Questions
Questions
Questions
Angemeldet
Heruntergeladen am | 09.11.15 17:18
Bereitgestellt von | New York University Bobst Library Technical Services
Angemeldet
Heruntergeladen am | 09.11.15 17:18
Alexander Demandt
2011
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte
1. Die persische Weltalterlehre 91 – 2. Die Juden als auserwähltes Volk 93 –
3. Geschichte im Neuen Testament 98 – 4. Endzeit gemäß Daniel 103 – 5. Die
Inkarnation als Epoche 107 – 6. Die Reichstheologie Eusebs 110 – 7. Augustins
Zwei-Reiche-Lehre 113 – 8. Geschichtstheologie 118
XIV. Geschichtsbiologismus
1. Gobineau und die Arier 292 – 2. Darwin und die Evolution 293 – 3. Chamber-
lain und die Rassenlehre 299 – 4. Freuds Pessismismus 305 – 5. Lorenz und die
Höherentwicklung 309 – 6. Grenzen der Biologik 315
Anhang
Anmerkungen
Kapitel I 367 – Kapitel II 368 – Kapitel III 370 – Kapitel IV 372 – Kapitel V 374 –
Kapitel VI 377 – Kapitel VII 379 – Kapitel VIII 381 – Kapitel IX 383 – Kapitel X 386 –
Kapitel XI 387 – Kapitel XII 389 – Kapitel XIII 391 – Kapitel XIV 392 – Kapitel XV 396 –
Kapitel XVI 397 – Anmerkungen zu „Ein Wort hernach“ 401
Abkürzungen 402
Literatur 406
Detailübersicht 420
Im Jahre 1842 erhielt König Friedrich Wilhelm IV von Preußen, kürzlich inthro
nisiert, von Zar Nikolaus I ein kostbares Geschenk: eine Kopie der beiden Rosse-
bändiger des baltischen Bildhauers Peter von Clodt-Jürgensburg, die dieser für den
Newskijprospekt zu Sankt Petersburg geschaffen hatte. Die überlebensgroßen Bron-
zen zierten die Eckkonsolen vor dem Schloßgartenportal hin zur Lustgartenterrasse
und haben die Zerstörung des Schlosses 1951 überlebt. Sie stehen heute vor dem
Kammergericht im Schöneberger Kleistpark. Der unerschöpfliche Berliner Volks-
witz hat diesen beiden rossebändigenden Heroen nach 1848 Namen gegeben: „Der
gehemmte Fortschritt“ und „Der beförderte Rückschritt“.
Die beiden Spottnamen verweisen auf die Popularität einer Ordnungskategorie
im Urteil über Vorgänge der eigenen Zeit. Seit dem Beginn der Aufklärung befand
und sah man sich auf allen Lebensgebieten in einer raschen Veränderung und
bewertete die Maßnahmen der Politiker, die Neuerungen in Wirtschaft und Gesell-
schaft sowie die kulturellen Erscheinungen danach, ob sie progressiv und damit
zeitgemäß und zukunftweisend oder aber konservativ, wo nicht gar reaktionär seien.
Die Haltung des Preußenkönigs im Vormärz, nicht anders als die seines Schwagers
an der Newa, schien den Berlinern nicht auf der Höhe der Zeit und mußte sich den
Spott der Straße gefallen lassen.
Die Denkfigur einer linearen Zeit, die uns entweder fortschrittlich aufwärts
oder aber rückschreitend abwärts führt und in den Verfall, die Dekadenz, den
Untergang mündet, die aber auch in zyklischen Wiederholungen ablaufen kann, ist
keine Vorstellung allein der Neuzeit. Jüdische Propheten, griechische Philosophen
und römische Dichter, Kirchenväter und neuzeitliche Denker haben darüber nach-
gesonnen, wie der Weg der Menschheit verläuft. Sie haben versucht, historische
Erfahrung durch Sprachbilder, Gleichnisse und Mythen begreiflich zu machen, zu
bewerten und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Indem sie damit ihr Welt-
bild zum Ausdruck brachten, eine weltanschauliche Richtung vertraten, blieben die
Positionen so kontrovers wie die politischen Ideologien, die bis heute auf unter-
schiedlichen Geschichtsphilosophien beruhen.
*
Mein Interesse an der vorliegenden Thematik reicht zurück in die Büdinger Schü-
lerzeit, als ich im großväterlichen Bücherregal ein Werk mit dem provozierenden
Titel ›Der Untergang des Abendlandes‹ entdeckte. Aus der Marburger Studenten-
zeit vor fünfzig Jahren stammen die im folgenden benutzten Exzerpte aus Kant,
Hegel und Nietzsche. Während der endlosen, aber lehrreichen Theoriedebatten
1966 bis 1974 an der Universität Konstanz mit den aufmüpfigen Studenten und
meinen Mitassistenten Oettinger aus der Germanistik, Schleichert aus der Philoso-
phie und Söhnen aus der Rechtswissenschaft hat sich mein Interesse an Geschichts-
theorie und an Denkbildern für soziales Geschehen verstärkt. Ich habe begonnen,
Metaphern für Geschichte zu sammeln. Anhand ihrer habe ich die politisch-histo-
rische Bildersprache durch die Zeiten verfolgt und das Ergebnis 1978 vorgelegt.
Sprachbilder für Geschichte spiegeln Vorstellungen über den Gang der Ereignisse.
Immer wieder erstaunlich ist, wieviele Grundgedanken der Moderne in der Antike
bereits nachweisbar sind. Thematische Längsschnitte haben mich seither wiederholt
gereizt, wenn mich wieder einmal die Muse Klio geküßt hat.
Seit 1975 habe ich an der Freien Universität Berlin zum Geschichtsdenken Vor-
lesungen, Seminare und Kolloquien durchgeführt. Dabei konnte ich von den Anre-
gungen meiner Kollegen und insbesondere von den Beiträgen meiner Studenten –
vom 1. bis 14. Semester! – vielfach und dankbar profitieren. Die Begegnung mit
klügeren jungen Leuten inner- und außerhalb der Universität gehörte neben der
Freiheit des Forschens und Lehrens zu den schönsten Seiten des akademischen
Daseins im späten zweiten Jahrtausend.
Mehrere Einzelthemen dieses Buches wurden schon einmal behandelt, sowohl
in früheren Aufsätzen, zusammengefaßt in meinen ›Historica Minora‹ (I 1997
Wissenschaftsgeschichte, II 2002 Geschichtsphilosophie, III 2005 Kulturge-
schichte) als auch in meinen Büchern ›Der Fall Roms‹ (1984), ›Endzeit‹ (1993) und
›Apseudestata‹ (2006). Davon wurde manches übernommen. Ist es nicht statthaft,
sich mit eigenen Federn – ich meine solche aus Stahl – zu schmücken? Das Grund-
konzept des vorliegenden Buches ist eine seit 1982 mehrfach gehaltene Vorlesung.
Bei der Auswahl der Autoren mußte ich mich auf solche beschränken, die als
Klassiker gelten dürfen und den historisch und philosophisch interessierten Studen-
ten nahegebracht werden sollten. Schwierig war zumal die Entscheidung zwischen
den jüngeren Philosophen, deren bleibende Bedeutung noch nicht sicher erkennbar
ist und ihrem momentanen Echo keineswegs entsprechen muß. Die Überzahl der
Deutschen unter den hier berücksichtigten Denkern beruht weniger auf nationaler
Eitelkeit als auf dem Eindruck, daß Geschichtsphilosophie in Deutschland neben
Frankreich einen höheren Stellenwert hatte als im eher anschaulichen südromani-
schen oder stärker pragmatisch ausgerichteten englischen Schrifttum.
Unvermeidlich war eine idealtypische Vereinfachung der dargestellten Positio-
nen und der Verzicht darauf, jede Meinungsänderung der Autoren zu berücksichti-
gen. Auch ging es nie um eine Würdigung ihrer Leistung in anderen Bereichen oder
gar um Patriarchenschlächterei. Im Hinblick auf die begrenzte Zeit, den verfügba-
ren Umfang und die anvisierte Leserschaft wurde auch abgesehen von der erforder-
a. Penes Janum sunt prima, schreibt Varro, ad Janum pertinent initia factorum.1 „Bei
Janus ist das Erste, zu Janus gehören die Anfänge der Taten“. Darum haben die
Römer Janus als ersten aller Götter angerufen: Er war der Gott des Anfangs und des
Endes, des Kriegs und des Friedens, der Gott der Zeit und der Ewigkeit. Sein Zei-
chen war der Schlüssel zum Schließen und Öffnen, sein Ort die Türe für Eingang
und Ausgang, seine Finger stellten die Zahl 365 dar.2 Janus trug zwei Gesichter, er
blickte in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich. So verbildlicht er Wesens-
züge der Zeit und die Ambivalenz der Phänomene, wie uns das bei der Beschäfti-
gung mit der Geschichte von Anbeginn begegnet.
b. „Beschäftigung mit Geschichte“ ist ein mehrdeutiger Ausdruck, je nach der
dahinter stehenden Absicht, dem gewählten Gegenstand und der angewandten
Methode. Der Historiker befaßt sich mit Caesar und Kleopatra, mit Ausbruch und
Abschluß des Golfkrieges – nicht aber mit „der Geschichte“. Geschichte ist nicht
der Gegenstand des Historikers, sondern der Bereich, aus dem seine Gegenstände
stammen, oder die Eigenschaft, die ein Gegenstand haben muß, damit ein Histori-
ker sich mit ihm befassen kann. Der Historiker fragt: „Was ist geschehen?“ nicht:
„Was ist Geschichte?“ Das ist keine historische Frage. Zuständig wäre dafür die
Philosophie, im aristotelischen Sinne begriffen als Wissenschaft von den Wissen-
schaften. Aber Aristoteles beansprucht für sie kein Kompetenzmonopol.3 Denn er
erklärt: „Wer auf irgendeinem Gebiet Fachmann ist, der sollte die Wesenszüge sei-
nes Arbeitsgebietes beschreiben können.“
1. Geschichtlichkeit
1a. Wesenszüge einer Sache erfaßt die Definition des Begriffs, mit dem wir sie
bezeichnen. Nietzsche befand, daß nur das definiert werden könne, was keine
Geschichte hat. Was sich ändert, was lebt, wird durch eine Definition mumifiziert.
Nietzsches Bemerkung fußt auf Kant.4 Er betont, daß im strengen Sinne nur
mathematische Begriffe definiert werden können. Von empirischen Begriffen sei
eigentlich keine Definition möglich, sondern bloß eine Exposition oder Explika-
tion, weil neue Beobachtungen auch an altbekannten Gegenständen neue Unter-
scheidungen ermöglichen oder erzwingen können, so daß ihre Identität zur Dispo-
sition steht.
1b. Die Paradoxie der Identität thematisierte schon Heraklit: „In denselben
Strom steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und wir sind es nicht.“5 Die
Lösung bietet die Geschichte. Im Sinne von Geschichtlichkeit ist sie ein Dauerzu-
stand, im Sinne von Geschehen bedeutet sie Veränderung. Sie ist der Inhalt der
Zeit. Geschähe nichts, so würde mit dem Wort „Geschichte“ der Begriff „Zeit“
inhaltslos und entbehrlich.6 Zeitlosigkeit aber ist nur denkbar, wenn wir davon
absehen, daß Denken selbst ein Vorgang ist und Zeit erfordert.
1c. Wir erleben die Zeit als Dimension der Bewegung, der Veränderung, weil
unser Leben, unser Organismus selbst ständig in Bewegung ist. Dies wird uns ver-
mittelt von unserem Bewußtsein, das mit der Gegenwart deckungsgleich ist und
durch den momentanen Gedanken an Früheres und Späteres die Zeit als Struktur-
element enthält. Unser Ich-Bewußtsein, die reine Subjektivität, ist sinngleich mit
der Gegenwart, der höchsten Objektivität. Die Wörter „ich“ und „jetzt“ und „hier“
sind nicht zu trennen.
1d. Die Zeit als Inbegriff der Veränderung vollzieht sich an lebenden wie an
toten Gegenständen, die eben dadurch Geschichte haben. Auch der standhafte
Zinnsoldat hat seine Geschichte, so wie jeder Grashalm, jede Schneeflocke. Die
Veränderungen im Leben der Menschheit erfolgen bald rascher, bald langsamer,
ereignen sich regelhaft oder zufällig, sie schließen Phasen scheinbarer Ruhe ein,
scheinbar deswegen, weil auch weit auseinanderliegende Schauplätze einander tan-
gieren und affizieren; und solange irgendwo etwas passiert, ist das Ganze irgendwie
im Fluß. Geschichtlichkeit erfordert Kontinuität. Jeder Zustand schließt an einen
vorausgegangenen an und hat einen späteren zur Folge. Dennoch verläuft das
Geschehen nicht gleichmäßig, sondern in Etappen. Das Wort „Zeit“ beruht auf
einer Wurzel, die „Teilbarkeit“ bedeutet, wie denn Tag und Nacht, Sommer und
Winter die Zeit einteilen und damit meßbar machen.
