvorstellungen für unsere
Zeit verdeutlicht. Prescott schätzt, daß die Anzahl der jungen Männer, Jungfrauen und
Kinder, die, solange das Aztekenreich bestand, dort jährlich geopfert wurden, zwischen
20.000 und 25.000 lag; dann fährt er in seiner Schilderung fort:
Menschenopfer sind von vielen Völkern dargebracht worden, und zu
ihnen gehören auch die kultiviertesten Völker der Antike; nirgendwo
geschah das jedoch in einem solchen Ausmaß wie in Anahuac. Die
Anzahl der Opfer, die auf seinen abscheulichen Altären hinge-
schlachtet wurden, würde auch den Glauben der Frömmsten er-
schüttern ... Es ist wahrlich seltsam, daß die teuflischsten Leiden-
schaften im Herzen des Menschen in allen Ländern gerade diejenigen
gewesen sind, die im Namen der Religion entfacht wurden ...

157
Hält man sich die abscheulichen Praktiken vor Augen, von denen ich
auf den vorhergehenden Seiten berichtet habe, dann fällt es einem
wirklich schwer, sie mit einem geordneten Regierungssystem oder
gar mit einem Fortschritt in der Zivilisation in Einklang zu bringen.
Und trotzdem: die Mexikaner konnten für sich in vieler Hinsicht die
Bezeichnung »zivilisierte Gemeinschaft« in Anspruch nehmen. Viel-
leicht kann man diese Anomalie besser verstehen, wenn man daran
denkt, welche Zustände nach der Etablierung der modernen Inquisi-
tion in einigen der kultiviertesten Länder Europas im 16. Jahrhun-
dert herrschten; diese Institution vernichtete jährlich Tausende von
Menschen, die einen weit grausameren Tod starben als die den Göt-
tern dargebrachten Menschenopfer bei den Azteken; sie bewaffnete
den Bruder gegen den Bruder, und sie trug mehr dazu bei, den Vor-
marsch des Fortschritts aufzuhalten, als jedes andere jemals von
menschlicher List und Verschlagenheit ersonnene Mittel.
Mag das Menschenopfer der Azteken auch noch so grausam sein, es
entwürdigte sein Opfer nicht. Man könnte eher sagen, es adelte das
Opfer, indem es den Göttern geweiht wurde. So schrecklich es auch
gewesen sein mag, sie gaben sich manchmal freiwillig hin, weil das
Opfer einen glorreichen Tod brachte und mit Sicherheit den Einzug
ins Paradies bedeutete. Die Inquisition dagegen brandmarkte ihre
Opfer mit Schande in dieser Welt und verurteilte sie zu ewiger Ver-
dammnis im Jenseits.146
Prescott widmet sodann einen Absatz den kannibalistischen Riten, die mit den azte-
kischen Menschenopfern verknüpft waren; unmittelbar danach leistet er sich jedoch ei-
nen bemerkenswerten Salto mortale:
Angesichts dieser Zustände war es ein wahrer Segen, daß das Land
durch göttliche Fügung in die Hände einer anderen Rasse überging,
die es von den brutalen Auswirkungen des Aberglaubens erretten
sollte, der sich mit der Ausdehnung des Herrschaftsbereiches der
Azteken täglich weiter ausbreitete. Die schändlichen Institutionen
der Azteken liefern die beste Rechtfertigung für ihre Eroberung. Na-
türlich stimmt es, daß die Eroberer die Inquisition mit herüber-
brachten. Aber sie führten auch das Christentum ein, dessen wohl-
tuende Ausstrahlung auch dann noch wirksam sein wird, wenn ein-
mal die brennenden Flammen des Fanatismus längst erloschen sein
werden; und es wird die dunklen Schreckgespenster vertreiben, die
so lange über der reizenden Landschaft von Anahuac gewütet ha-
ben.147
Prescott muß doch wohl gewußt haben, daß sich – kurz nach der Eroberung von Mexiko
– die »wohltuende Ausstrahlung« des Christentums im Dreißigjährigen Krieg manife-
stierte, der einen beachtlichen Teil der europäischen Bevölkerung dahingerafft hat.

158
15.5 Der Beobachter vom Mars
Die wissenschaftliche Revolution und das Zeitalter der Aufklärung schienen für den
Menschen den Anbruch einer neuen Ära anzukündigen. Das war auch insoweit der Fall,
als die Natur erobert und in der Folge schließlich vergewaltigt wurde; für das Dilemma
des Menschen brachte das neue Zeitalter jedoch keine Lösung, im Gegenteil, es ver-
schärfte sich nur noch. An die Stelle der Religionskriege traten zunächst die vaterländi-
schen und später die ideologischen Kriege, die mit der gleichen selbstzerstörerischen
Loyalität und Besessenheit ausgefochten wurden. Das Opium der Offenbarungsreligio-
nen wurde ersetzt durch das Heroin der säkularen Religionen, die die gleiche restlose
Hingabe des Individuums an ihre Doktrinen beanspruchten und deren Propheten die
gleiche Liebe und Verehrung entgegengebracht wurde. An die Stelle des Teufels und
der Sukkuben trat eine neue Dämonologie: das jüdische Untermenschentum, das nach
der Weltherrschaft strebte; die kapitalistische Bourgeoisie, die das Volk verhungern
ließ; und schließlich die »Feinde des Volkes«, Spione und Saboteure, Ungeheuer in
Menschengestalt, die überall lauerten, bereit, zuzuschlagen. In den dreißiger und vierzi-
ger Jahren des 20. Jahrhunderts explodierte der paranoide Zug des Menschen in den
beiden mächtigsten Staaten Europas mit beispielloser Vehemenz. In den beiden Jahr-
zehnten, die auf den letzten Weltkrieg folgten, gab es insgesamt etwa vierzig kleinere
Kriege und Bürgerkriege. Während ich dieses Buch schreibe (1967), führen römisch-
katholische Christen, Buddhisten und dialektische Materialisten einen Bürgerkrieg in-
nerhalb eines Krieges, um der Bevölkerung eines asiatischen Landes den nach ihrer
Meinung einzig wahren Glauben aufzuzwingen; Mönche und Schulmädchen übergießen
sich mit Benzin und verbrennen sich – in einem neuartigen Ritual der Selbstaufopferung
ad majorem gloriam – bei lebendigem Leib auf offener Straße, umgeben von den Ka-
meras der Pressephotographen.
Im 1. Buch Mose, Kapitel 22, kommt eine Episode vor, die zahlreiche religiöse Maler
inspiriert hat. Es handelt sich um die Szene, in der Abraham seinen Sohn auf einem
Holzstoß festbindet und sich anschickt, ihm mit einem Messer die Kehle zu durch-
schneiden und ihn dann zu verbrennen, als Beweis für seine Liebe zu Jehova. Wir alle
mißbilligen, daß man einem Kind die Kehle durchschneidet; man muß sich fragen, war-
um so viele Menschen so lange Zeit hindurch die wahnsinnige Geste Abrahams gebilligt
haben. Vulgär ausgedrückt würden wir sagen, es liege der Verdacht nahe, daß im Kopf
des Menschen irgendwo eine Schraube locker sei – und das nicht erst seit heute, son-
dern schon immer. Wissenschaftlich ausgedrückt heißt das: Wir sollten ernsthaft die
Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß es bei der Evolution des Nervensystems des homo
sapiens irgendwann einmal zu einer schwerwiegenden Fehlentwicklung gekommen sein
muß. Wir wissen, daß die Evolution in Sackgassen führen kann, und wir wissen auch,
daß sich die Evolution des menschlichen Gehirns in einem beispiellos raschen, ja gera-
dezu explosiven Prozeß vollzogen hat. Ich werde im folgenden Kapitel auf diesen Punkt
noch zurückkommen; im Augenblick wollen wir nur als mögliche Hypothese festhalten,
daß es sich bei den chronischen Wahnvorstellungen, die durch unsere gesamte Ge-
schichte hindurch erkennbar sind, um eine endemische Form von Paranoia handeln
könnte, die irgendwie in das Leitungsnetz des menschlichen Gehirns eingebaut ist.
Man kann sich unschwer vorstellen, daß ein objektiver Beobachter von einem fortge-
schritteneren Planeten nach dem Studium der Menschheitsgeschichte zu dieser Diagnose
kommen würde. Wir sind natürlich immer gerne bereit, solchen science-fiction-Phanta-
sien zuzustimmen, solange wir sie nicht wörtlich zu nehmen brauchen. Aber gerade das
wollen wir einmal versuchen und uns vorstellen, wie der Beobachter vom Mars reagieren
würde, wenn er feststellte, daß seit nahezu zweitausend Jahren Millionen von sonst ganz
vernünftigen Leuten fest davon überzeugt waren, daß die überwiegende Mehrzahl unse-
rer Spezies, die ihren speziellen Glauben nicht teilte und nicht den gleichen Riten hul-

159
digte wie sie, für alle Ewigkeit in den Flammen werde brennen müssen auf Befehl eines
liebevollen Gottes. Diese Feststellung ist nicht gerade neu. Aber ein so einzigartiges
Phänomen einfach als Indoktrination oder Aberglauben abzutun heißt doch wohl, gerade
jener Frage auszuweichen, die den Kern des menschlichen Dilemmas bildet.

15.6 Der fröhliche Vogel Strauß


Bevor wir unseren Gedankengang weiter fortsetzen, möchte ich noch versuchen, einem
häufig vorgebrachten Einwand zu begegnen. Wenn man auch nur andeutungsweise die
Hypothese erwähnt, ein paranoider Zug sei möglicherweise im Menschen inhärent an-
gelegt, dann wird man prompt beschuldigt, eine einseitige morbide Geschichtsauffas-
sung zu vertreten, sich durch ihre negativen Aspekte hypnotisieren zu lassen, die
schwarzen Steine aus dem Mosaik herauszulesen und die triumphalen Errungenschaften
menschlichen Fortschritts außer acht zu lassen. Warum nicht statt dessen die weißen
Mosaiksteine hervorheben – das Goldene Zeitalter Griechenlands, die monumentalen
Bauwerke Ägyptens, die Wunder der Renaissance, die Gleichungen Newtons oder die
Eroberung des Mondes?
Natürlich ergibt sich aus solcher Betrachtungsweise eine erfreulichere Bilanz. Was mich
persönlich betrifft, habe ich so viel über die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen
geschrieben, daß man mir kaum vorwerfen kann, ich würde seine Errungenschaften her-
absetzen. Es kommt hier jedoch nicht darauf an, ob man je nach Temperament und Lau-
ne die hellere oder die dunklere Seite auswählt, sondern darauf, daß man beide zugleich
in Betracht zieht, den Gegensatz feststellt und nach seinen Ursachen forscht. Auf den
glorreichen Errungenschaften des Menschen zu beharren und die Symptome einer mög-
lichen Geistesgestörtheit zu ignorieren, das nenne ich nicht Optimismus, sondern Vogel-
Strauß-Politik. Man könnte eine solche Haltung mit der jenes wohlmeinenden Arztes
vergleichen, der kurz vor Vincent van Goghs Selbstmord erklärte, der Patient könne
nicht geisteskrank sein, da er so wundervolle Bilder male. Eine Anzahl von Autoren,
mit denen ich ansonsten sympathisiere, scheint bei der Erörterung der Zukunftsaussich-
ten des Menschen in die gleiche wohlmeinende Betrachtungsweise zu verfallen: C. G.
Jung und seine Anhänger, Teilhard de Chardin, Julian Huxley und die sogenannten
»Evolutionshumanisten
Eine mehr ausgewogene Betrachtungsweise der menschlichen Geschichte könnte sie als
eine Symphonie mit zahlreichen Instrumenten ansehen, begleitet vom Trommelwirbel
einer Horde von Schamanen. Zuweilen läßt uns ein Scherzo die Trommeln vergessen,
aber auf die Dauer gewinnt doch ihr monotoner Rhythmus die Oberhand und erstickt
jeden anderen Ton.

15.7 Integration und Identifikation


Dichter haben stets behauptet, die Menschheit sei verrückt, und ihre Zuhörerschaft hat
immer erfreut dazu genickt, denn sie glaubte, es handle sich um eine hübsche Metapher.
Nähme man diese Aussage wörtlich, dann bestünde wohl wenig Hoffnung, denn wie
kann ein Wahnsinniger seinen eigenen Wahnsinn diagnostizieren? Die Antwort lautet:
er kann es doch, denn er ist weder völlig wahnsinnig, noch ist er es die ganze Zeit über.
In ihren Remissionsperioden haben Psychosekranke erstaunlich vernünftige und klare
Berichte über ihre Krankheit abgefaßt; selbst in den akuten Phasen einer Psychose, die
durch Drogen wie etwa LSD künstlich herbeigeführt werden, weiß die Versuchsperson,
während sie sich lebhaften Wahnvorstellungen hingibt, genau, daß es sich um Wahn-
vorstellungen handelt.
Jeder Versuch, eine Diagnose des unheilvollen Dilemmas, in welchem sich der Mensch
befindet, zu stellen, muß vorsichtig und schrittweise unternommen werden. Zunächst

160
wollen wir uns einmal daran erinnern, daß alle unsere Emotionen aus »gemischten Ge-
fühlen« bestehen, an denen sowohl die selbstbehauptenden als auch die selbsttranszen-
dierenden Tendenzen beteiligt sind. Aber die beiden können auf verschiedene Weise zu-
sammenwirken – manchmal segensreich, manchmal auch unheilvoll.
Die einfachste und normalste Wechselwirkung besteht in einer gegenseitigen Abdämp-
fung: die beiden Tendenzen halten sich im Gleichgewicht. Dem Wettbewerb werden
Zügel angelegt, indem man die Regeln für ein zivilisiertes Verhalten akzeptiert. Die
selbstbehauptende Komponente beim Geschlechtstrieb sucht nur ihre eigene Befriedi-
gung, aber in einer harmonischen menschlichen Beziehung ist sie mit dem gleich star-
ken Bedürfnis verknüpft, auch dem Partner Freude und Befriedigung zu vermitteln.
Verärgerung über das lästige Benehmen des anderen wird durch das Einfühlungsvermö-
gen gemildert – durch das Verständnis für Motive, denen sein Benehmen entspringt.
Beim schöpferischen Künstler oder Wissenschaftler wird der Ehrgeiz ausgeglichen
durch die selbsttranszendierende Hingabe an das Werk. In einer idealen Gesellschaft
wären die beiden Grundtendenzen in ihren Bürgern harmonisch vereint – diese wären
zugleich heilig und tüchtig, Jogis und Kommissare. Wenn aber die Spannungen zuneh-
men oder sich die Integration lockert, dann verwandelt sich Konkurrenz in Rücksichts-
losigkeit, Werbung in Notzucht, Ehrgeiz in Egozentrik, verwandelt sich der Kommissar
in einen Terroristen. Wie bereits betont, sind jedoch die aus Exzessen von individueller
Selbstbehauptung herrührenden Schäden, in historischem Maßstab gesehen, relativ un-
bedeutend, wenn man sie mit denen vergleicht, die aus irregeleiteter Devotion resultie-
ren. Wir wollen nun diesen Zusammenhang ein wenig näher untersuchen.
Die integrativen Tendenzen des Einzelnen wirken durch die Mechanismen des Einfüh-
lungsvermögens, der Sympathie, der Projektion, der Introjektion, der Identifikation und
der Devotion: sie alle vermitteln das Erlebnis, Teil einer größeren Einheit zu sein, die
über die Grenzen seines individuellen Ichs hinausgeht (siehe Seite 129 f.). Dieses psy-
chologische Bedürfnis, zu etwas zu gehören, an etwas teilzuhaben, sich mit etwas zu
verbinden, ist ebenso primär und real wie sein Gegenpol. Die entscheidende Frage ist
die Beschaffenheit dieser höheren Entität, als deren Teil sich das Individuum fühlt.
Während der frühen Kindheit verbindet ein symbiotisches Bewußtsein das Ich und die
Welt zu einer untrennbaren Einheit. Diese Einheit spiegelt sich später im Sympathie-
zauber der Primitiven wider, im Glauben an die Transsubstantiation, an die mystischen
Bande, die einen Menschen mit seinem Stamm, seinem Totem, seinem Schatten, seinem
Abbild und seinem Gott verbinden. In den orientalischen Philosophien hat sich das »Ich
bin du, und du bist ich«, die Identität des »eigentlichen Ichs« mit dem Atman, der Welt-
seele, durch die Jahrhunderte hindurch erhalten. Im Westen überlebte es nur in der Tra-
dition der großen, christlichen Mystiker; die europäische Philosophie und Wissenschaft
seit Aristoteles machten jeden Menschen zu einer Insel. Sie konnten jene Spuren sym-
biotischen Bewußtseins, die sich in anderen Kulturen erhalten hatten, nicht tolerieren,
der Drang nach Selbsttranszendenz mußte hier kanalisiert und sublimiert werden.
Ein Weg, dies zu erreichen, bestand darin, Magie in Kunst und Wissenschaft zu trans-
formieren. Dadurch ergab sich für einen kleinen, erlesenen Kreis die Möglichkeit,
Selbsttranszendenz auf einer höheren Windung der Spirale zu erreichen durch jene sub-
lime Ausdehnung des Bewußtseins, die Freud als das »ozeanische Gefühl« und Mas-
low148 als das »Gipfelerlebnis« bezeichnete und die ich die AH-Reaktion genannt habe.
Aber nur eine geringe Minderheit ist für ein solches Erlebnis qualifiziert. Den anderen
stehen nur beschränkte, traditionelle Betätigungsfelder offen, mit deren Hilfe sie die
starren Grenzen des eigenen Ichs überschreiten können. Historisch gesehen bestand für
die überwiegende Mehrzahl der Menschheit die einzige Antwort auf ihre integrativen
Regungen – die Sehnsucht, teilzuhaben, anzugehören, einen Sinn im Dasein zu finden –
in der Identifizierung mit Stamm, Kaste, Nation, Kirche oder Partei, in jedem Fall mit
einem sozialen Holon.

161
Hier sind wir nun an einem entscheidenden Punkt angelangt. Der psychologische Pro-
zeß, mit dessen Hilfe eine solche Identifikation vollzogen wurde, war meist von jener
primitiven und infantilen Art der Projektion, die Himmel und Erde mit zornigen Vater-
figuren bevölkert, mit Fetischen, die verehrt, mit Dämonen, die in die Flucht geschla-
gen, und mit Dogmen, die blind geglaubt werden müssen. Diese grobe Art der Identifi-
kation unterscheidet sich sehr stark von der Integration in eine wohlgeordnete Sozial-
hierarchie. Sie bedeutet eine Regression zu einer infantilen Form der Selbsttranszendenz
und in extremen Fällen sogar so etwas wie einen Weg zurück in den Mutterleib. Jung
sagt:
Nicht nur sprechen wir von der Mutter Kirche, sondern sogar vom
»Schoß der Kirche« ... Die Katholiken bezeichnen das Taufbecken als
immaculata divini fontis uterus.149
Wir brauchen uns aber nicht auf so extreme Fälle zu berufen, um zu erkennen, daß die
reifen, sublimierten Ausdrucksformen der integrativen Tendenz in der menschlichen
Gesellschaft die Ausnahme sind und nicht die Regel. Blättert man im Geschichtsbuch
der Menschheit zurück, dann stellt man fest, daß sich die Menschen zu allen Zeiten wie
Konrad Lorenz’ »objektgeprägte« Gänse verhalten haben, die in mißgeleiteter Devotion
ihr Leben lang hinter dem Züchter herwatscheln, weil er das erste sich bewegende Ob-
jekt war, das sie nach dem Ausschlüpfen wahrnahmen – anstatt der Muttergans.
Soweit wir in der Geschichte zurückblicken können, ist es den verschiedensten mensch-
lichen Gesellschaften immer ganz gut gelungen, die Sublimation der selbstbehaupten-
den Impulse des Einzelnen zu erzwingen – bis schließlich der brüllende kleine Wilde in
der Wiege in ein mehr oder minder gesetzestreues und zivilisiertes Mitglied der Gesell-
schaft verwandelt wurde. Gleichzeitig aber mißlangen alle Versuche, eine ähnliche
Sublimation bei den selbsttranszendierenden Impulsen herbeizuführen. Infolgedessen
manifestieren sich diese meist in primitiven oder pervertierten Formen. Die Ursache für
diesen entscheidenden Kontrast in der Entwicklung der beiden Grundtendenzen wird, so
hoffe ich, im weiteren Verlauf dieser Untersuchung deutlicher werden. Zunächst wollen
wir einen Blick auf die sich daraus ergebenden psychologischen und sozialen Konse-
quenzen werfen.

15.8 Die Gefahren der Identifizierung


Nach welchem Prinzip arbeitet die Identifizierung? Nehmen wir den einfachsten Fall,
bei dem nur zwei Individuen beteiligt sind. Mrs. Smith und Mrs. Brown sind miteinan-
der befreundet. Mrs. Brown hat ihren Mann durch einen Unfall verloren; Mrs. Smith
vergießt mitfühlende Tränen, sie nimmt am Kummer ihrer Freundin teil und identifiziert
sich dadurch teilweise mit ihr, und zwar durch einen Akt des Einfühlungsvermögens,
der Projektion oder der Introjektion, wie man es gerade nennen mag. Ein ähnlicher Pro-
zeß vollzieht sich, wenn es sich bei der anderen Person nicht um ein wirkliches Indivi-
duum, sondern um die Heroine eines Films oder eines Romans handelt. Es ist wichtig,
daß wir bei diesem Vorgang einen klaren Unterschied machen zwischen zwei Faktoren,
obwohl beide zur gleichen Zeit erlebt werden. Bei dem ersten handelt es sich um den
Akt der Identifizierung selbst; er ist gekennzeichnet durch die Tatsache, daß das Indivi-
duum für einen Augenblick seine eigene Existenz mehr oder minder vergessen hat und
an der Existenz einer anderen Person teilhat, die zu einer ganz anderen Zeit oder an ei-
nem ganz anderen Ort gelebt haben mag. Das ist ganz zweifellos ein selbsttranszendie-
rendes und kathartisches Erlebnis, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Mrs. Smith,
solange dieses Erlebnis andauert, ihre eigenen Sorgen, Eifersüchteleien und ihren Groll
gegen Mr. Smith völlig vergißt. Der Akt der Identifikation hemmt zeitweilig die selbst-
behauptenden Tendenzen.

162
Es spielt jedoch noch ein zweiter Faktor mit hinein, der gerade die gegenteilige Wir-
kung auslösen kann: der Prozeß der Identifizierung kann zur Entstehung von stellver-
tretenden Emotionen führen. Wenn Mrs. Smith am Kummer von Mrs. Brown »teilhat«,
dann leitet dieser erste Prozeß des Teilhabens unmittelbar zum zweiten Prozeß über:
zum Erleben von Kummer. Aber dieser zweite Prozeß kann auch zum Erleben von
Angst oder Zorn führen. Man leidet mit dem jungen Oliver Twist; daraus resultiert
schließlich das Gefühl, man müßte Fagin mit eigenen Händen erwürgen. Das Teilhaben
an den Empfindungen anderer ist ein selbsttranszendierendes und kathartisches Erleb-
nis. Aber es kann auch zum Medium für Zorngefühle werden – Zorn als stellvertretende
Emotion, erlebt für jemand anders, aber echt empfunden.
Der Zorn, den man angesichts der üblen Machenschaften perfider Leinwandschurken
empfindet – in Mexiko kommt es vor, daß das Publikum sie mit Kugeln durchlöchert –,
ist durchaus echter Zorn. Wenn wir uns im Kino oder im Fernsehen einen Thriller anse-
hen, dann entwickeln wir auch die physischen Symptome akuter Angst – Herzklopfen,
Muskelspannung und plötzliches Zusammenzucken. Hier erkennen wir das Paradoxon –
und das Dilemma. Wir haben einerseits gesehen, daß die selbsttranszendierenden Im-
pulse der Projektion, des Teilhabens und der Identifikation die Selbstbehauptung hem-
men und uns von selbstsüchtigen Ärgernissen und Begierden reinigen. Aber anderseits
kann der Vorgang der Identifikation auch den plötzlichen Ausbruch von Zorn, Angst
und Rachsucht stimulieren; zwar erlebt man diese Regungen sozusagen in Stellvertre-
tung für eine andere Person, aber sie drücken sich trotzdem in den wohlbekannten adre-
no-toxischen Symptomen aus. Die dabei mitwirkenden physiologischen Mechanismen
sind im Prinzip die gleichen, ohne Rücksicht darauf, ob die Drohung oder Beleidigung
sich gegen uns selbst richtet oder gegen diejenige Person oder Gruppe, mit der wir uns
identifizieren. Sie sind einwandfrei selbstbehauptender Natur, obschon sozusagen das
Ich vorübergehend seine Adresse geändert hat – indem es zum Beispiel in den untadeli-
gen Filmhelden hineinprojiziert wird oder in das heimische Fußballteam oder in die
Flagge und Hymne des Vaterlandes.
Die Kunst ist eine Schule der Selbsttranszendenz; aber das gleiche gilt auch für eine pa-
triotische Versammlung, eine Voodoo-Zeremonie oder einen Kriegstanz. Daß wir im-
stande sind, Tränen über den Tod Anna Kareninas zu vergießen, die nur auf dem Papier
oder als Schatten auf der Leinwand existiert, ist wahrscheinlich ein Triumph der Imagi-
nationskraft unseres Geistes. Die Illusionen auf der Bühne leiten sich letztlich aus dem
Sympathiezauber ab – aus der teilweisen Identifizierung des Zuschauers mit dem
Schauspieler und damit auch mit dem Gott oder Helden, den er verkörpert. Aber hier
wird der Zauber in hohem Maße sublimiert; der Prozeß der Identifizierung ist nur tenta-
tiv und partiell; er beeinträchtigt nicht die kritischen Fähigkeiten und unterminiert nicht
die persönliche Identität. Aber das ist es gerade, worauf Voodoo-Zeremonien und
Nürnberger Parteitage abzielen. Die in Orwells Roman 1984 vom »Wahrheitsministe-
rium« gezeigten Filme bezwecken, kollektive Haßorgien auszulösen. Zwar erleben die
Zuschauer nur stellvertretende Emotionen selbstloser Natur: eine gerechte Entrüstung,
deren Manifestationen aber um so ungezügelter sind, weil sie selbstlos und unpersönlich
ist und man sich ihr mit einem reinen Gewissen hingeben kann.
Sowohl die Glorie als auch die Tragödie des menschlichen Daseins leitet sich also aus
unseren selbsttranszendierenden Kräften ab. Diese Kräfte lassen sich ebenso für schöp-
ferische wie auch für destruktive Ziele einspannen; sie sind gleichermaßen imstande,
uns zu Künstlern oder zu Mördern zu machen – wobei letztere Möglichkeit die wahr-
scheinlichere ist. Sie können selbstsüchtige Impulse in Schranken halten, aber auch ge-
waltträchtige Emotionen entfachen, die im Namen jener Entität erlebt werden, mit der
man ein Identifizierungsverhältnis etabliert hat. Ungerechtigkeiten oder vorgegebene
Ungerechtigkeiten, die dieser Entität zugefügt werden, lösen meist eine weit fanatische-
re Reaktion aus als eine persönliche Beleidigung. Das verstümmelte Ohrläppchen von

163
Jenkins mag mittlerweile zu einem komischen Klischee geworden sein, aber es war zu
seiner Zeit eine in hohem Maß mitbestimmende Ursache für die amerikanische Kriegs-
erklärung an Spanien. Die Erschießung der Krankenschwester Edith Louisa Cavell im
Ersten Weltkrieg löste in viel stärkerem Ausmaß eine spontane Entrüstung gegen »teu-
tonische Brutalitäten« aus als die Massenvernichtungen von Juden im Zweiten Welt-
krieg. Es ist leicht, sich mit einer heroischen Rotkreuzschwester zu identifizieren: die
Opfer der Gaskammern können zwar Mitleid erregen, aber kaum Impulse zur Identifi-
kation.

15.9 Hierarchische Bewußtheit


Der Mechanismus, den ich eben erörtert habe – die Selbsttranszendenz als Vermittlerin
von Emotionen genau entgegengesetzter Art –, findet seinen unheilvollsten Ausdruck
im Bereich der Massenpsychologie.
Ich habe wiederholt betont, daß die selbstsüchtigen Impulse des Menschen in histori-
scher Sicht eine weit geringere Gefahr darstellen als seine integrativen Tendenzen. Das
Individuum, das sich Exzessen von aggressiver Selbstbehauptung hingibt, macht sich
gegenüber der Gesellschaft straffällig – es ächtet sich selbst, es schließt sich aus der
Hierarchie aus. Der Rechtgläubige dagegen wird immer enger mit ihr verwoben; er ist
geborgen im Schoß seiner Kirche, seiner Partei, oder was immer das soziale Holon ist,
dem er seine Identität hingibt. Denn Identifikation in dieser primitiven Form hat immer
eine gewisse Beeinträchtigung der eigenen Individualität zur Folge, ein Aufgeben der
kritischen Fähigkeiten und des persönlichen Verantwortungsgefühls. Der Priester ist der
»gute Hirte« seiner Herde, aber die gleiche Metapher gebrauchen wir auch in einem ab-
träglichen Sinn, wenn wir von den Massen sprechen, die einem Demagogen wie die
Schafe folgen; beide Ausdrücke, der eine anerkennend, der andere herabsetzend, drük-
ken die gleiche Wahrheit aus.
Hier haben wir also erneut den grundlegenden Unterschied zwischen der primitiven
Identifikation, deren Ergebnis die homogene Herde ist, und den reiferen Formen der In-
tegration in einer Sozialhierarchie. In einer gut ausbalancierten Hierarchie behält der
Einzelne den Charakter eines sozialen Holons bei, eines Teilganzen, das innerhalb der
Grenzen, die von den Interessen der Gemeinschaft bestimmt werden, seine eigene Au-
tonomie genießt. Er bleibt ein individuelles Ganzes mit eigenen Rechten und Pflichten,
und man erwartet von ihm, daß er seine Autonomie durch Originalität, Initiative und vor
allem durch persönliche Verantwortlichkeit behauptet. Die gleichen Wertkriterien gel-
ten auch für größere soziale Holons – Berufsgruppen, Gewerkschaften, Gesellschafts-
klassen – auf den höheren Stufen der Hierarchie. Man erwartet von ihnen die Entfaltung
der im Janusprinzip implizierten Tugenden: sie sollen selbstregulierende autonome
Holons sein, aber zugleich auch mit den nationalen – beziehungsweise internationalen –
Interessen im Einklang stehen. Von einer idealen Gesellschaft dieser Art könnte man
sagen, sie besitze »hierarchische Bewußtheit«: jedes Holon auf jeder Stufe ist sich so-
wohl seiner Rechte als Ganzes als auch seiner Pflichten als Teil voll bewußt.
Die Phänomene, die man gewöhnlich mit den Begriffen »Gruppenmentalität« oder
»Massenpsyche« bezeichnet, reflektieren jedoch eine grundsätzlich andere Einstellung.
Sie basiert – um es nochmals zu betonen – nicht auf einer integrierten Wechselwirkung,
sondern auf einem Identifizierungsverhältnis. Bei der Integration in einer Sozialhierar-
chie bleiben die persönliche Identität und die Verantwortlichkeit ihrer Holons gewahrt;
die Identifikation jedoch impliziert, während der Dauer ihres Bestehens, eine partielle
oder gar totale Aufgabe beider Elemente.
Wir haben gesehen, daß die Selbstaufgabe ebenso wohltätige wie schädliche Formen
annehmen kann, in der mystischen oder ästhetischen Verzückung löst sich das Ich im

164
ozeanischen Gefühl auf; eine der französischen Bezeichnungen für den Orgasmus lautet
la petit mort; ein Theaterbesuch ist eine Flucht vor dem Ich. Die Selbsttranszendenz hat
immer ein Sich-Aufgeben im Gefolge; aber Ausmaß und Qualität des Opfers hängen
stets vom Grad der Sublimierung und von der Art des Betätigungsfeldes ab. Bei den si-
nistren Phänomenen der Massenpsychologie ist die Sublimation minimal, und alle Be-
tätigungsfelder sind gleichgeschaltet.

15.10 Induktion und Hypnose


Zu den harmlosen Manifestationen der Massenpsychose gehören so triviale Phänomene
wie ansteckendes Lachen, ansteckendes Gähnen oder ansteckendes In-Ohnmacht-
Fallen. Die Ansteckung in einer Mädchenklasse oder im Mädchenschlafsaal eines Col-
leges scheint auf einer Art von wechselseitiger Induktion zu beruhen:
Jedesmal wenn ich auf Sally Anne blickte oder Sally Anne auf mich,
fingen wir von neuem zu kichern an; wir konnten uns einfach nicht
halten. Am Ende waren wir alle nahezu hysterisch.
Aber nicht nur halbwüchsige Mädchen, auch stramme Gardesoldaten auf Regimentspa-
raden sind solchen Phänomenen ausgesetzt: ein Riesenkerl wird plötzlich ohnmächtig,
und andere fallen nach ihm wie Kegel um. Auf Zusammenkünften von amerikanischen
religiösen Sekten sind die Symptome noch erstaunlicher: fängt der erste an zu schreien,
herumzuspringen und sich wie ein Epileptiker zu gebärden, werden die anderen von ei-
nem unwiderstehlichen Drang ergriffen, das gleiche zu tun. Der nächste Schritt führt
uns zu noch unheimlicheren Manifestationen: zu den Taranteltänzern des Mittelalters;
zu den kollektiven Halluzinationen der Nonnen von Loudun, die sich in der Umarmung
mit obszönen Teufeln auf dem Erdboden herumwälzten; zu den fidelen französischen
commères, die sich am Fuß der Guillotine in geifernde Trikoteusen verwandelten; und –
um einen Kontrast hineinzubringen – zu den strikt disziplinierten, ritualisierten Partei-
aufmärschen in Nürnberg und auf dem Roten Platz in Moskau – oder, um noch einen
Kontrast anzuführen, zu den Horden schreiender Teenager-Bacchantinnen, die einem
Pop-Star hysterisch zujubeln.
Allen diesen Phänomenen – harmlos, bedrohlich oder grotesk – ist ein Grundelement
gemeinsam: die Leute, die an ihnen beteiligt sind, haben bis zu einem gewissen Grade
ihre unabhängige Identität aufgegeben und sich mehr oder minder entpersönlicht; im
gleichen Ausmaß wurden ihre Impulse synchronisiert und in die gleiche Richtung aus-
gerichtet wie magnetisierte Eisenspäne. Die Kraft, die sie zusammenhält, bezeichnet
man verschiedentlich als »soziale Infektion«, »wechselseitige Induktion«, »kollektive
Hysterie«, »Massenhypnose« und so weiter; sie alle haben ein gemeinsames Element:
die Identifizierung mit der Gruppe, erkauft durch die partielle Aufgabe der eigenen
Identität. Die Immersion in der Gruppendynamik ist die Selbsttranszendenz der Armen
im Geiste. Sie ist von Freud und anderen Psychologen auch mit einem halbhypnotischen
oder quasi-hypnotischen Zustand verglichen worden.
Der hypnotische Zustand ist leicht zu demonstrieren, aber schwer zu definieren oder zu
erklären. Diese Tatsache und die unheimliche Macht, die der Hypnotiseur auszuüben
scheint, mögen der Hauptgrund dafür sein, daß man der Hypnotik in der Wissenschaft
der westlichen Welt so lange mit Skepsis und Mißtrauen begegnet ist – während man sie
in den primitiven, aber auch in den fortgeschrittenen Kulturen der östlichen Welt so-
wohl für segensreiche als auch für üble Zwecke anwandte. Mesmer erzielte mit ihr
spektakuläre Heilerfolge, aber er kannte nicht ihre Wirkungsweise; seine Pseudoerklä-
rungen mit Hilfe des Tiermagnetismus, verbunden mit raffinierter Effekthascherei,
brachten den Hypnotismus nur noch weiter in Mißkredit. Im Laufe des 19. Jahrhunderts
haben mehrere hervorragende englische Chirurgen eine Anzahl von Operationen ein-

165
schließlich Amputationen schmerzfrei unter Einwirkung der Hypnose durchgeführt,
aber ihre Berichte stießen auf Skepsis und Feindseligkeit. Die orthodoxe Medizin wei-
gerte sich, die Realität eines Phänomens zu akzeptieren, obwohl es sich leicht demon-
strieren ließ und zeitweilig sogar zu einer Art Gesellschaftsspiel wurde. Nur allmählich
wurde dieses Vorurteil abgetragen; Charcot und seine Schule in Frankreich und Freud in
seiner frühen Periode hypnotisierten ihre Patienten ganz routinemäßig und benutzten die
Hypnose zu therapeutischen Zwecken. 1841 prägte der schottische Arzt James Baird das
Wort »Hypnotismus«, das etwas respektabler klang als die früheren Termini Mesme-
rismus, Magnetismus oder Somnambulismus.*
* Den letztgenannten Begriff prägte der Marquis Chastenay de Puységur, ein Anhänger von Mesmer, dem
aufgefallen war, daß sich seine Patienten im Trancezustand wie Schlafwandler zu bewegen und zu be-
nehmen schienen.
Gegenwärtig werden qualifizierte medizinische Hypnotiseure in wachsender Zahl von
Zahnärzten an Stelle von Narkotiseuren beschäftigt; bei Entbindungen, in der Psycho-
therapie und in der Dermatologie ist die Anwendung von Hypnose so sehr gang und gä-
be, daß wir schon gar nicht mehr fragen, auf welche Weise sie eigentlich wirkt. Denn
sie ist, wie schon gesagt, ein Phänomen, das sich leicht hervorbringen, aber nur schwer
erklären läßt – schon gar nicht mit den Begriffen der »Flache-Erde-Psychologie«.
Eine Erklärung, oder doch zumindest eine Beschreibung, gab vor einem halben Jahr-
hundert Ernst Kretschmer: Im hypnotischen Zustand scheinen die Funktionen des Ichs
außer Kraft gesetzt zu sein mit Ausnahme derjenigen, die mit dem Hypnotiseur wie
durch einen schmalen Schlitz in einem Projektionsschirm kommunizieren.150 Der
Schlitz konzentriert den Strahl des hypnotischen »Rapports«. Die übrige Vorstellungs-
welt der hypnotisierten Person ist somit abgeschirmt.
Eine aus jüngerer Zeit stammende Beschreibung – die des Oxforder Experimentalpsy-
chologen Dr. Oswald – führt im Prinzip zu den gleichen Schlußfolgerungen:
Der hypnotische Trancezustand beim Menschen hat [im Gegensatz
zu den bei Tieren induzierten kataleptischen Zuständen] eine Be-
zeichnung, die seiner Ähnlichkeit mit dem Schlafwandeln ent-
stammt. Der hypnotische Trancezustand beim Menschen ist aber
kein Schlafzustand. Er ist auch nicht, das muß besonders betont
werden, ein Zustand der Bewußtlosigkeit ... Es ist nicht möglich, die-
sen Zustand auf eine Art und Weise zu klassifizieren, die allgemein
akzeptabel wäre. Er bleibt definitiv ein Rätsel. Mit Sicherheit kann
man sagen, er ist ein Zustand der Untätigkeit, jedoch nur was
spontane Aktionen betrifft. Auf Befehl des Hypnotiseurs kann durch-
aus eine vehemente Aktivität einsetzen, ohne daß der Trancezustand
unterbrochen oder der Rapport mit dem Hypnotiseur zerstört wird.
Gerade dieser Rapport ist das Charakteristische an dem Phänomen.
Die eigene Initiative des hypnotisierten Individuums wird derjenigen
des Hypnotiseurs untergeordnet. Für das, was der Hypnotiseur sug-
geriert, scheint es einfach keine Alternativmöglichkeiten zu geben.
Wenn Sie Ihren Freund bitten, aufzustehen und die Tür zu schlie-
ßen, dann mag er das ohne Widerspruch tun, er kann aber auch den
Einwand erheben, Sie könnten die Tür ebensogut selbst schließen.
Die hypnotisierte Person steht einfach auf und schließt die Tür.151
Schließlich heißt es in Drevers DICTIONARY OF PSYCHOLOGY:
Hypnose: künstlich herbeigeführter Zustand, in vieler Hinsicht dem
Schlaf ähnlich, aber besonders gekennzeichnet durch übertriebene
Suggestibilität und den kontinuierlichen Kontakt beziehungsweise
Rapport mit dem Hypnotiseur.152