1e. Geschichtlicher Wandel ist permanent, kontinuierlich und im strengen
Sinne unumkehrbar. Im laschen Sinne ist das anders. Umkehr und Wiederholung
fand man in der Natur. Da der Mond zunimmt und abnimmt, Sommer kommen
und gehen, Kräuter wachsen, welken und wieder ergrünen, erleben wir neben dem
Crescendo auch ein Decrescendo. Bei der Periodizität in der Natur handelt es sich
freilich um Epiphänomene zu linearen Prozessen, die eingebettet sind in die Evolu-
tion der Erdgeschichte, kosmisch in eine universale Entwicklung, die nach dem
Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz vom Urknall zum Wärmetod verläuft. Die
Weltgeschichte beginnt mit einer Katastrophe und endet in einer Sackgasse. Eine
zweite Jugend kennt nur der Jungbrunnen in der Alexandersage oder Mephistos
Hexenküche. Wiedergeburt ist eine religiöse Vorstellung. Der Tod erscheint als
umgekehrte Geburt, indem der Mensch in den Schoß der Erde eingeht oder zu
Gott aufsteigt.
1f. Die Geschichtlichkeit als universales Prinzip erfordert ein beharrliches Sub-
strat, an dem sich die Veränderung abspielt. Wenn die Zustände wechseln, muß der
Gegenstand doch derselbe bleiben. Der Schmetterling ist von der Raupe über die
Puppe zur Imago dasselbe Tier. Der Himmel morgens und abends, der Garten som-
mers und winters, die Stadt Jerusalem 1000 vor und 2000 nach Christus – sie alle
bleiben dem Wandel zum Trotz dieselben Gegenstände, sonst könnten wir weder
von Gegenständen noch von Wandel reden. Die Frage, welche Veränderungen ein
Gegenstand unbeschadet seiner Identität durchmachen darf, ist eine Frage der
Sprachregelung. Eine Herz-Transplantation mag der Patient überstehen, aber ein
neuer Kopf erforderte einen neuen Paß.
1g. Die Identität stiftende Namengebung gehorcht teils praktischen, teils ideo-
logischen Motiven. Wenn wir von den frühen Indianerkulturen Amerikas sprechen,
setzen wir uns über die Tatsache hinweg, daß die „Indianer“ ihren Namen irrtüm-
lich erhalten haben und daß Amerika erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts nach und
nach so benannt worden ist. Zutreffend, aber unpraktisch wäre es, von den Kultu-
ren jener Völker zu reden, die seit Kolumbus als „Indianer“ bezeichnet werden in
einem Land, das wir seit Waldseemüller „Amerika“ nennen. Die Ägypter haben im
4. Jahrhundert ihre Religion, im 7. ihre Sprache gewechselt; sie haben Einwande-
rungen erlebt, haben ihre alten Kulturdenkmäler nach Kräften zerstört – sind sie
noch dasselbe Volk? Im späten 19. Jahrhundert erwachte bei ihnen der Nationalis-
mus, sie reklamierten die Pharaonen als Teil „ihrer Geschichte“. Zu Recht? Wer hat
das zu entscheiden?
1h. Kant nennt das Bleibende „Substanz“, Platon nannte es „Idee“. Daß beide
Begriffe dasselbe bezeichnen können, leuchtet schwer ein, weil wir uns Substanzen
materiell und Ideen stofflos vorstellen. Dennoch sind beide Träger von Verände-
rung. So wie der Stoff gleichbleiben kann, wenn sich die Form ändert, so kann die
Form dauern, wenn der Stoff wechselt: Ein Fluß bleibt derselbe, obschon das Was-
ser wechselt, ja er bleibt auch dann derselbe, wenn er sein Bett verlagert. Identität
beruht auf Kontinuität.
1i. Geschichte erfordert eine Substanz, einen Gegenstand, der jene Veränderun-
gen durchmacht, die wir als seine „Geschichte“ bezeichnen. Um Geschichte haben
zu können, muß der Gegenstand somit erst einmal begrifflich dasein. Die gedank-
liche Präexistenz eines Gegenstandes ist die Voraussetzung für die Rede von seiner
Geschichte. Da alle Gegenstände irgendwann entstanden sind, nennen wir deren
Entstehungszeit ihre Vorgeschichte. Dieser Begriff enthält einen Anachronismus,
denn in der Vorgeschichte des Milchstraßensystems oder der Französischen Revolu-
tion gab es diese noch nicht. Durch einen solchen Vorgriff lösen wir das Dilemma,
daß die Priorität logisch dem Gegenstand, historisch jedoch der Geschichte
zukommt. Denn wenn auch der Gegenstand in begrifflicher Form seiner eigenen
Geschichte vorhergeht, so geht er doch nicht jeder Geschichte vorher.
1j. Entstehen und Vergehen sind keine Veränderungen des Gegenstandes, der
entsteht oder vergeht.7 Doch lassen sich auch Entstehen und Vergehen dann als
Formen der Veränderung denken, wenn wir an Erscheinungen wie Wolken denken,
die dann nicht Gegenstände, sondern Zustände von Wasserdampf sind. Gründung
und Auflösung eines Vereins bedeuten Entstehen und Verschwinden eben dieses
Vereins, jedoch nur Veränderungen im Leben der Mitglieder. Was entsteht, das
entsteht aus etwas; was vergeht, das vergeht in etwas. Betrachte ich sein Entstehen
und Vergehen, so erscheint der Gegenstand als Teil einer größeren Geschichte, ist er
selbst Zustand eines sich wandelnden Gegenstandes.
2. Mythos
2a. Die Frage „Was ist Geschichte?“ gilt dem Begriff „Geschichte“. Er hat selbst
Geschichte und zeigt darin wandelnde Bedeutungen. Die Wortgeschichte wirft
Licht auf den Sinn des Begriffs. Omnis rei inspectio etymologia cognita planior est,
heißt es bei Isidor von Sevilla,8 die Einsicht in jede Sache wird klarer, wenn wir die
Begriffsgeschichte erkennen. Der Historiker, der die Geschichte nach dem Wesen
seines Faches befragt, befindet sich anderen Forschern gegenüber in einer privile-
gierten Situation. Denn er kann sein gewohntes methodisches Besteck verwenden,
kann die Wissenschaftsgeschichte erforschen, ohne die erlernte Methode wechseln
zu müssen. Ein Physiker oder Mediziner müßte, um Entsprechendes zu können,
außer der Physik oder der Medizin auch noch Geschichte studieren. Die Vergan-
genheit bietet zu allen Fragen nach dem Wesen eines Faches Anschauungsmaterial.
Die letzte Antwort darauf müssen wir zwar selber geben, aber im Dialog mit unse-
ren Vorgängern finden wir sie leichter. Geschichte ist insoweit Objekt und Instru-
ment der Erkenntnis zugleich.
2b. Wenn wir den Geschichtsbegriff zurückverfolgen, geraten wir in die Zeit des
Mythos. Mit dem Wort „Mythos“ bezeichnen wir die ältesten, ursprünglich münd-
lichen Überlieferungen der Völker: exempli gratia die Epen Homers und Hesiods,
ebenso die frühesten Teile der Bibel. Es handelt sich inhaltlich um zwei Arten von
Erzählgut: um Kosmogonie und um Heldenlieder. Beide Male sind Götter beteiligt.
2c. Die Weltentstehungslehren der Juden im Buch Genesis des Alten Testaments
und die der Griechen bei Hesiod wurden nach längerer mündlicher Weitergabe in
der Zeit zwischen 900 und 700 v. Chr. aufgezeichnet. Sie verbinden Natur- und
Menschheitsgeschichte, erzählen vom Ursprung des Kosmos und von der Erschaf-
fung der Menschen, vom Ursprung des Bösen und vom Schicksal der Menschheit
und ihrer Aufspaltung in Völker. Diese Texte geben Antworten auf die Frage nach
den Gründen des Bestehenden, sie erklären das Sein aus dem Werden und sind
insoweit ihrer Absicht nach historisch. Sehen wir ab von dem Wahrheitsgehalt und
blicken nur auf den Sinngehalt, so dürfen wir diese Mythen als Frühform der
Geschichtsphilosophie ansprechen, da es um Wesensaussagen über Menschen und
Zeiten, um eine Deutung der Gegenwart aus der Vergangenheit geht. Insofern sind
die ersten geschichtsphilosophischen Ansätze ebenso alt wie die früheste, im enge-
ren Sinn historische Überlieferung.
2d. Gemeinte Geschichte liegt vor in der Form des Heldenliedes, der zweiten
Gattung des Mythos. Musterbeispiele bieten die Epen Homers. Sie sind die ältesten
griechischen Schriftdokumente. Die ›Ilias‹ entstand um 750 v. Chr. und beschreibt
den „Zorn des Achill“, eine Schlüsselepisode von 50 Tagen aus dem Krieg um Troja.
Die um 700 abgefaßte ›Odyssee‹ behandelt die Irrfahrten des Odysseus auf dem
Rückweg von Troja nach Ithaka und enthält viel Märchenhaftes. 1795 hat Friedrich
August Wolf in seinen ›Prolegomena ad Homerum‹ behauptet, die beiden Epen
seien aus vorgefertigten Teilen verschiedener „Homeriden“ erst unter Peisistratos
um 530 v. Chr. zusammengesetzt worden, doch gilt heute die Ilias – einzelne
Zusätze abgerechnet – als Werk Homers, wogegen die Odyssee möglicherweise von
einer anderen Hand stammt. Daß jeweils alte, lange mündlich überlieferte Stoffe
verarbeitet wurden, steht außer Frage.
2e. Heldenlieder, die militärisch-politische Taten durch mündliche Tradition
festhielten, gab es in vielen archaischen Gesellschaften. Für die Kelten bezeugt sie
Caesar; Ammianus Marcellinus berichtet, daß die keltischen „Barden“ Heldenge-
dichte zum „süßen Klang der Leier“ rezitierten. Cato erzählte in seinen ›Origines‹,
die alten Römer hätten sich beim Tafeln die Heldentaten ihrer Ahnen unter Flöten-
klang angehört.9 David hat vor Saul gewiß nicht nur Zither gespielt, sondern auch
gesungen. Von Tacitus wissen wir, daß die Germanen Heldenlieder auf Arminius
überlieferten. Sidonius Apollinaris berichtet von Heldenliedern am westgotischen
Königshof, und Jordanes spricht von solchen auf den Westgotenkönig Theoderich,
der 451 auf den Katalaunischen Gefilden gefallen ist. Die Goten überlieferten ihre
Urgeschichte und die Taten der Ahnen in Liedern zur Kithara, die Hunnen besan-
gen Attilas Tod.10
2f. Während die keltischen, römischen und germanischen Heldenlieder größ-
tenteils verloren sind, besitzen wir in Homer nicht nur die Gesänge selbst, sondern
auch in diesen Gesängen den Barden als Typus. In der Odyssee tritt nämlich ein
blinder Sänger namens Demodokos auf und singt während eines Festes bei den
Phäaken zu Ehren des unerkannten Odysseus die Geschichte vom hölzernen Pferd,
mit dem jener die Trojaner überlistet hat. Hier haben wir einen Mythos im Mythos.