166
In seinem Buch MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE machte Freud den hypnoti-
schen Zustand zu seinem Ausgangspunkt. Er betrachtete den Hypnotiseur und den Hyp-
notisierten als eine »Masse zu zweit« und glaubte, der hypnotische Trancezustand sei
der Schlüssel für die »oft tiefgreifende Veränderung seiner seelischen Tätigkeit, die ein
einzelner innerhalb einer Masse durch den Einfluß derselben erfährt«.153
In der Tat ist die »hypnotische Wirkung« von Propheten und Demagogen auf ihre »ge-
bannten« Anhänger bereits so sehr zu einem gängigen Klischee geworden, daß man
leicht dazu neigt, ihre wörtliche und pathologische Relevanz zu übersehen. Le Bons
klassische Analyse der Mentalität des heroischen und mörderischen Mobs der Französi-
schen Revolution (die Freud als seinen Ausgangspunkt nahm) ist heute noch genauso
gültig wie für die Zeit vor nahezu zwei Jahrhunderten. Wie bei einer hypnotisierten
Versuchsperson, so wird auch bei dem Individuum, das dem Einfluß der Masse unter-
worfen ist, die persönliche Initiative zugunsten des Führers aufgegeben, und »die Funk-
tionen des Ichs scheinen suspendiert zu sein«, mit Ausnahme derjenigen, die sich »im
Rapport mit dem Hypnotiseur befinden«.
Aus dieser Situation ergibt sich zwangsläufig ein Zustand geistiger Untätigkeit – eine
gemilderte Form von Somnambulismus beziehungsweise »Gebanntsein« –, der jedoch
auf Befehl des Führers urplötzlich in gewaltträchtiges Handeln umschlagen kann. Die
Masse zeigt die Tendenz, sich »fanatisch« (oder »heroisch«) zu gebärden, das heißt, alle
sind einheitlich auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet, weil die individuellen Unterschie-
de zwischen den Mitgliedern der Masse vorübergehend außer Kraft gesetzt und ihre
kritischen Fähigkeiten narkotisiert worden sind. Die gesamte Masse wird auf diese Wei-
se geistig auf einen primitiven gemeinsamen Nenner reduziert, ein Kommunikationsni-
veau, an dem alle ohne Unterschied teilhaben können: die Einheitlichkeit ihres Willens
basiert auf Einfältigkeit.
Aber gleichzeitig steigert sich die emotionale Dynamik der Masse durch wechselseitige
Induktion und durch die Tatsache, daß die Schlitze im Projektionsschirm ausnahmslos
in die gleiche Richtung weisen. Es handelt sich hier um eine Art Resonanzeffekt, der
den einzelnen Mitgliedern der Masse das Gefühl suggeriert, sie seien Teil einer unwi-
derstehlichen Macht – einer Macht, die noch dazu ex hypothesi nichts Unrechtes tun
kann. Die Identifikation spricht den Einzelnen von seiner persönlichen Verantwortlich-
keit frei; wie beim hypnotischen Rapport werden Initiative und Verantwortlichkeit auf
den Hypnotiseur übertragen. Das ist das genaue Gegenteil von »hierarchischer Bewußt-
heit« – vom Wissen um die individuelle Freiheit innerhalb der Grenzen, die von den
Spielregeln gezogen sind. Die hierarchische Bewußtheit läßt die beiden Gesichter des
Janus erkennen; die Mentalität der Masse gleicht einem einzigen, mit Scheuklappen
versehenen Profil.
Sie impliziert nicht nur das Außerkraftsetzen der persönlichen Verantwortlichkeit, son-
dern auch das der selbstbehauptenden Tendenzen des Individuums. Wir sind diesem Pa-
radoxon bereits begegnet. Die totale Identifizierung des Einzelnen mit der Gruppe
macht ihn in mehr als einer Hinsicht selbstlos. Sie macht ihn gleichgültiger gegenüber
Gefahren und weniger empfindlich für physischen Schmerz – auch wieder eine milde
Form von hypnotischer Anästhesie. Unter ihrem Einfluß ist er fähig, kameradschaftli-
che, altruistische und heroische Taten zu vollbringen und auch sein Leben zu opfern –
aber gleichzeitig geht er mit rücksichtsloser Härte und Grausamkeit gegen Feinde der
Gruppe vor. Die von den Mitgliedern einer fanatischen Menge an den Tag gelegte Bru-
talität ist jedoch ihrer Natur nach unpersönlich und selbstlos; sie dient dem Interesse
oder vermeintlichen Interesse des Ganzen, und sie schließt die Bereitschaft mit ein, im
Namen dieses Ganzen nicht nur zu töten, sondern auch zu sterben. Mit anderen Worten:
Das selbstbehauptende Verhalten der Gruppe basiert auf dem selbsttranszendierenden
Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder, das häufig die Aufopferung der persönlichen In-
teressen und sogar des eigenen Lebens im Interesse der Gruppe nach sich zieht. Ganz

167
einfach ausgedrückt: Der Egoismus der Gruppe nährt sich vom Altruismus ihrer Mit-
glieder.
Das alles erscheint uns weniger paradox, wenn wir erkennen, daß die soziale Gruppe ein
Holon mit einer eigenen Struktur und speziellen Spielregeln ist, die sich grundsätzlich
von den Regeln unterscheiden, die für das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder gelten
(siehe Seite 39 f.). Eine Volksmasse ist natürlich ein sehr primitives Holon, etwa das
menschliche Gegenstück zu einer Herde. Trotzdem gilt auch hier, daß die Masse mehr
ist als nur die Summe ihrer Teile und daß sie charakteristische Merkmale aufweist, die
man auf dem Niveau ihrer individuellen Einzelteile nicht findet.*
* In seiner kürzlich erschienenen Abhandlung THE EVOLUTION OF SYSTEMS OF RULES OF CONDUCT setzt
sich Professor F. A. von Hayek zum Ziel, »... einen Unterschied zu machen zwischen den Systemen von
Verhaltensregeln, die das Verhalten der individuellen Mitglieder einer Gruppe bestimmen, und dem Sy-
stem, das sich daraus für die Gruppe als Ganzes ergibt ... Daß [diese beiden] nicht identisch sind, sollte
154
eigentlich ohne weiteres klar sein, trotzdem werden sie in der Tat häufig miteinander verwechselt«.
Unter Umständen können sogar die Regeln, die das individuelle und das Gruppenverhalten bestimmen, in
direktem Widerspruch zueinander stehen. Vor vielen Jahren, als ich noch Romane schrieb, ließ ich eine
Romanfigur – einen römischen Rechtsanwalt aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert – eine Abhand-
lung schreiben, die den Titel trug: »Über die Gründe, die den Menschen veranlassen, gegen das Interesse
anderer zu handeln, wenn
155
er allein steht, und gegen das eigene Interesse, sobald er sich in einer Gruppe
oder Menge befindet.«
Ist die Wut der Gruppe erst einmal entfacht, dann können natürlich ihre individuellen
Mitglieder den aggressiven Impulsen freien Lauf lassen. Aber es handelt sich hier um
eine Art sekundärer Aggressivität, die von dem vorausgegangenen Akt der Identifikati-
on ausgelöst wird – im Gegensatz zur primären Aggressivität, die persönlichen Motiven
entspringt. Die physischen Manifestationen einer solchen sekundären Aggressivität mö-
gen von denen einer primären Aggressivität ununterscheidbar sein – ebenso wie etwa
der durch einen Filmschurken entfachte Zorn die gleichen Symptome hervorruft wie der
Zorn auf eine reale Person. Aber wir haben es in beiden Fällen mit einer Aggression zu
tun, die einen sekundären, sich aus einer Identifizierung ableitenden Prozeß darstellt –
aus einer Identifizierung mit der Gruppe im ersten und mit dem Filmhelden im zweiten
Fall.
Soziologen, die den Krieg als eine Manifestation der verdrängten aggressiven Tenden-
zen im Menschen betrachten, erwecken den Eindruck, daß sie niemals als einfache Sol-
daten gedient und keine Ahnung von der Mentalität des Soldaten in Kriegszeiten haben.
Da gibt es zunächst einmal das Warten – man sagt, es beschäftige den Soldaten neunzig
Prozent seiner Zeit; es gibt das Schimpfen und Nörgeln, die obszönen Anekdoten, zwi-
schendurch gelegentlich Angst, und vor allem die Hoffnung, das Ganze werde bald vor-
über sein und man dürfe wieder ins Zivilleben zurückkehren – von Haß kann überhaupt
nicht die Rede sein. Bei der modernen Kriegführung bleibt der »Feind« meist unsicht-
bar, und das »Kämpfen« beschränkt sich auf die unpersönliche Manipulation von Fern-
kampfwaffen. Bei der klassischen Kriegführung wurden Angriffe von geschlossenen
Einheiten – das heißt Gruppen – ausgetragen, und sie richteten sich gegen Stellungen,
die von anderen Gruppen gehalten wurden; die Züge eines individuellen Feindes, den
man getötet hatte, oder möglicherweise getötet hatte, wurden kaum jemals wahrge-
nommen; zu töten war unter den gegebenen Umständen das sine qua non für das eigene
Überleben, eine primäre Aggressivität spielte dabei jedoch keine nennenswerte Rolle.
Ähnliches gilt auch für die »Verteidigung von Heim und Familie«. Soldaten kämpfen
nicht in unmittelbarer Nähe ihrer Heimstatt, sondern an Orten, die Hunderte oder Tau-
sende von Kilometern entfernt sind; sie verteidigen die Heimstätten, die Familien, das
Territorium der Gruppe, zu der sie als Teile gehören. Auch der vorgegebene und gele-
gentlich tatsächlich vorhandene Haß auf Boches oder Russkis, auf Faschisten oder Rote,
ist nicht eine Frage der persönlich empfundenen primären Aggressivität; er richtet sich
gegen eine Gruppe, genauer gesagt, gegen den gemeinsamen Nenner, auf den alle Mit-
glieder dieser speziellen Gruppe gebracht worden sind. Das individuelle Opfer eines
solchen Hasses wird nicht als Individuum verfolgt, sondern als symbolischer Repräsen-
tant des gemeinsamen Nenners seiner Gruppe.

168
Im Ersten Weltkrieg konnte es durchaus geschehen, daß die Soldaten in den sich gegen-
überliegenden Schützengräben während der Weihnachtszeit miteinander fraternisierten
und dann wieder aufeinander zu schießen begannen, sobald der zweite Weihnachtsfei-
ertag vorüber war. Der Krieg ist ein Ritual, ein tödliches Ritual, ist nicht eine Folge von
aggressiver Selbstbehauptung, sondern von selbsttranszendierender Identifikation. Oh-
ne Loyalität gegenüber dem Stamm, der Kirche, Fahne oder Partei gäbe es keine Kriege
– und die Loyalität ist ein nobler Zug. Ich meine damit natürlich nicht, daß sich Loyali-
tät zwangsläufig in Gruppenraserei ausdrücken muß, sondern nur, daß sie eine Voraus-
setzung dafür ist; und daß die selbsttranszendierende Devotion, durch die gesamte Ge-
schichte hindurch, stets als ein Katalysator für sekundäre Aggressivität fungiert hat.

15.11 Des geliebten Cäsars Wunden ...


Shakespeare hat dieses scheinbar abstrakte Argument mit einer Überzeugungskraft zum
Ausdruck gebracht, wie sie keine psychologische Abhandlung auch nur annähernd er-
reichen kann. In Mark Antons Rede an die versammelte Menge der römischen Bürger
gibt es einen entscheidenden Augenblick, wo er ganz bewußt die ersten oberflächlichen
Ressentiments gegen die Verschwörer unterdrückt.
Er läßt seine Zuhörer einen Kreis um Cäsars Leiche bilden – nicht gleich, um Rache zu
fordern, sondern zunächst, um ihr Mitleid zu erwecken:
Wofern ihr Tränen habt, bereitet euch,
Sie jetzo zu vergießen. Diesen Mantel,
Ihr kennt ihn alle; noch erinner’ ich mich
Des ersten Males, daß ihn Cäsar trug,
In seinem Zelt, an einem Sommerabend –
Er überwand den Tag die Nervier –
Hier, schauet! fuhr des Cassius Dolch herein ...
Und in den Mantel sein Gesicht verhüllend,
Grad am Gestell der Säule des Pompejus,
Von der das Blut rann, fiel der große Cäsar.
O meine Bürger, welch ein Fall war das!
Da fielet ihr und ich; wir alle fielen ...
Nachdem er auf diese Weise sich selbst und alle seine Zuhörer mit dem toten Führer
identifiziert und ihnen »des geliebten Cäsars Wunden, die armen stummen Munde« ge-
zeigt hat, hat er die Menge genau dort, wo er sie haben will:
O ja! Nun weint ihr, und ich merk’, ihr fühlt
Den Drang des Mitleids: dies sind milde Tropfen.
Wie? Weint ihr, gute Herzen, seht ihr gleich
Nur unsers Cäsars Kleid verletzt? Schaut her!
Hier ist er selbst, geschändet von Verrätern.
Erster Bürger: O kläglich Schauspiel!
Zweiter Bürger: O edler Cäsar!
Dritter Bürger: O jammervoller Tag!
Vierter Bürger: O Buben und Verräter!
Erster Bürger: O blut’ger Anblick!
Zweiter Bürger: Wir wollen Rache!
Alle: Rache! Auf und sucht!
Sengt! Brennt! Schlagt! Mordet!
Laßt nicht einen leben!*
Und so nimmt das Unheil wieder einmal seinen Lauf, ausgelöst durch nobelste Gefühle.
* Die Shakespeare-Zitate aus JULIUS CÄSAR sind nach der deutschen Übersetzung von Schlegel und
Eschenberg wiedergegeben (Anmerkung des Übersetzers).

169
15.12 Die Struktur von Glaubenssystemen
Ein Mob dieser Art ist natürlich eine extreme Verkörperung der Massenpsychologie.
Aber um von ihr angesteckt zu werden, ist es nicht erforderlich, daß die Person in einer
Masse physisch präsent ist – häufig ist die geistige Identifizierung mit einer Gruppe,
Nation, Kirche oder Partei völlig ausreichend. Wenn unsere Einbildungskraft imstande
ist, die physischen Symptome der Angst hervorzubringen, bei Gefahren für Personen,
die nur als Druckerschwärze existieren, um wieviel leichter ist es, das Erlebnis der Zu-
gehörigkeit zu einer Gruppe oder Masse zu haben, obwohl man in ihr nicht physisch
präsent ist. Man kann auch im eigenen Badezimmer ein Opfer einer Massenpsychose
sein.
Ein Mob in Aktion benötigt einen Führer. Religiöse oder politische Bewegungen brau-
chen gleichfalls zunächst Führer, um überhaupt in Gang zu kommen; haben sie sich erst
einmal etabliert, dann profitieren sie natürlich immer noch von einer wirksamen Führer-
schaft, aber das, was die Gruppe primär benötigt, der Faktor, der ihr den Zusammenhalt
als Gruppe gibt, das ist ein Glaubensbekenntnis, ein gemeinsames Glaubenssystem, das
über die persönlichen Interessen des Einzelnen hinausreicht. Es kann durch ein Symbol
repräsentiert werden – durch ein Totem oder einen Fetisch, der unter den Mitgliedern
des Stammes das mystische Gefühl der Verbundenheit hervorruft. Es kann die Überzeu-
gung sein, daß man zu einem auserwählten Volk gehört, dessen Vorfahren ein Bündnis
mit Gott geschlossen haben; oder zu einer Herrenrasse, deren Vorfahren mit einem be-
sonders hervorragenden Genkomplex ausgestattet waren oder deren Kaiser vom Son-
nengott abstammten. Es kann sich um die Überzeugung handeln, die Einhaltung gewis-
ser Regeln und Riten garantiere die Mitgliedschaft in einer privilegierten Elite im Leben
nach dem Tode – oder die manuelle Arbeit garantiere die Zugehörigkeit zur sozialen
Eliteklasse der Geschichte.
Wie entstehen nun solche machtvollen kollektiven Glaubenssysteme? Wenn der Histo-
riker versucht, sie bis auf ihre Ursprünge zurückzuverfolgen, landet er unweigerlich ir-
gendwo in der Dämmerzone der Mythologie. Besitzt eine Glaubensvorstellung eine
starke emotive Kraft, dann läßt sich stets nachweisen, daß sie uralten Quellen ent-
stammt. Ein Glaube wird nicht erfunden, er scheint auf ähnliche Weise Gestalt anzu-
nehmen, wie die Feuchtigkeit in der Luft sich zu Wolken verdichtet, die dann endlose
Wandlungen ihrer Form durchmachen können.
Rationale Argumente können dem Rechtgläubigen wenig anhaben, denn der Glaube, an
den er emotional gebunden ist, kann von Tatsachen widerlegt werden, ohne deshalb sei-
ne magische Kraft einzubüßen. Von der prähistorischen Zeit bis in die jüngste Vergan-
genheit leitete sich diese magische Kraft aus religiösen Glaubensvorstellungen ab. Ohne
Gott auszukommen, das erschien selbst den Begründern der modernen Wissenschaft
undenkbar: Kopernikus war orthodoxer Thomist, Kepler lutherischer Mystiker, Galilei
nannte Gott den Chefmathematiker des Universums, und Newton glaubte mit Bischof
Usher, daß die Welt im Jahre 4004 v. Chr. erschaffen worden sei. Alle sozialreformeri-
schen Bewegungen waren ebenso fest in den ethischen Grundsätzen des Christentums
verankert.
Das Zeitalter der Aufklärung, mit seinem Kulminationspunkt in der Französischen Re-
volution, war ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Menschen. Es fand
seinen dramatischen Höhepunkt in der symbolischen Geste von Robespierre, Gott abzu-
setzen und an seiner Stelle die Göttin der Vernunft zu inthronisieren. Sie hat schmählich
versagt. Der christliche Mythos läßt sich über Jahrtausende hin kontinuierlich zurück-
verfolgen – über Griechenland, Palästina und Babylon bis hin zu den Mythen und Riten
des neolithischen Menschen; er bot eine archetypische Gußform für die selbsttranszen-
dierenden Emotionen des Menschen, für seine Sehnsucht nach dem Absoluten. Die pro-

170
gressiven Tendenzen und Ideologien des 19. Jahrhunderts erwiesen sich als ein armseli-
ger Ersatz. Vom Standpunkt des materiellen Wohlergehens, der Volksgesundheit und
der sozialen Gerechtigkeit aus gesehen, haben die letzten hundertfünfzig Jahre sicher-
lich mehr spürbare Verbesserungen für das Los des kleinen Mannes gebracht als die
vorausgegangenen fünfzehnhundert Jahre des Christentums; betrachtet man jedoch ihre
Auswirkung auf den Gruppengeist, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Religion mag
das Opium des Volkes gewesen sein, aber Opiumesser lassen sich nur schwer für eine
rationale, gesunde Kost begeistern. Bei der intellektuellen Elite rief der rapide Fort-
schritt der Wissenschaft einen etwas oberflächlich optimistischen Glauben an die Un-
fehlbarkeit der Vernunft hervor, an eine klare, helle, kristallinische Welt von transpa-
renter atomistischer Struktur, in der es keinen Raum für Schatten, Zwielicht und Mythen
gab. Man glaubte, die Vernunft übe die Kontrolle über die Emotionen aus, so wie der
Reiter sein Pferd unter Kontrolle hat – der Reiter repräsentierte das aufgeklärte rationale
Denken, das Pferd repräsentierte das, was man im Viktorianischen Zeitalter als »die
dunklen Leidenschaften« und »die Bestie in uns« bezeichnete. Niemand konnte voraus-
sehen, auch der größte Pessimist wagte nicht vorauszusagen, daß das Zeitalter der Auf-
klärung in der katastrophalsten emotionalen Massenbewegung der Geschichte enden
würde, bei der der Reiter unter die Hufe der Bestie geriet und von ihnen zertrampelt
wurde. Aber wieder einmal waren es die nobelsten Ideale, die die Bestie zu ihren Taten
antrieben: die säkularen Messianismen der klassenlosen Gesellschaft und des Tausend-
jährigen Reiches; und wieder sind wir geneigt zu vergessen, daß die überwiegende An-
zahl der Männer und Frauen, die dem totalitären Zauber verfielen, von selbstlosen Mo-
tiven beherrscht war, stets bereit, je nach Befehl die Rolle des Märtyrers zu spielen oder
die des Henkers.
Weder der faschistische noch der Sowjetmythos waren synthetische
Konstruktionen, sondern Wiederbelebungen von Urvorstellungen –
Archetypen –, und deshalb beide imstande, nicht nur den Intellekt,
sondern den Gesamtmenschen zu erfassen; beide ermöglichten eine
totale Sättigung der Affekte. Der faschistische Mythos hat seinen
mythologischen Ursprung nie verleugnet. Das Opium wurde den
Massen offen verabreicht. Die Archetypen von Blut und Boden, des
drachentötenden Übermenschen, die Gottheiten von Walhall und die
teuflischen Mächte des Judentums wurden systematisch in den
Dienst gespannt. Eine Hälfte des Hitlerischen Genies bestand darin,
die richtigen unbewußten Saiten anzuschlagen; die andere Hälfte be-
stand in seinem flinken Eklektizismus, in seinem Spürsinn für hy-
permoderne Avantgardemethoden in Wirtschaft, Architektur, Tech-
nik, Propaganda und Kriegführung. Das Geheimnis des Faschismus
ist die Wiederbelebung archaischer Glaubensinhalte in ultramoder-
ner Fassung. Das Nazigebäude war ein Wolkenkratzer, dessen Heiß-
wasserleitung aus unterirdischen Quellen vulkanischen Ursprungs
gespeist war.156
Der sowjetische Mythos übte eine gleichstarke Anziehungskraft auf einen großen Teil
der Menschheit aus. Die klassenlose kommunistische Gesellschaft sollte eine Wieder-
belebung des Goldenen Zeitalters der Mythologie sein, auf der höchsten und letzten
Windung der dialektischen Spirale. Sie war eine säkularisierte Version des Gelobten
Landes, des Himmelreiches auf Erden. Eines der Merkmale dieses archetypischen My-
thos ist, daß dem Anbruch des Millenniums ein gewaltsamer Umsturz vorausgehen
muß: die Apokalypse, das Jüngste Gericht. Ihr säkulares Äquivalent besteht in der Li-
quidierung der bürgerlichen Welt durch den revolutionären Terror. Gewisse Produkte
der frühen russischen und zeitgenössischen chinesischen Propagandaliteratur, in denen
die »revolutionäre Justiz« gepriesen wird, die mit einer »verfaulten und dekadenten

171
Bourgeoisie« aufräumt, erinnern einen in der Tat an die Jüngsten Gerichte von Grüne-
wald oder Hieronymus Bosch. Der Glaubensfanatiker hat einen wahren Horror vor jeder
»reformistischen« Häresie – vor dem Glauben an einen unblutigen Übergang zum So-
zialismus (der zunächst die Kommunisten veranlaßte, die Sozialisten öffentlich zu
brandmarken, und später die Chinesen dazu trieb, nun ihrerseits die Russen als Verräter
an der gemeinsamen Sache anzuprangern). Ohne Apokalypse kein Himmelreich auf Er-
den.

15.13 Die Spaltung


Die faschistische Propaganda war nicht sonderlich darum bemüht, Emotion und Ver-
nunft miteinander in Einklang zu bringen; logische Einwände gegen ihre Doktrinen
wurden als »zersetzende Kritik« abgetan. Görings Ausspruch »Wenn ich das Wort
›Kultur‹ höre, greife ich nach dem Revolver« war eine offene Kriegserklärung an den
Intellekt: der Reiter sollte dem Pferd gehorchen. Im Gegensatz dazu war die leninisti-
sche Theorie vom »wissenschaftlichen Sozialismus« eine durchaus rationale, materiali-
stische Doktrin, in direkter Abstammung ein Nachkömmling des Zeitalters der Aufklä-
rung. Wie soll man sich erklären, daß Millionen von Anhängern dieser rationalistischen
Doktrin – einschließlich vieler fortschrittlicher Intellektueller in der ganzen Welt – die
logischen Absurditäten des stalinistischen »Persönlichkeitskults«, die Schauprozesse,
die Säuberungswellen und das Bündnis mit den Nationalsozialisten akzeptierten – und
daß diejenigen, die außerhalb Rußlands lebten, das freiwillig taten, in selbstauferlegter
Disziplin und ohne äußeren Druck vom »Großen Bruder«? Das Stalin-Regime gehört
der Vergangenheit an, aber seine tödlichen Riten werden in China und anderen Ländern
getreulich kopiert und von einer neuen Generation wohlmeinender Mitläufer gleicher-
maßen gebilligt. Während ich – Ende 1966 – diese Zeilen schreibe, wird China erneut
von einer massiven Säuberungsaktion heimgesucht, wie sie für ein solches System un-
erläßlich zu sein scheint; und ich habe einen Zeitungsausschnitt mit einem Artikel vor
mir liegen, in welchem die offizielle Nachrichtenagentur »Neues China« ein Schwimm-
kunststück kommentiert, das der Vorsitzende Mao Tse-tung, »die strahlende Sonne, die
den Geist der revolutionären Menschen in der ganzen Welt erleuchtet«, im Jangtse-Fluß
vollbracht hat:
Seine Schwimmdemonstration im Jangtse-Fluß war eine mächtige
Ermutigung für das chinesische Volk und für die Revolutionäre in
der ganzen Welt – und ein schwerer Schlag für den Imperialismus,
den modernen Revisionismus und für jene Ungeheuer und Mißge-
burten, die gegen den Sozialismus und gegen Mao Tse-tungs Lehren
opponieren.157
Ich habe bereits von dem paranoiden Zug gesprochen, der sich durch die Geschichte der
Menschheit hinzieht. Der moderne Mensch mag ohne weiteres bereit sein zuzugeben,
daß das für die Azteken oder für die Zeit der Hexenverbrennungen zutrifft. Er ist viel-
leicht weniger geneigt zuzugeben, daß ein vergleichbares Maß von Paranoia in der
Doktrin enthalten ist, die besagt, »daß nahezu die gesamte Menschheit, einschließlich
aller ungetauft sterbenden Kinder, ewige Foltern erleiden muß, schlimmer als ein irdi-
scher Fachmann auf diesem Gebiet sie je ersinnen könnte – und daß das immerwähren-
de Zuschauen bei diesen Qualen eine der Wonnen der Seligen ist«.158 Und doch war
diese Doktrin ein Teil des kollektiven Glaubenssystems, dem die Mehrheit der Europäer
bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, und viele von ihnen noch wesentlich länger, anhin-
gen. Aber selbst diejenigen, die in vollem Ausmaß erkennen, daß nur eine geistige Stö-
rung derartige Phantasien erklären kann, sind geneigt, sie als Phänomene abzutun, die
der Vergangenheit angehören. Es ist eben nicht leicht, die Menschen zu lieben und den-
noch zuzugeben, daß der paranoide Zug in der zeitgenössischen Geschichte ebenso evi-

172
dent ist wie in der fernen Vergangenheit, nur daß seine Folgen sich jetzt noch verhee-
render auswirken; und daß, wie die Geschichte zeigt, dieser Zug nicht ein Zufallsfaktor,
sondern endemischer Natur ist, ein inhärentes Element des menschlichen Daseins.
Wie verschieden auch die Symptome sein mögen, das Prinzip der Störung ist stets das
gleiche: eine geistige Spaltung zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Affekt und
Intellekt.* Der Glaube an ein gemeinsames Glaubenssystem basiert auf einer emotio-
nalen Bindung; Zweifel werden als sündhaft verworfen; es handelt sich um eine Form
der Selbsttranszendenz, die – vergleichbar dem hypnotischen Zustand – die partielle
oder totale Aufgabe der kritischen Fähigkeiten des Intellekts erfordert.
* Schizophrenie (Geistesspaltung) wird gewöhnlich definiert als eine Geisteskrankheit, bei der eine Dis-
sonanz zwischen intellektuellen und affektiven Prozessen besteht. Die paranoide Schizophrenie ist ge-
kennzeichnet durch anhaltende systematische Wahnvorstellungen.
Newton schrieb nicht nur die PRINCIPIA, sondern auch eine Abhand-
lung über die Topographie der Hölle. Bis zum heutigen Tag glauben
wir Dinge, die nicht nur mit feststellbaren Tatsachen unvereinbar
sind, sondern auch mit Tatsachen, die wir selbst festgestellt haben.
Der heiße Dampf des Glaubens und der Eisblock der Vernunft koexi-
stieren in unseren Schädeln, haben aber keine Wirkung aufeinander:
das Eis schmilzt nicht, und der Dampf schlägt sich nicht nieder. Der
menschliche Geist ist im Grunde schizophren, in zwei Ebenen ge-
spalten, die sich gegenseitig ausschließen ... Der Urmensch weiß,
daß sein Götze ein Stück geschnitztes Holz ist, und doch glaubt er
an dessen Macht, den Regen herbeizuführen; und obwohl unsere
Glaubensinhalte eine allmähliche Verfeinerung erfuhren, blieb die
dualistisch gespaltene Struktur unseres Geistes im Grunde unver-
ändert.159
Bis zum Aufkommen des Humanismus im 13. Jahrhundert schien sich aus diesem Dua-
lismus der Vernunft und des Glaubens kein besonderes Problem ergeben zu haben, denn
man sah als gegeben an, daß der Intellekt die untergeordnete Rolle der ancilla fidei
spielte, der Dienerin des Glaubens. Die Situation änderte sich jedoch, als der heilige
Thomas von Aquin das »Licht der Vernunft« als eine unabhängige Quelle der Erkennt-
nis neben dem »Licht der Gnade« anerkannte. Aus dem Status einer »Dienerin« wurde
die Vernunft in den Status einer »Braut« des Glaubens emporgehoben. Als Braut war
sie natürlich noch immer gehalten, ihrem Bräutigam zu gehorchen; trotzdem wurde ihr
von jetzt an eine eigene Existenz zuerkannt. Damit war der Konflikt unvermeidlich ge-
worden. Von Zeit zu Zeit erreichte er einen dramatischen Höhepunkt: im Feuertod des
Michael Servitius, im Skandal um Galilei, im Zusammenstoß zwischen Darwinisten und
Fundamentalisten und dem hartnäckigen Widerstand der katholischen Kirche gegen die
Geburtenkontrolle. In dergleichen dramatischen Krisen bricht der schwelende Konflikt
dann offen aus; sie eröffnen dem gespaltenen Geist die Möglichkeit, sich seiner Spal-
tung bewußt zu werden und sie durch eine eindeutige Stellungnahme zu überwinden.
Offene Konfrontationen dieser Art sind jedoch recht selten; die übliche Art, mit gespal-
tenem Geist zu leben, besteht darin, den Spalt mittels Rationalisierungen und subtilen
Scheinargumenten zu vertuschen.
So erlangt man einen modus vivendi, der auf Selbsttäuschung basiert und den paranoi-
den Zug verewigt. Das gilt natürlich nicht nur für die westliche Welt, sondern in glei-
chem Maße für Hindus, Mohammedaner und militante Buddhisten; die Geschichte Asi-
ens ist ebenso blutig, heilig und grausam wie die unsrige.

173
15.14 Die Tröstungen des Zwiedenkens
Fassen wir noch einmal zusammen: Ohne einen transzendentalen Glauben ist jeder
Mensch eine dürre kleine Insel. Das Bedürfnis nach Selbsttranszendenz durch das
»ozeanische Gefühl« im religiösen oder ästhetischen Bereich oder durch Integration im
sozialen Bereich ist ein inhärenter Faktor des menschlichen Daseins. Transzendentale
Glaubenssysteme leiten sich aus bestimmten, immer wiederkehrenden archetypischen
Motiven ab, die eine unmittelbare emotionale Reaktion auslösen.*
* Das klassische Werk auf diesem Gebiet ist immer noch William James’ THE VARIETIES OF RELIGIOUS
EXPERIENCE. In jüngster Zeit hat Sir Alistair Hardy dieses Thema in seinem Werk THE DIVINE FLAME
behandelt.
Sobald sie jedoch als kollektives Eigentum einer bestimmten Gruppe institutionalisiert
sind, degenerieren sie zu starren Doktrinen, die, ohne ihre emotive Anziehungskraft auf
den Rechtgläubigen zu verlieren, mit dessen Vernunfturteil in Konflikt geraten. Das
führt zu einer Spaltung: die Emotion lauscht dem durchdringenden Ruf des Muezzin
vom Turm der Moschee, der Intellekt scheut vor ihm zurück. Um diese Dissonanz zu
eliminieren, hat man zu den verschiedensten Zeiten verschiedene Arten von »Zwieden-
ken« ersonnen – wirksame Techniken der Selbsttäuschung, manche primitiv, andere au-
ßerordentlich raffiniert. Auch die säkularen Religionen – die politischen Ideologien –
haben ihren Ursprung in der uralten Sehnsucht nach einer idealen Gesellschaftsstruktur;
wenn sie sich jedoch zu einer Bewegung oder Partei kristallisieren, können sie in einem
solchen Ausmaß verfälscht werden, daß die tatsächlich verfolgte Politik das genaue Ge-
genteil von dem angeblich angestrebten Ideal ist. Der Grund dafür, daß idealistische
Bewegungen – ganz gleich, ob religiöser oder säkularer Natur – diese offenbar unaus-
weichliche Tendenz, zu Karikaturen ihrer selbst zu degenerieren, zeigen, läßt sich aus
den Eigentümlichkeiten der Massenmentalität ableiten: aus ihrer Tendenz zu intellektu-
eller Simplizität und emotioneller Intensität – und aus ihrer quasi-hypnotischen Sugge-
stibilität gegenüber Führerfiguren und Glaubenssystemen.
Ich kann aus eigener Erfahrung sprechen, denn ich war während Stalins Terrorregime
sieben Jahre lang (1931-1938) Mitglied der Kommunistischen Partei. In meinen schrift-
stellerischen Arbeiten über diese Periode habe ich die Operationen des betörten Geistes
geschildert, der mit Hilfe von allerlei Manövern versucht, die Zitadelle des Glaubens
gegen die Attacken des Zweifels zu verteidigen. Es gibt zum Schutz der Festung mehre-
re konzentrisch angelegte Verteidigungsgürtel. Die äußeren Verteidigungsanlagen sind
dazu bestimmt, unangenehme Tatsachen fernzuhalten. Für die Armen im Geiste wird
diese Aufgabe durch offizielle Zensur erleichtert, die alle Literatur verbietet, die den
Geist »vergiften« könnte – und durch die eingepflanzte Angst, sie könnten sich durch
jeden Umgang mit den verdächtigen Elementen »anstecken« oder »schuldig« machen.
So primitiv diese Methoden auch sein mögen, sie führen rasch zu einem sektiererischen,
durch Scheuklappen beengten Ausblick auf die Welt. Der zunächst von außen her er-
zwungene Verzicht auf verbotene Informationen wird sehr bald zur inneren Gewohnheit
– zu einem emotionalen Widerwillen gegen die »unverschämten Lügen«, die der Feind
vorzubringen wagt. Für die Mehrheit der Gläubigen reicht das völlig aus, um ihre un-
wandelbare Loyalität sicherzustellen. Die mehr intellektuell Veranlagten dagegen ent-
wickeln zusätzliche Abwehrmechanismen. In den Jahren 1932/33, als die Zwangskol-
lektivierung in der Landwirtschaft zur großen Hungersnot führte, reiste ich kreuz und
quer durch die Sowjetunion, um ein Buch zu schreiben, das niemals veröffentlicht wur-
de. Ich sah, daß ganze Dörfer verlassen waren, sah Bahnstationen durch Massen von
bettelnden Familien blockiert und sah Kinder, die buchstäblich verhungerten, mit Ar-
men dürr wie Stöcke, mit aufgedunsenen Bäuchen und vom Tode gezeichneten Köpfen.
Meine Reaktion auf diese brutale Invasion der Realität war typisch
für den wahren Gläubigen. Ich war überrascht und verwirrt – aber

174
die elastischen Stoßdämpfer meiner Parteischulung funktionierten
zuverlässig. Ich hatte Augen, die sahen, und einen Apparat im Kopf,
der automatisch wegerklärte, was sie sahen. Dieser Apparat war un-
gleich zuverlässiger und wirksamer als die offizielle Zensur ... Er half
mir, meine Zweifel zu bewältigen und meine Eindrücke in der vorge-
schriebenen Form zu ordnen. Ich lernte, alles, was mich abstieß,
automatisch als »Erbschaft der Vergangenheit«, und was mir gefiel,
als »Saat der Zukunft« zu klassifizieren. Mit dieser automatischen
Sortiermaschine im Kopf war es 1932 einem Europäer noch möglich,
in Rußland zu leben und dabei Kommunist zu bleiben. Alle meine
Freunde hatten diese Sortiermaschine in ihren Köpfen. Die kommu-
nistische Bewegung hat die Technik der Selbsttäuschung ebenso
vervollkommnet wie die der Massenpropaganda. Der »innere Zensor«
im Kopf des wahren Gläubigen ergänzt das Werk des öffentlichen
Zensors; seine Selbstdisziplin ist ebenso tyrannisch wie der vom Re-
gime erzwungene Gehorsam; er terrorisiert sein eigenes Gewissen,
bis es sich unterwirft. Er trägt seinen privaten »Eisernen Vorhang« im
Schädel, um seine Illusionen vor dem Eindringen der Wirklichkeit zu
schützen.160
Hinter diesem Vorhang beginnt die magische Welt des »Zwiedenkens«: »Häßlich ist
schön, falsch ist wahr – und auch umgekehrt.« Das stammt nicht etwa von George Or-
well, sondern von Professor Suzuki, dem Propheten des modernen Zen-Buddhismus,
der damit das Prinzip der Identität der Gegensätze erläutern wollte.161 Die Perversionen
des Pop-Zen basieren auf dem Jonglieren mit der Identität von Gegensätzen, die des
Kommunismus auf dem Jonglieren mit der Dialektik der Geschichte, die des Scholasti-
kers auf einer Kombination der Evangelien und der Logik des Aristoteles. Die Axiome
sind unterschiedlich, aber der Wahn folgt der gleichen Methode. Tatsachen und Argu-
mente, denen es gelingt, die äußeren Verteidigungsringe zu durchbrechen, werden mit
Hilfe der dialektischen Methode so lange bearbeitet, bis »falsch« zu »wahr« wird, die
Diktatur zur wahren Demokratie und ein Hering zum Rennpferd:
Allmählich lernte ich, den Tatsachen zu mißtrauen und die Welt im
Lichte dialektischer Bespiegelung zu sehen. Es war ein befriedigen-
der und wahrhaft beseligender Augenblick. Beherrschte man einmal
die Technik dieser Betrachtungsweise, dann nahmen die sogenann-
ten Tatsachen die richtige Färbung an und sanken in die ihnen zu-
kommende Rolle zurück. Moralisch und logisch gesehen war die
Partei unfehlbar; moralisch, weil ihre Zielsetzungen lauter, das heißt
im Sinne des Dialektischen Materialismus waren, logisch, weil die
Partei für das Proletariat eintrat, das wieder die Verkörperung des
aktiven Prinzips in der Geschichte darstellte ... Ich lebte zu jener Zeit
in einer geistigen Welt, die ein »geschlossenes System« darstellte wie
die Welt der mittelalterlichen Scholastiker. Meine Empfindungen,
meine Einstellung zu Kunst, Literatur und menschlichen Werten
wurden dem System entsprechend umgeformt.162*
* Diese Zeilen stammen aus dem Jahre 1952. Fünfzehn Jahre später hat zwar die Szenerie gewechselt,
aber das Prinzip ist das gleiche geblieben: Nach den in der Literary Gazette zitierten Ausführungen der
chinesischen Presse stehen Shakespeares Dramen in einem »fundamentalen Gegensatz zum sozialisti-
schen Realismus ...«. Bizets Oper »Carmen« wird als ein Versuch bezeichnet, »Sex und Individualismus
zu verkaufen«. An Beethovens Neunter Symphonie wird bemängelt, sie sei »durchtränkt von kleinbür-
gerlicher Nächstenliebe«. Das Interesse an der bürgerlichen klassischen Musik könne nur dazu führen,
»die revolutionäre Entschlossenheit zu lähmen«. Chinesische
163
Kritiker haben auch in Tolstois »Anna Ka-
renina« eine »revisionistische Gesinnung« entdeckt.