Odysseus erscheint in doppelter Gestalt: als Hörender neben den Phäaken auf
Scheria und im Lied als Handelnder unter den Achäern vor Ilion, so wie auch
Homer in zwiefacher Person erscheint: als Dichter der gesamten Odyssee und als
Sänger Demodokos im achten Gesang. Und weil Demodokos als blind bezeichnet
wird, galt auch Homer selbst als blind. Seine ihm von den Göttern übertragene
Aufgabe ist es, große Taten der Nachwelt zu verkünden, bedeutende Geschehnisse
vor dem Vergessen zu bewahren.11 Diesen Zweck verfolgt seit Herodot auch der
Historiker. Er verleiht dem Geschehen „Unsterblichkeit“.12
2g. Die Verbindung der Geschichte mit dem Gesang hat der Historie ihre
Schutzpatronin beschert, die Muse Klio. Ihr Name ist von kleos – „Ruhm“ abgelei-
tet. In gewisser Weise ist sie die musischste der neun Musen, denn sie bewahrt die
Erinnerung. Die Musen werden von Hesiod als Töchter des Zeus und der Mnemo-
syne, dem personifizierten Gedächtnis, eingeführt. Wie Homer beginnt Hesiod
sein Epos mit dem Anruf der Musen, die das Wissen schenken und die Zunge
lösen. Bei der hellenistischen Zuordnung der Musen erhielt Klio das Heldenlied,
die Redekunst und die Historie zugewiesen. So führt Horaz sie ein.13
2h. Homer behandelt in der Ilias einen Stoff, der im Altertum maßgebend für
den Geschichtsbegriff geblieben ist: das politisch-militärische Geschehen. Von einer
Verherrlichung des Krieges ist er gleichwohl weit entfernt, hat er doch Nestor das
Wort in den Mund gelegt: „Ohne Geschlecht, ohne Gesetz, ohne Herd muß der
sein, der sich sehnt nach dem Krieg, dem schaudervollen im eigenen Volk“. Daß
mit den großen Taten große Leiden verbunden sind, zeigt er zumal an dem „großen
Dulder“ Odysseus. Die Götter verhängten Schmerzen über Trojaner und Argiver,
damit der Sang davon auf die Künftigen komme.14 Die Geschichte wird hier zum
Zweck der Historie. Die Ilias beschreibt einen entscheidenden Ausschnitt aus dem
Kampf um Troja. Die poetisch verbürgte Beteiligung an jenem Zuge begründete
die Zugehörigkeit zur griechischen Welt, so wie die im zweiten Buch Moses ver-
zeichnete Teilnahme am Auszug aus Ägyptenland die Zugehörigkeit vom Judentum
bewies. Immer mehr Völker und Städte haben sich in den Kreis der am Trojani-
schen Krieg Beteiligten hineingedrängt, um zum Griechentum, zur Kulturwelt zu
gehören. Dutzende von Städten im Mittelmeerraum führten ihre Gründung auf
homerische Helden zurück. Die Scholien zum Schiffskatalog der Ilias lehren, daß
mit dem Verweis auf Homerverse sogar politische Streitfragen entschieden wur-
den.15 Den Gedanken einer mythologischen Ansippung bezeugen später die
Aeneas-Sage (Vergil), mit der sich die Römer in die homerische Welt einfügten,
und die mittelalterlichen Legenden von der trojanischen Herkunft der Franken
(Fredegar) und von der makedonischen Herkunft der Sachsen (Widukind), womit
sich die Germanen in die antike Tradition einklinkten.
2i. Der Kampf um Troja galt bis in die Neuzeit als historisches Ereignis. Die
Kritik der Aufklärer hat ihn dann ganz in das Reich der Fabel verwiesen, vermutlich
zu Unrecht. Mythen werden nicht erfunden, sondern ausgesponnen. So meinte
schon Strabon, Homer habe ein reales Ereignis bloß ausgeschmückt, und dies
scheint zuzutreffen.16 Schliemanns Ausgrabungen seit 1870 lassen vermuten, daß
der homerischen Dichtung ein wahrer Kern zugrundeliegt. Dem widerspricht
nicht, daß Homer selbst für seinen Bericht den Begriff mythos verwendet. Dieses
Wort ist ursprünglich frei von dem Beigeschmack des Märchenhaften, Fabulösen
und heißt dasselbe wie logos: nämlich Wort, Rede, Erzählung. Der Begriff „Mythos“
begegnet beispielshalber in der Odyssee, wo der Phäakenkönig Alkinoos damit die
Lebensgeschichte des griechischen Heros vor Troja bezeichnet. Wenn im Gesche-
hen der Odyssee Demodokos oder die Sirenen vom Kampf von Troja berichten,
handelt es sich nicht um deren Erfindungen, vielmehr um die Wiedergabe dessen,
was der Dichter als Geschehnis annahm.17 Der Mythos im Mythos ist kein Mythos.
2j. Die literarische Form, in der die ältesten Mythen überliefert sind, ist das
Epos. Dies gilt für die genannten Werke Homers, führt mit dem Gilgamesch-Epos
aus dem 2. Jahrtausend aber noch sehr viel weiter in die Vergangenheit zurück. Mit
dem Begriff „Epos“ bezeichnen wir heute längere Gedichte in gleichartigen Versen,
die mythische oder historische Stoffe behandeln, jedenfalls Geschichten erzählen,
denken wir an das Nibelungenlied in der deutschen Literatur, an Firdusis Königs-
buch in der persischen, an Vergils Aeneis in der lateinischen, oder an das Mahabha-
rata in der indischen. Gebundene Rede läßt sich leichter auswendig lernen als
Prosa, daher dürfen wir für die mündliche Überlieferung in epischer Form ein
höheres Alter annehmen. Das griechische Wort to epos bezeichnet indessen
ursprünglich ähnlich wie mythos einfach das „Gesprochene“. Die früheste Form (w)
epos ist mit lateinisch vox – „Stimme“ sprachverwandt. Homer verwendet epos und
mythos bedeutungsgleich und häufiger als logos, stets im Sinne von „Rede, Wort“,
nie in unserem Sinne von „Epos“, wiewohl in der Odyssee auch die „Worte“ des
Sängers Demodokos epē genannt werden.18 Insofern ist auch epos im Epos kein
Epos.
3. Historie
3a. Die zweite Frühform geschichtlicher Erinnerung neben dem Mythos ist die
Chronistik. Während der Mythos Vergangenes in poetischer Form der Gegenwart
zum Bewußtsein bringt, notiert die Chronistik in kunstloser Prosa Gegenwärtiges
zum Nutzen der Zukunft. Im Unterschied zu den Mythen gebraucht die Chronistik
von Anfang an Schrift. Sie verzeichnet jährlich fortlaufend Herrscher, Beamte und
bemerkenswerte Ereignisse, auch Naturerscheinungen. Chroniken wurden zumeist
durch Priester in Prosa abgefaßt und reichen ebenfalls in frühe Zeiten zurück, am
weitesten in Ägypten und Mesopotamien.19 In der mittelmeerischen Poliswelt erset-
zen gewöhnlich Jahresbeamte die alten Könige. In Rom gab es die Pontifikal-Anna-
len;20 wir hören von Priestern, denen die Geschichtsschreibung oblag, von pontifi-
ces, penes quos scribendae historiae potestas fuit.21 In Griechenland finden sich
verschiedene Listen von Beamten, Priestern und Siegern in Sportwettkämpfen
schon vor Herodot.22 Aus dieser Wurzel hat sich die griechische Lokal-Chronik
entwickelt, die seit Charon von Lampsakos im 5. Jahrhundert v. Chr. faßbar ist.
Die römische Annalistik benutzt ebenfalls dieses Darstellungsgerüst. Hier wird
nicht ein vorgegebener Sachzusammenhang in Zeiteinheiten aufgegliedert, wie im
Werk des Thukydides, sondern ein vorgegebenes Zeitschema nachträglich mit
Inhalt gefüllt. Die bedeutendste antike Weltchronik stammt von den Kirchenvätern
Eusebios und Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. Sie hat alle älteren über-
flüssig gemacht.
3b. Während der Mythos Erzählgut weitergibt und die Chronistik einzelnes
Geschehen festhält, will die Historiographie Ereigniszusammenhänge darstellen.
Sie übernimmt vom Mythos die Konzentration auf das Denkwürdige und von der
Chronistik die zeitliche Anordnung. Im 6. Jahrhundert v. Chr. erwachte in der
ionischen Philosophie die Kritik im Namen der Wahrheit. Schon die Vorsokratiker
haben den Dichtern vorgeworfen, Unwahrheiten zu verbreiten. Xenophanes von
Kolophon und Heraklit griffen die Mythographen deswegen an.23 Aus dem Geiste
der ionischen Aufklärung protestierte Hekataios um 500 v. Chr. gegen die herr-
schenden Überlieferungen und setzte ihnen das Pathos der Wahrheit entgegen: „So
spricht Hekataios von Milet: Ich schreibe, wie es mir wahr zu sein scheint, denn die
Meinungen (logoi) der Griechen sind zahlreich und lächerlich“.24 Im 5. Jahrhun-
dert, als die Skepsis schon weiter fortgeschritten war, haben die Zweifel an der
Geschichtlichkeit der mit Mythos bezeichneten Erzählungen dazu geführt, dem
Begriff „Mythos“ das Fabulöse anzuhängen, das er bis heute trägt.25 Der alexandri-
nische Gelehrte Eratosthenes meinte, der Weg des Odysseus sei ebensowenig zu
ermitteln wie der Schuster, der dem Windgott Aiolos seine Blasebälge genäht hat.26
3c. Die Einordnung des Mythos in die Geschichtsüberlieferung unternahm der
römische Gelehrte Varro († 27 v. Chr.). Er unterschied drei Phasen der Geschichte.
Das intervallum ignotum (1) datierte er von der Entstehung des Menschen bis zur
ersten Sintflut, dem cataclysmus prior – der zweite soll den Weltuntergang bringen –,
das intervallum mythicum (2) rechnete Varro von dort bis zu ersten Olympiade im
Jahre 776 v. Chr., mit der die Jahreszählung nach den Siegerlisten begonnen haben
soll, das intervallum historicum (3) zählt von dort bis zur Gegenwart.27 Der Über-
gang von mythischer Erzählung zu historischer Berichterstattung hat sich zuerst bei
den Griechen vollzogen. Bei den Juden fehlt das. Innerhalb des Alten Testamentes
ist ein solcher Fortschritt nicht feststellbar. Dort gibt es nur religiöse und morali-
sche Wertung, keine historische Kritik. Keiner der jüngeren Autoren zweifelt dort
an Angaben eines älteren. Ist die Bibel nicht das „Wort Gottes“?
3d. Kritische Geschichtstradition steht unter dem griechischen Begriff historia.
Das Lateinische besitzt im Wort fabula, abgeleitet von fari – sprechen, ein Äquiva-
lent für mythos, aber kein sinngleiches Wort für historia. Die Römer haben das Wort
darum übernommen – so schon Plautus.28 Historia heißt so viel wie Erkundung,
Erforschung in beliebigen Gegenstandsbereichen, aber mit dem Ton auf Zuverläs-
sigkeit.29 Das zugehörige Verb historeō bedeutet „bezeugen, erzählen“. Herodot, der
pater historiae, nannte sein in Prosa geschriebenes Geschichtswerk programmatisch
die „Darstellung seiner Forschungen“ (historiēs apodexis) im Gegensatz zum bloß
überlieferten, unzuverlässigen Mythos. Herodot benennt seine Zeugen im allgemei-
nen zwar nicht, aber da, wo er an ihrer Verläßlichkeit zweifelt, sagt er das. In sol-
chen Fällen betrachtet er als seine Aufgabe legein ta legomena; er habe die Pflicht,
das Erzählte weiterzuerzählen, nicht aber, alles zu glauben.30 So ist der Begriff histo-
ria bereits ursprünglich mit dem Wahrheitsanspruch verbunden.
3e. Isidor von Sevilla bietet folgende Definition: Historia est narratio rei gestae,
per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur. Dicta autem Graece historia
apo tou historein, id est a videre vel cognoscere. Historie ist demgemäß die Erzählung
von Taten, wodurch das, was in der Vergangenheit verrichtet wurde, bekannt wird.
Das griechische Wort historia geht zurück auf die Bedeutung „sehen“ oder
„erkennen.“31 Das Wort ist etymologisch verwandt mit lateinisch videre (sehen) und
deutsch „wissen“. Der Begriff historia hat seine Verwendung bei Aristoteles für alle
Erfahrungswissenschaft32 bewahrt bis ins 18. Jahrhundert. ›Historia naturalis‹ heißt
noch bei Bodin 1566 und bei Buffon 1749 die Naturforschung schlechthin.
3f. Neben dem dominanten Begriff historia finden wir im griechisch-römischen
Sprachbereich noch weitere Ausdrücke für historische Darstellung, etwa ganz allge-
mein logos oder dihēgēma für Bericht, apomnēmata oder hypomnēmata – commenta-
rii für Memoiren, hōrographiai – annales (libri) für Jahrbücher, fasti für Jahreslisten,
monumenta für beliebige Denkwürdigkeiten oder Erinnerungsträger usw. Die Fach-
ausdrücke für die historischen Gattungen schillern.
3g. Bei Herodot ist das Folgenschwere noch nicht vom Unterhaltsamen, das
Politische noch nicht vom Ethnologischen geschieden. Dies geschah erst zu Ende
des 5. Jahrhundert v. Chr. durch Thukydides, den bedeutendsten Historiker des
Altertums, vielleicht der gesamten europäischen Geschichtsliteratur.33 Thukydides
wählte als Gegenstand den von ihm selbst miterlebten Peloponnesischen Krieg zwi-
schen Sparta und Athen. Dessen Darstellung ist völlig durchrationalisiert, es gibt
bei ihm kein waltendes Schicksal, keine vergeltenden Götter. Die Menschen wer-
den mit ihren guten und schlechten Seiten dargestellt, die Motive und Faktoren
nüchtern analysiert. Der Bericht baut auf sorgfältig gesammelten Zeugenaussagen
auf und soll, als ein „Besitz für alle Zeiten“ den Lesern zeigen, was sie in ähnlichen
Krisensituationen von den Menschen zu gewärtigen haben, solange die menschli-
che Natur dieselbe bleibt.34 Von der modernen Zeitgeschichte unterscheidet er sich
nur insofern, als Thukydides seine eigenen Überlegungen zum Geschehen den
Handelnden in den Mund legt. Das ist ein Stilmittel der gesamten antiken Histo-
riographie. Die Reden sind strenggenommen unhistorisch, aber das sagt Thukydi-
des selbst, indem er einräumt, da, wo er keine Quellen habe, seinerseits die Reden
so zu formulieren, wie sie gehalten worden sein könnten.
4. Res gestae
4a. In der Zeit zwischen Homer und Thukydides haben sich Konventionen heraus-
gebildet über die Ereignisse, die als überliefernswert galten, über die literarischen
Formen, in denen sie dargestellt wurden, und über den Wahrheitsanspruch, dem sie
genügen mußten. Trotzdem kennen die alten Sprachen keinen allgemein üblichen
Sammelbegriff für den Gegenstandsbereich der Geschichte. Aristoteles muß ihn
umschreiben: Die historia behandele, was sich zu einer bestimmten Zeit zutrug,
auch wenn es (anscheinend) ohne Zusammenhang war, wie der Zufall es gerade
fügte.35 Aristoteles verwendet die Worte praxis und pathos, Tun und Leiden, als
Inhalt von Geschichte. So war das schon bei Homer (s. o.), so ist das noch im Nibe-
lungenlied, wo die erste Strophe die arebeit im Sinne von Mühe, Plage thematisiert.
Die Menschen sind mithin einerseits aktives Subjekt für das, was geschieht, ande-
rerseits passives Objekt für das, was mit ihnen geschieht.
4b. Einen zusammenfassenden Begriff für das historische Geschehen kennt das
Griechische ebensowenig wie das Hebräische der Bibel. Herodot verwendet ta geno-
mena ex anthrōpōn für das, „was durch Menschen entstanden ist“ oder einfach ta
erga, „die Werke“.36 Bei Thukydides bezeichnet der Plural ta Hellēnika oder ta
Mēdika (zu ergänzen: pragmata) die Taten oder Angelegenheiten der Griechen
beziehungsweise der Perser.37 Polybios gebraucht pragmatikē historia oder einfach
pragmateia beziehungsweise pepragmena für „politische Geschichte“.38
4c. Im Lateinischen steht res gestae (die Taten) für Geschichte als Geschehen, im
doppelten Gegensatz einerseits zu historia (rerum gestarum) für Geschichte als
Erzählung und andererseits zu den fiktiven res fictae.39 In Einzelfällen gibt es schon
früh die Verwendung von historia für das Geschehen selbst, so in der Definition
von historia in der Rhetorik ›Ad Herennium‹ aus der Zeit um 85 v. Chr.: historia est
gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota.40 Die damit vollzogene Gleichsetzung
von Darstellung und Inhalt im Geschichtsbegriff findet sich ebenso in der Verwen-
dung von antiquitates für frühere Ereignisse und für Berichte über solche, sowie in
der Doppelbedeutung von bios – vita. Damit kann sowohl das gelebte Leben als
auch das erzählte Leben gemeint sein. Jeweils besteht ein genetischer Zusammen-
hang im Geschehensablauf. Dies wird von den Begriffen historia, res gestae, antiqui-
tates nebst ihren griechischen Äquivalenten nicht gefordert. Für uns bildet eine als
„Geschichte“ bezeichnete Ereignisfolge im Idealfall eine innere Einheit, eine Ent-
wicklung, orientiert am organischen Leben des Einzelnen, mit Geburt, Höhepunkt
und Tod.41 Das Geschehen ist hier durch Kausalitätsprinzip und Entwicklungsge-
danken zusammengehalten.
4d. Da wo dem Geschehen in einer Zeit, einem Zeitalter bestimmte Eigen-
schaften zugesprochen werden sollen, begegnet uns selten im Griechischen chro-
nos,42 öfter erscheinen hingegen Begriffe wie aiōn (Ewigkeit, Zeitabschnitt) und
genea (Generation, Geschlecht) im Griechischen; im Lateinischen aevum (Lebens-
dauer), saeculum (Jahrhundert), aetas (Zeitalter) oder tempora (Zeiten). Das saecu-
lum Augustum, die tempora Christiana, lassen ahnen, was gemeint ist.43 Aber daß
Plinius den Ausdruck nostra aetas auf die vor über 200 Jahren abgeschlossenen
Punischen Kriege ausdehnt, das überrascht.44
4e. Die erzählte Geschichte hat früher einen eindeutigen Begriff gefunden als
die geschehene Geschichte, und darin spiegelt sich eine Bewußtseinsentwicklung:
Im Akt des Erzählens und Überlieferns bildet sich das Erzählens- und Überliefe-
rungswürdige heraus, das, was aus der Menge des Geschehens bewahrt zu werden
verdient. Dies ist nicht von Anbeginn vorgegeben, so wie wir wohl meinen, daß die
Geschichte der Historie vorgegeben sei, sondern gewinnt seine gedanklich greifbare
Form erst durch die Versprachlichung und eine Unterscheidung des Bedeutsamen
vom Unwesentlichen, des Außergewöhnlichen vom Alltäglichen.
5. Geschichte
5a. Die Geistesgeschichte des Mittelalters ist durch Christentum, Reichsgedanken
und Latinität untrennbar an die Spätantike gebunden. Somit zeigen sich im Mittel-
alter auch keine Wandlungen im Geschichtsbegriff. Solche begegnen erst mit der
Entstehung des Hochdeutschen im 16. Jahrhundert, mit der Entwicklung unseres
Wortes „Geschichte“. Es wurde in der Neuzeit zunächst nur für den Gegenstands-
bereich der Historie, für die res gestae verwendet. „Geschichte“ kommt von „Gesche-
hen“, der Stamm „scheh“ weist in ein Wortfeld der Bewegung, der Veränderung.
Althochdeutsch „gesciht“ bedeutet nach Grimms Wörterbuch soviel wie Zufall,
Ereignis, Geschehnis. In dieser Verwendung wird der Begriff zunächst überwiegend
im Neutrum „das Geschicht“ gebraucht, seit dem 17. Jahrhundert in dem noch
heute üblichen Femininum „die Geschichte“. Stets ist zunächst noch dazu der
Plural zu denken, denn jede Geschichte ist individuell, eine von vielen Geschich-
ten, eines von vielen Geschehnissen. Luther übersetzte in seiner Verdeutschung der
Bibel den Titel praxeis apostolōn mit: die „von der Apostel Geschichte“ und meinte
damit ganz im ursprünglichen Sinne die Geschichten, die „Taten der Apostel“,
nicht die „Erzählung von den Taten der Apostel“, wie wir heute, unrichtig den
Ausdruck „Apostelgeschichte“ auffassen, indem wir die Apostel aus Subjekten des
Handelns in Objekte des Erzählens verwandeln.
5b. Luther hat die Wortform „Geschichte“ als Plural verstanden, als die „Ge
schehnisse“, so wie pragmata und res gestae gleichfalls Pluralbildungen sind. Im
17. Jahrhundert kam indes „Geschichte“ als Kollektivsingular für eine Menge von
Stoff auf,, ähnlich wie die Wörter „Wasser“ und „Luft“, wie „Butter“ und „Speck“.
Man kann Geschichte als Studienfach nicht mit dem unbestimmten Artikel verbin-
den. Im Rahmen der Bedeutung für Geschehnis hat das Wort „Geschichte“ jeweils
einen anderen Sinn, ob ich sage, daß mir „eine Geschichte“ passiert ist – das wäre
die alte individuelle Verwendung – oder daß „die Geschichte“ meines Lebens glück-
lich war – dies ist die neue kollektive Verwendung.45
5c. Wie langsam diese zweite Bedeutung an Boden gewann, läßt sich am Auf-
kommen der Begriffe „Weltgeschichte“ oder „Universalgeschichte“ im 18. Jahrhun-
dert ablesen.46 In dieser Verbindung macht es keinen Unterschied, ob die neue
kollektive oder die alte, pluralfähige Bedeutung gemeint ist, denn es gibt ja sowieso
nur eine einzige Weltgeschichte. Seitdem sich der Kollektivsingular durchgesetzt
hat, ist „Weltgeschichte“ ein Pleonasmus. Geschichte ohne einschränkendes At-
tribut ist allemal Menschheitsgeschichte. Nur diese ist allerdings gemeint, nicht
die Geschichte der Natur.47 Ansätze zu einer Weltgeschichtsschreibung gibt es auf
Griechisch in den 40 Büchern der Geschichtsbibliothek Diodors unter Augustus,
in der Weltchronik Eusebs unter Constantin und auf Arabisch bei Ibn Khaldun
1377.
5d. Unser modernes Wort „Geschichte“ bedeutet nicht nur „einzelnes reales
Geschehnis“ und „Gesamtheit von realen Geschehnissen“ (res gestae), sondern
ebenso den Bericht darüber (historia). Neben der Geschichte, die passiert, ohne daß
sie erzählt werden muß, gibt es die Geschichte, die erzählt wird, ohne daß sie pas-
siert sein muß, so wie die ›Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf‹. Das
alte Wort für erzählte Geschichte lautet Märe. Uns ist in alten maeren wunders vil
geseit, so beginnt das Nibelungenlied. Dieser Begriff hatte dasselbe Schicksal wie
mythos im Griechischen: Im Zuge eines wachsenden Wahrheitsanspruches verwan-
delte er sich vom Ausdruck für berichtetes Geschehen zu einem solchen für
unglaubwürdiges Erzählgut, zum „Märchen“.
5e. Das Grimmsche Wörterbuch bringt als frühesten Gewährsmann für die Ver-
wendung des Wortes „Geschichte“ im Sinne von „Erzählung“ Aventinus, den bay-
erischen Geschichtsschreiber und Zeitgenossen Luthers. Mit der doppelten Ver-
wendung desselben Terminus für die Wirklichkeit und für deren sprachliche
Wiedergabe holt die deutsche Sprache einen Zustand ein, der bei Engländern und
Franzosen schon erreicht war. Denn dort bedeutet history bzw. l´histoire ja sowohl
die Darstellung als auch das Dargestellte. Dies geht zurück auf die schon antike, im
Mittelalter geläufige Verwendung des lateinischen historia für das Geschehen, die
res gestae. Im Deutschen ist mithin das Umgekehrte passiert wie in der romanischen
Terminologie. Unser Wort „Geschichte“ bedeutet primär das Geschehen, sekundär
dessen Darstellung. Das Wort historia bedeutet umgekehrt primär die Darstellung,
sekundär das Geschehen selbst. Vorherrschend blieb in beiden Sprachbereichen
indessen die jeweils primäre Bedeutung. Daher ist es im Englischen möglich, einem
Buch den Titel zu geben „A History of Cyprus“, während wir im Deutschen sagen
„(Die) Geschichte Cyperns“. Dort denkt man zuerst an die Darstellung, hier zuerst
an die Ereignisfolge.
5f. Hegel hat in der Doppeldeutigkeit des Wortes „Geschichte“ einen tiefen
Sinn gesehen. In seiner Geschichtsphilosophie erklärte er: „Die Vereinigung der
beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine bloße äußerliche
Zufälligkeit ansehen.“48 Die Gleichsetzung des Geschehens mit seiner Wiedergabe
ist sprachpraktisch meist harmlos, philosophisch aber auch durch den denknotwen-
digen Zusammenhang zwischen Gegenstand und Vorstellung nicht gerechtfertigt,
weil es zutreffende und irrige Vorstellungen gibt, welch letztere nur durch die
Annahme vorstellungsunabhängiger Gegenstände zu berichtigen sind. Wenn Kant
1784, Hume zitierend, schrieb, daß die Geschichte mit der ersten Seite des Thuky-
dides beginne,49 so meinte er damit die verläßliche Überlieferung eines prinzipiell
von der Bezeugung unabhängigen Geschehens. Das Problem ist alt: Alexanders
Hofhistoriograph Kallisthenes brüstete sich damit, so wie Homer den Achill groß
gemacht habe, so mache er Alexander berühmt.50 Das Umgekehrte trat ein.