175
Das bemerkenswerteste Merkmal des Wahnsystems eines Paranoikers ist seine innere
Konsistenz und die geradezu unheimliche Überzeugungskraft des Patienten bei seiner
Auslegung. Weitgehend das gleiche gilt auch für jedes »geschlossene System des Den-
kens«. Unter einem geschlossenen System verstehe ich ein Denkgefüge mit bestimmten
Spielregeln, das drei Haupteigentümlichkeiten aufweist:
1. erhebt das System den Anspruch, eine Wahrheit von universaler Gültigkeit zu re-
präsentieren, alle Phänomene erklären zu können und für alle Leiden des Men-
schen ein Heilmittel zu besitzen.
2. ist es ein System, das sich nicht durch Tatsachenbeweise widerlegen läßt, da alle
potentiell schädlichen Fakten automatisch bearbeitet und reinterpretiert werden,
bis sie sich in den vorbestimmten Rahmen einfügen. Dieser Bearbeitungsprozeß
vollzieht sich mit Hilfe subtiler Methoden der Kasuistik, die auf Axiomen mit
starker affektiver Ladung basieren und für die die Gesetze der normalen Logik
keine Gültigkeit haben; man spielt sozusagen eine Art Wunderlandkrocket mit
mobilen Toren.
3. handelt es sich um ein System, das jede Kritik dadurch entkräftet, daß es die Ar-
gumentation auf die subjektive Motivation des Kritikers verlagert und seine Moti-
vation aus den Axiomen des Systems selbst ableitet.
Die orthodoxe Freudsche Schule kam in ihren frühen Phasen einem geschlossenen Sy-
stem nahe: argumentierte man, es bestünden aus den und den Gründen Zweifel an der
Existenz des sogenannten Kastrationskomplexes, dann antworteten die Freudianer
prompt, die Argumentation lasse eine unbewußte Abwehr erkennen und deute darauf
hin, daß man selbst einen solchen Kastrationskomplex habe; man sah sich in einem cir-
culus vitiosus gefangen. Ähnlich war es, wenn man einem Stalinisten vorwarf, einen
Pakt mit Hitler zu schließen sei nicht gerade hübsch; er erklärte dann einfach, das bour-
geoise Klassenbewußtsein des Kritikers mache diesen unfähig, die Dialektik der Ge-
schichte zu begreifen. Vertraut einem ein Paranoiker das Geheimnis an, der Mond sei
eine mit aphrodisischen Dämpfen angefüllte Hohlkugel, die von den Marsbewohnern
abgeschossen worden sei, um die Menschheit zu behexen, und erhebt man den Ein-
wand, diese Theorie sei zwar recht attraktiv, aber nicht durch hinreichend schlüssiges
Beweismaterial belegt, dann wird einem der Paranoiker prompt vorwerfen, man sei
Mitglied des weltweiten Verschwörerkreises zur Vertuschung der Wahrheit.
Ein geschlossenes System ist eine Denkwelt mit einer verzerrten, nichteuklidischen
Geometrie in einem gekrümmten Raum, in dem Parallelen sich kreuzen und gerade Li-
nien Schleifen bilden. Sein Kanon basiert auf einem zentralen Axiom, Postulat oder
Dogma, an das sich das Individuum emotional gebunden fühlt und aus dem sich die Re-
geln für die Bearbeitung der Wirklichkeit ableiten. Das Ausmaß der bei diesem Prozeß
eintretenden Verzerrung ist ein wichtiges Kriterium für den Wert des Systems; sie reicht
von der milden Form der Selbsttäuschung des Wissenschaftlers, der, in seine Theorie
verliebt, mit seinen Daten ein bißchen herumjongliert, bis zu den Wahnvorstellungen
der klinischen Paranoia. Als Einstein den berühmten Ausspruch tat: »Wenn die Fakten
nicht mit der Theorie übereinstimmen, dann sind die Fakten falsch«, war das natürlich
ironisch gemeint; trotzdem drückte er damit die profunde Affektbindung des Wissen-
schaftlers an seine Theorie aus. Wie wir gesehen haben, ist ein gelegentliches Beiseite-
schieben der strikten Logik zugunsten der Spiele des Unbewußten ein wesentlicher
Faktor für die Kreativität im wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich. Aber Ge-
nies sind selten. Und wenn sich ein Genie gelegentlich solchen nichteuklidischen Spie-
len hingibt, bei denen das Denken von intuitiven Vorurteilen gelenkt wird, dann handelt
es sich doch um ganz persönliche, selbsterzeugte Vorurteile; der Gruppengeist dagegen
empfängt seine emotionalen Glaubensvorstellungen wie einen gebrauchsfertigen Kon-
fektionsartikel von seinen Führern.

176
Wir wollen noch einmal festhalten: Das Ausmaß der Verzerrung der Realität, das erfor-
derlich ist, um dem Gläubigen das Beharren in seinem Wahn zu ermöglichen, ist ein
Faktor von entscheidender Bedeutung. Hier finden wir auch die Antwort auf jenen ethi-
schen Relativismus, der zynisch proklamiert, alle Politiker seien korrupt, alle Ideologien
dummes Gewäsch und jede Religion nur dazu bestimmt, die Masse für dumm zu ver-
kaufen. Die Tatsache, daß Macht korrumpiert, besagt durchaus nicht, daß alle, die über
Macht verfügen, gleichermaßen korrupt sind.

15.15 Der Gruppengeist als Holon


Zu Beginn dieses Kapitels habe ich von der Tendenz übererregter Organe gesprochen,
sich selbst zum Nachteil des Ganzen zu behaupten, und ging dann zur Pathologie von
Denksystemen über, die außer Kontrolle geraten: die fixe Idee, die Obsession, das ge-
schlossene System, das sich auf einer Teilwahrheit aufbaut, die sich für die ganze
Wahrheit ausgibt. Ähnliche Symptome finden wir nun, auf einer höheren Stufe der
Hierarchie, als pathologische Manifestationen des Gruppengeistes. Der Unterschied
zwischen diesen beiden Arten von geistiger Störung ist der gleiche wie der zwischen der
primären Aggressivität des Einzelnen und der sekundären Aggressivität, die sich aus
seiner Identifizierung mit einem sozialen Holon ableitet. Das verschrobene Individuum
mit seiner fixen Idee, der Geisteskranke, der das Opfer einer Verschwörung zu sein
glaubt, werden von der Gesellschaft abgelehnt; ihr Wahn ist eine Privatangelegenheit.
Im Gegensatz dazu basieren die kollektiven Wahnvorstellungen der Masse oder Gruppe
nicht auf individuellen Abweichungen, sondern auf der Tendenz des Individuums zur
Konformität. Eine Person, die heute behaupten würde, sie habe einen Pakt mit dem Teu-
fel geschlossen und verkehre mit Sukkuben, würde man prompt in eine Anstalt für Gei-
steskranke einweisen. Aber vor nicht allzu langer Zeit erschien der Glaube an solche
Dinge noch ganz selbstverständlich und wurde vom »gesunden Menschenverstand« der
Allgemeinheit gebilligt.
Ich habe die Ansicht vorgebracht, daß das Unheil der Menschheit nicht durch die primä-
re Aggressivität des Einzelnen verursacht wird, sondern durch ihre selbsttranszendie-
rende Identifizierung mit der Gruppe, deren gemeinsamer Nenner eine niedrige Intelli-
genz und ein hohes Maß von Emotionalität sind. Wir kommen nun zu der parallelen
Schlußfolgerung, daß der paranoide Zug, der durch unsere gesamte Geschichte läuft,
nicht auf individuelle Formen von Geistesstörungen zurückzuführen ist, sondern auf die
kollektiven Wahnvorstellungen, die durch affektbedingte Glaubenssysteme ausgelöst
werden. Wie sich gezeigt hat, ist die Ursache, die diesen pathologischen Manifestatio-
nen zugrunde liegt, die Spaltung zwischen Vernunft und Glauben oder, allgemeiner
ausgedrückt, eine unzureichende Koordination zwischen den emotiven und rationalen
Fähigkeiten des Geistes. Als nächstes wollen wir erörtern, ob sich diese mangelnde Ko-
ordination – die Unordnung in der Hierarchie – auf die Evolution des menschlichen Ge-
hirns zurückführen läßt. Sollte die zeitgenössische Neurophysiologie imstande sein,
Hinweise auf die Ursachen des Übels zu geben, dann hätten wir einen ersten Schritt in
Richtung auf eine freimütige Diagnose unseres Dilemmas getan – wir wüßten dann we-
nigstens ungefähr, welche Richtung wir auf der Suche nach einem Heilmittel einschla-
gen müßten.

177
15.16 Zusammenfassung
Auf Grund der in den vorausgegangenen Kapiteln dargelegten Erwägungen haben wir
im emotionalen Bereich drei Faktoren unterschieden: die Natur des Triebes, die Lust-
Unlust-Quote und die Polarität der selbstbehauptenden und selbsttranszendierenden
Tendenzen.
Unter normalen Voraussetzungen befinden sich die beiden Tendenzen in dynamischem
Gleichgewicht. In Krisensituationen können die selbstbehauptenden Tendenzen außer
Kontrolle geraten und zu einem aggressiven Verhalten führen. In historischer Sicht sind
jedoch die aus selbstsüchtigen Motiven durch individuelle Gewalt angerichteten Schä-
den relativ unbedeutend, wenn man sie mit den Verwüstungen vergleicht, die aus der
selbsttranszendierenden Hingabe an kollektive Glaubenssysteme entstanden. Diese be-
ruht auf primitiven Identifizierungsprozessen – an Stelle einer ausgewogenen sozialen
Integration; sie hat die partielle Aufgabe der persönlichen Verantwortlichkeit zur Folge
und löst die quasi-hypnotischen Phänomene in der Massenpsychologie aus. Der Egois-
mus des sozialen Holons wird vom Altruismus seiner Mitglieder gespeist. Die Rituale
des Menschenopfers sind frühe Symptome der Spaltung zwischen Vernunft und affekt-
bedingten Glaubensvorstellungen, die dem paranoiden Charakter der Menschheitsge-
schichte zugrunde liegt.

178
16 Die drei Gehirne
Ich neige durchaus nicht dazu, das Gebiet der Psychologie
ohne organische Fundierung in der Luft schweben zu lassen...
Mögen die Biologen fortschreiten, so weit sie können,
und versuchen wir fortzuschreiten, so weit wir können.
Eines Tages werden wir uns treffen.
Sigmund Freud
Halten wir noch einmal fest: Die Wahnvorstellungen, die sich durch die gesamte Ge-
schichte der Menschheit hinziehen, lassen es als in hohem Grade wahrscheinlich er-
scheinen, daß der homo sapiens eine biologische Mißbildung darstellt – das Ergebnis
eines kapitalen Fehlwegs im Verlauf des Evolutionsprozesses. Die Doktrin vom Sün-
denfall, die in den Mythologien so vieler Kulturen auftaucht, könnte darauf hindeuten,
daß der Mensch sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist und intuitiv ahnt, daß im Ver-
lauf seiner evolutionären Entwicklung irgend etwas schiefgegangen sein müsse.

16.1 Fehler bei der Gehirnbildung


Die Strategie der Evolution ist wie jede andere Strategie dem Prinzip von Versuch und
Irrtum unterworfen. Es erscheint daher nicht besonders abwegig, anzunehmen, daß die
Erbanlage des Menschen zwar der jeder anderen Spezies überlegen ist, daß aber trotz-
dem im Schaltsystem seines kostbarsten und delikatesten Instruments – des Zentralner-
vensystems – irgendein arger Fehler vorhanden ist.
Ob eine Lerche glücklicher ist als eine Forelle, darüber läßt sich trefflich streiten; beide
sind stagnierende Arten, die jedoch ihrer jeweiligen Lebensweise vorzüglich angepaßt
sind; sie als »Fehlwege« der Evolution zu bezeichnen, weil sie nicht genug Verstand
haben, um Bücher zu lesen, wäre die dümmste Überheblichkeit. Wenn die Biologen von
Fehlwegen der Evolution reden, dann meinen sie damit etwas ganz Bestimmtes: eine of-
fensichtliche Abweichung von dem in der Natur üblichen Standard der Funktionswirk-
samkeit, eine Art Konstruktionsfehler, der ein Organ seines Lebenswertes beraubt, wie
etwa das monströse Geweih des irischen Elchs. Manche Schildkröten und Insekten sind
so oberlastig, daß sie sich, wenn sie im Kampf oder durch ein Mißgeschick auf den
Rücken fallen, nicht wieder von selbst aufrichten können; sie müssen dann elend ver-
hungern – ein grotesker Konstruktionsfehler, den Kafka zu einem Symbol für das
Schicksal des Menschen gemacht hat. Bevor wir uns jedoch dem Menschen zuwenden,
muß ich noch kurz zwei frühere evolutionäre Verirrungen bei der Gehirnbildung erör-
tern, die beide schwerwiegende Folgen hatten.
Der erste betrifft die Entwicklung des Gehirns bei den Arthropoden (Gliederfüßlern), die
mit mehr als 700.000 bekannten Arten den bei weitem größten Stamm des Tierreiches
bilden. Der Stamm der Gliederfüßler reicht von mikroskopisch kleinen Milben über In-
sekten und Spinnen bis zu riesigen Zehnfußkrebsen; aber sie alle haben eines gemeinsam:
ihr Gehirn* ist rings um ihre Speiseröhre herum aufgebaut. Bei den Wirbeltieren sind
sowohl das Gehirn als auch das Rückenmark dorsal angelegt, das heißt rückenwärts vom
Magen-Darm-Kanal. Bei den wirbellosen Tieren verläuft jedoch der Hauptnervenstrang
ventral, das heißt auf der Bauchseite des Tieres. Dieser Strang endet in einem Ganglien-
paar unterhalb des Schlundes. Das ist der phylogenetisch ältere Teil des Gehirns; der
neuere und »fortschrittlichere« Teil entwickelte sich oberhalb des Schlundes, in der Nähe
der Augen. Die Darmröhre bohrt somit die Gehirnmasse mittendurch, und das ist eine
sehr schlechte evolutionäre Strategie, denn soll das Gehirn wachsen und sich ausdehnen,
so wird die Darmröhre mehr und mehr zusammengedrückt (siehe Abb. 10).
* Bei niederen Formen die als Vorläufer des Gehirns zu bezeichnende Ganglienmasse.

179
Abbildung 10: Oben: Verhältnis zwischen dem Magen-Darm-Kanal A und dem Nerven-System
B eines wirbellosen Tieres. Die obere Gehirnmasse (das Oberschlundganglion) c und die untere
Gehirnmasse (das Unterschlundganglion) d engen den Magen-Darm-Kanal ein (nach Wood
Jones und Porteus).
Unten: Querschnitt durch das Gehirn eines skorpionähnlichen wirbellosen Tieres. Die obere und
die untere Gehirnmasse – c und d – engen die schmale Darmröhre A im Zentrum des Gehirns
ein (nach Gaskell).
In seinem Werk THE ORIGIN OF VERTEBRATES sagt Gaskell:
Ein weiterer Fortschritt in dieser Richtung muß notgedrungen zu ei-
ner Krise führen, weil die Speiseröhre von der sich ausbreitenden
Nervenmasse unvermeidlich mehr und mehr komprimiert wird ... Zur
Zeit der ersten Wirbeltiere führte in der Tat die Evolution der Glie-
derfüßler zu einem tragischen Dilemma: entweder hatte das Tier die
Fähigkeit, die Nahrung zu verdauen, aber nicht die Intelligenz, sie zu
erbeuten; oder es hatte die Intelligenz, sie zu erbeuten, aber nicht die
Fähigkeit, sie zu verdauen.164
Das Dilemma scheint besonders akut »für die höheren skorpion- und spinnenähnlichen
Tiere gewesen zu sein; ihre ständig zunehmende Gehirnmasse quetschte die Speiseröhre
so zusammen, daß nur noch flüssige Nahrung durch sie hindurch in den Magen gelan-
gen kann; die gesamte Tiergruppe entwickelte sich zu Blutsaugern. Diese Art von Tie-
ren war zu der Zeit, als die Wirbeltiere zum erstenmal auftauchten, die dominierende

180
Spezies. Die weitere Höherentwicklung erforderte eine immer größere Gehirnmasse und
führte zu immer größeren Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme«.165 Wood Jones
bemerkt dazu:
Ein Blutsauger zu werden ist ein Fehlschlag. Die Spezialisierung auf
das Blutsaugen führt zur phylogenetischen Seneszenz. Der phyloge-
netische Tod ist eine unausbleibliche Folge. Hier ist also der Weiter-
entwicklung des Gehirns bei den Wirbellosen ein Schlußpunkt ge-
setzt. Vor die unerfreuliche Alternative gestellt, geistigen Fortschritt
mit dem sicheren Hungertod zu bezahlen oder geistige Stagnation als
Preis für ein kräftiges Mahl, müssen sie notgedrungen das zweite
wählen, wenn sie weiterleben wollen. Die Wirbellosen begingen einen
fatalen Fehler, als sie begannen, ihr Gehirn rings um die Speiseröhre
herum zu entwickeln. Ihr Versuch, ein großes Gehirn zu erwerben,
mißlang. Die Evolution mußte wieder von vorne beginnen.166
Dieser Mißerfolg spiegelt sich in der Tatsache wider, daß selbst bei den höchsten For-
men von wirbellosen Tieren – den sozialen Insekten – das Verhalten nahezu ausschließ-
lich vom Instinkt gesteuert wird; das Lernen durch Erfahrung spielt nur eine relativ un-
tergeordnete Rolle. Da außerdem alle Mitglieder eines Bienenstocks vom selben Eltern-
paar abstammen und keine unterscheidbaren Varianten im Erbgut aufweisen, besitzen
sie kaum irgendwelche Individualität: Insekten sind keine Leute. Bei aller Bewunderung
für die hervorragende Organisation in einem Bienenstock dürfen wir uns dieser Tatsa-
che nicht verschließen. Bei Wirbeltieren dagegen spielt mit dem Anstieg auf der Evolu-
tionsleiter auch das individuelle Lernen im Vergleich zum Instinkt eine immer größere
Rolle infolge der zunehmenden Komplexität des Gehirns, das sich ungehindert ausbrei-
ten konnte, ohne uns zu einer Grießbreidiät zu zwingen.
Das zweite warnende Beispiel betrifft unsere alten Freunde, die australischen Beuteltie-
re. Ich habe sie als die armen Vettern von uns Plazentaliern bezeichnet, denn jede Spe-
zies eines Beuteltieres, von der Maus bis zum Wolf, ist ihrem jeweiligen Pendant in der
plazentalen Reihe unterlegen. Wood Jones (selbst Australier) bemerkt dazu:
Man muß sie als Fehlschläge der Evolution bezeichnen. Wo immer
ein Marsupialier einem höheren Säugetier begegnet, ist es der Mar-
supialier, der überlistet und gezwungen wird, den Rückzug anzutre-
ten oder zu unterliegen. Der Fuchs, die Katze, der Hund, das Kanin-
chen, die Ratte und die Maus, sie alle sind ihren Parallelformen vom
Stamm der Marsupialier überlegen.167
Dafür gibt es einen einfachen Grund: die Gehirne der Marsupialier sind nicht nur klei-
ner, sondern auch in ihrem Aufbau wesentlich minderwertiger. Das Opossum und der
Lemur sind beide auf Bäumen lebende Tiere mit gewissen Ähnlichkeiten in Größe,
Aussehen und Lebensgewohnheiten. Aber beim Opossum, einem Marsupialier, bean-
sprucht der Geruchssinn allein etwa ein Drittel der Gehirnhemisphären – Gesicht, Gehör
und alle anderen höheren Funktionen sind in den verbleibenden zwei Dritteln zusam-
mengedrängt. Der plazentale Lemur dagegen hat nicht nur ein größeres Gehirn, obwohl
sein Körper kleiner ist als der des Opossums, sondern die Geruchssphäre im Gehirn des
Lemurs ist auf ein relativ unbedeutendes Maß zusammengeschrumpft; dadurch wurde
mehr Raum geschaffen für Funktionen, die für einen Baumbewohner lebenswichtiger
sind.
Als die Marsupialier begannen, auf Bäumen zu leben, hätte für sie der Geruchssinn an
Bedeutung erheblich verlieren müssen im Vergleich zu Gehör und Gesicht, und dieser
Wechsel hätte sich auch in ihrem Nervensystem spiegeln müssen. Aber im Gegensatz
zu unseren eigenen Ahnen, den plazentalen Baumbewohnern, fand eine diesbezügliche
Wandlung bei den Marsupialiern nicht statt. Außerdem fehlt im Gehirn der höheren

181
Marsupialier eine wichtige Komponente, das sogenannte corpus callosum (der Balken).
Das ist ein Nerventrakt, der bei plazentalen Säugetieren die »neuen« (nicht-
olfaktorischen) Regionen der rechten und der linken Gehirnhemisphäre miteinander
verbindet. Er spielt offensichtlich eine wichtige integrative Rolle, obwohl uns die Ein-
zelheiten seiner Funktionsweise noch nicht hinreichend bekannt sind; daß er im Gehirn
der Marsupialier fehlt, scheint jedoch ein wesentlicher Faktor ihrer minderwertigen In-
telligenz zu sein.
Die Krone der Schöpfung unter den Beuteltieren ist der Koalabär. Er ist, wie Wood
Jones es ausdrückt, »der größte und für das Leben auf Bäumen am perfektesten adap-
tierte Marsupialier. Im großen und ganzen kann man ihn mit dem Husarenaffen verglei-
chen«.168 Aber bei diesem Vergleich schneidet der Koala sehr schlecht ab: »Beim Beu-
telbären ist der Baumkletterer zu einem ›Baumklammerer‹ geworden. Die Tatzen haben
sich in Haken verwandelt; die Finger werden nicht dazu gebraucht, um Früchte und
Blätter zu pflücken oder Objekte abzutasten, sondern nur, um sich an den Baum anzu-
klammern.«169
Das hängt damit zusammen, daß beim Koala am stärksten immer noch der Geruchssinn
ausgebildet ist, und der nützt einem Baumbewohner nicht sehr viel. Wie Quoodle, die
englische Märchenfigur, denkt der Beutelbär mit seiner Nase. Das Gewicht seines Ge-
hirns beträgt ein Siebentel von dem des Husarenaffen – und den weitaus größten Raum
nimmt darin der Geruchssinn ein, der beim Affen so gut wie ganz verschwunden ist;
außerdem sind die nicht-olfaktorischen Gehirnteile beim Beutelbären nicht durch ein
corpus callosum miteinander verbunden. Der Koala ist die Endstufe der Evolution bei
den Marsupialiern, er bleibt ewig an seinem Eukalyptusbaum hängen wie eine ad acta
gelegte Hypothese; sein Vetter aus der Affenlinie stellt dagegen nur das Anfangsstadi-
um in der Evolution vom Primaten zum Menschen dar. Es ist faszinierend, Spekulatio-
nen darüber anzustellen, ob sich die Marsupialier, wären sie mit einem corpus callosum
ausgestattet gewesen, zu einer parallelen »Beutelversion« des Menschen entwickelt
hätten, so wie sie sich zu parallelen »Beutelversionen« des Flughörnchens und des Wol-
fes entwickelt haben.

16.2 »Eine tumorartige Wucherung«


Aber bevor wir uns selbst auf die Schulter klopfen und dazu gratulieren, daß wir ein so
überlegenes Gehirn haben, das weder unsere Speiseröhre einschnürt noch uns dazu
zwingt, den Geruchssinn zur Richtschnur unseres Lebens zu machen, sollten wir erst
einmal innehalten und untersuchen, ob nicht die Möglichkeit besteht, daß auch der
Mensch in seinem Schädel einen Konstruktionsfehler hat, der womöglich noch schwer-
wiegender ist als der der Arthropoden und Marsupialier – einen Konstruktionsfehler, der
ihn zur Selbstvernichtung prädisponiert, der aber vielleicht noch korrigiert werden kann.
Der erste Grund für diese Vermutung ist die außergewöhnliche Schnelligkeit, mit der
sich das evolutionäre Wachstum des menschlichen Gehirns vollzogen hat, ein, wie wir
wissen, einzigartiger Tatbestand in der Evolutionsgeschichte. Lassen Sie mich hier Pro-
fessor Le Gros Clark zitieren:
Nach dem uns bisher zugänglichen paläontologischen Beweismateri-
al hat es den Anschein, daß sich das Gehirn der Hominiden vor Be-
ginn des Pleistozäns nicht wesentlich vergrößerte, daß es sich jedoch
dann seit dem mittleren Pleistozän (also seit etwa einer halben Mil-
lion Jahre) mit sehr bemerkenswerter Schnelligkeit ausbreitete, un-
gleich rascher als die Entwicklungsrate von anatomischen Merkma-
len, die in der Evolutionsgeschichte des gesamten Tierreichs festge-
stellt worden ist ... Die Rapidität der evolutionären Ausdehnung des

182
Gehirns während des Pleistozäns exemplifiziert den Vorgang, den
man als »explosive Evolution« bezeichnet hat.170
Noch einen Schritt weiter geht Judson Herrick in THE EVOLUTION OF HUMAN NATURE:
Die Geschichte der Zivilisation erzählt von langsamen, gelegentlich
dramatischen Bereicherungen des menschlichen Lebens, und von
Episoden, in deren Verlauf all die angehäuften materiellen und gei-
stigen Reichtümer sinnlos zerstört wurden. Diese periodisch wieder-
kehrenden Rückfälle in die Bestialität scheinen an Schärfe mehr und
mehr zuzunehmen und immer größere Verheerungen anzurichten, so
daß wir uns heute tatsächlich der Bedrohung ausgesetzt sehen, all
das restlos zu verlieren, was wir bisher in unseren Bemühungen um
ein besseres Leben erreicht haben.
Angesichts dieser Tatsachen hat man die Vermutung ausgesprochen,
das Wachstum des menschlichen Gehirns sei so rasch vor sich ge-
gangen, daß man es als pathologisch bezeichnen könnte. Das nor-
male Verhalten ist abhängig von der Erhaltung des Gleichgewichts
zwischen integrierenden und disintegrierenden Faktoren sowie zwi-
schen der Gesamtstruktur und lokalen Teilstrukturen. Nun be-
hauptet man, der menschliche Cortex sei eine tumorartige Überwu-
cherung, so übermäßig groß, daß seine Funktionen der normalen
Kontrolle entglitten sind und nun aufs Geratewohl »dahinrasen« wie
eine Dampfmaschine, bei der der Regler abhanden gekommen ist.
Diese reizvolle Theorie wurde von Morley Roberts publiziert und von
Wheeler mit offensichtlicher Zustimmung zitiert.171 Ihre Argumente
scheinen durchaus plausibel zu sein, wenn man an die Geschichte
der Vergangenheit denkt, mit ihren Kriegen, Revolutionen und zer-
trümmerten Reichen – und an den weltweiten Aufruhr in der Gegen-
wart, der uns mit der totalen Zerstörung unserer Zivilisation be-
droht. Vom neurologischen Standpunkt aus ist diese Theorie jedoch
unsinnig.172
In der hier vorgebrachten Form ist sie das sicherlich. Die Größe des menschlichen Cor-
tex kann nicht allein daran schuld sein, daß »seine Funktionen der normalen Kontrolle
entgleiten«. Wir müssen also nach einer plausibleren Ursache suchen.
Die nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung wahrscheinlichste Ursache ist nicht
die quantitative Ausdehnung des Gehirns, sondern die unzureichende Koordination zwi-
schen dem Archicortex und dem Neocortex – das heißt zwischen den phylogenetisch
älteren Regionen des Gehirns und den neuen, spezifisch menschlichen, die es mit so un-
schicklicher Hast überlagerten. Dieser Mangel an Koordination verursacht – nach den
Worten P. MacLeans – eine Art »Dichotomie in der Funktionsweise des phylogenetisch
älteren und des neueren Cortex, die der Grund für den Kontrast zwischen emotionalem
und verstandesmäßigem Verhalten sein könnte«.173 Während »unsere intellektuellen
Funktionen sich im jüngsten und am höchsten entwickelten Teil des Gehirns abspielen,
wird unser affektives Verhalten immer noch von einem relativ undifferenzierten und
primitiven System dominiert. Diese Situation liefert uns einen Schlüssel für das Ver-
ständnis des Unterschiedes zwischen dem, was wir ›fühlen‹, und dem, was wir ›erken-
nen‹ ...«174
Welche Implikationen sich aus diesen Ausführungen eines hervorragenden zeitgenössi-
schen Neurophysiologen ergeben, das wollen wir nun ein wenig näher untersuchen.

183
16.3 Die Physiologie der Emotion
Diese Unterscheidung zwischen »Denken« und »Fühlen«, zwischen Vernunft und
Emotion, geht bis auf die Griechen zurück. In seinem Werk »De Anima« bezeichnete
Aristoteles die viszeralen Empfindungen als die Substanz der Emotion und stellte ihnen
die Form gegenüber, das heißt den Vorstellungsinhalt der Emotion. Die enge Verknüp-
fung zwischen der Emotion und dem viszeralen Bereich gründet sich auf allgemeine Er-
fahrungstatsachen, und sowohl Laien als auch Ärzte haben sie stets als gegeben angese-
hen: Wir wissen, daß eine emotionale Erregung Herzschlag und Puls beeinflußt; daß
Angst die Schweißdrüsen stimuliert, Kummer die Tränendrüsen, und daß die Atemor-
gane, das Verdauungssystem und der Fortpflanzungsprozeß mit hineinspielen.
Bis weit ins 18. Jahrhundert hielten sich die Ärzte an das Galensche Dogma, dem zufol-
ge Gedanken im Gehirn zirkulieren, Emotionen jedoch in den Gefäßen des Körpers. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts wich dieser antike Dualismus einer modernen Version: In
seinen einflußreichen Werken ANATOMIE GÉNÉRALE und RECHERCHENS PHYSIOLO-
GIQUES SUR LA VIE ET LA MORT machte Xavier Bichat einen deutlichen Unterschied zwi-
schen dem zerebrospinalen Nervensystem, zu welchem Gehirn und Rückenmark gehö-
ren und das für äußere Transaktionen des Tieres mit seiner Umwelt verantwortlich war,
und dem »ganglionischen« Nervensystem, heute als autonomes Nervensystem bezeich-
net, das alle diejenigen Organe kontrollierte, die den inneren Funktionen eines Lebewe-
sens dienten. Das erste System wurde von einem einzigen Zentrum aus dirigiert, dem
Gehirn; das zweite jedoch, so glaubte Bichat, wurde dirigiert von einer großen Anzahl
»kleiner Gehirne« – wie etwa dem Solarplexus – in verschiedenen Teilen des Körpers.
Man glaubte, das zerebrospinale Nervensystem sei für alle diejenigen Handlungsakte
verantwortlich, die der Kontrolle des Willens unterstanden, dagegen unterstand das für
den viszeralen Bereich zuständige autonome Nervensystem nicht der Willenskontrolle;
und die Leidenschaften oder Affekte fielen in den viszeralen Bereich.
Bichats Doktrin behauptete sich nahezu ein ganzes Jahrhundert hindurch; viele, wenn
nicht die meisten ihrer Details haben sich inzwischen als falsch erwiesen, aber ihre fun-
damentale Unterscheidung zwischen den Funktionen der beiden Nervensysteme und de-
ren respektive Koordination mit Vernunft und Affekt haben in groben Umrissen bis
heute Gültigkeit behalten. Natürlich glaubt heute niemand mehr, man könne das emoti-
ve Erlebnis in »kleinen Gehirnen« in der Nachbarschaft des Herzens und anderer inne-
rer Organe lokalisieren – alles Erleben hat sein Zentrum im Gehirn, und das gilt auch
für die Kontrolle des autonomen Nervensystems, das die viszeralen Funktionen regelt.
Wie zu erwarten, wird der viszerale Bereich von einer phylogenetisch sehr alten Struk-
tur im Hirnstamm kontrolliert, der Region des Hypothalamus (nach dem griechischen
Thalamus = innere Kammer, Frauengemach). Es ist eine Region von entscheidender
Wichtigkeit, in unmittelbarer Nähe der Hirnanhangdrüse und der primitiven Riechlap-
pen; sie reguliert die Funktion der Drüsen und Eingeweide, die nicht der Willenskon-
trolle unterworfen sind, und ist eng mit dem emotionalen Erleben verknüpft.
Aber wir dürfen nicht den übereilten Schluß ziehen, der Hypothalamus selbst sei der
»Sitz« der Emotionen. Damit würde man den Ideengehalt der Emotion außer Betracht
lassen und sie zu einem rein viszeralen Phänomen abstempeln. William James kam ei-
ner solchen Auffassung in der Tat sehr nahe, als er 1884 einen Artikel veröffentlichte,
der die sogenannte James-Lange-Theorie der Affekte einleitete. Kurz zusammengefaßt,
besagt diese Theorie, daß in den Situationen, die zu ihrer Bewältigung viszerale Reak-
tionen erfordern (zum Beispiel rascherer Herzschlag, um sich einer drohenden Gefahr
durch die Flucht zu entziehen), die Empfindung, daß das Herz rascher schlägt, bereits
die Emotion selbst ist. Das Herz schlägt nicht schneller, weil wir Angst haben, sondern
wir haben Angst, weil das Herz schneller schlägt; wir weinen nicht, weil wir traurig

184
sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Es ist die Empfindung der eigenen vis-
zeralen Reaktionen, die dem Erlebnis seine affektive Färbung verleiht. Die viszerale
Reaktion selbst vollzieht sich unbewußt und automatisch, entweder aus angeborenem
Instinkt heraus oder auf Grund vergangener Erfahrungen.
Die James-Lange-Theorie rief endlose Kontroversen hervor, die selbst heute, achtzig
Jahre nach ihrer Entstehung, noch nicht vollständig abgeklungen sind. Im Jahre 1929
schien ihr Walter Cannon – ein Pionier auf diesem Gebiet – bereits den Fangschuß ge-
geben zu haben, als er experimentell bewies, daß das emotionale Verhalten auch dann
noch anhält, wenn die Nervenverbindungen zwischen dem viszeralen Bereich und dem
Gehirn unterbrochen worden sind. Dieses und anderes experimentelle Beweismaterial
brachte die Theorie in Verruf.*
* Trotzdem hat Mandler erst kürzlich nachgewiesen, daß sich selbst das scheinbar schlüssige Beweisma-
terial (die berühmten »fünf Punkte« von Cannon) auch anders interpretieren läßt: »Zwar sind Vorgänge
im viszeralen Bereich wesentlich für die anfängliche Etablierung von emotionalen Verhaltensweisen, bei
späteren Gelegenheiten kann sich jedoch herausstellen, daß die emotionale Verhaltensweise auf äußere
Reize hin konditioniert wurde und daß sie dann ohne viszerale Unterstützung auftreten kann ... Cannons
Argument, ein emotionales Verhalten könne auch beim Fehlen jeglicher viszeralen Aktivität auftreten,
muß wohl dahingehend eingeschränkt werden, daß man sagt, ein solches Verhalten ist nur dann möglich,
wenn intakte viszerale Strukturen und Reaktionen vorher die Verbindung zwischen den Umweltverhält-
nissen und dem emotionalen Verhalten hergestellt haben ... Die viszerale Reaktion 175
ist wichtig für die Eta-
blierung, nicht aber für die Aufrechterhaltung von emotionalen Verhaltensweisen.«
James’ Doktrin, es handle sich bei den Emotionen ausschließlich um rein viszerale Re-
aktionen, hat sich als unhaltbar erwiesen; aber schon die Tatsache, daß sie so schwer zu
widerlegen war, zeigt, daß sie doch einen wahren Kern enthielt – nämlich die durch die
Alltagserfahrung bekannte Tatsache, daß diffuse körperliche Empfindungen von inneren
Vorgängen, die nicht der Willenskontrolle unterliegen, eine wesentliche Komponente
allen emotionalen Erlebens bilden. Cannons eigene Theorie der Emotionen (die soge-
nannte Cannon-Bard-Theorie) legte entscheidenden Nachdruck auf die viszeralen Vor-
gänge bei Hunger, Schmerz, Angst und Zorn, die durch Adrenalhormone und das auto-
nome Nervensystem ausgelöst werden; aber er sah diese Vorgänge nicht als die Ursa-
chen, sondern vielmehr als Ausdrucksformen von emotionalen Empfindungen an.
Die Cannon-Bard-Theorie wurde ihrerseits wieder von Lashley und anderen kritisiert;
aber hier wird dieses Thema allzu fachtechnisch. Zusammenfassend kann man sagen,
die Emotionen sind »überhitzte Triebe« (ausgelöst durch innere und/oder äußere Reiz-
faktoren), denen vorübergehend – oder auch dauernd – ein angemessenes Betätigungs-
feld versagt bleibt; die aufgestaute Erregung stimuliert die viszerale und glanduläre Tä-
tigkeit, beeinträchtigt Kreislauf, Verdauung, Muskelspannung etc., und diese »Reaktio-
nen im Gesamtorganismus werden schließlich im Zentrum als emotionelle Empfindun-
gen registriert« (HHerrick).176 Das Beweismaterial spricht ferner dafür, daß diese vis-
zeralen Reaktionen von archaischen Gehirnstrukturen abhängen, deren Grundform sich
im Verlauf der gesamten Evolution »von der Maus bis zum Menschen« (M MacLean)
kaum wesentlich verändert hat.

16.4 Die drei Gehirne


Nach diesem historischen Exkurs wollen wir uns nun wieder der Frage zuwenden, wie
sich diese archaischen Strukturen und die archaischen Gefühle, die sie auslösen, mit den
allerneuesten Strukturen und Funktionen in unserem Gehirn vertragen. Die folgenden
Auszüge führen mitten hinein in dieses Problem; sie stammen aus einer medizinischen
Abhandlung von Professor Paul MacLean, dem Begründer der sogenannten Papez-
MacLean-Theorie der Emotionen:
Der Mensch befindet sich in dem Dilemma, daß die Natur ihn im
Prinzip mit drei Gehirnen ausgestattet hat, die trotz erheblicher

185
Strukturunterschiede gemeinsam funktionieren und miteinander
kommunizieren müssen. Das älteste dieser Gehirne stammt im we-
sentlichen aus der Reptilienphase. Das zweite hat er von den niede-
ren Säugetieren geerbt, und das dritte hat sich in der späten Säuge-
tierphase entwickelt; es erreicht seinen Kulminationspunkt bei den
Primaten und hat den Menschen erst zu dem gemacht, was er heute
ist.
Spricht man in allegorischer Form von diesen drei Gehirnen in dem
einen Gehirn, so könnte man sagen: wenn ein Psychiater seinen Pa-
tienten auffordert, sich auf die Couch zu legen, dann zwingt er ihn,
sich neben einem Pferd und einem Krokodil hinzulegen. Das Krokodil
mag willens sein, einige Tränen zu vergießen, und das Pferd mag laut
oder leise wiehern, aber wenn sie aufgefordert werden, ihre Probleme
in Worte zu kleiden, dann wird bald deutlich, daß sie dazu unfähig
sind. Es ist daher nicht verwunderlich, daß dem Patienten, der die
persönliche Verantwortung für diese Tiere übernommen hat und der
als ihr Sprachrohr dienen muß, manchmal vorgeworfen wird, er lei-
ste inneren Widerstand und sei voller Hemmungen ...177 Das »Reptili-
engehirn« ist angefüllt mit uralten Mythen und Urerinnerungen, und
es hält sich getreu an das, was die Ahnen ihm eingaben, aber neuar-
tigen Situationen ist es nicht gewachsen. Es ist, als leide es an einer
nemotischen Fixation an ein anzestrales Über-Ich.
Im Verlauf der Evolution machen sich die ersten Anzeichen für eine
Emanzipation vom anzestralen Über-Ich mit der Neuentwicklung des
Gehirns der niederen Säugetiere bemerkbar, das die Natur auf dem
Reptiliengehirn aufbaut ... Die Untersuchungen der letzten zwanzig
Jahre haben gezeigt, daß dieses primitive Säugetiergehirn eine fun-
damentale Rolle bei emotionalen Verhaltensweisen spielt ... Es zeigt
eine höhere Kapazität als das Reptiliengehirn, aus direkten Erfah-
rungen zu lernen und Probleme zu lösen. Aber genau wie das Reptili-
engehirn besitzt es nicht die Fähigkeit, ... seine Empfindungen in
Worte zu kleiden.178
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich mich weitgehend auf MacLeans experi-
mentelle Arbeiten und theoretische Schlußfolgerungen beziehen (allerdings weiche ich
von letzteren in einigen Punkten geringfügig ab). Die große Anziehungskraft dieser
Theorie beruht auf ihrer konsistenten hierarchischen Struktur; hierarchisch ist dabei im
gleichen Sinn verstanden wie im vorliegenden Buch. »Bei seiner Evolution«, schreibt
MacLean, »behält das menschliche Gehirn die hierarchische Organisation der drei
Grundtypen bei, die man zweckmäßig als ›reptilisch‹, ›paläomammal‹ und ›neomam-
mal‹ bezeichnen kann (Mammalien = Säugetiere). Es gibt reichhaltiges Beweismaterial
dafür, daß jede der drei Typen ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigene Denkweise und noch
andere parallele Funktionen besitzt.«179 Man könnte hinzufügen, daß jedes der drei Ge-
hirne als relativ autonomes Holon auf seinem eigenen Niveau funktioniert.
Ich will dem Leser hier nicht eine Abhandlung über die Anatomie des Gehirns aufbür-
den, aber einige Bemerkungen über die zerebrale Evolution mögen von Nutzen sein.
Die antiken Anatomen verglichen das Gehirn mit einer Frucht wie der Orange: der zen-
trale innere Teil entspricht dem Fruchtfleisch, der äußere der Schale beziehungsweise
Rinde; also nannte man jenen die Medulla, diesen den Cortex. Die Medulla bildet die
Verlängerung des Rückenmarks und setzt sich weiter fort im Hirnstamm. Im Hirnstamm
(oder in seiner unmittelbaren Nähe) befinden sich Strukturen wie der Hypothalamus,
das Retikularsystem und die Stammganglien. Es handelt sich hier um den phylogene-
tisch ältesten Teil des Gehirns, dessen Kern im großen ganzen den Grundstrukturen des

186
Reptiliengehirns entspricht. Er enthält im wesentlichen den Apparat für die Regulierung
innerer (viszeraler und glandulärer) Vorgänge, für primitive Aktivitäten, die auf In-
stinkten und Reflexen beruhen, sowie die Zentren für Wachen und Schlaf. Der Cortex
dagegen, die Hirnrinde, ist der Apparat für »intelligentes« Verhalten, von der primitiv-
sten Lernfähigkeit bis zum begrifflichen Denken. Er taucht in dem Stadium der Evoluti-
onsgeschichte auf, wo die Amphibien begannen, sich zu Reptilien zu entwickeln; die er-
sten vielversprechenden kortikalen Aufteilungen finden sich bei der Schildkröte. Der
Cortex ist die Oberflächenschicht der Hirnhemisphären, die aus dem Hirnstamm her-
auswachsen und sich um ihn herum wie ein Mantel falten (daher auch der Name Palli-
um = Hirnmantel). Die Hirnrinde besteht aus der äußeren, »grauen« Substanz (Zellkör-
per) und der darunterliegenden »weißen« (Fasern). Beim Menschen ist der Cortex etwa
ein viertel Zentimeter dick und enthält rund zehn Milliarden dicht zusammengedrängter
Neuronen, die miteinander eine Fläche von etwa einem drittel Quadratmeter bedecken;
sie sind eingezwängt in die Gyri und Sulki, die Windungen und Einstülpungen der ge-
furchten Gehirnoberfläche – ein wirklich recht beachtliches Schaltsystem. Und dennoch
...