5g. Der Historiker macht die Geschichte fertig. Seriös: zu dem, als was sie
erscheint, nicht zu dem, was sie ist. Für den strengen Idealisten ist die Geschichte
ein Produkt der Historie, wie für den echten Materialisten die Historie ein Produkt
der Geschichte ist. Die Gründe für beide Positionen halten sich die Waage.
Geschichte und Historie sind nur zusammen denkbar. Erst wenn eine Geschichte
passiert ist, kann ich sie erzählen. Aber nur, wenn ich einen Begriff von Geschichte
habe, kann ich sie als Geschichte wahrnehmen. Das Bild des Möglichen bestimmt
die Gestalt des Wirklichen. Geschichte liefert den Inhalt, Historie bietet die Form.
Geschichte hat die zeitliche, Historie die logische Priorität. Nachzusinnen, welche
Priorität die Priorität hat, ist ein Streitfall zwischen idealistischen und materialisti-
schen Monisten. Echte Idealisten können sich Gedanken ohne Gegenstände vor-
stellen, konsequente Materialisten können ungedachte Dinge denken, sich selbst als
Denkende wegdenken. Wer, wie ich, weder das eine noch das andere vermag, ist ein
Dualist. Idealisten und Materialisten sind sich darin einig, daß Geschichte und
Historie im Grunde dasselbe, aber trotzdem voneinander verschieden sind, denn
sonst gäbe es kein Prioritätsproblem. Geschichte und Historie bezeichnen zwei Sei-
ten derselben Medaille. Sie können nicht gleichgesetzt und nicht getrennt werden.
Geschichte wäre ohne Historie unsichtbar, Historie wäre ohne Geschichte gegen-
standslos.
6. Begriffsinhalt
6a. Geschichte als bloße Ereignisfolge ist ein Sammelsurium. So hat Gottfried Benn
einmal den Ploetz aufgeschlagen und findet dort zum Jahr 1805: „einer wird abge-
setzt, einer wird Gouverneur, einer wird zum Haupt ernannt, einer hält einen pom-
phaften Einzug, einer verabredet etwas, einige stellen gemeinsam etwas fest, einer
überschreitet etwas, einer legt etwas nieder, einer entschließt sich zu etwas, einer
verhängt etwas, einer hebt wieder etwas auf, einer trennt, einer vereint, einer
schreibt einen offenen Brief, einer spricht etwas aus, einer kommt zu Hilfe, einer
dringt vor, einer verfügt einseitig, einer fordert etwas, einer besteigt etwas, über-
schritten wird in diesem Jahr überhaupt sehr viel – , im ganzen ergibt sich auf dieser
Seite 3mal Waffenstillstand, 1mal Intervention, 2mal Einverleibung, 3mal Auf-
stand, 2mal Abfall, 2mal Niederwerfung, 3mal Erzwingung“. Dazu Benns Kom-
mentar: „Man kann sich überhaupt keine Tierart vorstellen, in der so viel Unord-
nung und Widersinn möglich wäre, die Art wäre längst aus der Fauna ausgeschieden.
Der Ploetz hat aber vierhundert Seiten. Auf jeder Seite ereignen sich dieselben
Verba und Substantiva – von Menes bis Wilhelm, von Memphis bis Versailles. Ver-
mutlich hat aber jeder einzelne der Handelnden sich als geschichtlich einmalig
empfunden.“51 Die Komik dieser Passage beruht darauf, daß Benn alle Eigennamen
ausblendet. Dies zeigt, wie fest diese mit unserem Geschichtsbegriff verbunden
sind. Völlig zu Recht haben Menes und Wilhelm sich als einmalig begriffen. Aber
diese Einmaligkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß beide nachts geschlafen
und tags regiert haben.
6b. Was also ist Geschichte? An seriösen Definitionsvorschlägen mangelt es
nicht. Es gibt Hunderte von unterschiedlichster Ausrichtung, unterschiedlichster
Länge. Die umfassendste füllt ein ganzes Buch,52 die knappste besteht aus drei
Worten und stammt von dem amerikanischen Autokönig Henry Ford: „Geschichte
ist Quatsch.“ Freilich ist das streng genommen keine Definition, ebensowenig
wie die meisten anderen. Sie belehren uns nicht darüber, was Geschichte ist, son
dern darüber, was Geschichte „eigentlich“ ist, d. h. was der Schreibende von ihr
hält.
6c. Immer wieder begegnen Werturteile. Ein Vorläufer von Henry Ford ist
Voltaire, der die Geschichte 1764 als fable convenue hingestellt hat, ein Nachfolger
ist Theodor Lessing, der sie 1916 die „Sinngebung des Sinnlosen“ nannte. Positiver
lautet es bei Droysen, der vom „Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit“
sprach, bei Lord Acton 1887, der die Geschichte als das „Gewissen der Mensch-
heit“ bezeichnete, oder bei Johan Huizinga 1942: „Geschichte ist die geistige Form,
in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt.“
6d. Man weiß nicht immer, ob die Geschichte oder die Historie definiert wird.
Letztere steht im Vordergrund, wo andere Literaturgattungen metaphorisch heran-
gezogen werden. Cicero bezeichnete die Historie als opus oratorium, das Werk eines
Redners, Quintilian als carmen solutum, ein Heldenlied in Prosa.53 Jean Paul nannte
sie einen Roman, Novalis eine Anekdote, Jakob Grimm eine Mär, Proudhon eine
Posse, Du Bois-Reymond ein Drama, Toynbee eine Tragödie, Theodor Lessing eine
Tragikomödie, Otto Hintze ein Epos, Fukuyama eine Komödie. Treffend heißt bei
Hegel:54 „Der Geist des Verfassers und der Geist der Handlungen, von denen er
erzählt, ist einer und derselbe.“
6e. Die Geschichtswissenschaft behandelt das Verhalten von Menschen,
namentlich im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu Gruppen und ihre Einbindung
in Traditionen. Das Individuum ist für den Historiker interessant, soweit es in
einem synchronen oder diachronen Zusammenhang steht, in den es sich einfügt,
von dem es sich abhebt. Historie hat es mit vergangenen Handlungen und Ereignis-
sen zu tun, die grundsätzlich datierbar und lokalisierbar sind und, bei entsprechen-
der Quellenlage, namentlich identifizierbaren Menschen zugeordnet werden kön-
nen. Diesen Aspekt hatte Benn ausgeklammert, weshalb seine Wesensbestimmung
so komisch wirkt. Eine historische Behauptung besteht nicht nur aus Prädikaten,
sondern enthält zudem einen Personennamen, eine Ortsangabe und eine Zeitbe-
stimmung. Sie besagt, daß da und da, dann und dann, das und das stattgefunden
hat. Genauer: daß der und der, das und das getan oder erlitten hat. Varro55 definiert
die res humanae: qui agant, ubi agant, quando agant, quid agant. Der Gegenstand
der Geschichtswissenschaft ist jeweils ein singuläres Phänomen, ein einmaliger Vor-
gang, eine Individualität.56
6f. Die Begriffsbestimmung der Geschichte durch das, was Menschen tun und
was ihnen zustößt, ist nicht hinreichend genau. Eine Definition darf weder zu eng
noch zu weit sein, wie es in der Spätantike bei Martianus Capella heißt.57 Nicht
alles, was Menschen erleben, ist gleichermaßen geschichtswürdig. Wenn wir einen
Vorfall ein „historisches Ereignis“ nennen, so ist das eine Auszeichnung und unter-
streicht die Bedeutsamkeit des Vorgangs. Stets gab es für den Historiker eine Rang-
ordnung der Ereignisse nach ihrer Wichtigkeit, so wie sie jeder in seiner Lebens
geschichte erkennt. An einen beliebigen Sonnenuntergang erinnern wir uns nicht
so leicht wie an eine Sonnenfinsternis, so schreibt ein Zeitgenosse Ciceros.58
6g. Die Notwendigkeit, unter allem Geschehen das Berichtenswerte auszuwäh-
len, war den Historikern allzeit bewußt. Die Griechen nannten das Erinnernswür-
dige axiologon, die Römer memoratu oder memoriā dignum. So bemerkt Ammianus
Marcellinus, es gäbe Leser, die unwillig darüber seien, daß er nicht jedes Wort
notiere, das der Kaiser bei der Tafel gesprochen habe, nicht jede Strafe berichte, mit
der das Dienstvergehen eines Soldaten geahndet wurde. Nicht jeden Wachposten
an den Grenzen, nicht jeden Besucher beim Stadtpräfekten könne er erwähnen.
Eine solche Vollständigkeit widerspreche den praecepta historiae, den Prinzipien der
Geschichtsschreibung, die es nur mit den großen, herausragenden Ereignissen
(negotiorum celsitudines) zu tun habe, nicht mit dem täglichen Kleinkram (humi-
lium causarum minutiae). Auch ein Physiker, so Ammian, versuche nicht, die
Atome zu zählen.59 Friedrich der Große erklärt in seinen ›Denkwürdigkeiten zur
Geschichte des Hauses Brandenburg‹, es sei nicht erheblich, aus welchem Stoff der
Rock von Albrecht Achill gewesen sei oder welchen Schnitt der Kragen von Johann
Cicero gehabt habe. Derartiges übergehe er.60 Ibn Khaldun bestätigt die ebenso
notwendige wie sinnvolle Beschränkung für die islamische Historiographie.61 Das
Programm einer histoire totale, wie es die Schule der ›Annales‹ entwickelt hat, ist,
wörtlich genommen, ein Unding.62
6h. Herodot nennt seine Auswahlprinzipien gleich eingangs. Er berichte von
erga megala kai thaumasta, großen und erstaunlichen Taten der Griechen und Perser
und den Gründen, weshalb sie gegeneinander Krieg geführt haben. Kämpfe brin-
gen ein Höchstmaß an Leistung wie an Leiden und beschäftigen daher die Gemü-
ter. Bei Thukydides kommt ein anthropologisches Erkenntnisinteresse hinzu. Er
meint, im Kriege fielen die Konventionen weg, da zeige sich der wahre Mensch im
Guten wie im Bösen. In der römischen Historiographie herrscht zudem eine didak-
tische Absicht. Hier bietet die Geschichte einerseits Beispiele, exempla, für das, was
sich wiederholen könnte und daher prognostisch bedeutsam ist, andererseits Muster
für vorbildliches Handeln, das nachzuahmen sei, und für minderwertiges Verhal-
ten, das vermieden werden sollte.63
6i. Zusammenfassend schreibt ein spätrömisches Lehrbuch: Geschichtsschrei-
bung ist der Bericht über Taten in Krieg oder Frieden, die geschehen und denkwür-
dig sind – historia est rerum gestarum et dignarum memoria relatio. Drei Pflichten
habe der Historiker zu erfüllen: sein Bericht sei wahr, deutlich und kurz. Wahr sind
Überlieferungen – so der Autor –, wenn deren Alter und Zuverlässigkeit genau
geprüft wurde und das Erforschte freimütig dargestellt ist, ohne Furcht, ohne
Gunst, ohne Neid. Deutlich ist der Text, wenn das Geschehen mit der Angabe von
Zeit und Ort und Art der Handlung in klaren Worten formuliert wird. Kurz ist er,
wenn nichts Überflüssiges oder Nichtssagendes eingeflochten wird. Es sei die Auf-
gabe der Historie, uns zu vermitteln, was zu vermeiden, was zu erstreben ist.64
6j. Der modernen Geschichtswissenschaft geht es weniger darum, der Zukunft
ein Bild unserer Gegenwart zu vermitteln, als darum, unsere Gegenwart aus der
Vergangenheit zu begreifen. Dies verändert die Relevanzkriterien. Als wesentlich
gilt einerseits alles, was Folgen hatte, und andererseits alles, was durch ein Tertium
comparationis Vergleiche mit gegenwärtigen Erscheinungen erlaubt, was ähnlich
oder andersartig ist.
6k. Sowohl das kausale als auch das typologische Erkenntnisinteresse ist
imstande, selbst scheinbar unwesentlichen Ereignissen oder Erscheinungen Bedeu-
tung zu entnehmen. Zwar springen die wichtigen Geschehnisse ins Auge, doch läßt
sich bei keiner anscheinend unerheblichen Tatsache von vorne herein behaupten,
daß sie unter allen Umständen irrelevant sei. Eine neue Fragestellung kann bisher
Unwichtiges plötzlich bedeutsam machen. Entscheidend ist stets der Zusammen-
hang, in dem eine Tatsache steht oder in den sie gestellt werden kann. In summa:
Der Historiker versteht unter „Geschichte“ die Gesamtheit menschlicher Lebensäu-
ßerungen der Vergangenheit, soweit sie Aussagewert für einen kulturellen Zusam-
menhang besitzen.65 Ihre Kenntnis verleiht unserem Weltbild eine zeitliche Tiefen-
struktur und damit eine Dimension, die ein Verständnis der Gegenwart allererst
ermöglicht.
7. Wissenschaft
7a. Zugang zur Vergangenheit des Menschen vermittelt uns die Wissenschaft von
der Geschichte. Wissenschaft ist methodisches Bemühen um gültige Erkenntnis in
systematischem Zusammenhang. Methodisch ist ein Bemühen, das unter einem
leitenden Gesichtspunkt nach einem Plan verfährt. Eine Erkenntnis ist gültig,
sofern sie nicht nur dem einzelnen Erkennenden einleuchtet, sondern fachlicher
Kritik standhält und Zustimmung aller Sachkundigen und Gutwilligen erfährt oder
verdient. In einem systematischen Zusammenhang steht sie dann, wenn sie einer
übergeordneten Fragestellung entspringt und Teil einer höheren Ordnung, einer
wie auch immer gedachten Ganzheit ist. Die Geschichtswissenschaft ermittelt Fak-
ten, die in einem kausalen oder sozialen Kontext stehen und einen Erkenntniswert
darstellen.
7b. Die Möglichkeit, Vergangenes zu erforschen, das ja direkt unzugänglich
bleibt, ergibt sich aus der Erinnerung an Selbsterlebtes. Ihre Zuverlässigkeit läßt
Quellen
Geschichts- Geschichts-
forschung wissenschaft
Historik
(deskriptiv)
Geschichts-
schreibung
Geschichts-
deutung
Geschichts-
philosophie
Geschichtstheorie (kritisch)
7i. Die Geschichtswissenschaft ist nur eine, aber die umfassendste Wissenschaft
vom Menschen. Die Medizin behandelt Funktionsstörungen des menschlichen
Organismus in praktischer Absicht. Die Psychologie erforscht das Denken und die
Gefühle der Menschen von heute in theoretischer Absicht; in praktischer Absicht
erstrebt die Psychiatrie Lebenshilfe. In der Soziologie geht es um die gesellschaftli-
chen Phänomene und Probleme, in der Politik um die Durchsetzung von Ansprü-
chen und die Ordnung der Gemeinschaft, in der Ökonomie um die Erzeugung von
Lebensgütern und die Versorgung der Gemeinschaft. Die Ethnologie erforscht das
Leben der Völker, die Archäologie widmet sich der materiellen Hinterlassenschaft,
die Anthropologie den natürlichen Voraussetzungen der Kultur, teils systematisch,
teils historisch. Zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie steht die
Kulturphilosophie. Alle Spielarten der Erforschung des Geisteslebens, auch die
Überwissenschaft der Philosophie, sind zugleich mögliche Gegenstände der Histo-
rie. So heißt es bei Diodor: Die Historie ist die Prophetin der Wahrheit und die
Mutterstadt (mētropolis) der gesamten Philosophie.74
7j. Der Anspruch der Geschichte auf Wissenschaftlichkeit ist nicht ohne weite-
res einlösbar. Gewiß versucht sie, ein möglichst wahrheitsgetreues und umfassendes
Bild von der Vergangenheit des Menschen zu gewinnen. Dabei erheben sich aber
sieben Schwierigkeiten, die bewirken, daß alle Ergebnisse der Forschung nur bis zu
ihrer Berichtigung gültig sind. Die erste Aporie betrifft die Verfügbarkeit von Quel-
len. Zahlreiche geschichtswürdige Ereignisse haben keine Spuren hinterlassen.
Daher wissen wir nicht, wie die unvermeidlichen Lücken unseres Geschichtsbildes
auszufüllen sind. Für die jüngere Vergangenheit liegt das Problem umgekehrt in der
unübersehbaren Fülle von Dokumenten, deren Auswahl unumgänglich, aber oft
anfechtbar ist.
Das zweite Problem betrifft die Verläßlichkeit der Quellen. Berichte über Ereig-
nisse, namentlich über Konflikte, sind oft bewußt oder unabsichtlich verfälscht,
ohne daß wir dies durch andere Texte prüfen können. Das hinterläßt Unsicherheit.
Bei zufällig erhaltenen Spuren eines Vorgangs erhebt sich die Frage, welche Schlüsse
wir daraus ziehen dürfen. Was läßt sich nicht alles aus einer Brandschicht folgern?
Ein drittes Dilemma betrifft den Aussagewert eines Befundes, seine Verallgemei-
nerungsfähigkeit. Handelt es sich um einen Einzelfall oder um ein Symptom für
eine Gesamtsituation? Beweisen die frühen ägyptischen Funde in Kreta einen regel-
rechten Handel oder bloß gelegentliche Raubzüge? Verraten die Äußerungen Napo-
leons auf Sankt Helena etwas über seine wirklichen Pläne oder sind sie als nostal
gische Träume nicht ernst zu nehmen? Hier geht es um Bewertung.
Eine vierte Frage betrifft die Erklärung des Geschehens, den ursächlichen Zu
sammenhang zwischen Ereignissen. Inwieweit ist welches Spätere von welchem
Früheren abhängig? Wie kommen wir vom post hoc zum propter hoc? Die dafür ver-
wendeten Erfahrungsregeln sind selten frei von Ideologie oder einseitig gemachten
Beobachtungen und darum nur bedingt verläßlich. Gelingen muß zudem ein Ver-
stehen der Handelnden. Aber wie weit sind uns die Motive und Mentalitäten von
Menschen früherer Zeiten zugänglich?
Eine fünfte Schwierigkeit betrifft die sachgerechte Darstellung. Wie ist der Aus-
schnitt zu wählen? Wo sind die Akzente zu setzen? Wie stark darf vereinfacht, wie
ausführlich muß berichtet werden? Dürfen wir Ereignisse von gestern in der Spra-
che von heute wiedergeben? Wie ist Genauigkeit gegen Faßlichkeit abzugrenzen?
Welche Zustandsbeschreibungen müssen zum Verständnis des Geschehens einge-
flochten werden? Wie läßt sich das vielfältige Nebeneinander der Abläufe in das
eindimensionale Nacheinander auf den Druckzeilen verwandeln?
Die sechste Unklarheit betrifft die Richtung des Geschehens. Gibt es langfri-
stige Entwicklungen oder herrscht ein bloßes Hin und Her? Ist ein Sinn in all dem
Treiben erkennbar und hat es Sinn, sich um die Erkenntnis des Treibens zu bemü-
hen? Die siebente Dunkelstelle in dem ganzen Bild betrifft dann die unsichtbaren,
aber gleichwohl wirksamen Triebkräfte im gesamten Geschichtsgeschehen. Mit die-
ser, wie schon mit der vorigen Aporie aber befinden wir uns bereits auf dem Gebiet
der Geschichtsphilosophie.
1. Sündenfälle
1a. Die frühesten Antworten auf die Frage nach dem Grund für die Nöte der
Gegenwart finden sich in der Erzählung von Paradies und Sündenfall in der Gene-
sis, im griechischen Prometheus-Mythos und in der Lehre von den Metall-Zeital-
tern bei Hesiod. Die Aufzeichnung dieser Überlieferungen fällt ins 8. Jahrhundert
v. Chr. Ihrer literarischen Gattung nach gehören sie in den Mythos. Wir dürfen sie
als Berichte nicht wörtlich nehmen, sie wollen nicht wirklich Geschehenes überlie-
fern, sondern Vorstellungen von solchem Geschehen in Bilder bringen. Schon
antike Denker wußten, daß der Mythos die Ausdrucksform eines archaischen Den-
kens ist, das die abstrakte Begrifflichkeit noch nicht beherrscht – so Strabon über
den griechischen, und Synesios über den biblischen Mythos.11
1b. Wenden wir uns zunächst der Genesis zu: Gott formt den Menschen aus einem
Erdklumpen und setzt ihn in den Garten in Eden. Dort wächst der Baum der
Erkenntnis von Gut und Böse, von ihm solle der Mensch nicht essen, sonst müsse er
am selben Tage noch sterben. Gott schafft die Frau aus der Rippe des Mannes als seine
Gehilfin. Die Schlange redet der Frau ein, die Früchte führten keineswegs zum Tode,
sondern vielmehr zur Erkenntnis. Die Frau ißt und gibt auch dem Mann, da werden
ihre Augen aufgetan, beide erkennen, daß sie so nackt wie die Tiere sind, und nähen
sich Schurze aus Feigenblättern.12 Demnach war wohl auch die Frucht eine Feige. Das
zeigen spätantike Sarkophagreliefs. Im 5. Jahrhundert wurde in Gallien aus der Feige
ein Apfel.13 Am Abend stellt Gott die Sünder zur Rede und bestraft sie: die Frau durch
die Schmerzen des Gebärens, den Mann durch die Mühsal der Arbeit. Gott vertreibt
beide aus dem Garten und verflucht den Acker, daß er von sich aus nur Disteln und
Dornen trägt. Gott verkündet den Menschen die Sterblichkeit. Adam wohnt Eva bei,
sie gebiert Kain und Abel, jener wird ein Ackerbauer, dieser ein Hirte.14
Menschen vermehren sich und machen sich die Erde untertan, so wie Gott es ihnen
befahl.17 Keinem Befehl Gottes wurde je so gründlich Folge geleistet wie diesem.
Wir machen uns die Erde untertan, und man sieht, was dabei herauskommt.
1f. Der Mythos der Genesis zeigt, wie der Mensch als Naturwesen von Gott
geschaffen wurde, als Kulturwesen jedoch sein eigenes Geschöpf ist. Gott hat dem
Menschen die Sprache verliehen, aber schon die Benennung der Tiere überläßt er
ihm. Der Fortschritt vollzieht sich über Versündigung. Denn der vorausgegangene
Sündenfall wiederholt sich im Brudermord des Kain an Abel. Abel als Hirt verkör-
pert eine ältere, Kain als Ackerbauer eine jüngere Kulturstufe. der „Fortschritt“ for-
dert seine Opfer. Eva beging ein Vergehen, Kain begeht ein Verbrechen. Kain baut
die erste Stadt, von ihm stammen die Musiker und Metallhandwerker.18 Kain wird
somit eine Art Kulturheros.
1g. Nach der Vertreibung aus dem Paradies und der Verfluchung Kains wieder-
holt sich die Folge von Sünde und Strafe in der Genesis in der Sage von der Sintflut
und in der vom Turmbau zu Babel. Beide Mythen verbinden eine göttliche Vergel-
tung für menschliche Verfehlung mit einer Erklärung für die Vielfalt der Völker.
Der Sintflutsage folgt der Bericht über die Abstammung aller Menschen von Noahs
Söhnen Sem, Ham und Japhet, die sog. Völkertafel.19 Der Turmbau zu Babel führt
zur Aufgliederung der Völker in Sprachen. Im sündlosen Urzustand zuvor bildete
die Menschheit noch ein ungeteiltes Ganzes. Das könnte zutreffen: Man möchte
annehmen, daß wie die Lock- und Warnrufe bestimmter Tierarten in allen Ländern
die gleichen sind, so auch die frühesten Laute, sagen wir: des Neandertalers in
Mesopotamien und in der Provence Gleiches bedeuten, ehe sich gruppenbezogene
Sprachen herausbildeten. Insofern bewahrt auch dieser Mythos Erinnerung.
Myriaden von Übeln sich auf die Menschheit ergossen. Seitdem schwirren sie in der
Welt herum, allein die Hoffnung blieb darin.
2b. Die Grundvorstellung dieses Mythos ist dieselbe wie in der Genesis. Beide
Male haben wir es zu tun mit einem dummen Mann (Adam und Epimetheus), mit
einer bösen Frau (Eva und Pandora), einem klugen Dämon (Satan und Promet-
heus) und einem strafenden Gott (Jahwe und Zeus). Beide Male maßen sich die
Menschen göttliche Rechte an und werden bestraft. Im Alten Testament ist das
Kriterium der Gottähnlichkeit die Erkenntnis des Guten und Bösen, die dann zu
technischer Betätigung führte; bei Hesiod ist es die Verfügung über das Feuer, das
dem blitzeschleudernden Zeus vorbehalten war. Sowohl bei den Juden als auch bei
den Griechen spielt in diesem Prozeß ein dämonischer Mittler eine Rolle. Die
Schlange ist nach biblischer Vorstellung eine Inkarnation des Teufels21. „Satan“
bedeutet „Widersacher, Aufrührer“, er ist ein von Gott abgefallener Engel. Promet-
heus gehört zu den Titanen, die im Gigantenkampf von den olympischen Göttern
überwunden werden mußten. Die Schlange und Prometheus sind somit widergött-
liche Dämonen. Was beide auszeichnet, ist ihre Klugheit.