Abbildung 11 (Nach MacLean.)


Die von den antiken Anatomen vorgebrachte Analogie mit der Orange hilft einem zwar,
sich in groben Umrissen eine Vorstellung von der Grundstruktur des Gehirns zu ma-
chen, aber darüber hinaus wirkt sie irreführend. Der Cortex ist im Gegensatz zur äuße-
ren Schale nicht homogen. Verschiedene Arten von Nervenzellen herrschen in den ver-

187
schiedenen Funktionsbereichen vor. Die einzelnen Gehirnregionen hat man in Unterge-
biete aufgeteilt, an die fünfzig solcher Gebiete unterschieden und benannt. Zwar sind
die Details dieser Klassifizierung im einzelnen noch umstritten, es herrscht jedoch
Übereinstimmung in dem Punkt, daß sich der Cortex auf Grund seiner Evolutionsge-
schichte und auf Grund der unterschiedlichen Gewebestruktur in drei fundamentale
Hauptregionen aufteilen läßt. Die älteren Anatomen bezeichneten sie als Archipallium,
Paläopallium und Neopallium; MacLean nennt sie Archicortex, Mesocortex und Neo-
cortex und koordiniert sie – in gleicher Abfolge – mit dem reptilischen, dem paläo-
mammalen und dem neomammalen Gehirn. Die räumliche Aufteilung dieser drei korti-
kalen Bezirke in unserem Schädel ist allerdings nicht leicht zu erklären, und man kann
sie sich auch nur schwer bildhaft vorstellen. MacLean hat ein vereinfachtes Modell er-
sonnen, in Form eines aufblasbaren Kinderballons mit drei voneinander abgesonderten
Segmenten (siehe Abbildung 11).180
Die Buchstaben A, M und N stehen für Archicortex, Mesocortex und Neocortex. »Der
noch nicht aufgeblasene Ballon stellt die Situation dar, wie man sie bei den Amphibien
vorfindet. Mit dem Auftauchen der Reptilien tritt eine ballonartige Aufblähung des Ar-
chicortex und eine beträchtliche Erweiterung des Mesocortex ein. Während der Phylo-
genese der Säugetiere kommt es zu einem
der verblüffendsten Prozesse innerhalb der
gesamten Evolution: es handelt sich um die
riesige, ballonartige Aufblähung des Neo-
cortex. Im Verlauf dieses Prozesses werden
der Archicortex und der größere Teil des
Mesocortex wie zwei konzentrische Ringe
zum limbischen Lappen zusammengefaltet,
eingestülpt und sozusagen in den ›Keller‹
des Gehirns verbannt« (siehe Abb. 12).181
Das Ergebnis dieses Faltungsprozesses zeigt
Abbildung 12: Sie gibt a eine Seitenansicht
und b einen vertikalen Querschnitt durch das
Gehirn eines Affen wieder.
Abbildung 12 (Nach MacLean.)

Die beiden gefalteten Ringe bilden zusam-


men eine große Windung, den sogenannten »limbischen Wulst« der Großhirnrinde, er
ist in der Abbildung in schwarzer Farbe wiedergegeben. »Limbisch« bedeutet soviel wie
»einsäumend«, »einen Rand bildend«; das Wort wurde 1878 von dem Gehirnanatomen
Broca geprägt, weil die limbische Windung den Gehirnstamm umringt (er ist in der Ab-
bildung nicht zu sehen). Der limbische Cortex ist so eng mit dem Hirnstamm verbun-
den, daß die beiden zusammen ein in funktioneller Hinsicht integriertes System bilden –
das sogenannte »limbische System« mit seinen »reptilischen« und »primitiv-
mammalen« Zügen. Man kann also das limbische System im ganzen als das »alte Ge-
hirn« bezeichnen – im Gegensatz zu dem »neocortischen System« oder »neuen Gehirn«.
Broca hatte bereits demonstriert, daß »der große limbische Lappen als eine Art gemein-
samer Nenner in den Gehirnen aller Säugetiere zu finden ist ... Die getreue Erhaltung
dieser Struktur während der gesamten Phylogenese der Säugetiere steht in scharfem
Gegensatz zu dem rapiden Wachstum des benachbarten Neocortex, der die Entwicklung
der intellektuellen Funktionen repräsentiert ... Der limbische Cortex ist im Vergleich
zum Neocortex von primitiver Struktur; er zeigt durch die gesamte Reihe der Säugetiere
hindurch im wesentlichen die gleiche Entwicklung und Organisation. Das würde be-
deuten, daß er sowohl beim Menschen als auch beim Tier auf einem animalistischen
Niveau funktioniert«.182

188
16.5 Die Emotion und das ältere Gehirn
Das ist wirklich ein merkwürdiger Zustand. Würden wir nicht wissen, daß das Gegenteil
der Fall ist, dann hätten wir eigentlich erwartet, daß die evolutionäre Entwicklung das
primitive alte Gehirn allmählich in ein verfeinertes Instrument verwandelt haben würde
– so wie sie Klauen in Hände und Kiemen in Lungen verwandelt hat. Statt dessen hat
die Evolution die alte Struktur mit einer neuen und höherwertigen Struktur überlagert,
mit teilweise sich überschneidenden Funktionen, ohne die neue Struktur mit einer klar
abgegrenzten hierarchischen Kontrolle über die ältere auszustatten. Das mußte
zwangsläufig zu Konfusion und Konflikten führen. Wir wollen nun den Konflikt zwi-
schen »Althirn« und »Neuhirn« ein wenig eingehender untersuchen.
MacLean vergleicht den Cortex mit einem Fernsehschirm, der dem Tier ein kombinier-
tes Bild von Außenwelt und Innenwelt vermittelt. Das ist eine nützliche Analogie für
den begrenzten Zweck, dem sie dienen soll. Um jedoch Mißverständnisse zu vermeiden,
möchte ich auf ihre begrenzte Anwendungsmöglichkeit hinweisen. Von allen Teilen des
Körpers ist die Großhirnrinde am engsten mit der Bewußtheit und der Selbstbewußtheit
verbunden; es wäre jedoch falsch, sie als den Sitz der Bewußtheit zu bezeichnen, wie
das manchmal geschieht. Um nochmals Judson Herrick zu zitieren:
Die Suche nach einem zentralen Sitz der Bewußtheit im allgemeinen
oder nach dem Sitz eines speziellen bewußten Erlebens beruht auf
einer falschen Fragestellung, denn der bewußte Akt hat Eigenschaf-
ten, die sich nicht mit Hilfe der räumlichen und zeitlichen Einheiten
definieren lassen, die wir bei der Messung von Objekten und Vorgän-
gen in der objektiven Welt verwenden. Wonach wir suchen müssen,
und was wir im Verlauf einer objektiven Untersuchung auch finden,
ist der Apparat, der Bewußtheit erzeugt. Dieser Mechanismus hat
seinen festen Ort in Raum und Zeit, die Bewußtheit als solche dage-
gen hat keinen festen Ort innerhalb dieses Mechanismus.183
In diesem Sinn ist also die Großhirnrinde der hauptsächliche »Apparat, der Bewußtheit
erzeugt«. Man könnte sagen, die älteren Strukturen im Hirnstamm vermitteln das »Roh-
material« der Bewußtheit; das Retikularsystem »erweckt« des Tieres Aufmerksamkeit;
die hypothalamischen Strukturen steuern die viszerale Komponente bei; letztlich ist je-
doch »die Großhirnrinde für das Gehirn das, was der Fernsehschirm für den Fernsehap-
parat und der Radarschirm für den Piloten bedeutet«.184 Wenn das aber tatsächlich so
ist, dann sehen wir uns mit dem Paradoxon konfrontiert, daß uns die Evolution mit min-
destens zwei solchen Bildschirmen ausgestattet hat, mit einem älteren und einem fun-
kelnagelneuen.
Der ältere, limbische Bildschirm zeichnet sich, wie wir gesehen haben, durch drei
Haupteigenschaften aus: seine mikroskopische Feinstruktur ist im Vergleich zum Neo-
cortex grob und primitiv; seine Grundform ist im wesentlichen immer noch die gleiche
wie bei den niederen Säugetieren; und im Gegensatz zum Neocortex ist das limbische
System durch Nervenstränge – dick wie ein Bleistift – aufs intimste mit dem Hypotha-
lamus verbunden sowie mit anderen Zentren im Hirnstamm, die für viszerale Empfin-
dungen und emotionale Reaktionen zuständig sind – einschließlich Sex, Hunger, Furcht
und Zorn. Das ist in so starkem Maße der Fall, daß man das limbische System früher
das »viszerale Gehirn« genannt hat.* Man änderte später den Namen, weil er den Ein-
druck erweckte, es sei nur für den viszeralen Bereich zuständig; in Wirklichkeit hat je-
doch, wie wir gleich sehen werden, der alte, limbische Cortex auch seine eigenen geisti-
gen Funktionen: er fühlt und denkt, wenn auch nicht in verbalen Begriffen.
* In noch früherer Zeit bezeichnete man den linibischen Cortex als »Rhinenzephalon«, als »Riechhirn«,
da man glaubte, er sei ausschließlich für den Geruchssinn zuständig.

189
Das limbische System läßt sich mit einem primitiven Fernsehschirm vergleichen, der
Projektionen aus der inneren, viszeralen Umwelt mit solchen aus der äußeren Umwelt
kombiniert, häufig aber auch beide miteinander verwechselt.
Bei einem solchen Cortex muß es eine ähnliche Konfusion gegeben
haben wie bei einem doppelt belichteten Film. Auf jeden Fall muß er
nicht ganz zufriedenstellend gearbeitet haben, denn als die Natur
sich anschickte, das neomammale Gehirn zu entwickeln, konstru-
ierte sie nach und nach einen größeren und leistungsfähigeren Bild-
schirm, der vorwiegend ein Bild der Außenwelt wiedergab, das sich
aus Impressionen der Augen, der Ohren und der Körperoberfläche
zusammensetzte ... Aber getreu ihrem notorischen Sparsamkeit-
sprinzip ließ die Natur den alten Bildschirm nicht völlig fallen. Da er
den Anforderungen des Geruchssinns, des Tastsinns und der Emp-
findungen für die innerkörperlichen Vorgänge zu genügen schien,
ließ sie die Glühfäden in der Röhre des alten Bildschirms Tag und
Nacht brennen.185
Die Dinge liegen jedoch nicht so, daß sich das Althirn ausschließlich mit dem Tastsinn,
dem Geruchssinn und den viszeralen Empfindungen befaßt und es dem Neuhirn über-
läßt, die Außenwelt zu registrieren – das wäre in der Tat eine idyllische Arbeitsteilung.
Die »Papez-Theorie der Emotionen« hat ihren Ursprung im Studium der pathologischen
Zustände, in denen die »alte Elektronenröhre« sich in den Arbeitsbereich der neuen
Röhre einmischt und die Tendenz zeigt, deren Funktionen zu usurpieren. Papez be-
merkte, daß Schäden am limbischen System eine Vielzahl von Symptomen auslösten,
die in erster Linie das emotionale Verhalten von Tieren und Menschen beeinflußten. Ei-
nen extremen Fall stellt die Tollwut dar, deren Virus eine Vorliebe für das limbische
System zu haben scheint und bei welcher »der Patient Anfällen von Raserei und Entset-
zen ausgesetzt ist.186 Weniger extrem, aber gleichermaßen kennzeichnend sind die emo-
tionalen Zustände bei der »heiligen Krankheit«, der Epilepsie. Hughlin Jackson, einer
der Pioniere der Neurologie, beschrieb die Aura vor dem epileptischen Anfall als einen
»traumartigen Zustand«, eine Art von »doppelter Bewußtheit«, bei der der Patient sich
wohl der ihn umgebenden Wirklichkeit bewußt ist, aber nur so, als wäre sie ein Traum
oder eine Wiederholung von etwas, das sich schon einmal zugetragen hat (déjà vu).
Während des akuten Anfalls von psychomotorischer Epilepsie scheint das »animalisti-
sche« Althirn das Kommando über die Gesamtpersönlichkeit zu übernehmen. Beißen,
Kauen und Zähneknirschen, Raserei oder Panik sind die wohlbekannten Begleiterschei-
nungen solcher Anfälle, doch bleiben sie in der Regel im Gedächtnis des Patienten nicht
haften. Das klinische Beweismaterial deutet darauf hin, daß das limbische System der
Sitz des epileptischen Ausbruchs ist.187 Typisch ist zum Beispiel der Fall einer Nym-
phomanin von fünfundfünfzig Jahren, »die sich mehr als zehn Jahre lang über ständige
›leidenschaftliche Gefühle‹ beklagte. Später bekam sie epileptische Krämpfe. Bezeich-
nend ist der Umstand, daß durch Parfüm die Symptome gesteigert wurden«188 – der Ge-
ruchssinn ist der »viszeralste« aller Sinne. Sie unterzog sich einer Gehirnoperation, und
dabei stellte sich eine krankhafte Veränderung in der limbischen Region heraus.
Das klinische Beweismaterial wurde durch Versuche an Tieren ergänzt. Dabei unter-
scheidet man im Prinzip zwei Arten von Experimenten: elektrische oder chemische Er-
regung des Gehirns und chirurgische Entfernung bestimmter Gehirnbezirke. Wir wollen
wieder MacLean zitieren:
Auf Grund von Tierversuchen mit der limbischen Epilepsie (die
durch elektrische Stimulierung herbeigeführt wurde) ist ersichtlich
geworden, daß die in dieser Region ausgelösten Entladungen die
Tendenz zeigen, sich nur innerhalb des limbischen Systems auszu-
breiten. Es geschieht nur selten, daß die Entladungen wie wilde Stie-

190
re aus diesem Korral ausbrechen und über den Zaun hinweg ins
neomammale Gehirn überspringen. Experimente dieser Art liefern
den eindrucksvollen Beweis für eine Dichotomie der Funktionen – für
das, was man als »Schizophysiologie« des limbischen und des neo-
kortikalen Systems bezeichnet hat. Patienten mit einer schwelenden
limbischen Epilepsie können alle Symptome von Schizophrenie zei-
gen; die oberwähnte Schizophysiologie ist möglicherweise ein rele-
vanter Faktor für die Pathogenese dieser Krankheit ...
Vom Standpunkt des Patienten auf der psychiatrischen Couch ist
diese Schizophysiologie deshalb von Bedeutung, weil sie zeigt, daß
das paläomammale Gehirn bis zu einem gewissen Grad in der Lage
ist, selbständig zu funktionieren und Entschlüsse zu fassen. Man
muß sich das so vorstellen, daß der primitive Bildschirm, den der
limbische Cortex darstellt, ein verworrenes Bild wiedergibt, in wel-
chem Innenwelt und Außenwelt miteinander vermischt sind. Das
mag zumindest teilweise ein Grund für die offensichtliche Verwirrung
sein, die man bei psychosomatischen Zuständen beobachtet hat –
ein Zustand der Verwirrung, bei dem zum Beispiel Nahrungsmittel
als Symbole von Dingen angesehen werden, die man beherrschen
und zerstören möchte wie eine Beute oder einen Feind.* Es gibt
Schilderungen von Patienten, die essen, weil sie das Bedürfnis nach
Liebe haben, weil sie ängstlich oder nervös sind, oder weil sie etwas,
das ihren Zorn oder Haß erregt hat, zerkauen und verschlucken
möchten.189
* Siehe die auf Seite 152 f. erörterten Phänomene.
Neuere Experimentiermethoden, bei denen man mit Hilfe von Elektroden ganz be-
stimmte Punkte im Gehirn des Affen durch Schwachstrom stimulierte, ergaben noch
verblüffendere Resultate. Die Stimulierung bestimmter Stellen im limbischen System
führte bei männlichen Affen zur Erektion und zum Samenerguß; die Stimulierung ande-
rer Punkte verursachte Freßreaktionen, Kauen und Speichelabsonderung; bei anderen
Punkten rief die Stimulierung Neugier, aggressiv-defensives oder furchtsames Verhal-
ten hervor. (Man sollte hier bemerken, daß die Experimente schmerzfrei sind.) Erregung
einer bestimmten Art springt jedoch relativ rasch auf umliegende Punkte über, die
Emotionen ganz anderer Art erwecken. So kann sich eine orale Tätigkeit – Kauen,
Schnuppern, Speichelabsonderung – mit Aggressivität verbinden, Aggressivitat mit Se-
xualität und Sexualität mit oraler Tätigkeit. Bei Babies und Hunden löst die Nahrungs-
aufnahme häufig eine Erektion aus – und andere Verhaltensaspekte, die weit unterhalb
des viktorianischen Standards liegen.

16.6 »Schizophysiologie«
Auch hier liefert der Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Cortex einen über-
raschenden Anhaltspunkt, und er fügt der psychoanalytischen Theorie eine neue Dimen-
sion hinzu. Auf dem neuen Bildschirm (dem sensorischen Projektionsfeld des Neocor-
tex) erscheint der menschliche Körper in der aus allen Lehrbüchern wohlbekannten
Form eines kleinen »Homunculus«, bei welchem der Mund und die Anal-Genital-Zone
korrekt an den entgegengesetzten Enden der Projektionsfläche repräsentiert werden.
Beim älteren, primitiv-mammalen Gehirn dagegen »hielt es die Natur offenbar für er-
forderlich, den limbischen Wulst so einzubiegen, daß der Geruchssinn sowohl an den
oralen als auch an den anal-genitalen Funktionen intensiv teilhaben konnte«.190
Daraus ergibt sich eine tatsächlich unerwartete Rechtfertigung für Freuds Theorie von
der infantilen Sexualität. Gleichzeitig werden wir daran erinnert, daß das Überleben des

191
primitiv-mammalen Gehirns in unserem Kopf nicht bloß eine Metapher, sondern eine
Tatsache ist. Im sexualen wie auch in allen anderen Bereichen bedeutet der Reifungs-
prozeß offenbar einen Übergang von der Herrschaft des alten zur Herrschaft des neuen
Gehirns. Aber selbst wenn man von emotionalen Verwirrungen und pathologischen Zu-
ständen absieht, ist dieser Übergang auch beim normalen Menschen niemals vollstän-
dig. Die Schizophysiologie ist ein inhärenter Faktor unserer Spezies.
Bei Tierexperimenten mit chirurgischen Eingriffen sind die Auswirkungen noch drasti-
scher. Entfernt man gewisse Teile des limbischen Systems, dann scheinen Affen von
bisher ungezügeltem Temperament ihre instinktive Reaktionsfähigkeit zu verlieren. Sie
geben sich fügsam, zeigen, wenn man sie provoziert, weder Angst noch Zorn und lernen
nicht, für sie unangenehme Situationen zu vermeiden. Sie verlieren auch ihre instinkti-
ven Ernährungsgewohnheiten: ein Affe, der normalerweise von Früchten lebt, frißt nach
der Operation auch rohes Fleisch oder Fisch und legt eine zwanghafte Tendenz an den
Tag, alle möglichen Gegenstände in den Mund zu stecken: Nägel, Fäkalien, brennende
Streichhölzer. Schließlich geraten sogar die sexuellen und die mütterlichen Instinkte auf
Abwege: Kater versuchen mit Küken zu kopulieren, und Rattenmütter lassen ihre Jun-
gen ohne weiteres umkommen.191
Das Althirn hat jedoch nicht nur mit Affekten zu tun; es nimmt wahr, es erinnert sich
und »denkt« auf seine eigene quasi-unabhängige Art. Bei primitiven Tieren ist das lim-
bische System das oberste Integrationszentrum für die Triebe: Hunger, Sex, Kampf und
Flucht; aber das anatomische und das physiologische Beweismaterial deuten darauf hin,
daß es zu diesen Funktionen auch bei höheren Tieren beiträgt, einschließlich des Men-
schen. Es nimmt, wie bereits erwähnt, eine strategisch zentrale Position ein, von der aus
es innere Empfindungen mit Wahrnehmungen aus der Außenwelt in Verbindung brin-
gen und auf sie nach eigenem Ermessen reagieren kann. Zwar wird es vom Instinkt be-
herrscht, aber es ist durchaus in der Lage, einfache Dinge zu erlernen: ein Affe, dessen
limbisches System intakt ist, nimmt ein brennendes Streichholz nur einmal in den Mund
– wenn dagegen das limbische System Schäden aufweist, verbrennt er sich die Schnau-
ze immer wieder ... »Man kann sich kaum ein nutzloseres Gehirn vorstellen als eines,
das den ganzen Tag über nur Emotionen hervorbringt und das an den Denkprozessen,
der Gedächtnisbildung und verwandten Funktionen keinen Anteil hat.«192 Das Althirn
denkt, aber auf eine phylogenetisch überholte Art und Weise, die von Psychiatern als
infantil oder primitiv bezeichnet wird.
Auf Grund dieser Beobachtungen muß man annehmen, der Archi-
cortex könne Informationen nur in sehr grober Weise verarbeiten
und sei ein zu primitives Gehirn, als daß er Sprache analysieren
könnte. Aber er besitzt anscheinend doch die Fähigkeit, an einer
Symbolik präverbaler Art zu partizipieren. Daraus würden sich inso-
fern bedeutsame Schlüsse ergeben, als die Symbolik auf das emotio-
nale Leben des Individuums einwirkt. Man könnte sich etwa vorstel-
len, daß das viszerale Gehirn zwar niemals in der Lage wäre, die Far-
be »Rot« als ein aus drei Buchstaben bestehendes Wort oder als eine
spezifische Wellenlänge des Lichtes zu interpretieren, daß es aber
doch diese Farbe symbolisch mit vielerlei Dingen assoziiert, wie Blut,
Ohnmacht, Kampf, Blumenassoziationen, die zu Phobien, Zwangs-
vorstellungen, obsessivem Verhalten führen könnten. Ohne Hilfe und
Kontrolle seitens des Neocortex würden sich seine Impressionen un-
verarbeitet in den Hypothalamus und die niederen Zentren des af-
fektiven Verhaltens entladen. Betrachtet man all das im Licht der
Freudschen Psychologie, dann könnte man sagen, das alte Gehirn
besitzt viele Eigenschaften des unbewußten »Es«. Man könnte jedoch
argumentieren, das viszerale Gehirn sei keineswegs unbewußt (mög-
licherweise nicht einmal bestimmten Phasen des Schlafs), sondern es

192
ließe sich einfach darum nicht in den Bannkreis des Intellekts zwin-
gen, weil infolge seiner animalistischen und primitiven Struktur keine
Möglichkeit besteht, mit ihm in verbalen Begriffen zu kommunizieren.
Vielleicht wäre es daher eher angebracht, zu sagen, es handle sich
um ein animalistisches und »analphabetisches« Gehirn. (MacLean).193

16.7 »Ein Geschmack wie Sonne«


Unsere Emotionen sind in der Tat bemerkenswert unartikuliert, und sie lassen sich nicht
in verbalen Begriffen ausdrücken. Für den Romanschriftsteller ist es am schwierigsten,
zu beschreiben, was seine Personen empfinden – im Gegensatz zu dem, was sie denken
oder tun. Intellektuelle Vorgänge können wir bis ins feinste Detail beschreiben, aber wir
besitzen nur das primitivste Vokabular zur Beschreibung sogar so lebenswichtiger Emp-
findungen wie der des körperlichen Schmerzes – Arzt und Patient müssen das immer
wieder zu ihrem Kummer erfahren. Liebe, Zorn, Schuldgefühl, Trauer, Freude und
Angst bilden ein Spektrum mit Nuancen der Färbung und Intensität wie ein Regenbogen
– aber wir können sie nicht in Worten ausdrücken. Wir müssen uns indirekter Methoden
bedienen, indem wir visuelle Vorstellungsbilder heraufbeschwören, oder wir nutzen den
hypnotischen Effekt von Rhythmus und Euphonie, »um den Geist in eine Trance zu
lullen«.
Man könnte also sagen, der Lyrik gelingt eine Synthese zwischen den komplexen
Denkprozessen im Neocortex und der mehr primitiven emotionalen Funktionsweise des
Althirns. Im »reculer pour mieux sauter« – dem Zurückweichen, um Anlauf für einen
neuen Sprung zu nehmen, das allen schöpferischen Errungenschaften zugrunde zu lie-
gen scheint – spiegelt sich vermutlich eine zeitweilige Regression vom überkonkreten,
neokortikalen Denken zu den mehr fließenden und »instinktiven« limbischen Denkwei-
sen wider – eine »Regression hin zum ›Es‹ im Dienste des Ich«. Wir erinnern uns auch
daran, daß »wir manchmal von der Sprache loskommen müssen, um klar denken zu
können« – und Sprache ist ein Monopol des Neuhirns. Auf ähnliche Weise lassen sich
auch andere, in den Kapiteln über die Kreativität und das Gedächtnis erörterte Phäno-
mene mit Hilfe der hierarchischen Stufen in der Evolution des Gehirns interpretieren.
So scheint zum Beispiel die von uns getroffene Unterscheidung zwischen dem abstra-
hierenden Gedächtnis auf der einen und dem emotionalen Bildstreifengedächtnis« auf
der anderen Seite (siehe Kapitel 6) eine charakteristische Differenz zwischen den Ar-
beitsweisen des neuen und des alten Gehirns widerzuspiegeln.*
194
* Vergleiche auch Kluevers drei Stufen des visuellen Gedächtnisses (siehe Seite 64 f.).
Die Folgeerscheinungen der inhärenten »Schizophysiologie« des Menschen reichen also
vom schöpferischen bis zum pathologischen Bereich. Ist ersterer ein reculer paur mieux
sauter, so gilt für letzteren das reculer sans sauter. Seine Ausdrucksformen reichen von
dem, was wir als mehr oder minder normales Verhalten betrachten – wo unbewußte
Vorurteile nur in begrenztem Ausmaß in die Denkvorgänge eingreifen –, über die offe-
nen oder schwelenden Konflikte des Neurotikers bis zur Psychose und zur psychoso-
matischen Erkrankung. In extremen Fällen kann sich die Unterscheidung zwischen Au-
ßenwelt und Innenwelt verwischen, und zwar nicht nur durch Halluzinationen, sondern
auch auf andere Weise: der Patient scheint in einer Regression zur magischen Welt des
Primitiven zurückzukehren:
Durch klinische Beobachtungen gewinnt man den Eindruck, daß
diese Patienten ... eine übertriebene Tendenz zeigen, die Außenwelt
so zu sehen, als wäre sie ein Teil ihrer selbst. Mit anderen Worten:
innere Empfindungen werden mit dem, was man sieht, hört oder auf
sonstige Art wahrnimmt, so vermengt, daß die Außenwelt erlebt wird,
als wäre sie innen. In dieser Hinsicht besteht eine starke Ähnlichkeit
zu der Mentalität von Kindern und primitiven Völkern.195

193
Ein Beispiel für eine solche Konfusion ist der Ausspruch einer jungen Epileptikerin, de-
ren erster Anfall sich ereignete, als sie, noch ein Kind, in das strahlende Sonnenlicht
hinausging: »Ich hatte einen komischen Geschmack der Sonne in meinem Mund.« Ein
Dichter hätte diesen Satz schreiben können; aber im Gegensatz zu dem armen Kind wä-
re er sich seiner Verwirrung bewußt gewesen.

16.8 Das Wissen im viszeralen Bereich


Wir alle können gelegentlich diesen Sonnengeschmack im Munde verspüren; aber unse-
re fatalen Irrungen stammen nicht aus viszeralen Einmischungen in unsere Wahrneh-
mungen, sondern in unsere Überzeugungen und Glaubensvorstellungen. Irrationale
Glaubensvorstellungen sind affektbedingt – man hat das Gefühl, daß sie wahr sind.
Der Glaube ist Sache der Eingeweide. Er ist eine Art des Wissens, bei welcher das
emotionale Althirn dominiert, selbst dann, wenn das Neuhirn die verbalen Formulierun-
gen besorgt. An diesem Punkt verschmelzen die neurophysiologischen Erwägungen mit
den psychologischen Phänomenen, die wir im vorhergehenden Kapitel erörtert haben.
Die Schizophysiologie des Gehirns erweist sich als Schlüssel für die Wahnvorstellun-
gen, die die Geschichte der Menschheit durchziehen.
Ein geschlossenes System, wie es im vorhergehenden Kapitel definiert worden ist, ist
eine Denkstruktur mit verzerrter Logik, wobei die Verzerrung durch ein zentrales Axi-
om, Postulat oder Dogma verursacht wird, an das sich das Individuum emotional ge-
bunden fühlt und aus dem die Spielregeln zur Verarbeitung der Daten abgeleitet wer-
den. Denksysteme sind natürlich nicht das ausschließliche Werk des reptilischen, des
paläomammalen oder des neomammalen Gehirns, sondern der kombinierten Bemühun-
gen aller drei. Das Ausmaß der Verzerrung hängt davon ab, welches Niveau die Ober-
hand hat und in welchem Maß das der Fall ist. Ohne die Mitwirkung der älteren Gehirn-
strukturen, die mit den inneren, körperlichen Empfindungen befaßt sind, würde uns
vermutlich das Erlebnis unserer eigenen Realität versagt bleiben – wir wären dann »ent-
MacLean).196 Ohne den Neocortex anderseits wären wir unseren Af-
körperte Geister« (M
fekten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und unser Denken würde dem des Klein-
kindes oder Affen ähneln. Aber das objektive, rationale Denken ist eine recht zerbrech-
liche Neuerwerbung – es wird durch die geringste Irritation von seiten des Althirns be-
einflußt, das, einmal erweckt, die Tendenz zeigt, die Szene ganz zu beherrschen.
Wir wissen jedoch, daß es zwischen den rein abstrakten Denkvorgängen des »entkör-
perten Geistes« und dem leidenschaftlichen Wiehern des alten Cortex eine ganze Reihe
von Zwischenschichten gibt. Es wäre, wie bereits gesagt (siehe Seite 122 unten), eine
grobe Simplifizierung, wollte man nur zwischen zwei Arten von Geistestätigkeit unter-
scheiden, wie etwa zwischen dem »primären« und dem »sekundären« Vorgang Freuds,
jener beherrscht vom Lustprinzip, dieser vom Realitätsprinzip. Zwischen diesen beiden
Niveaus müssen wir mehrere Methoden des Denkens interpolieren, wie wir sie bei pri-
mitiven Gesellschaftsverbänden auf verschiedenen Entwicklungsstufen antreffen, bei
Kindern verschiedenen Alters und bei Erwachsenen in verschiedenen Bewußtseinszu-
ständen: bei Träumen, Tagträumen, bei Halluzinationen und so weiter. Jedes dieser Sy-
steme hat seine besonderen »Spielregeln«, die – auf eine für uns unerklärliche Weise –
die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Niveaus und Strukturen im Gehirn
widerspiegeln. Denn die alten und die neuen Strukturen wirken ständig aufeinander ein,
trotz ihrer mangelhaften Koordination und der Abwesenheit jener Kontrollen, die einer
wohlausgeglichenen Hierarchie Stabilität verleihen.
Eine der Folgeerscheinungen dieses Zustandes besteht darin, daß verbale Symbole mit
Affekten geladen und mit viszeralen Reaktionen assoziiert werden, wie das beim psy-
chogalvanischen Lügendetektor auf so dramatische Weise zutage tritt. Das gilt natürlich

194
nicht nur für einzelne Wörter oder Ideen; komplexe Doktrinen, Theorien und Ideologien
weisen einen ähnlichen emotionalen Sättigungsgrad auf, ganz zu schweigen von Feti-
schen und Führerfiguren. Unglücklicherweise können wir nicht einen Lügendetektor
anwenden, um die Irrationalität unserer Glaubensvorstellungen zu messen oder die vis-
zerale Komponente bei unseren Rationalisierungen. Der fanatische Gläubige bewegt
sich in einem circulus vitiosus innerhalb seines geschlossenen Systems: er kann alles,
woran er glaubt, beweisen, und er glaubt alles, was er beweisen kann.

16.9 Nochmals: Janus


MacLean unterscheidet zwei grundlegende Triebmotivationen, von denen jede eine ent-
sprechende Art von Emotion auslöst: die Selbsterhaltung und die Arterhaltung. Auf
Grund seiner experimentellen Versuche mit Affen kam er zu der provisorischen Schluß-
folgerung, die erste sei in der unteren, die zweite in der oberen Hälfte des limbischen
Systems zu lokalisieren. Die Emotionen, die sich aus dem Selbsterhaltungstrieb ablei-
ten, bilden die klassische Trinität von Hunger, Zorn und Furcht. Sie sind abhängig vom
sogenannten sympathischen Nervensystem und von der galvanisierenden Wirkung der
adrenalinartigen Hormone. Rechnen wir zu dieser Gruppe noch die aggressiven und
oralen Komponenten des sexuellen Verhaltens (und wir haben gesehen, wie leicht bei
elektrischer Stimulierung eine dieser Reaktionen in eine andere übergeht), dann haben
wir ein ziemlich vollständiges Inventar jener Faktoren, die wir als selbstbehauptende
Tendenzen bezeichnet haben.
Der andere von MacLeans grundlegenden Trieben, die Erhaltung der Art, ist eine nicht
so klar umrissene Kategorie. Er rechnet zu ihr die Brutfürsorge, die Familienbildung
und die verschiedenen Formen des Sozialverhaltens bei Affen; er scheint jedoch diese
Faktoren im Sinne der Freudschen Tradition als Ableitungen aus dem Geschlechtstrieb
zu betrachten:
Die persönliche Anteilnahme an der Wohlfahrt und Erhaltung der Art
basiert auf der Sexualität, und diese äußert sich beim Menschen auf
vielfache Weise. Sie führt zur sexuellen Werbung und schließlich
zum Großziehen einer Familie. Sie beflügelt unsere Lieder, Gedichte,
Romane sowie Kunst, Theater und Architektur. Sie veranlaßt uns,
unseren Kindern eine gute Schulausbildung zuteil werden zu lassen.
Sie veranlaßt uns, Bibliotheken, Forschungsinstitute und Kranken-
häuser zu errichten. Sie inspiriert die medizinische Forschung. Sie
ist es, die uns veranlaßt, uns mit Raketen und der Eroberung des
Raumes zu befassen, und uns an die Möglichkeit eines unsterblichen
Lebens in einer jenseitigen Welt glauben läßt.197
Beim Lesen dieses Zitats müssen wir feststellen, daß die Verbindung zur Sexualität
immer dürftiger wird – es sei denn, wir sind Anhänger der Doktrin, alle sozialen,
künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten seien Sublimationen oder Ersatzfor-
men für die Sexualität. Es ist gleichermaßen schwer einzusehen, wie der »Magnetis-
mus« (wie Konrad Lorenz es genannt hat), der einen Schwarm von Fischen im Ozean
zusammenhält – eine Anziehungskraft, die in geometrischer Proportion zur Größe des
Schwarms zuzunehmen und von keinem andern Faktor198 abzuhängen scheint –, wie al-
so diese Magnetkraft auf der Sexualität beruhen könnte. Die gleiche Erwägung gilt auch
für die Arbeitsteilung in einem Bienenstock, wo der bei weitem größte Teil der Arbeits-
bienen geschlechtslos ist. Die Sexualität ist ein mächtiger Trieb, aber keineswegs das
einzige, und vermutlich nicht einmal das primäre Band, das tierische Verbände und
menschliche Gesellschaften zusammenhält und die Wohlfahrt der Art sichert – ein-
schließlich der geistigen und künstlerischen Wohlfahrt des Menschen. Es scheint daher
angemessener, den Sexualtrieb zusammen mit anderen Faktoren der sozialen Kohäsion

195
in die allgemeiner gefaßte Kategorie der von uns so bezeichneten »integrativen Tenden-
zen« einzureihen.
Die Sexualität erscheint, wie sich gezeigt hat, erst relativ spät auf der Evolutionsbühne;
dagegen ist die Polarität zwischen selbstbehauptenden und integrativen Tendenzen ein
inhärenter Faktor aller hierarchischen Ordnungen und auf allen Niveaus von lebenden
Organismen und sozialen Organisationen gegenwärtig.
Soweit es sich bloß um das Tierreich handelt, umfaßt MacLeans Kategorie »Wohlfahrt
und Erhaltung der Art« (im Gegensatz zur Selbsterhaltung) praktisch alle Manifestatio-
nen dessen, was wir als »integrative Tendenzen« bezeichnet haben; und wenn sich
MacLeans Befunde, nach welchen er sie in der oberen Hälfte des limbischen Systems
lokalisiert – und die Triebe der Selbsterhaltung in der unteren –, als stichhaltig erwei-
sen, dann können wir uns gar keine bessere Bestätigung für die postulierte Polarität
wünschen.
Solange wir uns bei unserer Erörterung auf die Affen beschränken, ist also die Frage
nach der Terminologie nur eine semantische Haarspalterei. Wenn wir uns jedoch dem
Menschen zuwenden, kann die integrative Tendenz sehr verschiedene Formen anneh-
men – einschließlich der selbsttranszendierenden Emotionen, die im religiösen und
künstlerischen Bereich eine Rolle spielen, jedoch mit der Arterhaltung kaum etwas zu
tun haben. Aber auch für sie muß es ein neurophysiologisches Korrelat geben. Können
wir darüber etwas aussagen? Ich glaube schon, doch ist das ein Problem für den Spezia-
listen, und dem ungeschulten Leser sei daher geraten, die beiden nächsten Absätze zu
überspringen.
Wir haben gesehen, daß zwischen den aggressiv-defensiven Emotionen und dem sym-
pathischen Ast des autonomen Nervensystems eine enge Verknüpfung besteht. Man ist
daher versucht, eine symmetrische Korrelation zwischen den selbsttranszendierenden
Emotionen und dem Ast des autonomen Nervensystems, nämlich dem parasympathi-
schen, anzunehmen. Es spricht einiges zugunsten einer solchen Hypothese, aber das
diesbezügliche Beweismaterial ist nicht schlüssig. Im allgemeinen (aber wie wir gleich
sehen werden, gibt es für diese Regel wichtige Ausnahmen) funktionieren die beiden
Äste des autonomen Nervensystems als Antagonisten: sie halten sich gegenseitig im
Gleichgewicht. Der Sympathicus bereitet das Tier auf »Notfallreaktionen« unter der
Einwirkung von Hunger, Schmerz, Zorn und Furcht vor. Er beschleunigt den Puls, er-
höht den Blutdruck und beschafft zusätzlichen Blutzucker als Energiequelle. Der Pa-
rasympathicus tut in nahezu jeder Hinsicht das Gegenteil: er senkt den Blutdruck, läßt
das Herz langsamer schlagen, neutralisiert überschüssigen Blutzucker, er ermöglicht die
Verdauung und die Abfallentleerung; er aktiviert die Tränendrüsen und wirkt im allge-
meinen beruhigend und kathartisch. Charakteristischerweise ist das Lachen eine Entla-
dung des sympathischen, das Weinen eine des parasympathischen Systems.
Beide Äste des autonomen Nervensystems werden vom limbischen Gehirn (dem Hy-
pothalamus und den umliegenden Strukturen) kontrolliert. Verschiedene Autoren haben
ihre Funktionen unter Verwendung verschiedener Termini beschrieben. Allport199
schrieb die wohltuenden Emotionen dem parasympathischen, die unerfreulichen dem
sympathischen System zu. Olds200 unterscheidet zwischen »positiven« und »negativen«
emotiven Systemen, die von parasympathischen beziehungsweise von sympathischen
Zentren im Hypothalamus aktiviert werden. Von einem ganz anderen Standpunkt aus
kommt Hebb ebenfalls zu dem Schluß, man müsse zwischen zwei Kategorien von
Emotionen unterscheiden, »denjenigen, bei denen die Tendenz besteht, die ursprüngli-
che Reizsituation aufrechtzuerhalten oder sogar noch zu verstärken (wohltuende oder
integrative Emotionen)«, und »denjenigen, bei denen die Tendenz besteht, den ur-
sprünglichen Reizfaktor zu eliminieren oder zumindest abzuschwächen (Wut, Furcht,
Ekel)«.201 Pribram traf eine ähnliche Unterscheidung zwischen »präparatorischen« (ab-