2d. Das Feuer als Attribut des Prometheus ist auch bei den Juden mit dem Teu-
fel und der Hölle verbunden. Das Bindeglied liegt im Brandopfer. Im Tal Ben Hin-
nom bei Jerusalem, später Gehenna genannt, wurden in der Frühzeit die Erstgebo-
renen dem Moloch im Feuer geopfert. Bei Jesaja wurde daraus die Hölle, wo die
Sünder nach ihrem Tode braten.22 Prometheus lehrte nach Hesiod23 die Menschen
das Brandopfer, griechisch: holokauston. Auch dieser Mythos bewahrt eine Erinne-
rung: Es gab eine Zeit, da die Menschen das Feuer nicht kannten.
2e. Schließlich verbindet Satan und Prometheus das weitere Schicksal. Im Neuen
Testament heißt es, daß am Ende der Zeit der Satan in Gestalt des Antichrist losge-
lassen werde,24 der offenbar zuvor gebunden war, so wie Zeus – nach Aischylos –
den Prometheus an den Kaukasus schmiedete, wo ihn Herakles befreien wird,
nachdem er Zeus das Ende seiner Herrschaft verkündet hat.
2f. In der germanischen Mythologie der ›Edda‹ finden sich ebenfalls weit
reichende Parallelen hierzu: das Böse verkörpert Loki, der Gott des Feuers; sein
Name bedeutet „Lohe“. Lokis Begleiter, der Fenriswolf, wird von den Göttern
gefesselt, reißt sich am Ende der Tage aber wieder los. Daß Eva und Pandora, die
schon Aventinus († 1534) in den ›bayrischen Annalen‹ identifizierte, als Stamm-
Mütter der Frauen das Übel in die Welt gebracht haben, läßt vermuten, daß diese
Mythen von unglücklich verheirateten Männern ersonnen und bewahrt wurden.
Bestätigt – wenn man so will – wird dies durch den spätantiken Grammatiker Pal-
ladas, der die schöne Helena verantwortlich machte für den Krieg um Troja, die
schöne Penelope für die Irrfahrten des Odysseus und sein eigenes Weib für sein
persönliches Unglück.25
2g. Sündenfall und Prometheusmythos geben eine Antwort auf die Frage nach
der elenden Gegenwart in Form eines Zweistufenmodells: die erste, frühere Phase
Und niemals bei Tage können sie ruhn von Mühsal und Weh, und niemals zur
Nachtzeit sind sie verschont, und die Götter verleihn ihnen quälende Sorgen. Den-
noch wird auch für sie zu den Übeln Gutes gemischt. Zeus aber tilgt einst dieses
Geschlecht hinfälliger Menschen, wenn schon bei der Geburt ihr Haar ergraut ist.
Dann wird fremd sein der Vater den Kindern, die Kinder dem Vater, nicht wird lieb
sein der Gast dem Wirt, der Freund seinem Freunde, nichts ist der eigene Bruder.
Bald mißachten sie dann ihre altersgebeugten Erzeuger und scheuen nicht die Göt-
ter; geben dann auch nicht ihren Eltern zurück den Entgelt für die Aufzucht. Eides
treue wird nirgends gedankt, Gerechtigkeit nie, auch Redlichkeit nicht; wer Schlim-
mes vollbracht und Gewalttat verübt hat, der ist der Mann, den man ehrt. Das
Recht sind die Fäuste. Und der Schlechte gewinnt und schädigt den Beßren, deckt
mit krummem Gerede den Trug und beschwörts mit dem Meineid. Scheelsucht
wird allerorts die elenden Menschen begleiten. Dann gehen Aidos und Nemesis
(Ehrfurcht und rechtes Vergelten) fort zum Olymp, hinweg von den Menschen.
Doch bleiben die bitteren Schmerzen hier – und nirgends ist Rettung im Unheil“.27
2m. In diesem Mythos entwirft Hesiod ein fünfgliedriges Verlaufsschema. Als
Bezeichnung der einzelnen Perioden gebraucht er den Begriff für Generation,
Geschlecht (genea), der sich auf die Menschen bezieht, er spricht noch nicht
abstrakt von „Zeitaltern“. Diese Generationen sind gekennzeichnet durch Metalle:
Gold, Silber, Erz (chalkeion – ehern, bronzen) und Eisen. Der Gedanke, die Quali-
tät einer Zeit durch den Wert eines Metalls zu versinnbildlichen, ist orientalisch. Er
begegnet uns im Alten Testament, im Koloß auf tönernen Füßen im Buche Daniel
und in der Zarathustra-Tradition.28 Für die Abstufung von Gold zum Silber zum
Gebrauchsmetall (Bronze, Eisen) wird der Marktwert ausschlaggebend gewesen
sein. Die Reihung von Erz zum Eisen beruht sodann auf einer historischen Remi-
niszenz: Hesiod wußte, daß Bronze früher im Gebrauch war als Eisen, das in Grie-
chenland erst nach 1000 bekannt wurde. In der Ilias ist von Eisen selten die Rede,
in der jüngeren Odyssee öfter. Entsprechend reden wir – seit dem 19. Jahrhundert –
auch von Bronzezeit und Eisenzeit. Greifbare historische Überlieferung liegt auch
darin, daß Hesiod zwischen das eherne und das eiserne Geschlecht systemwidrig
das unmetallische „heroische“ Geschlecht eingeschoben hat. Offenbar wollte er das
Wissen von den Trojakämpfern noch anbringen, scheute sich aber, diese Helden
mit dem ehernen Geschlecht gleichzusetzen.
2n. Hesiod benutzt den Mythos als Ausdrucksform für sein Zeitgefühl. Er
beschreibt einen Abstieg in Stufen, auf deren letzter und tiefster er selber steht. Im
7. Jahrhundert vor Christus erlebte Hellas den Übergang von einer weitgehend länd-
lichen in eine überwiegend städtische Lebensform, und vielleicht gehörte Hesiod zu
den Verlierern und brachte seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck, die sein Mißge-
schick als nicht bloß privates erklärt. Die Ausblicke sind düster, die Menschen benut-
zen ihre Intelligenz zu bösen Zwecken, und eines Tages wird auch das jetzige
Geschlecht der verdiente Untergang treffen, wenn sie sich nicht bessern. Eduard
Meyer verglich Hesiod mit den israelischen Propheten, die moralische Appelle an
ihre Landsleute errichteten und zum Gehorsam gegen Jahwes Gebote aufriefen.29
2o. Eine solche Ermahnung hat natürlich nur Sinn, wenn die Dekadenz doch
nicht zwangsläufig ist. Wie alle antiken Autoren rechnet Hesiod in der Moral mit
einer Instanz, die Verfall abwenden kann. Von hier aus gewinnt sein Gegenwarts-
bild einen positiven Zug. Hesiod zeichnet die Arbeit nicht nur als Last, sondern
auch als Erfüllung eines Lebens. Die Landwirtschaft trägt positive Züge, der Streit
(eris) zwischen den Menschen hat seine gute Seite. Hesiod unterscheidet zwischen
der bösen Eris, dem gehässigen Zank, und der guten Eris, dem edlen Wettstreit, der
Konkurrenz. Dieses agonale Motiv im Wunsche, voranzukommen, muß jedoch
gezügelt werden durch Dike, durch das Sittengesetz. Nur dieses kann verhindern,
daß die Menschen sich gegenseitig auffressen wie Tiere. Hesiod glaubt, daß die
Götter den Gerechten schützen und den Betrüger bestrafen. Als Ziel formuliert er
nicht das äußere Wohlergehen, sondern Haltung und Leistung, die Tugend, vor
welche die Götter den Schweiß gesetzt hätten.30
2p. Die Idee vom Goldenen Zeitalter war in der Antike verbreitet. Einstens
soll Kronos-Saturn, der Vater von Zeus-Juppiter, regiert haben. Empedokles um
440 v. Chr. jedoch ließ Aphrodite-Venus herrschen, während Aratos in seinem
Gedicht über den Nachthimmel aus der Zeit um 270 v. Chr. das Sternbild der
Jungfrau mit der von Hesiod personifizierten Dike, der Gerechtigkeit gleichsetzt,
die zu den Göttern entfloh31. In der Zeit des Augustus schilderten die Dichter
Tibull und Ovid die aurea aetas: Golden war das Zeitalter, als die Menschen noch
kein Gold kannten, ehe die auri sacra fames, der „verfluchte Hunger nach Gold“ die
Menschen unzufrieden und gewalttätig machte. In jener Zeit lebten die Menschen
in Frieden untereinander und in Freundschaft mit den Göttern. Es herrschte Frei-
heit und Gleichheit, man lebte im Einklang mit der Natur, die Erde spendete ihre
Gaben ohne menschliches Mühen in ewigem Frühling; die Löwen fraßen Stroh
und lagerten neben den Lämmern. Ovid beschreibt, wie über das silberne und
eherne Zeitalter diese Vorzüge verloren gingen, bis zuletzt das eiserne Geschlecht
mit allen Übeln der Gegenwart aufkam. In der Zeit des Augustus schilderte der
Astrologe Manilius die Gebrechen der Zeit, die sittlichen und sozialen Mißstände,
die der Kundige aus der Stellung der Sterne abzulesen vermochte. Unter Marc Aurel
versetzte der Reiseführer Pausanias das glückliche, götternahe Leben des goldenen
Zeitalters ins urzeitliche Arkadien, die ideale Landschaft der hellenistischen Dich-
ter, und kontrastierte es mit der Sittenlosigkeit seiner Gegenwart.32
3. Asiatische Urzeitmythen
3a. Dekadenzvorstellungen beruhen auf Erinnerungen zumeist bejahrter Männer
an die „gute alte Zeit“, denken wir an den greisen Nestor bei Homer.33 Ausdrucks-
formen sind vielfach archetypische Denkmodelle, das zeigt sich in der weiten Ver-
breitung ähnlicher Motive, doch ist oft nicht zu entscheiden, ob eine Ideenübertra-
gung oder eine Parallelerfindung vorliegt. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß wir zu
der jüdisch-griechischen Tradition von Niedergangskonzepten Entsprechungen in
der orientalischen Überlieferung vorfinden.
3b. Zu Hesiods Mythos vom goldenen Zeitalter und der Vision Daniels von
dem Koloß auf tönernen Füßen (s. u!) stellt sich eine persische Variante: Zarathus-
tras Metallbaum. Das um 600 n. Chr. aufgezeichnete, aber sehr viel älteres Gedan-
kengut enthaltende Bahman Yasht erzählt, wie der Himmelsgott dem Propheten
die Zukunft des Perserreiches im Traum offenbart. Zarathustra sieht einen Baum
mit vier Ästen. Der goldene bedeutet die Zeit unter Vishtasp, der die reine Lehre
annehmen werde. Es ist der griechische Hystaspes, der Vater des Darius. Der sil-
berne Ast verweist auf Ardashir, den Gründer der Sassanidendynastie und Erneue-
rer des Zoroastrismus. Der Ast aus Stahl sodann symbolisiert die Herrschaft von
Chosrau Anushirvan, und der aus verunreinigtem Eisen bestehende vierte Ast
meint die folgende Herrschaft der „Dämonen mit zerteiltem Haar“, vielleicht die
muslimischen Araber. Der Autor dieser Fassung lebte offenbar kurz vor dem Ende
des persischen Weltreiches, als, wie er meinte, die Tugend dahingeschwunden war
die die Menschen immer kleiner auf die Welt kamen. Eine andere Vision zeigt
einen Baum mit sieben Ästen, die Stufen des Niedergangs durch Metalle von
abnehmendem Wert verbildlichend34.
3c. Die Lehre von der glücklichen Urzeit gibt es ebenso im alten Indien. Strabon
überliefert, Alexander sei auf dem Rückweg aus Indien von dem Brahmanen Kala-
nos begleitet worden, und dieser habe erzählt: „In alten Zeiten war die Welt so
voller Gersten- und Weizenmehl wie jetzt voller Staub. Die Quellen gaben Wasser,
Milch und Honig, Wein und Öl. Aber Völlerei und Üppigkeit machten die Men-
schen überheblich. Da zürnte Zeus und verhängte über sie ein Leben voller Arbeit.