196
wehrenden) und »partizipatorischen« Emotionen.202 Heß und Gellhorn unterscheiden
zwischen einem ergotropen (energiekonsumierenden) System, das vom Sympathicus
kontrolliert wird und bedrohliche Reizfaktoren abwehrt, und einem trophotropen (ener-
giekonservierenden) System, das vom Parasympathicus kontrolliert wird und auf fried-
liche oder wohltuende Reizfaktoren reagiert.203 Gellhorn hat die emotionalen Wirkun-
gen von zwei verschiedenen Typen von Drogen untersucht: die Aufputschungsmittel
wie Benzedrin und die Beruhigungsmittel wie Chlorpromazin. Erstere aktivieren den
Sympathicus, letztere den Parasympathicus. In kleinen Dosen verabreicht, verursachen
die Beruhigungsmittel »eine geringfügige Verlagerung des hypothalamischen Gleich-
gewichts nach der parasympathischen Seite hin, und das führt zur Beruhigung, zu Zu-
friedenheit, einem Zustand, der anscheinend der Phase vor dem Einschlafen ähnelt; grö-
ßere Anschläge führen jedoch zu depressiver Stimmung«.204 Die Amphetamine von der
Art des Benzedrins dagegen aktivieren den Sympathicus; bei Tieren lösen sie verstärkte
Aggressivität aus, beim Menschen in kleinen Dosen einen Zustand des Hellwachseins
und der Euphorie, in größeren Dosen Übererregung und manisches Verhalten. Cobb hat
den Gegensatz pointiert formuliert: »Wut ist die am stärksten adrenergische, Liebe die
am stärksten cholinergische, [typisch parasympathische] Reaktion.«205
Aus dieser kurzen Übersicht ergibt sich in erster Linie, daß unter den Autoritäten auf
diesem Gebiet die allgemeine Tendenz vorherrscht, zwischen zwei Grundkategorien von
Emotionen zu unterscheiden – obwohl ihre Definitionen der Kategorien voneinander
abweichen und mit dem Lust-Unlust-Faktor durcheinandergebracht werden (der nach
unserer Theorie eine unabhängige Variable beider Kategorien ist; siehe Seite 150 ff.).
Zweitens merkt man allgemein das Gefühl, daß die beiden Kategorien von Emotionen
»irgendwie« mit den beiden Ästen des autonomen Nervensystems koordiniert werden.
Aber diese Koordination ist weder einfach noch klar. So ist zum Beispiel nach MacLean
»die Erektion ein parasympathisches Phänomen, während die Ejakulation von sympa-
thischen Mechanismen abhängig ist«.206 Überdies kann eine starke parasympathische
Stimulierung Übelkeit und Erbrechen verursachen, die man trotz ihres kathartischen Ef-
fekts (eine »Reinigung« im buchstäblichen Sinn des Wortes) kaum als einen Akt der
psychologischen Selbsttranszendenz bezeichnen kann. Mit einem Wort, das Funktionie-
ren des autonomen Nervensystems ist einer der faszinierendsten und zugleich kompli-
ziertesten Aspekte im emotionalen Leben des Menschen; und man muß ehrlich zugeben,
daß zwar reichhaltiges Beweismaterial dafür vorliegt, daß die selbstbehauptenden Emo-
tionen durch den sympathicoadrenalen Apparat vermittelt werden, daß es jedoch kein
schlüssiges Beweismaterial für die hier vorgeschlagene symmetrische Korrelation gibt.
Beweismaterial dieser Art kann nur dann zutage treten, wenn menschliche Emotionen
außerhalb der Kategorie Hunger-Wut-Furcht von der experimentellen Psychologie als
ein würdiges Forschungsobjekt anerkannt werden – und das ist im Augenblick noch
nicht der Fall. Dem Zeitgeist entsprechend, sind die selbsttranszendierenden Emotionen
– trotz ihrer offensichtlichen Realität – immer noch die Stiefkinder der Psychologie. So
ist das Weinen ein durchaus beobachtbares Verhaltensphänomen (der Behaviorist
könnte sogar die Quantität der Tränenabsonderung in Milligramm pro Sekunde mes-
sen), es wird jedoch in der psychologischen Literatur fast vollständig ignoriert.*
* Eine ausführliche Erörterung dieses Themas sowie eine Bibliographie des Weinens findet sich in Kapi-
tel 12 bis 14 und Seite 725 ff. von THE ACT OF CREATION.
Einige zusätzliche Fakten über das autonome Nervensystem müssen noch der Vollstän-
digkeit halber erwähnt werden. Bei stark affektiven oder pathologischen Zuständen
kann die normalerweise antagonistische (das heißt equilibrierende) Aktion der beiden
Systeme außer Kraft gesetzt werden; statt dessen verstärken sie einander, wie etwa beim
Geschlechtsakt; oder die Übererregung des einen führt zu einem zeitweiligen »Rück-
stoß« des anderen207 schließlich kann auch der Parasympathicus als Katalysator wirken,
der seinen Gegenpart aktiviert.208

197
Die erste von diesen drei Möglichkeiten entspricht unserem emotionalen Zustand beim
Anhören rhapsodisch gefärbter Musik, wie etwa einer Wagner-Oper: Hier scheint sich
Entspannung paradoxerweise mit einem euphorischen Erregungszustand zu verbinden.
Die zweite Möglichkeit spiegelt sich im Phänomen des »emotionalen Katers« wider.
Die dritte Möglichkeit besitzt für unser Thema die größte Relevanz: sie zeigt in kon-
kreter physiologischer Form, wie eine Art von emotionaler Reaktion als Vermittler für
die entgegengesetzte Reaktion wirken kann – wie die selbsttranszendierende Identifizie-
rung mit dem Helden auf dem Bildschirm eine stellvertretende Aggressivität gegen den
Schurken auslöst oder die Identifizierung mit einer Gruppe oder mit einem Glauben den
brutalen Fanatismus des Massenverhaltens. Die Rationalisierungen dafür steuert das
sprachbegabte Neuhirn bei; die Affektladung stammt aus dem Althirn und wird durch
das autonome Nervensystem dem viszeralen und dem glandulären Bereich übermittelt.
Wir haben also hier einen weiteren Punkt, wo sich die neurophysiologische Forschung
mit der Psychologie zu verschmelzen beginnt und uns neue Anhaltspunkte liefert, die
eines Tages vielleicht zu einem Ausweg aus dem Dilemma des Menschen führen könn-
ten.

16.10 Zusammenfassung
Die Evolution der Arthropoden und der Marsupialier lehrt uns, daß Fehler bei der Ge-
hirnbildung tatsächlich vorkommen. Die Strategie der Evolution ist dem Prinzip von
Versuch und Irrtum unterworfen, und die Annahme scheint durchaus nicht zu unwahr-
scheinlich, daß sich die Evolution im Verlauf des explosiven Wachstums des menschli-
chen Neocortex einmal mehr geirrt hat. Die Papez-MacLean-Theorie deutet in starkem
Maße darauf hin, daß in der Funktionsweise des phylogenetisch älteren und des phylo-
genetisch neuen Cortex eine erhebliche Dissonanz besteht und daß diese Schizophysio-
logie in unsere Spezies sozusagen eingebaut ist. Daraus würde sich eine physiologische
Basis für die Erkenntnis der paranoischen Strähne ergeben, die in der Geschichte der
Menschheit beobachtbar ist, und würde uns Fingerzeige für die Suche nach einem
Heilmittel liefern.

198
17 Eine einzigartige Spezies
Ich muß zwangsläufig zu dem Schluß kommen,
daß die Mehrzahl eurer Eingeborenen
zur verruchtesten Rasse von widerlichem kleinem Ungeziefer gehört,
die jemals über die Oberfläche dieser Erde kriechen durfte.
Swift: DIE REISE NACH BROBDINGNAG

17.1 Die unerbetene Gabe


In einem seiner Essays209 stellte Sir Julian Huxley eine Liste derjenigen Eigenschaften
zusammen, die man allein bei der Spezies Mensch finden kann: Sprache und begriffli-
ches Denken; Vererbung des Wissens durch die Schrift; Werkzeuge und Maschinen;
biologische Vorherrschaft über alle anderen Arten; individuelle Verschiedenheit; die
ausschließliche Benutzung der Vordergliedmaßen zu Manipulationszwecken; die das
ganze Jahr hindurch anhaltende Fruchtbarkeit; Kunst, Humor, Wissenschaft, Religion
und so weiter. Das vom Standpunkt des Evolutionstheoretikers aus gesehen verblüf-
fendste Merkmal beim Menschen ist jedoch in dieser Liste nicht enthalten – und es ist
mir nicht bekannt, daß es von Biologen jemals ernsthaft erörtert wurde.
Man könnte es als das »Paradoxon der unerbetenen Gabe« bezeichnen; ich will versu-
chen, es mit Hilfe einer Parabel zu verdeutlichen.
In einem arabischen Basar lebte einmal ein Ladenbesitzer namens Ali; er
konnte nicht sehr gut rechnen und wurde daher von seinen Kunden stän-
dig bemogelt – anstatt daß er sie bemogelte, wie sich das gehört. Also betete
er jeden Abend zu Allah, er möge ihm einen Abakus schenken, jenen alt-
ehrwürdigen Apparat, mit dem man addiert und subtrahiert, indem man
kleine Kugeln an Drahtstäben entlangschiebt. Aber ein boshafter Dschinn
leitete sein Gebet an die falsche Dienststelle der himmlischen Postversand-
abteilung, und als Ali eines Morgens im Basar eintraf, mußte er zu seinem
Erstaunen feststellen, daß sein Laden sich in ein vielstöckiges, modernes
Bürogebäude verwandelt hatte, in welchem das jüngste Computermodell
installiert war: Schalttafeln und Armaturenbretter bedeckten alle Wände,
mit Tausenden von fluoreszierenden Oszillatoren, Schaltern, Hebeln, Ska-
lenscheiben und dergleichen; es gab auch ein mehrere hundert Seiten
starkes Handbuch mit Bedienungsanweisungen, das Ali, der Analphabet
war, natürlich nicht lesen konnte. Nachdem er mehrere Tage lang vergeb-
lich an diesem oder jenem Knopf herumgefummelt hatte, geriet er schließ-
lich in Wut und gab einem der glitzernden, eleganten Armaturenbretter ei-
nen Fußtritt. Der Schock setzte eines der Millionen elektronischen Schalt-
systeme der Maschine in Aktion, und nach einer Weile entdeckte Ali zu
seinem freudigen Erstaunen, daß, wenn er zunächst dreimal und hernach
noch fünfmal gegen das Armaturenbrett trat, eine der Skalenscheiben tat-
sächlich die Zahl 8 anzeigte! Er dankte Allah auf den Knien für den präch-
tigen Abakus und benutzte die Maschine bis an sein Lebensende, um drei
plus zwei oder vier plus fünf zu addieren – ohne zu ahnen, daß der Com-
puter fähig war, Einsteins Gleichungen im Handumdrehen abzuleiten oder
die Bahnen von Planeten für Tausende von Jahren vorauszuberechnen.
Alis Kinder und Enkelkinder erbten die Maschine und auch das Geheim-
nis, wie man immer nach demselben Armaturenbrett tritt; aber es brauchte
Hunderte von Generationen, ehe sie endlich daraufkamen, wie man die
Maschine wenigstens für einfache Multiplikationsaufgaben benutzen
konnte. Wir selbst sind Alis Nachkommen: zwar haben wir inzwischen noch
eine Reihe anderer Verwendungsarten für die Maschine erlernt, aber trotz-
dem sind wir nur fähig, einen winzigen Bruchteil des Potentials ihrer
schätzungsweise hundert Milliarden Stromkreise zu nutzen. Denn mit der

199
unerbetenen Gabe ist natürlich das menschliche Gehirn gemeint. Was das
Handbuch mit den Bedienungsanweisungen betrifft, so ging es verloren –
falls es überhaupt jemals existierte. Platon behauptet zwar, es habe einmal
existiert, aber das ist offenbar nur ein Gerücht.
Der Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt, wie es den Anschein haben könnte. Wel-
che treibende Kraft auch immer hinter der Evolution stehen mag, sie konzentriert sich
stets auf die unmittelbaren adaptiven Bedürfnisse einer Spezies; und das Auftauchen
von Neuerungen in der anatomischen Struktur und Funktionsweise wird im großen gan-
zen von diesen Bedürfnissen gesteuert. Es ist völlig beispiellos, daß die Evolution einer
Spezies ein Organ zukommen läßt, mit dem diese Spezies nichts anzufangen weiß: ein
Luxusorgan (wie Alis Computer), das die unmittelbaren, primitiven Bedürfnisse seines
Eigentümers himmelweit überschreitet; ein Organ, bei dem die Spezies Jahrtausende
benötigen wird, um seine richtige Nutzung zu erlernen, sofern ihr das überhaupt jemals
gelingt.
Alles spricht dafür, daß der früheste Repräsentant des homo sapiens – der Cro-Magnon-
Mensch, der vor etwa fünfzig- bis hunderttausend Jahren die Szene betrat – bereits ein
Gehirn besaß, das nach Größe und Form dem unseren entsprach. Er machte davon aber
kaum Gebrauch, er blieb stets ein Höhlenbewohner und entwuchs niemals dem Stein-
zeitalter. Vom Standpunkt seiner unmittelbaren Bedürfnisse aus betrachtet, schoß das
explosive Wachstum des Neocortex weit über das Ziel hinaus – mit einem Zeitfaktor
von beinahe astronomischer Größe. Zehntausende von Jahren lang bastelten unsere Vor-
fahren ihre Bogen, Pfeile und Speere zusammen, während das Organ, das uns morgen
zum Mond bringen wird, bereits gebrauchsfertig in ihren Schädeln eingebettet war.
Wenn wir sagen, die geistige Evolution ist ein spezifisches Charakteristikum des Men-
schen und sie fehle bei den Tieren, so verwechseln wir Ursache und Wirkung. Die Lern-
fähigkeit ist bei Tieren automatisch durch die Tatsache begrenzt, daß sie bereits vollen –
oder doch zumindest nahezu vollen – Gebrauch von allen Organen machen, mit denen
die Natur sie ausgestattet hat, einschließlich des Gehirns. Die Kapazität des Computers
im Schädel der Reptilien und der Säugetiere wird voll ausgenutzt und läßt keinen Spiel-
raum für weitere Lernprozesse. Die Evolution des menschlichen Gehirns ist jedoch so
weit über das Ziel – die unmittelbaren Bedürfnisse des Menschen – hinausgeschossen,
daß er immer noch atemlos versucht, seine bisher unerschlossenen, unerforschten Mög-
lichkeiten zu nützen. Die Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie besteht, von
diesem Gesichtspunkt aus gesehen, in dem schleppenden Prozeß der allmählichen Akti-
vierung des im Gehirn bereits vorhandenen Potentials. Die neuen Territorien, die noch
auf ihre Eroberung warten, liegen in den Windungen der Großhirnrinde.

17.2 In tiefster Finsternis ...


Warum aber vollzog sich dieser Prozeß, zu lernen, wie man von unserem Gehirn Ge-
brauch macht, so langsam, so sprunghaft und so voller Rückschläge? Das ist der sprin-
gende Punkt dieses Problems. Die Antwort lautet, wie bereits angedeutet: die Koordi-
nation zwischen dem alten und dem neuen Gehirn ist unzureichend, das alte Gehirn
kommt dem neuen stets in die Quere; das leidenschaftliche Wiehern affektgeladener
Glaubensvorstellungen hindert uns daran, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Nicht
nur die Weltgeschichte im allgemeinen, auch der Fortschritt der »leidenschaftslosen«
Wissenschaft hat unter dem gleichen Fluch gelitten. Wir haben die naive Angewohn-
heit, diesen Fortschritt als einen stetigen, kumulativen Prozeß anzusehen, bei dem jede
Epoche dem Wissen der vergangenen Epochen einen neuen Baustein hinzufügt und bei
dem jede Generation von Alis Nachkommen lernt, einen immer besseren Gebrauch von
Allahs unerbetener Gabe zu machen.
In Wirklichkeit jedoch war dieser Prozeß weder stetig noch kontinuierlich:

200
Die Naturphilosophie entwickelte sich durch gelegentliche Sprünge
und Sätze, die mit Wahnvorstellungen, Sackgassen, Rückschritten,
mit Zeiten der Blindheit und der Verbohrtheit abwechselten. Die gro-
ßen Entdeckungen, die den Lauf bestimmten, waren manchmal völlig
unerwartete Trophäen der Jagd nach ganz anderen Hasen. Zuzeiten
wiederum bestand der Prozeß des Entdeckens im wesentlichen darin,
den alten Schutt aus dem Weg zu räumen, der ihn versperrte, oder
die längst vorhandenen, aber falsch zusammengesetzten empirischen
Bausteine neu zu ordnen. Das irrsinnige Räderwerk der Epizykel
blieb durch zwei Jahrtausende in Gang, und Europa verstand im 15.
Jahrhundert weniger von der Geometrie als zu Archimedes’ Zeiten.
Würde es sich um einen kontinuierlichen und organischen Fort-
schritt handeln, dann hätte, um ein Beispiel zu geben, fast alles, was
wir über die Zahlentheorie oder die analytische Geometrie wissen, in
ein paar Generationen nach Euklid entdeckt werden müssen. Denn
diese Entwicklung hing nicht von technischen Fortschritten oder von
der Bändigung der Natur ab: die gesamte Mathematik ist potentiell
in den zehn Milliarden Neuronen der Rechenmaschine im menschli-
chen Gehirnkasten enthalten und war darin schon an die hundert-
tausend Jahre enthalten, da man annimmt, das Gehirn habe sich in
dieser Zeitspanne anatomisch nicht mehr verändert. Das sprung-
hafte und irrationale Fortschreiten des Wissens hängt wahrschein-
lich mit der Tatsache zusammen, daß die Evolution den homo sa-
piens mit einem Organ ausgestattet hat, das er nicht richtig zu ver-
wenden vermag. Nach Schätzungen von Neurologen benutzen wir
auch in der derzeitigen Etappe bloß zwei bis drei Prozent der potenti-
ellen Möglichkeiten seiner eingebauten »Stromkreise«.210
Betrachtet man die Geschichte der Wissenschaft aus einer Art Vogelperspektive, dann
ist man zunächst von ihrer Diskontinuität überrascht. Über Zehntausende von Jahren
menschlicher Vorgeschichte wissen wir kaum etwas. Dann, im sechsten vorchristlichen
Jahrhundert, begegnen wir urplötzlich in Milet, in Elea und in Samos einer Galaxis von
Philosophen, die die Ursprünge und die Evolution des Universums erörtert und nach
den elementaren Prinzipien forscht, die aller Vielgestaltigkeit zugrunde liegen. Die Py-
thagoräer unternahmen als erste den Versuch einer großangelegten Synthese: sie ver-
suchten, aus den getrennten Fäden der Mathematik, der Musik, der Astronomie und der
Medizin einen Teppich mit streng geometrischem Muster zu weben. An diesem Teppich
weben wir heute noch immer, aber sein Muster wurde bereits in den drei Jahrhunderten
des heroischen Zeitalters der griechischen Wissenschaft festgelegt. Doch nach der ma-
zedonischen Eroberung kam eine Periode der Orthodoxie und des Niedergangs.
Die Kategorien des Aristoteles wurden zur Grammatik der Existenz, seine animistischen
Geister beherrschten die Welt der Physik, man glaubte, alles zu wissen, was es zu wis-
sen gab, alles erfunden zu haben, was des Erfindens wert war. Hatte sich das heroische
Zeitalter vom Beispiel des Prometheus, der den Göttern das Feuer entwendete, leiten
lassen, so zogen sich die Philosophen der hellenistischen Epoche in Platons Höhle zu-
rück, bemalten die Wände mit Epizykeln und kehrten dem Tageslicht der Realität den
Rücken.
Danach versank die Welt des Geistes in eine Art Winterschlaf, und eineinhalb Jahrtau-
sende lang standen die Räder des wissenschaftlichen Fortschritts still – ja sie begannen
sich sogar in umgekehrter Richtung zu drehen. »Wissenschaft kann sich nicht nach
rückwärts wenden – wenn das Neutron einmal entdeckt ist, bleibt es entdeckt«, schrieb
Dr. Pyke,211 ein zeitgenössischer Wissenschaftstheoretiker. »Sollte das wirklich stim-
men? Im fünften vorchristlichen Jahrhundert wußten die gebildeten Schichten, daß die

201
Erde eine Kugel ist, die sich um ihre eigene Achse dreht und im Raum schwebt; tausend
Jahre später hielt man sie für eine flache Scheibe.«212
Aus Sankt Augustinus’ DE CIVITATE DEI, dem »Gottesstaat«, waren alle Schätze, die
uns die alten Griechen an Wissen, Schönheit und Hoffnung hinterlassen haben, ver-
bannt, denn alles heidnische Wissen war »befleckt vom Einfluß obszöner und unflätiger
Teufel. Laßt Thales ziehen mit seinem Wasser, Anaximenes samt seiner Luft, die Stoi-
ker samt ihrem Feuer und Epikur samt seinen Atomen ...« Und sie zogen davon. Das
Spielen mit der unerbetenen Gabe blieb jahrhundertelang verboten. Dann kam im
zwölften Jahrhundert die Wiederentdeckung des Archimedes und des Aristoteles, ge-
folgt von drei weiteren Jahrhunderten der scholastischen Philosophie der Sterilität und
Stagnation. »Sie suchen«, rief Erasmus verzweifelt aus, »in tiefster Finsternis nach et-
was, was überhaupt keine Existenz hat.«
Die einzigen Perioden in der gesamten Geschichte der westlichen Welt, in deren Ver-
lauf es wirklich ein kumulatives Wachstum des Wissens gab, waren die drei großen
Jahrhunderte Griechenlands und die drei Jahrhunderte, die dem unsrigen vorausgingen.
Und dennoch war der Apparat zur Erzeugung dieses Wissens die ganzen zwei Jahrtau-
sende, die dazwischenliegen, immerzu da – und auch in den etwa dreißig Jahrtausenden,
die uns von Lascaux und Altamira trennen. Aber er durfte nicht gebraucht werden. Die
affektgeladenen Phantasmagorien von Totem und Tabu, von Dogma und Doktrin, von
Schuld und Angst vertrieben immer von neuem die »unflätigen Teufel« des Wissens.
Während des überwiegenden Zeitraums der Menschheitsgeschichte durfte sich das
wundervolle im Neocortex angelegte Potential nur im Dienst althergebrachter Glau-
bensvorstellungen entfalten: im Dienste der Magie, in den Höhlenmalereien der Dordo-
gne; in der Übertragung archetypischer Vorstellungsbilder in die Sprache der Mytholo-
gie; in der religiösen Kunst Asiens und des europäischen Mittelalters. Die Rolle der
Vernunft bestand darin, Dienerin des Glaubens zu sein – ganz gleich, ob es sich dabei
um den Glauben von Medizinmännern handelte oder um den von Theologen, Scholasti-
kern, dialektischen Materialisten, Anhängern Mao Tse-tungs oder des Königs Mbo-
Mba. »Die Schuld, teurer Brutus, liegt nicht bei den Sternen«; sie stammt von dem Kro-
kodil und dem Pferd her, die wir in unseren Schädeln mit uns herumtragen. Von allen
einzigartigen Zügen des Menschen scheint dieser der hervorstechendste zu sein.

17.3 Der friedliche Primat


Charakteristisch für den rührenden Optimismus der konventionellen Biologen erscheint
die Tatsache, daß Huxleys Liste ausschließlich positive und wünschenswerte Eigen-
schaften enthält. Jene andere furchtbare Einzigartigkeit unserer Spezies, die intraspezifi-
sche Kriegführung,* wird nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Aber in einem ande-
ren Essay des gleichen Bandes, KRIEG ALS BIOLOGISCHES PHÄNOMEN, weist Huxley
darauf hin, »daß es nur zwei Arten von Lebewesen gibt, die häufig untereinander Krieg
führen – Menschen und Ameisen. Doch selbst bei den Ameisen wird die Kriegführung
hauptsächlich von einer bestimmten Gruppe praktiziert, zu der nur wenige der mehr als
zehntausend Arten gehören, die die Wissenschaft kennt«.213
* Das heißt Kriegführung innerhalb der gleidien Spezies, im Gegensatz zum interspezifischen Kampf bei
der Verfolgung eines Beutetiers, das einer anderen Art angehört.
In Wirklichkeit praktizieren auch die Ratten die Kriegführung zwischen Gruppen oder
Sippen. Die Mitglieder einer Rattensippe wie die des Insektenstaates »kennen« einander
nicht als Einzelindividuen, sondern nur auf Grund des charakteristischen Geruchs ihres
gemeinsamen Nestes beziehungsweise Stocks. Der Fremdling, der zwar zur gleichen
Spezies gehört, aber Mitglied einer fremden Sippe ist, wird sofort an seinem andersarti-
gen Geruch erkannt – er »stinkt«. Er wird wütend angegriffen und nach Möglichkeit
getötet.

202
Aber die Menschen und die Ratten sind Ausnahmen. In der Regel finden wir im ge-
samten Tierreich tödliche Kämpfe nur zwischen Raubtier und Beute. Das Gesetz des
Dschungels sanktioniert nur ein legitimes Motiv für die Tötung: den Ernährungstrieb;
und dabei muß das Beutetier einer anderen Spezies angehören. Innerhalb der gleichen
Spezies verhindern starke Instinktsicherungen einen ernsthaften Kampf zwischen Indi-
viduen oder Gruppen. Diese Hemmungsmechanismen oder Instinkttabus gegen die Tö-
tung oder ernsthafte Verletzung von Artgenossen sind bei den meisten Tierarten ebenso
stark ausgeprägt wie die elementaren Triebe. Die unerläßlich notwendigen selbstbe-
hauptenden Tendenzen bei den höheren sozialen Tieren werden auf diese Weise durch
Hemmungsmechanismen kompensiert, die den Kampf zwischen Rivalen zu einem mehr
oder minder symbolischen Duell machen, das nach formalen Regeln durchgeführt wird
wie eine Stellungsmensur und kaum je zu einer ernsthaften Verletzung führt. Das Duell
wird durch eine spezifische Kapitulationsgeste des Schwächeren beendet – der Hund
wirft sich auf den Rücken und exponiert Bauch und Kehle, der besiegte Hirsch schleicht
sich von dannen. Auch die Verteidigung des Reviers wird fast immer ohne Blutvergie-
ßen gesichert, durch streng ritualisierte Drohgesten, Scheinangriffe und dergleichen.
Schließlich wird auch die Rangordnung bei frei lebenden Tiersozietäten, von den Vö-
geln bis zu den Affen, mit einem Minimum an Gewalttätigkeit oder Drangsalierung eta-
bliert und aufrechterhalten.
Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben Feldbeobachtungen von frei lebenden Af-
fensozietäten unsere früheren Vorstellungen von der Mentalität unserer Ahnen vollstän-
dig ins Gegenteil verkehrt. Die früheren Studien – wie zum Beispiel die von Solly Zuk-
kerman in den späten 1920er Jahren – basierten auf dem Verhalten von Affen, die unter
unnatürlichen, beengten Verhältnissen in zoologischen Gärten lebten. Diese Beobach-
tungen erbrachten wichtige psychologische Erkenntnisse, aber nur in dem Sinn, in wel-
chem Studien menschlicher Verhaltensweisen in Gefängnissen und Konzentrationsla-
gern aufschlußreich sind. Sie zeigen, daß die Mitglieder neurotischer Gemeinschaften,
die abnormen Belastungen ausgesetzt wurden, gelangweilt und reizbar sind, ständig
miteinander streiten, geschlechtlich überaktiv werden und leicht in den Bann tyranni-
scher und gelegentlich auch mörderischer »Führer« geraten. Auf Grund solcher Ein-
drücke mußte man sich eigentlich fragen, wie frei lebende Affensozietäten denn über-
haupt existieren konnten.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat jedoch eine neue Generation von Tierforschern, deren
Feldbeobachtungen sich häufig über viele Jahre erstreckten, unsere bisherigen Vorstel-
lungen auf dramatische Weise auf den Kopf gestellt. W. M. S. Russell hat das Ergebnis
folgendermaßen zusammengefaßt:
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Studium von frei lebenden Affen
plötzlich zur Mode geworden. Die Berichte dieser Beobachter kom-
men zu einem übereinstimmenden Ergebnis. Carpenter ... berichtete,
daß Kämpfe bei in Freiheit lebenden Gibbons sehr selten sind und
daß sie bei Brüllaffen praktisch überhaupt nicht vorkommen. Bei
nur einer einzigen von sieben Horden von ostafrikanischen Pavianen
haben Washburn und Devore Zeichen von Gewalttätigkeit innerhalb
der Horde beobachtet; Kämpfe zwischen einzelnen Horden fanden
überhaupt nicht statt. Southwick nahm das Studium frei lebender
Brüllaffen in den fünfziger Jahren auf, und er konnte niemals einen
Kampf registrieren, weder innerhalb einer Horde noch zwischen zwei
Horden. Jay berichtet in ähnlicher Weise über frei lebende Horden
von Schlankaffen und Imanishi über japanische Affen. Goodall
konnte bei in Freiheit lebenden Schimpansen kaum Anzeichen für
irgendwelche Kämpfe entdecken, und auch Hall gelang das gleiche
nicht bei frei lebenden Horden der gleichen Baboonart, die Zucker-

203
man im zoologischen Garten studiert hatte. Emlen und Schaller ent-
deckten bei Gorillahorden nicht die leiseste Spur von Aggressivität
innerhalb der Horde, und auch die Beziehungen der einzelnen Hor-
den zueinander waren so freundschaftlich, daß zwei Horden, die ir-
gendwo zusammenstießen, sich zu einem gemeinsamen Nachtlager
niederließen; einzelne Tiere konnten als Gäste eine andere Horde
aufsuchen und sich bei ihr so lange aufhalten, wie es ihnen gefiel.
Diese übereinstimmenden Berichte sind im Grunde noch weit ein-
drucksvoller, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag,
denn viele der Tierbeobachter hatten das genaue Gegenteil erwartet.
Die früheren Berichte über Studien in den zoologischen Gärten hat-
ten einen so tiefen Eindruck hinterlassen, daß jeder der Tierbeob-
achter in freier Wildbahn zunächst annahm, bei seiner Spezies
handle es sich um eine ungewöhnliche Ausnahme ... Es zeigt sich
jetzt, daß sie alle einem Irrtum erlegen waren, denn alle frei lebenden
Affenarten sind friedlich ... Eine gesunde frei lebende Primatenso-
zietät zeigt keine Spur von Kampftätigkeit, weder innerhalb einer
Horde noch zwischen einzelnen Horden. Es steht nunmehr unleug-
bar fest, daß Primaten ohne alle Gewaltakte leben können ... Ver-
gleicht man die Berichte über das Verhalten frei lebender Affen mit
denen in zoologischen Gärten, dann erkennt man, daß die Aggressi-
vität nicht eine angeborene Eigenschaft einzelner Individuen oder
einzelner Primatenspezies ist. Alle Primatenarten sind unter be-
stimmten Bedingungen friedlich, unter anderen Bedingungen ge-
walttätig. Gewalttätigkeit ist eine Eigenschaft von Sozietäten, die
schweren Belastungen ausgesetzt sind ...214
Welche Schlußfolgerung soll man nun aus dieser Verhaltensweise von Primaten ziehen?
Zuallererst wohl diese: Primaten (und alle anderen Säugetiere) lassen, wenn sie in Frei-
heit leben, auch nicht die geringsten Anzeichen dafür erkennen, daß sie so etwas wie
den Freudschen Zerstörungstrieb besitzen. Bei normalen Sozietäten von Pavianen und
Rhesusaffen werden die selbstbehauptenden Tendenzen des einzelnen Individuums
durch die integrativen Bande ausgeglichen, die es mit der Familie, dem »Führer« und
der Sippe verbinden. Zu aggressiven Akten kommt es nur dann, wenn Belastungen der
einen oder anderen Art dieses Gleichgewicht ins Wanken bringen.
All das stimmt durchaus mit den Schlußfolgerungen überein, zu denen wir in den vor-
hergehenden Kapiteln gekommen sind. Aber es ergeben sich daraus nur einige be-
grenzte und etwas triviale Anhaltspunkte für den Ursprung der menschlichen Problema-
tik. Daß Spannungen durch Nahrungsmittelknappheit, Übervölkerung, Naturkatastro-
phen und so weiter das soziale Gleichgewicht ins Wanken bringen und zu pathologi-
schen Verhaltensweisen führen, darüber sind wir uns alle einig. Das gleiche gilt für die
zooähnlichen Verhältnisse in Gefängnissen, den erzwungenen Müßiggang bei Arbeits-
losigkeit und für die im Wohlfahrtsstaat grassierende Langeweile. Diese Erscheinungen
pflegen Sozialpsychologen mit Vorliebe immer wieder in den Vordergrund zu rücken,
wenn sie die Gefahren des modernen Lebens in einer übervölkerten Megalopolis erör-
tern, und sie haben dabei natürlich vollkommen recht. Aber es handelt sich hier um mo-
derne Phänomene, die kaum irgendwelche Relevanz für den Kern des Problems besit-
zen: das Auftauchen jener einzigartigen, mörderischen Wahnvorstellungen bei unseren
prähistorischen Ahnen. Sie litten keinesfalls an Übervölkerung, und sie führten kein
Großstadtleben; mit anderen Worten, wir können die Schuld nicht auf Belastungen von
der Art abwälzen wie jene, denen in Gefangenschaft lebende Affen oder die zeitgenös-
sischen Einwohner von New York ausgesetzt sind. Wenn man sich von der spezifischen
Pathologie des 20. Jahrhunderts hypnotisieren läßt, dann engt man nur seinen Gesichts-

204
kreis ein und verstellt sich den Blick für das weit ältere, weit fundamentalere Problem,
vor das uns die chronische Barbarei der menschlichen Kulturen – sowohl der antiken als
auch der modernen – stellt. Wir sind so intensiv mit den sozialen Verheerungen be-
schäftigt, die die Bewohner zeitgenössischer Negerghettos in Amerika erleiden, daß wir
die Scheußlichkeiten der Geschichte Afrikas vergessen, als die Neger noch frei waren –
oder die Scheußlichkeiten der europäischen und asiatischen Geschichte. Die Schuld am
pathologischen Verhalten der Menschen auf die Umwelt abzuwälzen heißt dem wahren
Sachverhalt ausweichen. Klimatische Veränderungen und andere Umwelteinflüsse sind
natürlich ein wichtiger Faktor sowohl in der biologischen Evolution als auch in der
Menschheitsgeschichte; aber die meisten Kriege, Bürgerkriege und Massenmorde sind
auf andere Motive zurückzuführen.
Wo also sollen wir nun nach den Ursachen für den »Sündenfall« suchen – nach den Ur-
sachen für die einzigartige Eigenschaft unserer Spezies, intraspezifischen Totschlag al-
lein oder in Gruppen zu praktizieren?

17.4 Der harmlose Jäger


Es gab einmal eine Theorie, wonach sich der Sündenfall ereignet habe, als unsere Vor-
fahren aus Vegetariern zu Carnivoren, zu Fleischfressern, wurden. Sowohl Zoologen als
auch Anthropologen können darauf eine überzeugende Antwort geben. Der Zoologe
kann darauf hinweisen, daß die Jagd auf eine Beute, die einer anderen Spezies angehört,
ein biologischer Trieb ist, der sich ganz erheblich von der gegen Artgenossen gerichte-
ten Aggression unterscheidet. Ich möchte hier Konrad Lorenz zitieren:
Aber die inneren, verhaltensphysiologischen Beweggründe des Jägers
sind von denen des Kämpfers grundverschieden. Der Büffel, den der
Löwe niederschlägt, ruft dessen Aggression sowenig hervor, wie der
schöne Truthahn, den ich soeben voll Wohlgefallen in der Speise-
kammer hängen sah, die meine erregt. Schon in den Ausdrucksbe-
wegungen ist die Verschiedenheit der inneren Antriebe deutlich ab-
zulesen. Der Hund, der sich voll Jagdpassion auf einen Hasen stürzt,
macht dabei genau dasselbe gespannt-freudige Gesicht, mit dem er
seinen Herrn begrüßt oder ersehnten Ereignissen entgegensieht.
Auch dem Gesicht des Löwen kann man, wie aus vielen ausgezeich-
neten Photographien zu entnehmen ist, im dramatischen Augenblick
vor dem Sprunge ganz eindeutig ansehen, daß er keineswegs böse
ist: Knurren, Ohrenzurücklegen und andere vom Kampfverhalten her
bekannte Ausdrucksbewegungen sieht man von jagenden Raubtieren
nur, wenn sie sich vor einer wehrhaften Beute fürchten – und selbst
dann nur in Andeutungen.215
Die Russells kommen zu dem gleichen Schluß:
Aus dem Verhalten der Säugetiere kann man sicherlich nicht den
Schluß ziehen, daß bei den Carnivoren die Aggressivität größer oder
intensiver ist als bei den Herbivoren.
Und im Hinblick auf den Menschen:
Nichts spricht dafür, daß Gewalttätigkeit im sozialen Bereich in den
carnivoren Jägerkulturen stärker ausgeprägt oder intensiver gewesen
ist als in den vegetarischen Ackerbaukulturen. Gewiß, gelegentlich
haben sich Jägerkulturen extrem kriegerisch gebärdet – aber es gibt
anderseits keine einzige menschliche Gruppe, die friedlichere Ge-
meinschaften hervorgebracht hat als die Eskimos, die stets carnivore

205
Jäger gewesen sind, und das vermutlich bereits seit dem Paläolithi-
kum.216
Dagegen waren die Samurai strenge Vegetarier; das gleiche gilt auch für die Hindus, die
ihre mohammedanischen Brüder massakrierten, wann immer sie dazu Gelegenheit hat-
ten. Es war also nicht der Verzehr von Rentiersteaks, der zum »Sündenfall« geführt hat.
Konrad Lorenz, den ich eben zitiert habe, schlägt eine besser fundierte Theorie vor. Der
folgende Auszug gibt den Kern seiner Gedankengänge wieder:
Wir haben in dem Kapitel über moralanaloges Verhalten von den
Hemmungsmechanismen gehört, die bei verschiedenen sozialen Tie-
ren die Aggression zügeln und ein Beschädigen und Töten von Artge-
nossen verhindern. Wie gesagt, sind diese natürlicherweise bei sol-
chen Tieren am wichtigsten und daher auch am höchsten ausgebil-
det, die imstande sind, ungefähr gleich große Lebewesen ohne weite-
res umzubringen. Ein Kolkrabe kann einem anderen mit einem
Schnabelhieb das Auge aushacken, ein Wolf einem anderen mit ei-
nem einzigen Zuschnappen die Halsvenen aufreißen. Es gäbe längst
keine Raben und keine Wölfe mehr, wenn nicht verläßliche Hem-
mungen solches verhinderten. Eine Taube, ein Hase und selbst ein
Schimpanse sind nicht imstande, durch einen einzigen Schlag oder
Biß ihresgleichen zu töten ... In freier Wildbahn besteht also für ge-
wöhnlich gar nicht die Möglichkeit, daß ein solches Tier ein gleichar-
tiges wesentlich beschädigt. So ist auch kein Selektionsdruck wirk-
sam, der Tötungshemmungen herauszüchtet.
Man kann sich lebhaft vorstellen, was geschehen würde, wenn ein
nie dagewesenes Naturspiel jählings einer Taube den Schnabel eines
Kolkraben verleihen würde. Der Lage dieser Mißgeburt scheint die
des Menschen genau zu entsprechen, der eben den Gebrauch eines
scharfen Steines als Schlagwaffe erfunden hat. Man schaudert bei
dem Gedanken an ein Wesen von der Erregbarkeit und dem Jähzorn
eines Schimpansen, das einen Faustkeil in der Hand schwingt ... Der
uns mit dem Schimpansen gemeinsame Ahne ... hatte dieselben Tö-
tungshemmungen wie alle Tiere. Zu unserem Glück haben auch wir
die entsprechenden »tierischen« Instinkte mitbekommen. Aber wir
können ohne weiteres einsehen, daß sie versagen mußten, als die
Erfindung der ersten Waffe das bisher vorhandene Gleichgewicht
zwischen Tötungsfähigkeit und instinktmäßiger Tötungshemmung
störte.217
Man könnte natürlich verschiedene schwache Stellen in dieser Argumentation heraus-
picken, wie das die Kritiker von Lorenz’ Buch (zu denen auch ich gehöre)218 getan ha-
ben, aber trotzdem müßte man zugeben, daß sie einen wahren Kern enthält. Ohne uns in
technische Details zu verlieren, können wir Lorenz’ Argument dahingehend umformu-
lieren, daß mit Beginn der Herstellung von Waffen die Koordination von Instinkt und
Intellekt ins Wanken geriet. Die Erfindung von Waffen und Werkzeugen war eine
Schöpfung des Intellekts, des Neuhirns. Aber der Gebrauch, den man von diesen Waf-
fen machte, wurde motiviert von Instinkt und Affekt – also vom alten Gehirn. Diesem
alten Gehirn fehlten natürlich die Hemmungsmechanismen, die erforderlich gewesen
wären, um mit diesen neuen Waffen umzugehen. Worauf also Lorenz’ Argumentation
hinausläuft, ist einmal mehr die Feststellung: die Koordination zwischen den allzu rasch
gewachsenen neuen Strukturen und den älteren Strukturen des Nervensystems ist in je-
der Weise unzureichend.

206
Das Bewußtsein der Macht, das der Gebrauch von Speer und Bogen dem Jäger verleiht,
muß jedoch nicht zwangsläufig die Aggressivität gegenüber seinen Artgenossen erhö-
hen; es könnte sogar, wie das Beispiel der Eskimos und anderer Jägergemeinschaften
zeigt, die genau entgegengesetzte Wirkung erzielen. Was die rein selbstbehauptenden
Tendenzen des Individuums angeht, so ist in keiner Weise ersichtlich, warum der primi-
tive Mensch nicht gelernt haben sollte, die neue Macht, die ihm Speer und Bogen ver-
liehen, durch moralische Verantwortlichkeit zu kompensieren – durch ein Über-Ich, das
auf seine Art ebenso wirksam hätte sein können wie die Instinkthemmungen gegen das
Töten von Artgenossen bei anderen Lebewesen. Urteilt man nach dem anthropologi-
schen Beweismaterial, dann haben sich derartige Tabus tatsächlich entwickelt – aber das
Verbot beschränkte sich auf das Töten innerhalb der eigenen Sippe oder Gemeinschaft.
Auf sonstige Artgenossen bezog es sich nicht. Das Unheil stammt nicht von der indivi-
duellen Aggressivität, sondern von der Hingabe an eine engbegrenzte Sozialgruppe, mit
der sich das Individuum identifizierte und damit von allen anderen Sozialgruppen ab-
grenzte. Es ist der gleiche Vorgang, den wir vorher erörtert haben: die integrative Ten-
denz, in ihrer primitiven Form der Identifizierung, dient als Vermittler für die aggressi-
ven Selbstbehauptungstendenzen des sozialen Holons.
Anders ausgedrückt: beim Menschen sind die intraspezifischen Differenzen wichtiger
geworden als die intraspezifische Verwandtschaft, und die Tötungshemmung, die sich
bei anderen Lebewesen auf die gesamte Spezies bezieht, ist bei ihm nur innerhalb der
Gruppe wirksam. Bei der Ratte entscheidet der Geruch darüber, wer als Freund und wer
als Feind zu betrachten ist. Beim Menschen gibt es eine verhängnisvolle Vielzahl von
Kriterien, vom Territorialbesitz bis zu ethnischen, kulturellen, religiösen, ideologischen
Unterschieden, die darüber entscheiden, wer »stinkt« und wer »nicht stinkt«.

17.5 Der Fluch der Sprache


Es gibt weitere Faktoren, die zur Tragödie beitragen. Der erste besteht in der ungeheu-
ren Spannweite der intraspezifischen Unterschiede zwischen menschlichen Individuen,
Rassen und Kulturen; zu dieser Vielfältigkeit gibt es bei keiner anderen Spezies eine Pa-
rallele. In Huxleys Liste der biologischen »Einzigartigkeiten« des Menschen figuriert
dieser Reichtum an Variationen an erster Stelle. Wie er zustande gekommen ist, ist hier
für uns nicht von Belang; das entscheidende ist, daß diese Unterschiede und Gegensätze
einen machtvollen Faktor der gegenseitigen Abstoßung zwischen Sozialgruppen erge-
ben, so daß innerhalb unserer Spezies die Spaltungstendenzen stets stärker waren als
die Kohäsivkräfte. Um noch einmal Konrad Lorenz zu zitieren:
Es ist durchaus keine allzu gewagte Spekulation, wenn wir anneh-
men, daß die ersten echten Menschen, die wir aus der Vorgeschichte
kennen, etwa die von Cro-Magnon, ziemlich genau dieselben In-
stinkte, dieselben natürlichen Neigungen hatten wie wir selbst, und
weiters, daß sie sich im Aufbau ihrer Gemeinschaften und in zwi-
schengemeinschaftlichen Auseinandersetzungen nicht allzu ver-
schieden von gewissen heute noch lebenden Stämmen, etwa den Pa-
puas in Zentral-Neuguinea, verhielten. Bei diesen steht jede der win-
zigen Siedlungen mit der benachbarten in dauerndem Kriegszustan-
de und im Verhältnis eines milden gegenseitigen Kopfjagens; »milde«
ist hier im Sinne von Margaret Mead so zu verstehen, daß man nicht
organisierte Raubzüge zum Zwecke der Erwerbung der begehrten
Männerköpfe unternimmt, sondern nur gelegentlich, wenn man an
der Gebietsgrenze zufällig eine alte Frau oder ein paar Kinder trifft,
deren Köpfe »mitgehen heißt«.219

207
Die Leute aus der Nachbargemeinde erkannte man einfach nicht als Artgenossen an –
ebenso wie die Griechen den stammelnden Barbaren, die Kirche den Heiden und die
Nazis den »Untermenschen« den menschlichen Status aberkannten. A priori würde man
erwarten, daß die Anfänge des abstrahierenden, begrifflichen Denkens, seine Kommu-
nikation mit Hilfe der Sprache und seine Bewahrung durch schriftliche Aufzeichnungen
– der Beginn von Teilhard de Chardins Noo-Sphäre – diesen brudermordenden und spe-
zieszersetzenden Tendenzen entgegengewirkt hätten. In Wirklichkeit stellt das Klischee
von der einigenden Kraft der menschlichen Sprache nur die halbe Wahrheit dar, und
vielleicht nicht einmal das. In erster Linie muß man die triviale Tatsache betonen, daß
die Sprache zwar die Kommunikation innerhalb der Gruppe erleichtert, daß sie aber
gleichzeitig Kulturunterschiede kristallisiert und so die Barrieren zwischen verschiede-
nen Gruppen erhöht. Die Beobachtungen von Affensozietäten in freier Wildbahn, von
denen ich oben gesprochen habe, haben gezeigt, daß auch Affengruppen der gleichen
Spezies, die in verschiedenen Gegenden ansässig sind, die Tendenz zeigen, unter-
schiedliche Traditionen und »Kulturen« zu entwickeln – aber dieser Differenzierungs-
prozeß geht niemals so weit, daß es zu einem Konflikt kommt; hauptsächlich, so ver-
mutet man, weil die separativen Sprachbarrieren fehlen. Beim Menschen dagegen sind
die trennenden, gruppenentfremdenden Kräfte der Sprache auf allen Ebenen wirksam:
Nationen, Stämme, Regionaldialekte, Gesellschaftsklassen, Berufsjargons. Bei den zwei
Millionen Eingeborenen Neuguineas (die Margaret Mead in dem obigen Zitat erwähnt)
werden 750 verschiedene Sprachen gesprochen. Seit der Steinzeit hat das Symbol des
Turms zu Babel stets seine Gültigkeit behalten. Ist es nicht erstaunlich, daß in einer
Zeit, in der Radiowellen und Telstars die Gesamtbevölkerung unseres Planeten erfassen,
keine verantwortliche Körperschaft (sieht man von ein paar unentwegten Esperantisten
ab) die Initiative ergriffen hat, eine Universalsprache einzuführen? Im Gegenteil, in In-
dien gibt es Straßenschlachten um den Vorrang von Maharati oder Gujurati, in Belgien
um Flämisch oder Französisch,in Kanada um Französisch oder Englisch. Als eine emo-
tional kranke Spezies besitzen wir die unheimliche Gabe, jeden Segen, einschließlich
der Sprache, in einen Fluch zu verwandeln.
Die größte Gefahr, die von der Sprache ausgeht, wurzelt jedoch nicht in ihrer separati-
ven, sondern in ihrer magischen, hypnotischen und emotional beschwörenden Macht.
Wörter können dazu dienen, Gedanken zu kristallisieren, verschwommene Intuitionen
zu präzisieren. Sie können ebenso dazu dienen, irrationale Ängste und Begierden zu ra-
tionalisieren, dem üppigsten Aberglauben einen Anschein von Logik zu geben, den
Phantasmagorien und Wahnvorstellungen des Althirns akademische Respektabilität zu
verleihen. Schließlich können Wörter auch als Sprengladungen gebraucht werden, die
Kettenreaktionen der Massenpsychologie auslösen. Alis Computer kann ebensogut
Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT hervorsprudeln wie die heiseren Schreie eines
Hitler. Ohne die Sprache, mit deren Hilfe wir religiöse und ideologische Doktrinen, ge-
schlossene Glaubenssysteme, Schlagwörter und Manifeste formulieren, wären wir eben-
so unfähig, intraspezifische Kriege zu führen, wie die armen Schimpansen. So formen
sich die mannigfachen Gaben, die die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies ausma-
chen, zu einem tragischen Geflecht, dem überall das gleiche Muster zugrunde liegt – die
Schizophysiologie.

208
17.6 Die Entdeckung des Todes
Eines der dominierenden Motive in diesem Muster ist die Entdeckung des Todes – und
die Weigerung, ihn zu akzeptieren.
Diese Entdeckung ist das Werk des Neuhirns, die Weigerung sitzt im Althirn. Das in-
stinktive Verhalten nimmt das Dasein als etwas selbstverständlich Gegebenes hin und
verteidigt es mit Nägeln und Zähnen gegen alle Bedrohungen; es ist außerstande, sich
das Nichtsein vorzustellen. Diese Weigerung ist eines der Leitmotive der Geschichte,
das den Konflikt zwischen Glauben und Vernunft verewigt. In den ältesten primitiven
Kulturen, bei den australischen Eingeborenen des vergangenen Jahrhunderts, »starb
niemals jemand eines natürlichen Todes. Selbst der Tod eines Greises ist durch Hexerei
verursacht, und das gleiche gilt auch für alle anderen Mißgeschicke, die einem zusto-
ßen. Hatte ein Mensch einen tödlichen Sturz? Eine Hexe hat seinen Sturz verursacht. Ist
jemand von einem Wildschwein angefallen oder von einer Schlange gebissen worden?
Auch daran war ein Hexenmeister schuld. Er kann auch, durch Fernwirkung, eine Frau
Lévy-Bruhl).220
im Kindbett sterben lassen« (L
Die Weigerung, den Tod als ein natürliches und unwiderrufliches Ereignis zu akzeptie-
ren, hatte zur Folge, daß sich die Welt mit Hexen, Gespenstern, Ahnengeistern, Göttern,
Halbgöttern, Engeln und Teufeln bevölkerte. Die Atmosphäre war mit unsichtbaren
Phantomen saturiert wie in einer Irrenanstalt.*
221
* Der Anthropologe F. M. Berger schreibt dazu: »Häufig wird behauptet, in der modernen Gesellschaft
des Westens gebe es mehr Angstneurosen als bei den Primitiven. In Wirklichkeit aber berichtet Randal
[1956], daß im Kongo und in anderen noch rückständigen Gebieten Afrikas die Angstneurosen zu den
weitverbreitetsten und folgenschwersten psychiatrischen Erkrankungen zählen. Die im Waghital lebenden
Papuas in Zentral-Neuguinea, die niemals über die Stufe der Steinzeitkultur hinausgekommen sind, leiden
unter schwereren Angstneurosen als die Bevölkerung irgendeines modernen Industriestaates. Es gibt bei
ihnen auch mehr Magengeschwüre als sonst irgendwo in der Welt.« (JJ. F. Montague, ULCERS IN PA-
RADISE in Clinical Medicine, 7, 677 ff., 1960.)

Die meisten waren bösartig und rachsüchtig oder zumindest launenhaft, unberechenbar
und in ihren Forderungen unersättlich. Man mußte sie verehren, umschmeicheln, sich
geneigt machen und erpressen. Daher die abscheuliche Geste Abrahams, die Hekatom-
ben von Menschenopfern in der Morgenröte der Zivilisation, die gottgefälligen Massa-
ker von damals bis heute. In allen Mythologien ist jenes Morgenrot von Furcht, Be-
klemmung und Schuldgefühlen begleitet, dramatisiert durch gefallene Engel, den Sün-
denfall des Menschen, Sintfluten und Katastrophen; und auch von tröstlichen Verspre-
chungen für ein Leben im Jenseits – bis schließlich auch diese Tröstung durch die An-
drohung ewiger Qualen vergiftet wurde. Und immerzu spielte die Vernunft die Rolle
der willigen Konkubine des Glaubens, der perversen Wahnvorstellungen, die das
Althirn ausbrütete.
Natürlich hat dieses Bild auch eine Kehrseite. Die Weigerung, die Endgültigkeit des
Todes zu akzeptieren, ließ Tempel und Pyramiden im Wüstensand entstehen; sie inspi-
rierte die Kunst von der griechischen Tragödie bis zu den Gemälden der Renaissance,
der Musik Bachs und den Sonetten John Donnes. Aber welch furchtbaren Preis haben
wir für diesen Glanz bezahlen müssen! Ein alter Glaube besagt, Fluch und Segen seien
untrennbar miteinander verbunden, das eine sei die Voraussetzung des anderen; um
malen zu dürfen wie van Gogh, muß man sich ein Ohr abschneiden. Dieser Glaube ist
symptomatisch für den schuldbeflissenen Geist, dem es niemals gelingt, mit dem
himmlischen Steuereinnehmer quitt zu werden.

209
17.7 Zusammenfassung
Die Entwicklung des menschlichen Neocortex ist das einzige Beispiel dafür, daß die
Evolution eine Spezies mit einem Organ versieht, das diese nicht zu verwenden weiß.
Die Nutzbarmachung der potentiellen Möglichkeiten dieser evolutionären Neuerwer-
bung wurde während der gesamten Vorgeschichte und Geschichte des Menschen von
den affektgebundenen Aktivitäten der phylogenetisch älteren Strukturen im Nervensy-
stem blockiert. Unzureichende Koordination zwischen den älteren und den neueren Ge-
hirnstrukturen brachte das Gleichgewicht zwischen Instinkt und Intellekt ins Wanken.
Die weitreichenden intraspezifischen Unterschiede zwischen Individuen, Rassen und
Kulturen verursachten gegenseitige Abstoßung. Die Sprache verstärkte die Kohäsion
innerhalb der Gruppen und erhöhte die Barrieren zwischen den Gruppen. Die Entdek-
kung des Todes durch den Intellekt und seine Leugnung durch den Instinkt wurden zu
einem Paradigma für den gespaltenen Geist.

210
18 Die Jahre der Entscheidung
Ich komme aus einem Land, das noch nicht existiert.
I. Craveirinha

18.1 Der Angelpunkt der Geschichte


Die heute lebende Generation ist der Angelpunkt der Geschichte ...
Wir befinden uns gegenwärtig in einer Zeitperiode, in der sich die ra-
pideste Veränderung in der gesamten Evolution des Menschenge-
schlechtes vollzieht, die es je in der Vergangenheit gegeben hat oder
je in Zukunft geben wird ... Die Welt ist so gefährlich geworden, daß
nur noch die Utopie sie retten kann.222
Diese Worte schrieb der zeitgenössische amerikanische Biophysiker J. R. Platt. Ähnli-
che Warnungen haben wir schon früher vernommen – von Jesaia, Jeremias, Kassandra,
im Buch der Apokalypse, durch alle Jahrhunderte hindurch, über Augustinus, die Pro-
pheten des Millenniums bis zu Oswald Spengler und Lenin. In jedem Jahrhundert gab es
zumindest eine Generation, die sich schmeichelte, »der Angelpunkt der Geschichte« zu
sein, in einer Zeit zu leben, wie es sie nie vorher gegeben hat, und auf das Trompeten-
signal des Jüngsten Gerichtes zu warten oder auf sein säkulares Äquivalent. Man erin-
nert sich auch an jenen unvergeßlichen Charakter James Thurbers, der im Nachthemd
barfuß durch die dunklen Straßen seiner Heimatstadt rannte und die Leute mit dem
schauerlichen Ruf weckte: »Fertigmachen! F-fertigmachen! Die Wällt geht unter-r-r!«
Mit Kassandrarufen über die Einzigartigkeit der Zeit, in der man gerade lebt, sollte man
also vorsichtig sein. Trotzdem gibt es mindestens zwei gute Gründe, die die Ansicht
rechtfertigen, die Menschheit befinde sich gegenwärtig in einer Krise, die nach Wesen
und Ausmaß in der gesamten bisherigen Geschichte ohne Beispiel ist. Der erste Grund
ist quantitativer, der zweite qualitativer Art.
Der erste betrifft die Störung des ökologischen Gleichgewichts. Die Folgen, die sich
daraus ergeben, hat Sir Gavin de Beer in einem Artikel zur Zweihundertjahrfeier von
Malthus zusammengefaßt:
Gehen wir eine Million Jahre bis zu den Hominiden zurück, oder
auch nur 250.000 Jahre bis zum Swanscombe-Menschen im Mit-
telpleistozän, dann nimmt sich die Bevölkerungskurve wie ein star-
tendes Flugzeug aus: die meiste Zeit über schwebt sie knapp über
der Zeitachse entlang; dann, etwa um 1600 n. Chr., wird das Fahr-
gestell eingezogen, und sie beginnt rasch emporzusteigen; heute
steigt sie nahezu vertikal in die Höhe, wie eine Rakete von ihrer Ab-
schußrampe. Eine Million Jahre waren erforderlich, um eine Bevöl-
kerungszahl von dreieinviertel Milliarden zu erreichen – nur rund
dreißig Jahre sind jetzt nötig, um diese Zahl zu verdoppeln!223
Um etwas präziser zu sein: Historiker schätzen, daß die Weltbevölkerung zu Beginn des
christlichen Zeitalters rund 250 Millionen Menschen ausmachte. Bis zur Mitte des 17.
Jahrhunderts hatte sie sich auf etwa 500 Millionen verdoppelt. Bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts hatte sie sich abermals verdoppelt und erreichte zum erstenmal die Milli-
ardengrenze. Zu diesem Zeitpunkt griffen Pasteur, Lister und Semmelweis in das öko-
logische Gleichgewicht unserer Spezies ein, indem sie den Mikroorganismen in unserer
Umwelt den Kampf ansagten – eine Tat, die weitreichendere Folgen hatte als alle tech-
nischen Erfindungen von James Watt, Edison und den Gebrüdern Wright zusammen.

211
Aber das Unheil, das sie unwissentlich heraufbeschworen, machte sich erst ein Jahrhun-
dert später bemerkbar. Bis 1925 hatte sich die Weltbevölkerung erneut verdoppelt: auf
zwei Milliarden. 1965 betrug sie weit über drei Milliarden, und der Verdoppelungszeit-
raum war von 1500 Jahren auf 35 Jahre zusammengeschrumpft.224
Diese Zahl basiert auf einer jährlichen globalen Zuwachsrate von durchschnittlich 2
Prozent – 1,6 bis 1,8 Prozent bei den Industrienationen und 3 Prozent oder mehr bei ei-
ner Anzahl von Völkern mit geringerer Einkommensstufe. So wird zum Beispiel Indien,
das 1965 eine Bevölkerung von 450 Millionen hatte, bei Anhalten der gegenwärtigen
Zuwachsrate im Jahre 2000 bereits 900 Millionen Menschen zu ernähren haben. Selbst
für die relativ kurze Zeitspanne von 15 Jahren – 1965 bis 1980 – wäre pro Morgen des
zur Zeit bestellten Ackerbaulandes eine Ertragssteigerung um mindestens 50 Prozent er-
forderlich, um mit der erwarteten Bevölkerungszunahme Schritt halten zu können; L. R.
Brown vom Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten schätzt, »daß zusätz-
lich 24 Millionen Tonnen Düngemittel pro Jahr erforderlich wären, um dieses Ziel zu
erreichen, aber in der ganzen Welt beträgt die Jahresproduktion von Düngemitteln nur
28,6 Millionen Tonnen«.225 Die Bevölkerungszahl Chinas, die 1966 750 Millionen be-
trug, wird, wenn die gegenwärtige Tendenz anhält, gegen Ende des Jahrhunderts etwa
die Gesamtzahl der Weltbevölkerung um 1900 erreichen.
Diese Bevölkerungsexplosion wird begleitet von einer »Implosion« von Zuwanderern
aus ländlichen Bezirken in die Städte, »die nicht durch die Bedürfnisse des Arbeits-
marktes angezogen werden, sondern von der verzweifelten Hoffnung, Gelegenheitsar-
beit zu finden oder staatliche Fürsorgeunterstützung zu erhalten ... Kingsley Davis
schätzt, daß die größte Stadt Indiens, Kalkutta, im Jahre 2000 zwischen 36 und 66 Mil-
lionen Einwohner haben wird. Kalkutta, sich über Hunderte von Quadratkilometern
ausbreitend, mit einer unzureichend beschäftigten Bevölkerung von 66 Millionen Ein-
wohnern: das bedeutet eine Anhäufung von Leid und Elend, die nur zu explosiven Fol-
gen führen kann«.226
Für unseren Planeten in seiner Gesamtheit bestehen etwa folgende Aussichten: 7 Milli-
arden Menschen im Jahre 2000, 14 Milliarden im Jahre 2035 und 25 Milliarden in ge-
nau 100 Jahren (siehe Abbildung 13). »Aber«, so stellt ein nüchterner Bericht der Ford
Foundation fest, »angesichts einer solchen Bevölkerungsentwicklung ist es unvermeid-
lich, daß schon lange vor diesem Zeitpunkt die vier Reiter der Apokalypse in Aktion
treten.«227
Wieviel Menschen kann unser Planet ernähren? Nach Colin Clark, einem der führenden
Experten auf diesem Gebiet, rund 12 bis 15 Milliarden – jedoch nur unter der Voraus-
setzung, daß die Methoden der Bodenbestellung und der Erhaltung des Ackerlandes in
der ganzen Welt auf den hohen Standard gebracht werden, wie er zur Zeit in den Nie-
derlanden besteht. Das ist natürlich eine Utopie; doch selbst unter diesen optimalen Be-
dingungen würde bereits in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts die
gesamte Nahrungsmittelproduktion der Erde nicht mehr imstande sein, die Weltbevöl-
kerung zu ernähren.
Man kann natürlich einwenden, daß Voraussagen auf Grund der gegenwärtigen Zu-
wachsrate der Bevölkerungsentwicklung sehr unzuverlässig sind. Das ist unsere größte
Hoffnung; aber seit dem letzten Krieg hat diese Unzuverlässigkeit ständig für die Pes-
simisten gearbeitet: der tatsächliche Bevölkerungszuwachs überschreitet die maximalen
Voraussagen. Außerdem treten die großen Überraschungen (wie die Stabilisierung der
japanischen Bevölkerungszahl um 1949 infolge der Legalisierung der Abtreibung) stets
in hochentwickelten Ländern auf, die bereits eine geregelte Familienplanung betrieben,
ehe die modernen empfängnisverhütenden Mittel auf den Markt kamen, und die daher
imstande waren, die Voraussagen der Statistiker über den Haufen zu werfen, indem sie
die Anzahl ihrer Babies den wirtschaftlichen und psychologischen Gegebenheiten an-

212
paßten. Im Gegensatz zu Japan – dem einzigen asiatischen Land mit westlichem Bil-
dungsniveau – haben in Indien 15 Jahre intensiver Werbung für die Geburtenkontrolle
praktisch zu keinem Ergebnis geführt. Gerade die Völker in Asien, Afrika und Südame-
rika, die sich am raschesten vermehren, sind von Natur aus einer geordneten Familien-
planung am wenigsten zugänglich. Sie machen drei Viertel der Erdbevölkerung aus, und
sie bestimmen das Tempo der Vermehrung.

Abbildung 13: Bevölkerungskurve vom Beginn des christlichen Zeitalters an,


extrapoliert bis zum Jahre 2035 n. Chr.

213
All das ist schon oft gesagt worden, und ständige Wiederholung hat eine abstumpfende
Wirkung. Die Öffentlichkeit weiß wohl, daß ein solches Problem besteht, sie ist sich
aber weder seiner Größe noch seiner Dringlichkeit bewußt; und auch nicht der Tatsache,
daß wir einem dramatischen Höhepunkt zusteuern, von dem wir nicht Jahrhunderte,
sondern nur noch wenige Jahrzehnte entfernt sind. Ich will damit nicht sagen, daß die
Situation hoffnungslos sei, sondern daß sie in der Tat einzigartig ist, völlig ohne Bei-
spiel in der Geschichte der Menschheit. De Beers Parabel vom Flugzeug, das Tausende
von Kilometern knapp über dem Erdboden dahingleitet und dann plötzlich wie eine Ra-
kete steil in den Himmel emporschießt, soll das illustrieren, was die Mathematiker als
»Exponentialkurve« bezeichnen (siehe Abbildung 13).
Die Kurve müßte eigentlich nach links hin – in die Vergangenheit hinein – viele Kilo-
meter lang fortgeführt werden, in deren Verlauf ihr Anstieg nur durch ein Mikroskop
erkennbar wäre. Nun kommt der kritische Augenblick, in welchem Pasteur und Genos-
sen die Bremsen entfernten. Die Bremsen sind natürlich das Symbol für die hohe Sterb-
lichkeitsziffer, die dem »Auftrieb« der Geburtenzahl entgegenwirkte, so daß die Kurve
horizontal blieb. Es dauerte etwa einhundert Jahre – das ist etwas mehr als ein Zenti-
meter auf unserer Skala –, bis die Folgen offenbar wurden; von nun an steigt die Kurve
immer steiler an, bis sie schließlich in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wie eine
Rakete in den Himmel schießt. Unsere Spezies benötigte rund hunderttausend Jahre, um
ihre erste Milliarde von Individuen in die Welt zu setzen. Heute fügen wir alle zwölf
Jahre eine weitere Milliarde hinzu. Wenn die gegenwärtige Tendenz anhält, wird in den
ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts alle sechs Jahre eine weitere Milliarde
dazukommen, danach alle drei Jahre und so fort. Aber schon lange bevor es so weit
kommt, muß de Beers tolles Flugzeug abstürzen.
Eine Exponentialkurve spiegelt einen Prozeß, bei dem die Bremsen nicht mehr funktio-
nieren, der außer Kontrolle geraten ist. Selbst der Zeichner, der die Kurve weiter in die
Zukunft verlängern wollte, müßte sich bald geschlagen geben, denn bei einer immer
steiler ansteigenden Kurve muß ihm das Papier ausgehen – ebenso wie der Welt die
Nahrungsmittel ausgehen müssen, der Lebensraum, die Meeresküsten und Wiesen, die
Intimität und die lächelnden Gesichter.
Die unheimlichen Eigenschaften von Exponentialkurven spiegeln die Einzigartigkeit
unserer Zeit gut wider, und das gilt nicht nur für die Bevölkerungsexplosion, sondern
auch für die Explosion in den Bereichen der Krafterzeugung, der Kommunikationen,
des Wissens. Nehmen wir den letzten Punkt zuerst. Dr. Ian Morris vom University Col-
lege schreibt:
Gemessen am Personalstand sowie an der Anzahl wissenschaftlicher
Zeitschriften und wissenschaftlicher Abhandlungen, wächst die Wis-
senschaft exponential mit einer Verdoppelungszeit von etwa fünfzehn
Jahren. Abbildung 1 zeigt die Zunahme der wissenschaftlichen Zeit-
schriften, seit sie 1665 erstmals zu erscheinen begannen ...
Die Abbildung, auf die er sich bezieht, ist eine Exponentialkurve wie die unsere; sie
zeigt, daß es im Jahre 1700 weniger als zehn wissenschaftliche Zeitschriften in der Welt
gab, 1800 waren es etwa einhundert, im Jahre 1850 rund eintausend, 1900 mehr als
zehntausend, nach dem Ersten Weltkrieg rund hunderttausend, und für das Jahr 2000
erwartet man, daß die Anzahl der wissenschaftlichen Zeitschriften die Millionengrenze
erreicht.
Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Wissenschaftler
und der wissenschaftlichen Abhandlungen nachrechnet, und das gilt
im fast gleichen Maße für die verschiedensten wissenschaftlichen
Disziplinen. Während der letzten fünfzehn Jahre kam die Anzahl der
tätigen Wissenschaftler der Gesamtsumme aller Wissenschaftler

214
gleich, die in der Vergangenheit lebten und wirkten. Auf ähnliche Art
läßt sich zeigen, daß 90 Prozent aller wissenschaftlichen Arbeiten,
die jemals unternommen worden sind, in den Zeitraum der letzten
fünfzig Jahre fallen.228
Die United States Education Authority setzt die Verdoppelungszeit des Forschungsvo-
lumens seit dem Jahre 1950 sogar noch niedriger an, nämlich mit zehn Jahren.229
Wenden wir uns nun dem Bereich der Energie zu. Auch hier verläuft die Kurve vom
Zeitalter des Cro-Magnon-Menschen bis zu der Zeit vor etwa fünftausend Jahren fast
völlig flach. Mit der Erfindung des Hebels, des Flaschenzuges und ähnlich einfacher
mechanischer Apparate wurde die Muskelkraft des Menschen etwa um das Fünf- bis
Zehnfache verstärkt; dann verläuft die Kurve erneut für lange Zeit nahezu horizontal,
bis zur Erfindung der Dampfmaschine und dem Beginn der Industriellen Revolution vor
knapp zweihundert Jahren. Von da ab wiederholt sich der gleiche Vorgang wie oben:
der Aufstieg wird steiler und steiler, bis er schließlich in die raketenähnliche Phase
übergeht. Der Exponentialzuwachs im Tempo der Nachrichtenübermittlung oder in der
Bewältigung des Erden- und des Weltenraumes ist zu gut bekannt, als daß man ihn noch
besonders betonen müßte; doch das folgende Beispiel ist vielleicht weniger geläufig.
Gegen Ende der 1920er Jahre waren wir imstande, den Atomteilchen eine Energie von
etwa einer halben Million Elektronenvolt mit auf den Weg zu geben; in den 1930er Jah-
ren konnten wir sie auf 20 Millionen Elektronenvolt bringen, und um 1950 auf etwa 500
Millionen Elektronenvolt; während ich diese Zeilen schreibe, befindet sich ein Akze-
lerator von 50.000 Millionen Elektronenvolt im Bau. Aber lebendiger als alle Statistiken
ist für mich eine Episode aus dem Jahre 1930, als ich fast meine Stellung als wissen-
schaftlicher Redakteur verlor, weil entrüstete Proteste gegen einen von mir verfaßten
Artikel einliefen, in welchem ich von der Raumschiffahrt »noch zu unseren Lebzeiten«
sprach. Und ein oder zwei Jahre vor dem Start des ersten Sputniks traf Großbritanniens
Hofastronom die unsterbliche Feststellung: »Raumfahrt ist purer Blödsinn.« Unsere
Einbildungskraft ist bereit, zu akzeptieren, daß die Welt sich verändert, aber unfähig,
das Tempo zu akzeptieren, in welchem die Veränderung vor sich geht, und es in die Zu-
kunft zu extrapolieren. Der Verstand bockt angesichts einer Exponentialkurve, wie
Pascal zurückschreckte, als im Kopernikanischen Universum die Unendlichkeit ihren
Rachen aufriß: »Le silence éternel de ces espaces infinis m’eifraie.«
Das ist die Situation, in der auch wir uns befinden. Wir haben nicht mehr den Mut, in
die Zukunft zu extrapolieren – teils, weil wir uns fürchten, doch größtenteils, weil unse-
re Einbildungskraft dazu nicht ausreicht.

18.2 Zwei Kurven


Aber wir können wenigstens über unsere Schultern hinweg in die Vergangenheit zu-
rückblicken und das eben erörterte Diagramm, das den explosiven Zuwachs der Bevöl-
kerung, des Wissens, der Energie und der Kommunikationen anzeigt, mit einer anderen
Art von Diagramm vergleichen, auf welchem Fortschritt in den Bereichen der sozialen
Ethik, der persönlichen Moral, der Geistigkeit und verwandter Wertkategorien abzule-
sen ist. Auf diesem Diagramm erblicken wir eine Kurve von völlig anderer Form. Auch
sie bleibt im Verlauf der prähistorischen Strecke fast flach, mit einem kaum wahrnehm-
baren Anstieg; dann schwankt sie währrnd der Geschichte der sogenannten zivilisierten
Welt unschlüssig auf und ab; doch kurz nachdem die Exponentialkurven ihren steilen
Anstieg beginnen, zeigt die »ethische Kurve« eine entscheidende Abwärtstendenz, ge-
kennzeichnet durch zwei Weltkriege, durch Massenmorde mehrerer Diktatoren und
durch eine neue Synthese des Terrors und der Indoktrination, die ganze Kontinente phy-
sisch und geistig zu versklaven vermag.

215
Der Kontrast zwischen den beiden Kurven vermittelt eine zwar simplifizierte, keines-
falls aber überdramatisierte Version unserer Geschichte. Er stellt die Konsequenzen des
gespaltenen Geistes dar. Die Exponentialkurven sind alle, auf diese oder jene Art, Wer-
ke des Neuhirns; sie sind die explosiven Resultate davon, daß wir nun endlich begonnen
haben, Alis wunderbaren Computer gebrauchen zu lernen, der die langen Jahrtausende
unserer Vorgeschichte hindurch brachlag. Die andere Kurve repräsentiert die para-
noische Strähne in uns, unsere unverminderte Hingabefähigkeit an Wahnvorstellungen
und affektgeladene Glaubenssysteme, die vom Althirn beherrscht sind. Um noch einmal
Bertalanffy zu zitieren:
Was man allgemein als menschlichen Fortschritt bezeichnet, ist eine
rein intellektuelle Angelegenheit, die durch das enorme Wachstum
unseres Vorderhirns ermöglicht wurde. Dadurch war der Mensch
imstande, die Symbolwelten der Sprache und des Denkens aufzu-
bauen und während der fünf Jahrtausende dokumentarisch belegter
Geschichte einige Fortschritte in den Bereichen der Wissenschaft zu
machen.
Im moralischen Bereich dagegen zeichnet sich keine besondere Entwicklung ab. Es er-
scheint zumindest zweifelhaft, ob die Methoden der modernen Kriegführung den großen
Steinen vorzuziehen sind, mit denen der Neandertaler seinem mißliebigen Nachbarn den
Schädel einschlug. Es läßt sich nicht leugnen, daß der moralische Standard von Laotse
und Buddha dem unsrigen keinesfalls unterlegen war. Der menschliche Cortex enthält
etwa zehn Milliarden Neuronen, die den Fortschritt von der Steinaxt zum Flugzeug und
zur Atombombe, von der primitiven Mythologie bis zur Quantentheorie ermöglicht ha-
ben. Im Bereich unserer Instinkte gibt es aber keine vergleichsweise Entwicklung, die
den Menschen zu einer moralischen Besserung antriebe. Aus diesem Grund haben sich
auch die Moralpredigten, die durch die Jahrhunderte hindurch der Menschheit von Reli-
gionsgründern und edlen Führern vorgesetzt wurden, als bemerkenswert unwirksam er-
wiesen.230
Ein weiteres Beispiel für die Kluft, die zwischen unserer Entwicklung im intellektuellen
und im emotionalen Bereich besteht, liefert der Kontrast zwischen Kommunikation und
Kooperation. Der Fortschritt im Bereich der Kommunikationsmittel läßt sich ebenfalls
durch eine Exponentialkurve wiedergeben; in einem einzigen Jahrhundert erlebten wir
die Erfindung von: Dampfschiff, Eisenbahn, Auto, Luftschiff, Flugzeug, Rakete und
Raumschiff; von Telegraph, Telephon, Grammophon, Radio, Tonband und Radar; von
Photographie, Film, Fernsehen, Telstar ... In dem Monat, in welchem ich geboren wur-
de, gelang es den Gebrüdern Wright in Kitty Hawk in North Carolina zum erstenmal,
mit ihrem Flugapparat eine volle Minute lang in der Luft zu bleiben; heute bestehen
gute Aussichten dafür, daß wir noch zu meinen Lebzeiten auf dem Mond und vielleicht
sogar auf dem Mars gelandet sein werden. Keine andere menschliche Generation hat je
einen solchen Wandel miterlebt.
Innerhalb der Lebensspanne dieser Generation ist unser Planet auf liliputanische Pro-
portionen zusammengeschrumpft, so daß wir ihn statt der 80 Tage Jules Vernes in 30
Minuten umkreisen können. Was aber die zweite Kurve betrifft, so hat die Überbrük-
kung der Entfernung zwischen den Nationen sie nicht »näher« zueinander gebracht,
eher ist das Gegenteil der Fall. Vor der Kommunikationsexplosion reiste man zwar
recht langsam, aber es gab keinen Eisernen Vorhang, keine Berliner Mauer, keine Mi-
nenfelder im Niemandsland und nur wenige Beschränkungen für Ein- und Auswande-
rung. Heute ist es einem Drittel der Menschheit nicht gestattet, das eigene Land zu ver-
lassen. Man könnte fast sagen, der Fortschritt im Bereich der Kooperation erfolgte im
umgekehrten Verhältnis zum Fortschritt im Bereich der Kommunikation. Die Eroberung
der Luft verwandelte den begrenzten in den totalen Krieg; die Massenmedien wurden
des Demagogen Instrumente zum Schüren des Hasses; und selbst zwischen so engen

216
Nachbarn wie England und Frankreich hat die Zunahme des Touristenverkehrs kaum
zur Förderung des gegenseitigen Verstehens beigetragen. Es hat einige positive Fort-
schritte gegeben, wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; aber sie sind winzig im
Vergleich zu den furchtbaren Erdrissen, die unseren Planeten in drei große und zahllose
kleine, feindlich isolierte Lager aufspalten.
Der Grund dafür, daß ich diese nur allzu gut bekannten Tatsachen hier noch einmal
durchkaue, ist der, zu zeigen, daß sie alle dem gleichen Prinzip folgen. Die Sprache, die
hervorragendste Errungenschaft des Neocortex, ist eher zu einem trennenden als zu ei-
nem einigenden Faktor geworden und hat die intraspezifischen Spannungen verschärft;
der Fortschritt im Kommunikationsbereich zeigt die gleiche Tendenz, Segen in Fluch zu
verwandeln. Selbst auf dem ästhetischen Gebiet haben wir es fertiggebracht, den lumi-
niszenten Ather zu besudeln, so wie wir die Luft, die Flüsse und die Meeresküsten be-
sudelt haben; man dreht an seinem Radioapparat herum, und von überallher in der Welt
strömt statt der Harmonie der Sphären eine Art musikalischer Latrinenjauche auf uns
ein.
Von allen Exponentialkurven ist die bestbekannte diejenige, die sich auf die Zunahme
der Zerstörungskraft bezieht. Um so kurz wie möglich zusammenzufassen: Nach dem
Ersten Weltkrieg haben Statistiker berechnet, daß man im Durchschnitt 10.000 Gewehr-
kugeln oder zehn Artilleriegeschosse benötigt, um einen einzigen feindlichen Soldaten
zu töten. Die Fliegerbomben wogen ein paar Kilo. Im Zweiten Weltkrieg hatten sie eine
Zerstörungskraft von 20 Tonnen TNT. Die erste Atombombe hatte die Wirkung von
20.000 Tonnen TNT; die erste Wasserstoffbombe, zehn Jahre später, die von 20 Millio-
nen Tonnen TNT. Zur Zeit erzeugen wir Bomben mit einer Wirkung von 100 Millionen
Tonnen TNT; und es gibt Gerüchte über »eine ›Gigaton-Bombe‹ mit der Zerstörungs-
kraft von einer Milliarde Tonnen TNT. Ließe man eine solche Bombe etwa hundert
Meilen vor der Küste der Vereinigten Staaten detonieren, so würde sie immer noch eine
zwanzig Meter hohe Flutwelle auslösen, die einen Großteil des amerikanischen Konti-
nents überrennen würde ... Man spricht auch schon von einer Kobaltbombe, nach deren
Detonation eine tödliche Wolke in aller Ewigkeit um den Erdball kreisen würde«.231

18.3 Der neue Kalender


Ich habe vorhin gesagt, es gebe zwei Gründe, die uns dazu berechtigen, die Zeit, in der
wir jetzt leben, als »einzigartig« zu bezeichnen. Der erste ist quantitativer Natur und
drückt sich im Exponentialzuwachs der Bevölkerungszahl, der Kommunikationstechnik,
der Zerstörungskraft und so weiter aus. Auf Grund dieser Faktoren würde ein außerirdi-
sches Wesen, für das Jahrhunderte wie Sekunden sind und das imstande ist, die Ge-
samtkurve mit einem einzigen Blick zu übersehen, vermutlich zu der Schlußfolgerung
gelangen, die irdische Zivilisation sei entweder im Begriff zu explodieren oder sei be-
reits in der Explosion begriffen.
Der zweite Grund ist qualitativer Natur und läßt sich in einem Satz zusammenfassen:
Vor der Wasserstoffbombe mußte der Mensch mit dem Gedanken an seinen Tod als In-
dividuum leben, von jetzt ab muß die Menschheit mit dem Gedanken an den Tod der
Spezies leben.
Die Bombe hat uns die Möglichkeit gegeben, globalen Selbstmord zu begehen; schon in
wenigen Jahren werden wir die Macht haben, unseren Planeten in eine Nova zu ver-
wandeln, einen explodierenden Stern. Jedes Zeitalter hat seine Kassandras gehabt, und
wir haben trotz ihrer düsteren Prophezeiungen überlebt. Doch dieser tröstliche Gedanke
hat seine Gültigkeit verloren, denn kein vergangenes Zeitalter, wie sehr es auch von
Krieg und Pestilenz verheert worden sein mag, besaß unsere neu erworbene Macht, dem
Leben auf dem gesamten Planeten ein Ende zu bereiten.

217
Die volle Tragweite dieser Tatsache ist bisher noch nicht einmal den eifrigsten Pazifi-
sten bewußt geworden. Man hat uns immer gelehrt, die Vergänglichkeit des Einzelnen
zu akzeptieren, dagegen der Menschheit als Ganzes unbegrenzte Dauer zuzuschreiben.
Und das war eine durchaus plausible Annahme, solange nicht irgendeine – höchst un-
wahrscheinliche – kosmische Katastrophe eintrat. Aber sie hörte auf, eine plausible An-
nahme zu sein, mit dem Tag, als die Möglichkeit der Herbeiführung einer Katastrophe
von kosmischen Ausmaßen experimentell geprüft und bewiesen wurde. Damit wurde
das Fundament zertrümmert, auf dem alle philosophischen Systeme seit Sokrates be-
ruhten: die potentielle Unsterblichkeit unserer Spezies.
Neue Einsichten revolutionärer Natur können nicht von heute auf morgen assimiliert
werden, sie brauchen eine Inkubationsfrist. Die Lehre des Kopernikus vom Kreislauf
der Erde um die Sonne mußte achtzig Jahre lang warten, ehe sie Wurzel faßte. Das Un-
bewußte hat seine eigene Kontrolluhr und seine eigene Methodik, Dinge zu verdauen,
die der bewußte Geist als unverdaulich verworfen hat. Die Führer der Französischen
Revolution waren sich dessen wohl bewußt; um den Verdauungsprozeß zu beschleuni-
gen, führten sie einen neuen Kalender ein, der mit dem Tag der Proklamation der Repu-
blik in Kraft trat: der 22. September 1792 wurde zum 1. Vendemiaire des Jahres 1. Es
wäre sicherlich keine schlechte Idee, wenn wir alle, zumindest im Geiste, einen zweiten
Kalender einführten, der mit dem Jahr beginnt, in welchem der neue Stern von Bethle-
hem über Hiroschima aufging. Kalender drücken den Glauben an die fundamentale Be-
deutung bestimmter Ereignisse aus: die ersten Olympischen Spiele, die Gründung der
Stadt Rom, die Geburt Christi, die Flucht Mohammeds aus Mekka. Mit der Fixierung
eines Jahres Null setzt man einen Zeitmaßstab, eine Skala, an der man das Alter einer
Kultur ablesen kann, seine Distanz von ihrem realen oder imaginären Anfangspunkt.
So schreibe ich also heute im Jahre 22 n.H. – nach Hiroschima. Denn es kann kein
Zweifel darüber bestehen, daß mit diesem Jahr eine neue Ära begonnen hat. Das Men-
schengeschlecht sieht sich mit einer Herausforderung konfrontiert, für die es in der Ge-
schichte kein Beispiel gibt – und die nur durch Maßnahmen von gleich beispielloser Art
bewältigt werden kann. Die erste Hälfte des vorausgehenden Satzes wird heute mehr
oder minder allgemein akzeptiert, für die zweite trifft das nicht zu. Selbst die denkende
Minderheit glaubt immer noch, eine völlig neuartige Gefahr dieser Dimension lasse sich
mit Hilfe von traditionellen Hausrezepten abwenden, mit Appellen an Gutmütigkeit und
gesunden Menschenverstand. Dergleichen Appelle sind machtlos gegen die militanten
Ideologien geschlossener Systeme, deren Anhänger ehrlich überzeugt sind – wie ein
Professor der Universität Peking kürzlich schrieb –, »daß die Achtung vor den Fakten
und vor der Meinung anderer Leute wie Ungeziefer aus der Seele des Menschen getilgt
werden muß«.232
Alle Bemühungen, die Menschheit durch rationale Argumente zur Vernunft zu bringen,
basieren auf der stillschweigenden Annahme, es handle sich beim homo sapiens – auch
wenn Emotionen gelegentlich seinen Blick trüben – doch um ein im Grunde rationales
Lebewesen, das sich der Motive seiner eigenen Handlungen und Überzeugungen be-
wußt sei – eine Annahme, die angesichts des historischen und neurologischen Beweis-
materials nicht mehr länger haltbar ist.
Die wohlmeinenden Appelle fallen auf unfruchtbaren Boden; sie könnten nur dann
Wurzel fassen, wenn sich vorher eine spontane Wandlung der menschlichen Mentalität
ereignet hätte – das Äquivalent einer biologischen Mutation. Dann, und nur dann würde
die Menschheit, von ihren politischen Führern bis hinab zur »einsamen Masse«, für ra-
tionale Argumente empfänglich werden und willens sein, zu jenen unorthodoxen Maß-
nahmen zu greifen, die erforderlich sind, um die Krise zu überwinden.
Es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß eine solche geistige Mutation in der
voraussehbaren Zukunft spontan eintreten wird; hingegen ist es höchst wahrscheinlich,

218
daß der Funke, der die Kettenreaktion auslöst, früher oder später gezündet wird, sei es
mit Absicht oder durch Zufall. Da die Apparaturen der atomaren und der biologischen
Kriegführung immer wirkungsvoller werden und immer leichter herzustellen sind, ist es
ganz unvermeidlich, daß sie sich unter jungen und unreifen Nationen bald ebenso aus-
breiten werden wie unter alten und überreifen. Was einmal erfunden ist, kann nicht »zu-
rückerfunden« werden: die Bombe bleibt uns erhalten. Die Menschheit muß für immer
mit ihr leben, und zwar nicht nur durch die nächste und übernächste Krise hindurch,
sondern für immer; nicht nur für die nächsten zwanzig oder zweihundert oder zweitau-
send Jahre, sondern für immer. Sie ist zu einem Daseinsfaktor geworden.
In den ersten zwanzig Jahren der Nach-Hiroschima-Ära – 1946 bis 1966 nach konven-
tioneller Kalenderrechnung – haben wir, wie bereits erwähnt, nach den Aufstellungen
des Pentagons vierzig »kleinere« Kriege und Bürgerkriege geführt.233 Mehr als die
Hälfte von ihnen waren Konflikte zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten
(China, Griechenland); bei den übrigen handelte es sich entweder um »antikoloniale«
Kriege (Algerien, Indochina), »imperialistische Abenteuer« (Suez, Ungarn) oder um
»klassische« Kriege zwischen Nachbarn (Indien – Pakistan, Israel – Araber). Dabei ent-
hält die Pentagonliste keine der zahlreichen Krisen, wie die Berliner Blockade von
1950, oder Staatsstreiche, wie den Prager Fenstersturz von 1948. Ein französischer Di-
plomat hat bemerkt: »Es gibt nicht mehr so etwas wie Krieg und Frieden, sondern nur
noch verschiedene Stufen der Konfrontation.«
Diese Kriege und Bürgerkriege wurden mit konventionellen Waffen ausgefochten,
meist von atomaren Habenichtsen. Aber mindestens bei zwei Gelegenheiten standen wir
am Rand des Atomkrieges – Berlin 1950 und Kuba 1962; und all das geschah in den er-
sten beiden Jahrzehnten seit dem Jahr Null n.H. Extrapoliert man diese Daten in die Zu-
kunft, dann nähert sich die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe allmählich der statisti-
schen Gewißheit.
Ein weiterer gravierender Faktor ergibt sich daraus, daß die atomaren Geräte, wie alle
anderen Apparate auch, einen fortschreitenden Miniatisierungsprozeß durchmachen
werden: sie werden kleiner und leichter herzustellen sein, so daß auf weite Sicht eine
wirksame globale Kontrolle ihrer Herstellung schon allein aus diesen Gründen nicht
durchführbar sein wird; in voraussehbarer Zukunft wird man sie vom eisigen Alaska bis
nach dem sonnigen Kairo fabrizieren und lagern. Man könnte ebensogut eine Bande von
schlimmen Buben in ein Zimmer sperren, das mit feuergefährlichem Material angefüllt
ist, sie mit Streichhölzern ausstatten und dann freundlich warnen, die Hölzchen nicht zu
benutzen. Gewisse Sozialwissenschaftler haben in der Tat geschätzt, daß (ich zitiere
hier nochmals J. R. Platt)
... unsere »Halbwertzeit«* unter diesen Umständen – das heißt, die
vermutliche Anzahl der Jahre, die es noch dauert, bis diese wieder-
holten Konfrontationen dazu führen, daß eine 50:50-Chance für die
endgültige Vernichtung der Menschheit besteht – höchstens auf zehn
oder zwanzig Jahre zu veranschlagen ist. Natürlich ist diese Zahl
nicht objektiv nachprüfbar. Aber es ist klar, was damit gesagt wer-
den soll. Es ist das erstemal in der Geschichte der Menschheit, daß
Babies – alle Babies überall in der Welt und für alle künftigen Zeiten
– eine so geringe Überlebenschance haben.234
* Dieser Begriff stammt aus der Atomphysik: die Halbwertzeit ist diejenige Zeit, nach der die Hälfte der
ursprünglich vorhandenen radioaktiven Atome zerfallen ist.
Es gibt in der Tat keinen überzeugenden Grund, der uns zu dem Glauben veranlassen
könnte, die Konflikte, Krisen, Konfrontationen und Kriege der Vergangenheit würden
sich in den kommenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten in den verschiedensten
Teilen der Welt nicht wiederholen. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die ideologi-

219
schen, rassischen und ethnischen Spannungen in Afrika, Asien und Lateinamerika stän-
dig zugenommen. In den Vereinigten Staaten erweist sich das Rassenproblem – trotz
aller ernsthaften Bemühungen um eine zufriedenstellende Lösung – als immer giftiger;
selbst Israel, das Hauptopfer aller Rassenverfolgungen, hat seine Rassenprobleme mit
den farbigen Juden aus Asien und Nordafrika. Die Lektionen, die uns die Vergangenheit
erteilt hat, sind vergeblich gewesen, die Geschichte wiederholt sich nicht nur, sie
scheint geradezu unter einem neurotischen Wiederholungszwang zu leiden. Im Jahre
1920 machte man eine Stadt namens Danzig am Rande Europas zu einer Enklave, in die
man nur durch einen schmalen Korridor gelangen konnte, der durch fremdes Territori-
um führte. Dieses absurde Arrangement lieferte den Vorwand für den Zweiten Welt-
krieg. Noch bevor dieser Krieg zu Ende war, machte man eine Stadt namens Berlin im
Herzen Europas zu einer Enklave, in die man nur durch einen schmalen Korridor gelan-
gen kann, der durch fremdes Territorium führt. Diese absurde Wiederholung lieferte den
Vorwand, der uns schon einmal an den Rand eines Atomkriegs brachte und das wohl
auch in Zukunft tun wird. Hegel schreibt:
Was uns Erfahrung und Geschichte lehren, ist folgendes – Menschen
und Regierungen haben aus der Geschichte niemals irgend etwas
gelernt oder nach den aus ihr abgeleiteten Grundsätzen gehandelt.
Man hat gesagt, das Blut der Märtyrer mache die Erde fruchtbar. In Wirklichkeit ist es
stets mit monotonem Glucksen die Abwasserkanäle hinabgeflossen, soweit der Mensch
zurückdenken kann; wohin wir in der Welt auch blicken, wir entdecken kaum Anzei-
chen dafür, daß dieses Glucksen einmal nachlassen oder gar aufhören wird. Wenn wir
auf den Komfort des Wunschdenkens verzichten, müssen wir darauf gefaßt sein, daß die
Motive und Brennpunkte potentieller Konflikte auch weiter über den Erdball dahinzie-
hen werden gleich Hochdruckgebieten auf einer Wetterkarte. Und unser einziger, unzu-
verlässiger Konflikt: die gegenseitige Abschreckung, wird stets von unkontrollierbaren
psychologischen Faktoren abhängen – dem Kalkül oder Bluff fehlbarer Schlüsselfigu-
ren. Russisches Roulett ist ein Spiel, das man nicht lange spielen kann.
Solange wir glauben konnten, unsere Spezies sei als solche praktisch unsterblich und
habe eine astronomische Lebensspanne vor sich, konnten wir es uns leisten, geduldig
auf jene Einkehr zu warten, die der Tugend und Vernunft zum Sieg verhelfen würde.
Aber die Garantie unserer Unsterblichkeit als Spezies ist abgelaufen, und wir haben
nicht mehr die unbegrenzte Zeit, darauf zu warten, daß der Löwe sich neben dem Lamm
niederlegen wird, der Araber neben dem Israeli und der Kommissar neben dem Jogi.
Die Schlußfolgerungen, die sich ergeben, sind im Grunde einfach, wenn wir den Mut
haben, ihnen ins Gesicht zu sehen. Unsere biologische Evolution ist in der Zeit des Cro-
Magnon-Menschen im wesentlichen zum Stillstand gekommen. Da wir in der voraus-
sehbaren Zukunft nicht erwarten können, daß sich die erforderliche Wandlung der
Mentalität des Menschen auf natürlichem Wege mit Hilfe einer spontanen Mutation
vollzieht, müssen wir sie notgedrungen auf künstlichem Wege herbeiführen. Wir kön-
nen nur dann hoffen, als Spezies zu überleben, wenn es uns gelingt, Techniken zu ent-
wickeln, die an die Stelle der biologischen Evolution treten können. Wir müssen nach
einem Heilmittel für die inhärente Schizophysiologie im Wesen des Menschen suchen,
für die Spaltung unseres Geistes, die zu der Situation geführt hat, in der wir uns befin-
den.

220
18.4 »Eingriff in die menschliche Natur«
Gelingt es nicht, dieses Heilmittel zu finden, dann wird die Kombination der alten para-
noischen Strähne im Menschen zusammen mit seinen neuen Zerstörungskräften früher
oder später zum Rassenselbstmord führen. Ich glaube aber auch, daß die Kur bereits in
Reichweite der zeitgenössischen Biologie liegt und daß es bei entsprechender Konzen-
tration der Bemühungen durchaus gelingen könnte, die Lösung noch zu Lebzeiten der
Generation zu finden, die jetzt die Bühne betritt.
Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß das soeben Gesagte allzu optimistisch klingt im
Gegensatz zu den scheinbar allzu pessimistischen Ansichten, die ich im Hinblick auf
unsere Zukunft geäußert habe, falls wir weiter in unseren Wahnvorstellungen verharren.
Ich glaube nicht, daß diese Besorgnis übertrieben ist, ich glaube aber auch nicht, daß die
Idee eines Heilmittels für den homo sapiens eine Utopie ist. Sie ist nicht von der sci-
ence-fiction inspiriert, sondern basiert auf einer realistischen Einschätzung der jüngsten
Fortschritte in mehreren konvergierenden Sparten der biologischen Wissenschaften. Ei-
ne Kur für uns haben sie bisher nicht gefunden, aber es zeichnet sich bereits der For-
schungsbereich ab, wo man sie finden könnte.
Ich bin mir auch dessen bewußt, daß jeder Vorschlag, der mit einem »künstlichen Ein-
griff in die menschliche Natur« verbunden ist, starke emotionale Widerstände auslösen
muß. Diese basieren teilweise auf Vorurteilen, teilweise aber auch auf einer gesunden
Aversion gegen weitere Eingriffe in die geheiligte Privatsphäre des Individuums durch
Psychiatrie, Sozialplanung, Konjunkturforschung, Gehirnwäsche und was es sonst noch
an Bedrohungen in dem wohlorganisierten Alptraum gibt, in welchem wir leben. An-
derseits hat der Mensch, schon seit der erste Jäger seinen frierenden Körper mit einem
Tierfell umhüllte, immer wieder in die Natur eingegriffen; er hat sich eine künstliche
Umwelt geschaffen, die das Gesicht unseres Planeten allmählich verwandelt hat, und
eine künstliche Lebensweise, ohne die er nicht mehr existieren kann. Wir können auf
Häuser, Kleidung, Heizung und gekochtes Essen nicht mehr verzichten – und ebenso-
wenig auf Brillengläser, Hörapparate, Skalpelle, künstliche Gliedmaßen, schmerzstil-
lende Mittel, Antiseptika, Prophylaktika, Impfstoffe und so weiter.
Wir beginnen mit unseren künstlichen Eingriffen fast von dem Augenblick an, in dem
das Baby geboren wird: eine der ersten Routinemaßnahmen besteht in der Praxis, einen
Tropfen Silbernitratlösung in die Augen des Neugeborenen zu tun, um es vor ophtalmia
neonatorum zu schützen, einer Art Bindehautentzündung, die nicht selten zu völliger
Blindheit führt und durch Gonokokken verursacht wird, die sich, ohne daß die Gebären-
de davon wußte, im Genitaltrakt befunden haben können. Später folgen die in den mei-
sten Kulturländern obligatorischen Schutzimpfungen gegen Pocken, Typhus etc. Um
den Wert dieser »Eingriffe in den natürlichen Lebensablauf« richtig zu würdigen, soll-
ten wir uns daran erinnern, daß die weite Verbreitung der Pocken bei den Indianern eine
der Hauptursachen dafür war, daß diese ihren Kontinent an den weißen Mann verloren.
Im 17. und 18. Jahrhundert stellten die Pocken eine Gefahr dar, der jedermann ausge-
setzt war. Ihre Auswirkungen wären wohl noch verheerender ausgefallen, hätte es nicht
jene energische Dame Mary Wortley Montagu gegeben, die die altorientalische Praxis
der »Impfung« von den Türken erlernte und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England
einführte. Diese Methode bestand darin, daß man die zu immunisierende Person mit der
bei milden Pockenfällen abgesonderten Substanz infizierte – eine recht gefährliche
»Behandlung«, bei der die Sterblichkeitszahl jedoch erheblich niedriger war als bei
»natürlichen« Pockenfällen (das Risiko wurde erst beseitigt, als Edward Jenner ent-
deckte, daß die Impfung mit Kuhpockenlymphe Immunität gegen die »natürlichen«
Pocken verlieh).

221
Ein weniger bekannter Fall des »Eingreifens in die Natur« dient der Verhinderung von
Kropf und einer mit diesem Leiden verbundenen bestimmten Art von Kretinismus. Zur
Zeit meiner Kindheit verbrachte ich die Ferien öfters in den Alpen; damals war die An-
zahl der Bewohner von Gebirgstälern, die monströse Schwellungen am Halse hatten,
und die der kretinösen Kinder erschreckend hoch. Heute gibt es in dem alpinen Dorf,
wo ich einen Teil des Jahres verbringe, und auch in den angrenzenden Gebirgstälern
keinen einzigen Fall von Kropfleiden. Man hat herausgefunden, daß die Kropfbildung
mit einem Mangel an Jod in der Schilddrüse zusammenhängt und daß das Wasser in den
Gegenden, in denen diese Krankheit endemisch auftrat, hart und jodarm war. Also fügte
man dem Trinkwasser beziehungsweise der Kinderkost kleine Mengen Jod bei – und
das Kropfleiden gehörte praktisch der Vergangenheit an.
Offensichtlich war der Mensch biologisch nicht dafür gerüstet, in einer Umwelt mit jod-
armem Wasser zu leben, oder mit dem Pockenvirus und den tödlichen Mikroorganismen
der Malaria und der Schlafkrankheit fertig zu werden. Umgekehrt sind auch Mikroben
gleichermaßen schlecht dafür ausgerüstet, gewissen Mikroorganismen, die wir als Anti-
biotika bezeichnen, Widerstand zu leisten. Nun scheinen aber Mikroben eine ungeheure
Mutationsrate zu haben, denn innerhalb weniger Jahre entwickeln sie neue Spielarten,
die gegen Antibiotika resistent sind. Wir Menschen können solche evolutionäre Kunst-
stücke nicht vollbringen, aber wir können adaptive Mutationen dadurch simulieren, daß
wir dem Trinkwasser Jod hinzufügen oder Silbernitrat in die Augen des Neugeborenen
tropfen, um es gegen Feinde zu schützen, gegen die wir von Natur aus hilflos sind.
In den letzten Jahren haben die Biologen entdeckt, daß jede Tierspezies, die sie studiert
haben, von Käfern über Kaninchen bis zu Schimpansen, mit instinktiven Verhaltenswei-
sen ausgerüstet ist, die eine zu große Geburtenrate verhindern und die Populationsdichte
in einem bestimmten Territorium konstant halten, und zwar auch dann, wenn Nahrung
reichlich vorhanden ist. Wenn diese Dichte ein bestimmtes Limit überschreitet, dann
führt die Übervölkerung zu Streß-Symptomen, die das Hormongleichgewicht stören,
Kaninchen und Rotwild beginnen an »adrenalen Störungen« zu sterben, ohne daß An-
zeichen für eine Epidemie erkennbar sind; weibliche Ratten hören auf, für ihre Jugend
zu sorgen, und lassen sie eingehen; auch macht sich abnormes Sexualverhalten bemerk-
bar. Das ökologische Gleichgewicht in einem bestimmten Gebiet wird also nicht nur
durch die relative Verteilung von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen, von Raubtie-
ren und Beutetieren aufrechterhalten, sondern auch durch eine Art von intraspezifi-
schem Rückkoppelungsmechanismus, der die Geburtenrate bei den Tieren so steuert,
daß die Dichte der Gesamtpopulation stabil bleibt. Die Population einer bestimmten
Spezies in einem bestimmten Gebiet verhält sich in der Tat wie ein selbstregulierendes
soziales Holon, das sich nach den instinktiven »Spielregeln« richtet, die dafür Sorge
tragen, daß immer genügend »Entfaltungsraum« zur Verfügung steht und eine durch-
schnittliche Populationsdichte beibehalten wird.
Aber auch in dieser Hinsicht muß man den Menschen wieder als »einzigartig« bezeich-
nen – vielleicht mit Ausnahme der selbstmörderischen Lemminge. Es hat fast den An-
schein, als habe sich bei menschlichen Populationen die ökologische Regel ins Gegen-
teil verkehrt: je dichtgedrängter sie in Slums, Ghettos und Elendsvierteln zusammenle-
ben, desto mehr Nachkommen bringen sie zur Welt. Der stabilisierende Faktor beim
Menschen war nicht jener Rückkoppelungsmechanismus, der die Geburtenrate bei den
Tieren reguliert, sondern Kriege, Seuchen und hohe Säuglingssterblichkeit. Darüber
hinaus hat der Mensch schon in biblischer Zeit, wie wir aus der Geschichte von Onan
erfahren, das Fehlen von instinktiven Geburtenkontrollen durch bewußte Geburtenkon-
trolle kompensiert. Etwa zur gleichen Zeit, als Louis Pasteur die Bevölkerungsexplosion
einleitete, erfand der Gummifabrikant Charles Goodyear eine einfache Methode der
künstlichen Geburtenkontrolle. Die empfängnisverhütende Pille stellt einen noch radi-
kaleren Eingriff in die Natur dar: sie verfälscht den östralen Zyklus. In weltweitem

222
Maßstab angewandt – wie das geschehen muß, um die Katastrophe abzuwenden –, ent-
spricht dieses Eingreifen einer künstlich simulierten biologischen Mutation.
Als unserer Spezies irgendwann im Verlauf der Evolution die Instinktkontrollen abhan-
den kamen, die bei Tieren die Geburtenrate regulieren, wurde sie zu einem biologischen
Unikum. Sie kann nur überleben, wenn wir Methoden erfinden, die einer adaptiven
Mutation gleichwertig sind. Wir können nicht erhoffen, daß die Natur sich unser an-
nimmt, wir müssen zur Selbsthilfe greifen.

18.5 Der entfesselte Prometheus


Können wir ein ähnliches Heilmittel wie die empfängnisverhütende Pille für die Schi-
zophysiologie unseres Nervensystems erfinden – für die paranoische Veranlagung, die
sich in unserer unseligen Geschichte widerspiegelt? Und nicht nur in der Geschichte des
Menschen, sondern anscheinend auch in der unserer menschenähnlichen Vorfahren. Um
nochmals Konrad Lorenz zu zitieren:
Das begriffliche Denken verlieh dem Menschen mit der Wortsprache
die Möglichkeit zur Weitergabe überindividuellen Wissens und zur
Kulturentwicklung; diese aber bewirkte in seinen Lebensbedingun-
gen so schnelle und umwälzende Änderungen, daß die Anpassungs-
fähigkeit seiner Instinkte an ihnen scheiterte ... Das dialogisch fra-
gende Experimentieren mit der Umwelt, das aus dem begrifflichen
Denken herkommt, schenkte ihm [dem Menschen] seine ersten
Werkzeuge, den Faustkeil und das Feuer. Er verwendete sie prompt
dazu, seinen Bruder totzuschlagen und zu braten, wie die Funde in
den Wohnstätten der Pekingmenschen (Sinanthropus pekinensis)
beweisen: neben den ersten Spuren des Feuergebrauchs liegen zer-
trümmerte und deutlich angeröstete Menschenknochen.235
Der Prometheus-Mythos hat eine überraschende Wendung genommen: der Gigant, der
in den Himmel hinauflangt, um den Göttern das Feuer zu entwenden, ist geisteskrank.
Alle Anzeichen sprechen dafür, daß das Unheil begann, als der Neocortex anfing, sich
plötzlich mit einer Schnelligkeit auszudehnen, »für die es in der gesamten Evolutions-
geschichte kein Beispiel gibt« (siehe Seite 182). Fassen wir die Geschichte des Lebens
auf Erden, von ihren Anfängen vor etwa 2000 Millionen Jahren bis zur Gegenwart, in
einem einzigen Tag, von Mitternacht bis Mitternacht zusammen, dann begänne das
Zeitalter der Säugetiere etwa gegen 23 Uhr, und die Evolution vom Pithecanthropus
(dem javanischen Affenmenschen) bis zum homo sapiens – das heißt die Evolution des
Neocortex – vollzöge sich in den letzten fünfundvierzig Sekunden des Tages. Das
Wachstum des Cortex folgte ebenfalls einer Exponentialkurve. Warum sollte es also
unvernünftig sein, anzunehmen, daß bei dieser explosiven Gehirnentwicklung, die so
weit über das Ziel hinausschoß, etwas schiefgegangen ist? Genauer gesagt, daß die
Kommunikationslinien zwischen den alten und den brandneuen Strukturen nicht ausrei-
chend sind, um eine harmonische Zusammenarbeit, eine hierarchische Koordination
zwischen Instinkt und Intellekt zu garantieren. Wenn wir uns an die Fehler erinnern, die
bei der Evolution von früheren Versionen des Nervensystems aufgetreten sind – das Er-
drosseln der Speiseröhre beim Arthropodengehirn, das Fehlen ausreichender Verbin-
dungen zwischen den beiden Gehirnhälften der Beuteltiere –, dann läßt sich der Ver-
dacht kaum unterdrücken, daß ein ähnliches Mißgeschick auch uns befallen hat; und die
Ergebnisse der Neurophysiologie, der Psychopathologie und der menschlichen Ge-
schichte sprechen beredt für diese Hypothese.
Das neurophysiologische Beweismaterial deutet, wie sich gezeigt hat, auf eine Disso-
nanz zwischen den Arbeitsweisen des Neocortex und des limbischen Systems hin. Statt

223
als integrale Teile einer hierarchischen Ordnung zu funktionieren, wirken beide in einer
Art gespannter Koexistenz. Um auf unsere Metapher zurückzukommen: dem Reiter ist
es niemals gelungen, das Pferd vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen, und das
Pferd läßt den Reiter seine Launen auf unangenehme Weise spüren. Wir haben gesehen,
daß das Pferd, das limbische System, einen direkten Zugang zu den affektauslösenden
viszeralen Zentren im Hypothalamus hat – beim Reiter ist das nicht der Fall. Überdies
erweisen sich die Zügel, mit deren Hilfe der Reiter das Pferd unter Kontrolle halten soll,
als unzureichend. Ich zitiere nochmals MacLean:
Soweit man das auf Grund der neuronographischen Forschung be-
urteilen kann, scheint es »assoziative« Verbindungen zwischen dem
limbischen System und dem Neocortex nur in begrenztem Ausmaß
zu geben.
Es fehlen die komplizierten Rückkoppelungsmechanismen, das delikate Wechselspiel
von Erregungs- und Hemmungsmechanismen, die für das Nervensystem sonst charakte-
ristisch sind.
Das Pferd und der Reiter sind sich ihrer Umwelt durchaus bewußt,
aber die Kommunikation zwischen ihnen ist recht begrenzt. Beide be-
ziehen Informationen und reagieren darauf auf verschiedene Weise.236
Hier haben wir also die anatomische Grundlage für das »geteilte Haus von Glauben und
Vernunft«, dessen Bewohner dazu verdammt sind, in einem Zustand »kontrollierter
Schizophrenie« zu leben.
Einer von Natur aus unvernünftigen Spezies Vernunft zu predigen, ist, wie die Ge-
schichte lehrt, ein ziemlich hoffnungsloses Unternehmen. Die biologische Evolution hat
uns im Stich gelassen; wir können nur dann hoffen zu überleben, wenn wir sie durch
Techniken ersetzen, die die notwendigen Änderungen in der menschlichen Natur her-
beiführen. Wir können die Überbevölkerung durch Eingriffe in den östralen Zyklus ver-
hindern. Wir können unsere paranoide Veranlagung nicht heilen, indem wir zusätzliche
Stromkreise in unser Gehirn einbauen, aber wir könnten vielleicht eine Heilung oder
zumindest eine erkennbare Besserung erzielen, wenn wir die Forschung in die richtigen
Kanäle lenken.

18.6 Zukunftsmusik
Im Jahre 1961 organisierte das University of California San Francisco Medical Center
ein Symposion unter dem Titel »Kontrolle des Geistes«. Bei der ersten Sitzung erregte
Professor Holger Hydén von der Universität Göteborg eine Pressesensation, obwohl
sein fachwissenschaftlicher Vortrag über »Biochemische Aspekte der Gehirntätigkeit«
kaum geeignet war, die Massenblätter anzusprechen. Hydén ist eine der führenden Ka-
pazitäten auf diesem Gebiet. Die Passage, die die Sensation bei der Presse hervorrief,
lautet wie folgt (die Erwähnung meines Namens ist darauf zurückzuführen, daß ich
ebenfalls an diesem Symposion teilnahm):
Beschäftigt man sich mit dem Problem der Kontrolle des Geistes,
dann erhebt sich auf Grund der bisher erreichten Erkenntnisse fol-
gende Frage: Wäre es möglich, die Emotionen dadurch zu verändern,
daß man molekulare Veränderungen in den biologisch aktiven Sub-
stanzen des Gehirns herbeiführt? Die Substanz, die in erster Linie in
Frage kommt, ist die RNS, denn eine molekulare Veränderung der
RNS* könnte zu einem Wechsel in der Proteineproduktion führen.
Man kann diese Frage auch anders formulieren: Bilden die hier vor-
gelegten Versuchsergebnisse eine ausreichende Grundlage für die

224
Modifizierung des Geisteszustandes durch spezifisch induzierte che-
mische Veränderungen? Ergebnisse in dieser Richtung sind bereits
erzielt worden mit Hilfe der Substanz Tricyano-Aminopropen.
* Ribonukleinsäure, eine Schlüsselsubstanz im genetischen Apparat.
... Die Verwendung einer Substanz, mit deren Hilfe man die Produk-
tionsquote und Zusammensetzung der RNS verändert und Enzym-
veränderungen in den funktionellen Einheiten des Zentralnervensy-
stems hervorruft, hat sowohl negative als auch positive Aspekte. Wir
haben jetzt Beweise dafür, daß die Verabreichung von Tricyano-
Aminopropen beim Menschen eine erhöhte Suggestibilität bewirkt.
Infolgedessen könnte man präzise chemische Eingriffe in funktionell
wichtige Substanzen, wie die RNS im Gehirn, zu Konditionierungs-
zwecken benutzen. Der Autor bezieht sich hier nicht nur speziell auf
das Tricyano-Aminopropen, sondern auf jede Substanz, die geeignet
ist, Veränderungen bei biologisch bedeutsamen Molekülen in den
Neuronen und Gliazellen zu induzieren und den Geisteszustand im
negativen Sinn zu beeinflussen. Man kann sich unschwer vorstellen,
welchen Gebrauch die Regierung in einem Polizeistaat von einer sol-
chen Substanz möglicherweise machen könnte. Eine Zeitlang würde
man die Bevölkerung den härtesten Lebensbedingungen unterwer-
fen. Dann würde man plötzlich ihr Los erleichtern und gleichzeitig
diese Substanz dem Leitungswasser beigeben und die Massenmedien
zu Propagandazwecken einsetzen. Diese Methode käme dem Staat
weit billiger und würde viel wirksamere Möglichkeiten bieten als die
langsame, individuelle Zermürbung Rubaschows, wie sie Koestler in
seinem Roman SONNENFINSTERNIS geschildert hat. Anderseits kann
man sich allerdings auch unschwer vorstellen, daß sich gegen die
Wirkung einer Substanz wie Tricyano-Aminopropen Gegenmaßnah-
men einleiten ließen.237
Abgesehen von den fachtechnischen Details sind die Implikationen ohne weiteres klar.
Wie jede andere menschliche Wissenschaft kann auch die Biochemie den Mächten des
Lichtes oder der Finsternis dienen. Ihre Gefahren sind grauenerregend; wir wollen uns
aber jetzt ihren wohltätigen Möglichkeiten zuwenden. Dazu will ich eine andere rele-
vante Passage aus einem Vortrag zitieren, den Dean Saunders auf demselben Symposi-
on hielt:
Das hervorragende technologische Geschick und der Erfindungsgeist
der modernen Chemiker haben dem Medizinwissenschaftler und dem
Arzt eine Fülle von chemischen Präparaten verschiedenartigster
Struktur und Zusammensetzung beschert, die das Zentralnervensy-
stem so beeinflussen können, daß die Geistestätigkeit und die Ver-
haltensweise des Individuums verzerrt, beschleunigt oder verzögert
werden können. Auf dieser Konferenz ist zum Ausdruck gebracht
worden, daß viele dieser chemischen Präparate eine in hohem Maße
selektive Wirkung auf bestimmte und genau abgegrenzte Teile des
Nervensystems ausüben können; auf Grund eines genauen Studi-
ums ihrer Wirkung bei Menschen und Tieren läßt sich sogar ein be-
stimmtes Spektrum aufstellen. Diese chemischen Präparate bieten
also – unter Berücksichtigung des jeweiligen Verhältnisses zwischen
chemischer Struktur und biologischer Wirkung – die Möglichkeit, ei-
ne Fülle von Drogen zur Beeinflussung der spezifischen Gehirntätig-
keit heranzuziehen. Da solche Präparate einander entweder verstär-
ken oder abschwächen oder sich in ihrer Wirkung überschneiden

225
können, und da sie in ihrer Wirkung auf das Gehirn eine Tendenz
zur Polarität zeigen, halte ich es für höchst wahrscheinlich, daß sich
ein breites Spektrum von chemischen Präparaten dazu verwenden
läßt, eine Kontrolle über die meisten geistigen Tätigkeiten wirksam
auszuüben. ... Hier steht eine ständig zunehmende Auswahl von
chemischen Praparaten zu unserer Verfügung, mit denen sich Men-
schen manipulieren lassen, und es liegt an uns, ob wir davon einen
klugen oder törichten Gebrauch machen ... Es ist heute möglich,
unmittelbar auf das einzelne Individuum einzuwirken, um sein Ver-
halten zu modifizieren, anstatt dies, wie in der Vergangenheit, auf
indirektem Wege zu tun, indem man die Umwelt modifiziert. Diese
Möglichkeit gehört mit zu dem, was Aldous Huxley als DIE LETZTE
REVOLUTION bezeichnet hat.238
Der letzte Satz in diesem Zitat bedarf einer Erklärung. Huxley war ständig von der
Furcht geplagt, die kombinierte Wirkung von Drogen und Massenmedien könnte die
Welt in eine Art »schmerzlosen Konzentrationslagers des Geistes verwandeln, dessen
Insassen ihre persönlichen Freiheiten eingebüßt haben, dafür aber eine Diktatur ohne
Tränen genießen«.239 Mit anderen Worten, die Situation, die Huxley in seiner Satire
SCHÖNE NEUE WELT geschildert hat. Als Gegenmittel befürwortete Huxley die Verwen-
dung von Mescalin und anderen psychedelischen Drogen, die uns auf dem achtgliedri-
gen Pfad zu kosmischer Bewußtheit, mystischer Erleuchtung und künstlerischer Kreati-
vität führen sollten.
Lange Jahre hindurch habe ich Huxleys Persönlichkeit und sein Werk bewundert; in
seinen letzten Lebensjahren jedoch gingen unsere Meinungen auseinander. Die Gründe
dafür gehören direkt zu unserem Thema. In HIMMEL UND HÖLLE pries Huxley die Seg-
nungen des Mescalin und gab dem modernen Seelensucher den Ratschlag:
Da er nun weiß ... welches die chemischen Voraussetzungen für
transzendentale Erlebnisse sind, sollte der angehende Mystiker
fachtechnische Unterstützung bei den Spezialisten der Pharmakolo-
gie, der Biochemie, der Physiologie und der Neurologie suchen.
Das ist nun genau das, was ich persönlich nicht unter positiver Anwendung der Psycho-
pharmakologie verstehe. Vor allem sind mit der experimentellen Anwendung von Me-
scalin oder LSD 25 ernsthafte Risiken verbunden. Aber selbst wenn wir einmal davon
absehen, ist es grundsätzlich falsch und naiv, zu erwarten, daß Drogen dem Geist Gra-
tisgeschenke bescheren könnten, ihm etwas einzutrichtern vermögen, was nicht bereits
latent in ihm vorhanden ist. Weder mystische Einsichten noch philosophische Weisheit
oder schöpferische Kräfte lassen sich durch Pillen oder Injektionen hervorzaubern. Der
Psychopharmazeut kann den Fähigkeiten des Gehirns keine neuen hinzufügen – er kann
bestenfalls Störungen und Blockierungen, die ihre wirkungsvolle Anwendung behin-
dern, eliminieren. Er kann uns nicht reicher machen, als wir sind, er kann uns aber in
begrenztem Ausmaß normalisieren; er kann nicht zusätzliche Stromkreise in das Gehirn
einbauen, aber er kann, ebenfalls innerhalb gewisser Grenzen, die Koordination zwi-
schen den vorhandenen Strukturen verbessern, Konflikte mildern und Kurzschlüsse ver-
hindern. Das ist alles, was wir an Hilfe erwarten dürfen – aber wenn wir sie wirklich er-
hielten, so würden sich daraus unschätzbare Segnungen ergeben; es würde sich um eine
Revolution in einem dem Huxleyschen genau entgegengesetzten Sinn handeln: um den
Durchbruch vom Maniker zum Menschen.
Das »wir« im vorhergehenden Satz bezieht sich nicht auf Patienten in der psychiatri-
schen Klinik oder auf der Couch des Therapeuten. Zweifellos wird die Psychopharma-
kologie eine wichtige Rolle bei der Behandlung von klinischen Geisteskrankheiten
spielen, aber darauf kommt es hier nicht an.*

226
* Während dieses Buch in Druck geht, berichtet die amerikanische Fachzeitschrift Archives of General
Psychiatry über Versuche an der Universität von Tulane, die eine Heilung der Schizophrenie mit Hilfe
chemischer Präparate in den Bereich der Möglichkeit rücken (D D. Gould: AN ANTIBODY IN SCHIZO-
PHRENICS, London, New Scientist, 02.02.1967).

Worum es uns hier geht, ist die Heilung der paranoischen Strähne bei sogenannten nor-
malen Menschen, das heißt bei der Menschheit in ihrer Gesamtheit: um eine künstlich
simulierte, adaptive Mutation zur Überbrückung der Kluft zwischen dem phylogene-
tisch alten und dem neuen Gehirn, zwischen Instinkt und Intellekt, zwischen Emotion
und Vernunft. Wenn wir heute bereits in der Lage sind, die Suggestibilität des Men-
schen zu erhöhen, dann werden wir auch bald imstande sein, das Gegenteil zu vollbrin-
gen, nämlich der irregeleiteten Devotion, dem militanten Enthusiasmus entgegenzuwir-
ken, von deren mörderischen und selbstmörderischen Auswirkungen wir täglich in der
Zeitung lesen. Die vordringlichste Aufgabe der Biochemie besteht darin, »in dem sich
ständig verbreiternden Spektrum chemischer Präparate«, wie Saunders es ausdrückt,
»nach einem Heilmittel zu suchen, das sich zur Kontrolle der Geistestätigkeit eignet«.
Der Glaube, daß das geschehen kann und geschehen wird, ist durchaus keine Utopie.
Die gegenwärtigen Beruhigungsmittel, Barbitursäurepräparate, Stimulantia, Antidepres-
sionsmittel und ihre verschiedenen Kombinationen sind lediglich ein erster Schritt auf
dem Weg zu subtileren Mitteln für die Förderung eines koordinierten und harmonischen
Geisteszustandes. Was wir suchen, ist nicht die ungetrübte Ataraxie der Stoiker, die Ek-
stase der tanzenden Derwische oder das Pop-Nirwana von Huxleys »Soma«-Pillen, son-
dern der Zustand eines dynamischen Gleichgewichtes, in welchem Vernunft und Emo-
tion miteinander versöhnt sind und die hierarchische Ordnung wiederhergestellt wird.

18.7 Dialog mit dem Leser


Ich bin mir durchaus der Tatsache bewußt, daß die Formulierungen »Kontrolle des Gei-
stes« und »Manipulieren von Menschen« einen recht sinistren Unterton haben. Wer soll
diese Kontrollen kontrollieren, wer die Manipulatoren manipulieren? Nehmen wir an, es
gelingt uns, synthetisch ein Hormon herzustellen, das als geistiger Stabilisator in dem
oben angedeuteten Sinn wirkt – wie sollen wir dann seine globale Anwendung propa-
gieren, um die beabsichtigte segensreiche Mutation herbeizuführen? Sollen wir es den
Leuten mit Gewalt in den Rachen stopfen oder es dem Leitungswasser beimengen?
Darauf scheint es eine sehr einfache Antwort zu geben. Weder Gesetze noch Zwangs-
maßnahmen waren erforderlich, um Griechen und Römer dazu zu überreden, »den Saft
der Rebe zu genießen, der Freude und Vergessenheit schenkt«. Schlaftabletten, Auf-
munterungspillen und Beruhigungspillen haben sich mit einem minimalen Aufwand an
Werbung auf Gedeih oder Verderb über die ganze Erde hin ausgebreitet. Ihre rasche
Verbreitung beruht auf der einfachen Tatsache, daß die Leute ihre Wirkung gerne
mochten und sogar unerfreuliche oder schädliche Nebenwirkungen in Kauf nahmen. Ein
geistiger Stabilisator würde weder Euphorie noch Schlaf, weder Mescalinvisionen noch
mystische Zustände auslösen – er würde in der Tat keine erkennbare spezifische Wir-
kung haben, außer der Förderung der geistigen Koordination, des harmonischen An-
gleichs von Vernunft und Emotion; mit anderen Worten, er würde die Integrität der ge-
spaltenen Hierarchie wiederherstellen. Ein solches Mittel würde sich rasch verbreiten –
denn die Menschen wollen sich an Geist und Körper lieber gesund als krank fühlen –,
ebenso rasch wie die Impfung und die Mittel zur Empfängnisverhütung, nicht durch
Zwang, sondern auf Grund eines aufgeklärten Eigeninteresses.
Das erste spürbare Ergebnis wäre vermutlich ein plötzliches Absinken der Verbrechen –
und der Selbstmordquote in bestimmten Gegenden oder sozialen Gruppen, in denen die
neue Pille zur Mode würde. Wie die Entwicklung dann weiterginge, kann man ebenso-
wenig voraussagen, wie dies bezüglich der Folgen der Entdeckungen James Watts oder
Pasteurs möglich war. Vielleicht würde sich ein Schweizer Kanton nach einem öffentli-

227
chen Referendum dazu entschließen, die neue Substanz für eine Probezeit dem Chlor im
Leitungswasser beizumengen;* andere Länder könnten diesem Beispiel folgen. Oder
das Stabilisierungsmittel könnte bei der jungen Generation internationalen Anklang fin-
den und als neue Mode die ungekämmten Bärte und Mescalinräusche ersetzen. Auf die
eine oder andere Weise würde die Mutation in Gang kommen.
* Selbst Leute, die sich hartnäckig jedem »Eingriff in die menschliche Natur« widersetzen, erheben keine
ernsthaften Einwände mehr dagegen, daß man Chlor oder andere Antiseptika dem Leitungswasser bei-
mengt.
Natürlich besteht die Möglichkeit, daß totalitäre Staaten versuchen werden, sich ihr zu
widersetzen. Aber heute sind selbst die Eisernen Vorhänge porös geworden; Jazz, Mini-
röcke, Diskotheken und andere bourgeoise Erfindungen breiten sich unaufhaltsam wei-
ter aus. Würde die herrschende Elite ihrerseits beginnen, mit der neuen Medizin zu ex-
perimentieren, um zu entdecken, daß sie die Welt in einem neuen Licht sieht – dann,
und nur dann, wäre die Menschheit reif für eine globale Abrüstungskonferenz, die mehr
ist als eine üble Farce. Und sollte es zu einer Übergangsperiode kommen, während wel-
cher sich nur eine Seite der heilenden Kur verschriebe, während die andere in ihrer Psy-
chose beharrte, so würde sich daraus keine der Gefahren einer unilateralen Abrüstung
ergeben; im Gegenteil, die mutierte Seite befände sich in der stärkeren Position, weil sie
eine rationellere Politik auf lange Sicht betreiben und weniger furchtgeplagt und hyste-
risch sein würde.
Ich glaube nicht, daß das, was ich hier sage, nach science-fiction klingt, und ich hoffe,
daß der Typ von Leser, an den sich dieses Buch richtet, meine Meinung teilt. Jeder
Schriftsteller hat seinen bestimmten Lieblingstyp von imaginärem Leser: eine wohl-
wollende, aber auch in hohem Maß kritische Phantomgestalt, auf deren Meinung allein
es ihm ankommt und mit der er einen kontinuierlichen, zermürbenden Dialog führt. Ich
bin sicher, daß mein geneigter Phantomleser genügend Phantasie hat, um von den jüng-
sten, atemberaubenden Fortschritten der Biologie aus in die Zukunft zu extrapolieren
und einzuräumen, daß die hier angedeutete Lösung durchaus im Bereich des Möglichen
liegt. Was mir Sorge bereitet, ist die Vermutung, daß er eine solche Lösung höchst un-
sympathisch finden wird; daß ihn die Vorstellung, wir sollten unser Heil in der Mole-
kularchemie suchen anstatt in einer geistigen Wiedergeburt, mit Abscheu und Wider-
willen erfüllt. Ich teile seine Gefühle, aber ich sehe zu meinem Bedauern keine Alterna-
tive. Ich höre seine vorwurfsvolle Stimme: »Durch den Versuch, uns die Pillen
schmackhaft zu machen, verschreibst du dich gerade jener grobmaterialistischen Welt-
anschauung und jener naiven wissenschaftlichen Hybris, die du abzulehnen vorgibst!«
Das trifft nicht zu. Ich bleibe bei dieser Ablehnung. Ich glaube aber nicht, daß man es
als »materialistisch« bezeichnen kann, wenn man die Situation, in der sich die Mensch-
heit befindet, nüchtern beurteilt; ich halte es auch keinesfalls für Hybris, wenn man
Kindern, die sonst dem Kretinismus verfallen würden, Schilddrüsenextrakt eingibt. Un-
ser Gehirn zu benutzen, um seine eigenen Mängel auszukurieren, erscheint mir als ein
mutiges und schöpferisches Unternehmen. Ebenso wie der Leser würde auch ich es vor-
ziehen, meine Hoffnungen auf die moralische Überzeugungskraft des Wortes und des
guten Beispiels zu setzen. Aber wir sind nun einmal eine geistig kranke Spezies und ha-
ben für derlei nur taube Ohren. Angefangen vom Zeitalter der Propheten bis herab zu
Albert Schweitzer hat man es immer wieder versucht; was dabei herauskam, ist, wie
Swift es ausgedrückt hat: daß »wir gerade genug Religion in uns haben, um hassen zu
können, aber nicht genug, um einander zu lieben«. Das gilt für alle Religionen, theisti-
sche und säkulare, ganz gleich, ob sie von Moses, Marx oder Mao Tse-tung gepredigt
werden; und Swifts verzweifelter Schrei: nicht hier in ohnmächtiger Wut zu sterben,
wie eine vergiftete Ratte in ihrem Loch«, war noch nie von so dringlicher Aktualität wie
heute.

228
Die Natur hat uns im Stich gelassen, Gott scheint das Telephon abgeschaltet zu haben,
und unsere Gnadenfrist ist im Ablaufen. Die Hoffnung, unser Heil möge in einem bio-
chemischen Präparat liegen, mag materialistisch, verschroben oder naiv erscheinen; in
Wirklichkeit ist sie eher von einem Jungschen Archetypus inspiriert, denn sie spiegelt
den uralten Traum des Alchimisten wider, ein Lebenselixier zu brauen. Was wir von ei-
nem solchen erwarten, ist nicht das ewige Leben, auch nicht die Verwandlung von un-
edlem Metall in Gold, sondern die Verwandlung des homo maniacus in den homo sa-
piens. Kann die Menschheit sich dazu entschließen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen, so liegt diese Verwandlung durchaus im Bereich des Möglichen.

229
19 Anhang

19.1 Allgemeine Eigenschaften


offener hierarchischer Systeme (O.H.S.)*
* Die Theorie des Holons und des »offenen hierarchischen Systems« beabsichtigt einen Ausgleich zwi-
schen Atomismus und Holismus herbeizuführen. Eine Anzahl der obigen Resultate mag trivial erschei-
nen, für andere fehlt es an ausreichendem Beweismaterial, wieder andere mögen der Korrektur und Modi-
fikation bedürfen. Sie sind lediglich als Diskussionsgrundlage gemeint. Die in Teil III dieses Buches er-
örterten Probleme sind in dem obenangeführten Verzeichnis nicht enthalten.

A. Der Janus-Effekt
1. Der Organismus ist in seinem strukturellen Aspekt nicht ein Aggregat aus ele-
mentaren Einzelteilen und in seinen funktionellen Aspekten nicht eine Kette von
elementaren Verhaltenseinheiten.
2. Der Organismus ist als eine vielschichtige Hierarchie von halbautonomen Sub-
Ganzheiten anzusehen, die sich wiederum in Sub-Ganzheiten einer niederen Ord-
nung aufzweigen und so weiter. Sub-Ganzheiten auf allen Ebenen der Hierarchie
bezeichnen wir als Holons.
3. Teile und Ganze im absoluten Sinn gibt es im Bereich des Lebens nicht. Mit dem
Begriff des Holons ist beabsichtigt, einen Ausgleich zwischen der atomistischen
und der holistischen Auffassung zu bewirken.
4. Biologische Holons sind selbstregulierende offene Systeme, die sowohl die auto-
nomen Eigenschaften von Ganzen als auch die Abhängigkeit von Teilen aufwei-
sen. Diese Dichotomie macht sich auf allen Ebenen aller Typen von hierarchi-
scher Organisation bemerkbar; wir bezeichnen sie als Janus-Effekt beziehungs-
weise als Janus-Prinzip.
5. Im weiteren Sinn läßt sich der Begriff »Holon« auch auf jedes stabile biologische
oder soziale Sub-Ganze anwenden, das ein regelbedingtes Verhalten und/oder
strukturelle Gestaltkonstanz aufweist. So sind Organellen und homologe Organe
evolutionäre Holons; morphogenetische Felder sind ontogenetische Holons; die
erbkoordinierten Bewegungsfolgen der Ethologen und die Sub-Routineprozesse
bei erworbenen Fertigkeiten sind Verhaltens-Holons; Phoneme, Morphene, Wör-
ter und Wortgruppen sind linguistische Holons; Individuen, Familien, Stämme
und Nationen sind soziale Holons.

B. Zerlegbarkeit
1. Hierarchien sind »zerlegbar« in die einzelnen Zweige, aus denen sie bestehen; die
Holons sind ihre Knotenpunkte; die Zweiglinien stellen die Kommunikationska-
näle und Kontrolleitungen dar.
2. Die Anzahl der Stufen, die eine Hierarchie umfaßt, ist ein Maßstab für ihre »Tie-
fenstaffelung«, die Anzahl der Holons auf einer bestimmte Stufe bezeichnet man
als ihre »Spannweite« (S
Simon).

C. Regeln und Strategien


1. Funktionelle Holons unterstehen festen Regeln und entfalten mehr oder minder
flexible Strategien.

230
2. Die Regeln, als »Kanon« oder »Spielregeln« des Systems bezeichnet, bestimmen
seine invariablen Eigenschaften, seine strukturelle Konfiguration und/oder seine
Funktionsweise.
3. Während die Spielregeln die erlaubten Schritte im Tätigkeitsbereich des Holons
festlegen, wird die strategische Auswahl des im Rahmen der erlaubten Möglich-
keiten tatsächlich erfolgenden Schrittes von den jeweiligen Konstellationen in der
Umwelt gesteuert.
4. Der Kanon bestimmt die Spielregeln, die Strategie entscheidet über den Verlauf
des Spiels.
5. Der Evolutionsprozeß bringt Variationen zu einer begrenzten Anzahl kanonischer
Themen hervor. Die durch den Evolutionskanon auferlegten Beschränkungen las-
sen sich an den Phänomenen der Homologie, der Homöoplasie, des Parallelismus,
der Konvergenz und der loi du balancement ablesen.
6. In der Ontogenese stellen die Holons auf einander folgenden Stufen einander fol-
gende Phasen in der Entwicklung von Geweben dar. Im Verlauf des Differenzie-
rungsprozesses erlegt der genetische Kanon dem Entwicklungspotential des Ho-
lons immer weitere Beschränkungen auf, aber es behält noch ausreichende Flexi-
bilität, um im Rahmen seines Kompetenzbereichs den einen oder anderen Alter-
nativweg bei seiner Entwicklung einzuschlagen, je nach der Konstellation in sei-
ner Umwelt.
7. In struktureller Hinsicht ist der ausgereifte Organismus eine Hierarchie von Teilen
innerhalb der Teile. Seine »Zerlegbarkeit« und die relative Autonomie seiner Ho-
lons erweisen sich bei der Transplantations-Chirurgie.
8. In funktioneller Hinsicht wird das Verhalten von Organismen von »Spielregeln«
beherrscht, die bestimmend sind für seine Kohärenz, Stabilität und spezifische
Struktur.
9. Fertigkeiten – sowohl angeborene als erworbene – sind funktionelle Hierarchien,
bei denen Sub-Fertigkeiten, die von Sub-Regeln bestimmt werden, als Holons
fungieren.

D. INTEGRATION UND SELBSTBEHAUPTUNG


1. Jedes Holon zeigt die zweifache Tendenz, einerseits seine Individualität als quasi-
autonomes Ganzes zu bewahren und zu behaupten, anderseits als integrierter Teil
eines (bereits bestehenden oder in Entwicklung begriffenen) größeren Ganzen zu
funktionieren. Diese Polarität zwischen den selbstbehauptenden (S-B) und den
integratiyen (INT) Tendenzen ist ein inhärenter Faktor der hierarchischen Ord-
nung und ein universales Charakteristikum des Lebens. Die S-B-Tendenzen sind
der dynamische Ausdruck der Ganzheit des Holons, die INT-Tendenzen die seiner
Teilheit.
2. Eine analoge Polarität findet man bei der Wechselwirkung von kohäsiven und se-
parativen Kräften in stabilen anorganischen Systemen, von den Atomen bis zu den
Milchstraßensystemen.
3. Die allgemeinste Manifestation der INT-Tendenzen besteht in der Umkehrung des
Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik bei offenen Systemen, die »von negati-
ver Entropie gespeist werden« (SSchrödinger), und in der evolutionären Tendenz
zur »spontanen Entfaltung von Zuständen größerer Heterogenität und Komplexi-
tät« (H
Herrick).

231
4. Ihre spezifischen Manifestationen auf verschiedenen Niveaus reichen von der
Symbiose von Organellen und kolonienbildenden Tieren über die kohäsiven Kräf-
te bei Herden und Schwärmen bis zu den integrativen Banden in Insektenstaaten
und Primatensozietäten. Die komplementären Manifestationen der S-B-Tendenzen
sind Konkurrenz, Individualismus sowie die separativen Kräfte des Stammesbe-
wußtseins, des Nationalismus etc.
5. In der Ontogenese spiegelt sich die Polarität in der »Lenksamkeit« und der De-
termination der heranwachsenden Gewebe wider.
6. Im Verhaltensmodus von erwachsenen Individuen spiegelt sich die selbstbehaup-
tende Tendenz von funktionellen Holons in der Starrheit von Instinktritualen (fe-
sten Aktionsmodellen), von erworbenen Gewohnheiten (Handschrift, Sprechak-
zent) und in stereotypen Denkroutinen; die integrative Tendenz spiegelt sich in
flexiblen Adaptationen und in schöpferischen Tätigkeiten, die neue Verhaltens-
formen einleiten.
7. In Streß-Situationen manifestiert sich die S-B-Tendenz in den aggressiv-
defensiven, adrenergischen Emotionen, die INT-Tendenz in der selbsttranszendie-
renden (partizipatorischen, identifizierenden) Kategorie von Emotionen.
8. Beim Sozialverhalten präsentiert der Kanon eines sozialen Holons nicht nur die
Beschränkungen, die den Aktivitäten des Holons auferlegt sind, sondern er ver-
körpert auch Verhaltensmaximen, moralische Imperative und Wertsysteme.

E. Auslöser und Abtastvorrichtungen


1. Output-Hierarchien operieren im allgemeinen nach dem Auslöseprinzip, wobei
ein relativ einfaches, verschlüsseltes Signal komplexe, vorprogrammierte Mecha-
nismen auslöst.
2. In der Phylogenese kann eine vorteilhafte Gen-Mutation als Auslöser wirken, der
mit Hilfe der Hömorhese (W
Waddington) die Entwicklung eines ganzen Organs auf
harmonische Weise beeinflußt.
3. In der Ontogenese lösen chemische Auslöser (Enzyme, Induktoren, Hormone) das
genetische Potential der sich differenzierenden Gewebe aus.
4. Beim Instinktverhalten lösen Signalreize einfacher Art angeborene Bewegungs-
koordinationen aus (K
Konrad Lorenz).
5. Bei der Ausübung erlernter Fertigkeiten, einschließlich der verbalen Fertigkeiten,
werden implizite Intentionen aus aufeinanderfolgenden Stufen der Hierarchie kon-
kretisiert und zum expliziten Ausdruck gebracht.
6. Ein Holon auf der Stufe n einer output-Hierarchie wird auf der Stufe n + 1 als
Einheit repräsentiert und als Einheit in den Handlungsablauf eingegliedert. Mit
anderen Worten, ein Holon ist ein System von Relationen, das auf der nächsthöhe-
ren Ebene als ein Relatum repräsentiert wird.
7. In Sozialhierarchien (militärischer, administrativer Art etc.) gelten die gleichen
Grundsätze.
8. Input-Hierarchien operieren nach dem entgegengesetzten Prinzip; an Stelle von
Auslösern sind sie mit siebartigen Mechanismen ausgestattet (Abtastvorrichtun-
gen, »Resonatoren«, »Filter«, »Klassifikatoren«), die den input von bloßem »Ge-
räusch« befreien und seinen relevanten Inhalt je nach den Relevanzkriterien der
betreffenden Hierarchie abstrahieren und bearbeiten. In Sozialhierarchien und im
Nervensystem operieren »Filtervorrichtungen« auf jedem Niveau, das der Infor-
mationsfluß bei seinem Aufstieg von der Peripherie zum Zentrum passieren muß.

232
9. Auslöser verwandeln verschlüsselte Signale in komplexe output-Strukturen. Filter
verwandeln komplexe input-Strukturen in verschlüsselte Signale. Erstere lassen
sich mit Digital-Analog-Konvertern, letztere mit Analog-Digital-Konvertern ver-
gleichen (M
Miller, Pribram u.a.).
10. In perzeptorischen Hierarchien reichen die Filtervorrichtungen von der Habituati-
on und der motorischen Kontrolle der Rezeptoren über die Konstanzphänomene
bis zur Gestaltperzeption von räumlichen oder zeitlichen Konfigurationen und bis
zur Entschlüsselung von linguistischen und anderen Bedeutungsinhalten.
11. Output-Hierarchien konkretisieren, detaillieren und spezifizieren. Input-Hierar-
chien verarbeiten, abstrahieren und verallgemeinern.

F. Verzweigungen und Verflechtung


1. Hierarchien kann man als sich »vertikal« verzweigende Strukturen ansehen, deren
Zweige sich mit denen anderer Hierarchien auf mannigfachen Niveaus verflechten
und »horizontale« Netzgeflechte bilden: Verzweigung und Verflechtung sind
komplementäre Prinzipien in der Architektur von Organismen und Sozialverbän-
den.
2. Das bewußte Erleben wird bereichert durch die Zusammenarbeit von mehreren
perzeptorischen Hierarchien in verschiedenen Sinnesmodalitäten und innerhalb
der gleichen Sinnesmodalität.
3. Abstrahierte Erinnerungen werden in skelettierter Form gespeichert und entspre-
chend den Relevanzkriterien der betreffenden Wahrnehmungs-Hierarchie von ir-
relevanten Details befreit.
4. Lebhafte Details von gleichsam eidetischer Schärfe werden auf Grund ihrer emo-
tionalen Relevanz gespeichert.
5. Die Verarmung von Erlebnissen bei der Gedächtnisbildung wird bis zu einem ge-
wissen Grade kompensiert durch die Zusammenarbeit vielfältiger perzeptorischer
Hierarchien mit unterschiedlichen Relevanzkriterien beim Erinnerungsvorgang.
6. Bei der sensorisch-motorischen Koordination stellen die lokalen Reflexe Abkür-
zungswege auf dem untersten Niveau dar, vergleichbar den Straßenschleifen der
Autobahnen, die die Verkehrsströme entgegengesetzter Richtungen miteinander
verbinden.
7. Erlernte sensorisch-motorische Routinefertigkeiten funktionieren auf höheren Stu-
fen mittels Netzwerken von propriozeptiven und exterozeptiven feedback-
Schleifen, die als Servomechanismen fungieren und bewirken, daß der Radfahrer
in einem Zustand von selbstregulierender kinetischer Homeostase auf dem Fahr-
rad bleibt.
8. Nach der S-R-Theorie bestimmt die Umweltskonstellation das Verhalten; nach der
O.H.S.-Theorie steuert und korrigiert sie lediglich vorgegebene Verhaltensstruktu-
ren (P
P. Weiss).
9. Während die sensorischen Rückempfindungen die motorischen Tätigkeiten steu-
ern, stützt sich die Wahrnehmung ihrerseits auf motorische Tätigkeiten wie die
Abtastbewegungen des Auges oder das Summen einer Melodie im Dienste der
Gehörerinnerung. Die perzeptorischen und die motorischen Hierarchien arbeiten
auf jeder Stufe so eng zusammen, daß es sinnlos ist, einen kategorischen Unter-
schied zwischen »Reizen« und »Reaktionen« zu machen; sie sind zu »Aspekten
von geschlossenen Rückkoppelungskreisen« geworden (M Miller, Pribram u.a.).

233
10. Organismen und Sozialverbände operieren in einer Hierarchie von Umwelten, von
der lokalen Umwelt des einzelnen Holons bis zum »Gesamtfeld« der Umwelt, zu
dem auch aus der Extrapolation in Raum und Zeit abgeleitete imaginäre Umwel-
ten gehören können.

G. Der Dienstweg
1. Die höheren Instanzen einer Hierarchie stehen normalerweise nicht in direkter
Verbindung mit den niederen und umgekehrt; Signale werden nach oben wie nach
unten schrittweise »auf dem Dienstweg« übermittelt.
2. Versucht man die Sprache und andere menschliche Fertigkeiten als Manipulation
von Wörtern oder als bedingte Reaktionsketten zu erklären, dann zerreißt die Ver-
bindung zwischen Absicht und Ausführung.
3. Die Ausschaltung von Zwischenstufen durch eine bewußte Konzentration der
Aufmerksamkeit auf Prozesse, die normalerweise automatisch funktionieren, kann
zu Störungen führen, die von einfacher Befangenheit bis zu psychosomatischen
Krankheitssymptomen reichen.

H. Mechanisierung und Freiheit


1. Mit jedem Schritt aufwärts in der Hierarchie zeigen Holons in zunehmendem Maß
komplexere, flexiblere und weniger voraussagbare Verhaltensstrukturen, mit je-
dem Schritt abwärts treffen wir auf zunehmena mechanisierte, stereotype und vor-
aussagbare Verhaltensstrukturen.
2. Alle Fertigkeiten, ob sie angeboren oder erworben sind, zeigen mit zunehmender
Praxis die Tendenz, zu automatisierten Routinevorgängen zu erstarren. Dieser
Prozeß läßt sich als eine kontinuierliche Transformation von »geistigen« in »me-
chanische« Tätigkeiten bezeichnen.
3. Unter gleichartigen Voraussetzungen fördert eine monotone Umwelt den Mecha-
nisierungsprozeß.
4. Umgekehrt erfordern neue oder unerwartete Ereignisse in der Umwelt Entschei-
dungen, die an höhere Instanzen der Hierarchie weiterdelegiert werden müssen,
das heißt eine Verlagerung der Kontrollen nach oben hin, von »mechanischen«
auf »geistige« Tätigkeiten.
5. Jede Verlagerung nach oben bewirkt, daß der Tätigkeitsablauf mit lebhafterer und
präziserer Bewußtheit empfunden wird; da die Zahl der Alternativmöglichkeiten
mit der zunehmenden Komplexität auf den höheren Stufen ebenfalls zunimmt, ist
jede Verlagerung nach oben von dem subjektiven Erlebnis der Entscheidungsfrei-
heit begleitet.
6. Die hierarchische Anschauung setzt an die Stelle der dualistischen Theorien eine
»serialistische« Hypothese, bei der die Begriffe »geistig« und »mechanistisch« als
relative Attribute eines einheitlichen Prozesses erscheinen und das Dominieren
des einen oder anderen Attributs von Verlagerungen der Kontrolle nach oben oder
nach unten abhängt.
7. Das Bewußtsein entfaltet sich in der Phylogenese und in der Ontogenese aus pri-
mitiven Anfängen heraus zu komplexeren und präziseren Zuständen. Das Be-
wußtsein ist die höchste Manifestation der integrativen Tendenz (D 3), welche aus
der Unordnung Ordnung und aus Geräuschen Information extrahiert.
8. Das Ich läßt sich niemals vollständig in seiner eigenen Bewußtheit erfassen, noch
können seine Handlungen von einem denkbar perfekten Computer vollständig

234
vorausgesagt werden. Beide Versuche führen zu einer endlosen regressierenden
Reihe.

I. Gleichgewicht und Unordnung


1. Ein Organismus oder eine soziale Gemeinschaft befindet sich in dynamischem
Gleichgewicht, wenn die S-B-Tendenzen und die INT-Tendenzen seiner Holons
einander die Waage halten.
2. Der Begriff des Gleichgewichts in einem hierarchischen System bezieht sich nicht
nur auf das Verhältnis zwischen Teilen auf derselben Stufe, sondern auf das Ver-
hältnis zwischen Teil und Ganzem (das Ganze wird dabei von der Instanz reprä-
sentiert, die den Teil von der nächsthöheren Stufe aus kontrolliert).
3. Organismen leben auf Grund von Transaktionen mit ihrer Umwelt. Unter norma-
len Bedingungen sind die Spannungen in den Holons, die die Transaktion durch-
führen, nur vorübergehender Natur, und das Gleichgewicht wird nach Beendigung
der Transaktion automatisch wiederhergestellt.
4. Überschreitet die an den Organismus gerichtete Herausforderung ein kritisches
Limit, dann kann das Gleichgewicht gestört werden, das übererregte Holon kann
außer Kontrolle geraten und sich zum Nachteil des Ganzen behaupten oder dessen
Funktionen monopolisieren – ganz gleich, ob das Holon ein Organ, eine Denk-
struktur (fixe Idee), ein Individuum oder eine soziale Gruppe ist. Die gleiche Si-
tuation kann eintreten, wenn die koordinierenden Kräfte des Ganzen so ge-
schwächt werden, daß es nicht mehr imstande ist, seine Teile unter Kontrolle zu
halten (C
Child).
5. Die entgegengesetzte Art von Störung tritt ein, wenn das Ganzc über seine Teile
eine derartige Macht ausübt, daß deren Autonomie und Individualität untergraben
werden. Dieser Vorgang kann zu einer Regression der INT-Tendenzen ausgereif-
ter Formen der sozialen Integration zu primitiven Formen der Identifizierung füh-
ren und die quasi-hypnotischen Phänomene der Massenmentalität auslösen.
6. Der Prozeß der Identifikation kann stellvertretende Emotionen aggressiver Art
auslösen.
7. Die Verhaltensregeln eines sozialen Holons lassen sich nicht auf die Verhaltens-
regeln seiner einzelnen Mitglieder reduzieren.
8. Der Egoismus des sozialen Holons nährt sich vom Altruismus seiner Mitglieder.

J. Regeneration
1. An einen Organismus oder einen Sozialverband gerichtete Herausforderungen, die
ein kritisches Limit überschreiten, können sowohl degenerative als auch regene-
rative Wirkungen auslösen.
2. Das regenerative Potential in Organismen und Sozialverbänden manifestiert sich
in Fluktuationsprozessen, die von der höchsten Integrationsstufe auf frühere, pri-
mitivere Niveaus zurückgreifen und beim Wiederaufstieg zu neuen, modifizierten
Strukturen führen. Prozesse dieser Art scheinen sowohl bei der biologischen als
auch bei der geistigen Evolution eine bedeutende Rolle zu spielen; sie spiegeln
sich im universalen Motiv von Tod und Wiedergeburt in der Mythologie.

235
19.2 Quellennachweise
001 Hardy (1965).
002 Thorpe (1966 A).
003 Lorenz (1963).
004 Watson (1913) S. 158–167.
005 Watson (1928) S. 6.
006 a.a.O.
007 Burt (1962) S. 229.
008 Skinner (1953) S. 30–31.
009 Harlow (1953) 5. 23–32.
010 Skinner (1938) S. 22.
011 Watson (1928) S. 6.
012 Watson (1928) S. 198 ff.
013 Skinner (1953) S. 252.
014 Watson (1928) S. 3–6.
015 Sherrington (1906) S. 8.
016 Watson (1928) S. 11.
017 Calvin, Hrsg. (1961).
018 a.a.O. S 376–378.
019 Skinner, zitiert von Chomsky (1959) S. 548.
020 Liberman, Cooper u. a. (1965).
021 McNeill (1966).
022 Brown (1965).
023 McNeill, a.a.O.
024 a.a.O.
025 Zitiert von Lashley (1951) S. 117.
026 Popper (1959) S. 280.
027 James (1890) Band 1, S. 253.
028 Needham, J. (1932).
029 Simon (1962).
030 Jacobson (1955).
031 Simon, a.a.O.
032 Simon, a.a.O.
033 Bertalanffy (1952) S. 48, 50.
034 Dunbar (1946).
035 Weiss und Taylor (1960).
036 Thorpe (1956) S. 37–38.
037 Bartlett (1958).
038 Gregory (1966) Kapitel 2.
039 Kottenhoff (1957).

236
040 Lashley (1951) S. 128.
041 Koestler und Jenkins (1965 A).
042 Koestler (1964) S. 524–525.
043 Jaensch (1930), Kluever (1931).
044 Dreyer (1962).
045 Cannon (1939).
046 Miller u. a. (1960) S. 18, 30.
047 Thorpe (1956) S. 19.
048 Baehrends (1941).
049 Hingston (1926–1927), zitiert von Thorpe (1956) S. 39.
050 Thorpe (1956) S. 262.
051 Tinbergen (1953) S. 116.
052 Bertalanffy (1952) S. 17–18.
053 Huxley, J. (1954) S. 14.
054 Bonner (1965) S. 316.
055 a.a.O., S. 142.
056 Waddington (1952).
057 Huxley, J. (1954) S. 12.
058 Waddington (1952).
059 Whyte (1965) S. 50.
060 Hardy (1965) s. 211.
061 St-Hilaire, zitiert von Hardy (1965) S. 50.
062 Goethe (1957), Band IV, S. 140.
063 Thompson (1942) S. 1082–1084.
064 Simpson, Pittendrigh und Tiffany (1957) 5. 472.
065 Simpson (1949) S. 180.
066 Bertalanffy (1952) S. 105.
067 Spurway (1949), zitiert von Whyte (1965).
068 Whyte (1965).
069 Simpson (1950), zitiert von Hardy (1965) S. 14.
070 Sinnott (1961) S. 45.
071 Muller (1943), zitiert bei Sinnott (1961) S. 45.
072 Simpson u. a. (1957) S. 354.
073 Coghill (1929).
074 Hardy (1965) S. 170.
075 a.a.O., S. 178.
076 a.a.O., S. 176.
077 a.a.O., S. 172, 192, 193.
078 Waddington (1957) S. 182.
079 a.a.O., S. 166–167.
080 Tinbergen (1953) S. 55.

237
081 Ewer (1960), zitiert von Hardy (1965) S. 187.
082 Herrick (1961) S. 117 f.
083 Waddington (1957) S. 180 ff.
084 a.a.O., S. 64–65.
085 Huxley (1964) S. 12–13.
086 a.a.O., S. 13.
087 Young (1950) S. 74.
088 de Beer, (1940) S. 118.
089 Child (1915) S. 467.
090 de Beer, a.a.O., S. 119.
091 a.a.O., S. 72.
092 Haldane (1932) S. 150.
093 Garstang (1922).
094 Muller (1943) S. 109.
095 Krechevsky (1932).
096 Needham, A. E. (1961).
097 Siehe z.B. Hamburger (1955).
098 a.a.O.
099 a.a.O.
100 Lashley (1960) S. 239.
101 Lashley (1929).
102 Kris (1964).
103 Zitiert von Hadamard (1949).
104 Humphrey (1951) S. 1.
105 Bartlett (1958).
106 Bruner und Postman (1949).
107 McKellar (1957).
108 Kubie (1958).
109 Herrick (1961) S. 51.
110 Bertalanffy (1952) S. 128.
111 Herrick (1961) S. 47.
112 Schrödinger (1944) S. 72.
113 Wiener (1948) S. 76–78.
114 Spencer (1862).
114a Whyte (1949) S. 35.
115 Schrödinger (1944) S. 88.
116 Bertalanffy (1952) S. 112.
117 Waddington (1961).
118 Ryle (1950).
119 Gellner (1959).
120 Smythies (1965).

238
121 Beloff (1962).
122 Gellner (1959).
123 Kneale (1962).
124 Penfield (1961).
125 a.a.O.
126 Farber und Wilson, Hrsg. (1961).
127 Eccles, Hrsg. (1966).
128 Sherrington (1906).
129 Thorpe (1966 B) S. 542.
130 a.a.O., S. 495.
131 Sperry (1960) S. 306.
132 Adrian (1966) S. 245.
133 Koestler (1945) S. 396–397 (Deutsche Ausgabe).
134 MacKay (1966) S. 439.
135 Popper (1950).
136 Polanyi (1966).
137 MacKay (1966) S. 252–253.
138 Koestler (1959 und 1964).
139 Zitiert von Dubos (1950) S. 391 f.
140 Freud (1920) S. 3–8.
141 Schachtel (1963).
142 Berlyne (1960) S. 170.
143 Child (1924).
144 Arendt (1963).
145 Hogg (1961) S. 44–45, 21.
146 Prescott (1964) S. 59, 60, 61.
147 a.a.O., S. 62.
148 Maslow (1962).
149 Jung (1928) S. 395.
150 Kretschmer (1922).
151 Oswald (1966) S. 118–119.
152 Dreyer (1962).
153 Freud (1922) S. 142, 95.
154 Hayek (1966).
155 Koestler (1940) S. 110 (Deutsche Ausgabe).
156 Koestler (1945) S. 221–222.
157 The Times, London, 27.07.1966.
158 Empson (1964).
159 Koestler (1945) S. 211–212 (Deutsche Ausgabe).
160 Koestler (1945) S. 46–48 (Deutsche Ausgabe).
161 Suzuki (1959) S. 33.

239
162 Koestler (1950) S. 42–43 und (1954) S. 26 (Deutsche Ausgabe).
163 The Times, London, 10.08.1966.
164 Gaskell (1908) S. 65–67.
165 a.a.O., S. 66.
166 Wood Jones und Porteous (1929) S. 27–28.
167 a.a.O., S. 117.
168 a.a.O., S. 103.
169 a.a.O., S. 112.
170 Le Gros Clark (1961).
171 Wheeler (1928) S. 46.
172 Herrick (1961) S. 398–399.
173 MacLean (1958) S. 613.
174 MacLean (1956) S. 352.
175 Mandler (1962) S. 273–274 und 326.
176 Herrick (1961) S. 316.
177 MacLean (1962) S. 289.
178 MacLean (1964) S. 2.
179 MacLean (persönliche Mitteilung).
180 MacLean (1958).
181 a.a.O., S. 615.
182 a.a.O., S. 614–615.
183 Herrick (1961) S. 429.
184 MacLean (1958) S. 614.
185 MacLean (1964) S. 3.
186 MacLean (1956) S. 341.
187 MacLean (1956) S. 341 und (1958) S. 619.
188 MacLean (1956) S. 341.
189 MacLean (1964) S. 10–11.
190 MacLean (1962) S. 296.
191 Miller u. a. (1960) S. 206.
192 MacLean (persönliche Mitteilung).
193 MacLean (1956) S. 348.
194 Kluever (1911).
195 MacLean (1961) S. 1737.
196 MacLean (1958) S. 619.
197 MacLean (1962) S. 292.
198 Lorenz (1963) S. 207.
199 Allport (1924).
200 Olds (1960).
201 Hebb (1949).
202 Pribram (1966).

240
203 Gellhorn (1963).
204 a.a.O.
205 Cobb (1950).
206 MacLean (1962) S. 295.
207 Pribram (1966) S. 9.
208 Gellhorn (1957).
209 Huxley, J. (1963) S. 7–28.
210 Koestler (1959) S. 513–514 (Deutsche Ausgabe).
211 Pyke (1961) S. 215.
212 Koestler (1964) S. 244–245 (Deutsche Ausgabe).
213 Huxley, J. (1964) S. 192.
214 Russell, W. M. S. in The Listener, London, 05.11.1964 und 12.11.1964.
215 Lorenz (1963) S. 40.
216 Russell, W. M. S. und C. in The Listener, London, 03.12.1964.
217 Lorenz (1963) S. 337-339.
218 Koestler (1966 B).
219 Lorenz (1963) S. 348.
220 Lévy-Bruhl (1923) S. 63.
221 Berger (1967).
222 Platt (1966) S. 195, 196 und 200.
223 de Beer (1966).
224 National Research Council Report (1962).
225 Harkavy (1964).
226 a.a.O., S. 8.
227 Eastman (1965).
228 Morris (1966).
229 Time, New York, 29.01.1965.
230 Bertalanffy (1956).
231 Time, New York, 25.09.1964.
232 Lindquist (1966).
233 Time, New York, 24.09.1965.
234 Platt (1966) S. 192.
235 Lorenz (1963) S. 336.
236 MacLean (1961) S. 1738–1739.
237 Hydén (1961).
238 Saunders (1961) S. 11 ff.
239 Huxley, A. (1961).

241
19.3 Verzeichnis der in diesem Buch erwähnten Werke
Die Jahreszahlen beziehen sich auf die vom Autor benutzten Ausgaben.
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