Darauf stellte sich mit Einsicht und Tugend die Wohlfahrt wieder her. Aber der
Mensch ist wieder nahe an Überfluß und Hybris, und der Verlust aller Dinge steht
bevor“. Hier wird ein Urglück mit einem Wechsel von Schuld und Strafe verbun-
den. Die indische Idee vom Goldenen Zeitalter bezeugt auch Al Biruni.35
3d. Ebenfalls aus der Alexanderzeit stammt ein chinesischer Text von dem tao-
istischen Philosophen Dschuang Dsi. Im ›Wahren Buch vom südlichen Blüten-
land‹36 beschreibt er die „Stufen des Verfalls“: „Die Männer des höchsten Altertums
lebten inmitten des Unbewußten. Sie waren eins mit ihrem Geschlecht und erreich-
ten Ruhe und Vergessenheit. Zu jener Zeit waren Licht und Dunkel in stillem
Einklang; Geister und Götter störten nicht; die Jahreszeiten hatten ihre Ordnung;
alle Wesen blieben ohne Verletzung, und die Schar der Lebenden kannte keinen
vorzeitigen Tod; die Menschen hatten wohl Erkenntnis, aber die gebrauchten sie
nicht: das war die höchste Einheit.
3e. Zu jener Zeit handelte man nicht, sondern ließ stets der Freiheit ihren Lauf.
Als dann das leben verfiel, kamen Feuerspender (Sui Jen) und Brütender Atem
(Fu Hi) zur Herrschaft über die Welt. Darum ging wohl alles seinen Gang, aber die
Einheit war nicht mehr vorhanden. Als dann das leben noch weiter verfiel, da
kamen der göttliche Landmann (Schen Nung) und der Herr der gelben Erde
(Huang Di) zur Herrschaft über die Welt. Darum herrschte wohl Friede, aber die
Dinge gingen nicht mehr ihren Lauf.
3f. Als dann das leben noch weiter verfiel, da kamen Yau und Schun zur Herr-
schaft über die Welt. Sie brachten die Strömung des Ordnens und Besserns in Lauf,
befleckten die Reinheit, zerstreuten die Einheit, verließen den sinn und stellten statt
seiner das Gute auf, gefährdeten das leben und errichteten statt seiner die Tugen-
den. Von da ab ging die Natur verloren, und man folgte dem Verstand. Verstand
tauschte mit Verstand die Kenntnisse aus, und doch war man nicht mehr fähig, der
Welt eine feste Ordnung vorzuschreiben. Darauf fügte man Formenschönheit hinzu
und häufte die Kenntnisse. Aber die Formenschönheit zerstörte den Inhalt, und
Kenntnisse ertränkten den Verstand. Da wurden die Leute vollends betört und ver-
wirrt, und kein Weg führte mehr zurück zur wahren Natur und zum Urzustand“.
Aus dieser Geschichtsphilosophie zieht Dschuang Dsi jedoch ganz andere Folgerun-
gen als Hesiod. Während der Grieche dazu aufrief, das Verhalten und damit die
Verhältnisse zu ändern, zieht sich der Chinese in die Kontemplation zurück.
sinn ausgelöst, die Sucht nach Reichtum die Prozeßleidenschaft angestachelt und
die politisch-militärische Disziplin untergraben, was dann in die Niederlage des
Peloponnesischen Krieges geführt habe.44
4g. Die ausführlichste Benutzung des Dekadenzmodells finden wir dann bei
Isokrates, der in der Zeit zwischen dem Peloponnesischen Krieg und Alexander den
Niedergang Athens erlebte. Aus der Zeit des Krieges zwischen Athen und seinen
abtrünnigen Bündnern 357 bis 355 v. Chr. stammen zwei Reden, der ›Areopagiti-
kos‹ und die Friedensrede, in denen sich Isokrates gegen die Versuchung wandte,
die Herrlichkeit des Attischen Reiches aus der Perikleszeit wiederherstellen zu wol-
len. Im ›Areopagitikos‹ heißt es: „Wir scheinen stark – also glaubt ihr, brauchen wir
uns nicht zu sorgen ! Aber gerade dieses trügerische Gefühl der Sicherheit führt zu
einer schlechten Politik. Nichts erhalten die Menschen ungemischt: Reichtum und
Herrschaft erzeugen Unbesonnenheit und Zuchtlosigkeit; Armut und Einfachheit
hingegen Besonnenheit und Maß. Wohlergehen schlägt um in Unglück und umge-
kehrt: was soll man wünschen? Endlos viele Beispiele gibt es dafür: Athen und
Sparta vor anderen: nach den Perserkriegen waren wir stark. Als wir oben waren,
haben wir den Peloponnesischen Krieg begonnen. Sparta stieg aufgrund seiner Dis-
ziplin empor und fiel ab, nachdem es die Vorherrschaft gewonnen hatte. Daraus
müssen wir lernen!“45
4h. Den drohenden Niedergang demonstriert Isokrates in seiner Friedensrede
an der Geschichte Athens zwischen den Perserkriegen als dem Höhepunkt und der
Niederlage von 404 als dem Tiefpunkt. Der Abstieg habe mit der Gründung des
Seereiches 477 eingesetzt und sei bereits in den Vorgängen von 460 sichtbar gewor-
den. Gegen alles Recht hätten die Athener ihre ursprünglichen Bundesgenossen
ausgeraubt und versklavt, um einer uferlosen Expansion willen einen großen Krieg
angezettelt und so zuerst ihr Ansehen und dann ihre Stellung verspielt.46
III
+/– Außere Stärke –/+
(Macht, Reichtum)
II IV
Innere Stärke Innere Schwäche
(Virtus) (Verweichlichung)
I
+ Außere Schwäche –
(Armut, Machtlosigkeit)
4i. Die Ereignisfolgen, wie Isokrates sie beschreibt, in Regeln gebracht, ergeben das
klassische Dekadenzmodell.47 Ein Leben unter harten äußeren Umständen (I)
zwingt zur Entfaltung aller inneren Kräfte (II). Dabei wird eine höhere Leistungsfä-
higkeit entwickelt, als es die bloße Selbstbehauptung erfordert. Dieser Überschuß
an innerer Stärke wird umgesetzt in eine Verbesserung der Lebensumstände. Man
kommt zu Macht und über die Macht zu Reichtum (III). Nun kehrt sich die Wir-
kung um: So wie zuerst die menschliche Leistung die äußeren Verhältnisse verbes-
sert hat, so untergraben anschließend die angenehmen Umstände die Leistungsfä-
higkeit. Macht führt zu Leichtsinn, Reichtum zu Bequemlichkeit: die Hybris
erscheint. Nun ist man nicht mehr imstande, die gewonnene Position zu halten
(IV). Dem inneren Verfall folgt der äußere Abstieg, und schließlich ist der Zustand
der Mittellosigkeit wieder erreicht (V=I). Ob der Durchgang wiederholbar ist,
bleibt unentschieden.
4j. Die Typik dieser Entwicklung weist Isokrates nach, indem er Parallelen zur
Geschichte von Athen in Sparta, Theben und Thessalien herausarbeitet. Sodann
macht er die Gegenprobe an der Geschichte von Megara. Diese Stadt habe sich
immer mit einem bescheidenen Wohlstand begnügt und sei dafür vor Katastrophen
bewahrt geblieben. Daß dies auf der moralischen Haltung und nicht auf der Staats-
verfassung beruhe, folgerte Isokrates daraus, daß Athen und Sparta trotz ihrer
unterschiedlichen Staatsordnung dasselbe Schicksal erlitten haben. Es ist die Natur
der Macht und besonders die Natur der Macht zur See mit ihren Versuchungen, die
ihre Inhaber moralisch korrumpiert und zum politischen Ruin führt.48
4k. Der Argumentationswert des Schemas beruht auf der Evidenz der Phasen-
folge und auf dem Konsens über deren Bewertung. Einvernehmen besteht über den
ersten Schritt. Die Entfaltung innerer Stärke unter dem Druck der äußeren Not gilt
uneingeschränkt als wünschenswert. Die Meinungen über den zweiten Schritt sind
geteilt. Der Durchschnittsbürger, den Isokrates vor sich hat, sieht in der Vermeh-
rung von Macht und Reichtum den Sinn aller Mühen. Der echte Staatsmann, so
Isokrates selber, hat jedoch Vorbehalte im Hinblick auf die Folgen. Auch über den
dritten Schritt besteht keine Einigkeit. Der Menge ist ihre moralische Dekadenz
gleichgültig, der weiterblickende Politiker indessen verurteilt sie angesichts dessen,
was daraus folgt. Denn über den vierten Schritt, den äußeren Abstieg, besteht wie-
der Einigkeit. Das will niemand.
4l. Isokrates erhebt immer wieder die unpopuläre Forderung, daß das Volk seine
eigenen Wünsche in Frage stellen lerne, und führt scharfe Angriffe gegen die Dem-
agogen, die sich dem Volk als Vollstrecker seiner Wünsche anbieten, ohne diese
Wünsche zuvor auf ihre Vereinbarkeit, ihre Erreichbarkeit und ihre Auswirkungen
hin zu prüfen. Die Folgen seien Katastrophen der gehabten Art.49 Die athenische
Selbstkritik liegt somit auf derselben Linie wie diejenige Platons an den Größen
der attischen Geschichte, die dem Volk seine Begierden erfüllt statt ausgetrieben
hätten.50
4m. Eine Schwierigkeit ergab sich für Isokrates daraus, daß Friedenspolitik zu
seiner Zeit im Verdacht einer oligarchischen, das heißt antidemokratischen Tendenz
stand. Dies resultiert aus der spezifischen Struktur des damaligen Krieges. Die
Finanzierung der Rüstung wurde über außerordentliche Kriegssteuern den Reichen
auferlegt, und bei der Verteilung eroberten Landes profitierten in erster Linie die
Armen. Daher konnten die Kriegstreiber gewöhnlich auf die Zustimmung der
Menge rechnen, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hatte. Um diesen Ver-
dacht abzuwehren, erinnert Isokrates daran, daß die Demokratie schon zweimal im
Kriege verloren gegangen sei, nämlich 411 und 404, beide Male durch äußeren
Druck, weil den Nachbarn die Unberechenbarkeit der kriegslüsternen Masse
suspekt gewesen sei. Der Friede dagegen habe der Demokratie noch nie geschadet.51
4n. Isokrates demonstriert an der Geschichte, daß der Krieg ein ungeeignetes
Mittel ist für jemanden, der einerseits Wohlstand erringen und andererseits die
Demokratie erhalten will. Anders als Platon läßt Isokrates Wohlstand und Demo-
kratie als politische Ziele gelten. Dies ist deswegen möglich, weil er, im Gegensatz
zu Platon, die Frage nach der besten Staatsform als unerheblich betrachtet. Denn es
komme nicht auf die Gesetze, sondern auf die Gesinnung an. Das heißt hier: auf
die Bereitschaft, die eigenen Wünsche der Kritik zu öffnen. Der Dissens zwischen
dem weisen Politiker und der unklugen Menge liegt somit nicht in einem sachli-
chen Interessengegensatz, sondern lediglich darin, daß der Politiker der Menge
einen Schritt voraus ist und deren Interessen von morgen bereits heute berücksich-
tigt. Wer Machtpolitik betreibt, meint Isokrates, arbeitet zuletzt seinen Gegnern in
die Hände.52 Er führt den Zustand herbei, in dem der Mensch die Kontrolle über
die Umstände verliert und seinerseits unter deren Gewalt gerät.
*
4o. Wie für die griechische, so ist auch für die römische Geschichte mit dem Deka-
denzmodell argumentiert worden. Das beginnt mit dem älteren Cato, der als Censor
184 v. Chr. für die Sitten im Senat und in Rom überhaupt zu sorgen hatte. Er erklärte,
alle großen Städte gingen irgendwann zugrunde, entweder im Krieg oder im Frieden,
nachdem die Macht den Reichtum und dieser den Luxus gebracht hätte. Friede mache
träge. Ganz ähnlich dachte Polybios, der Historiker der Punischen Kriege. Er leitete
den Aufstieg Roms zur Weltmacht nicht nur aus der politischen Verfassung, sondern
auch aus der strengen Lebensweise der Römer ab. So hätten sie Hannibal widerstan-
den, und in der Überwindung der Niederlage bei Cannae 216 v. Chr. erblickt Poly-
bios den Höhepunkt der inneren Stärke Roms. Danach freilich, als Rom keinen Feind
mehr hatte, sei es mit bekannter Gesetzmäßigkeit bergab gegangen.53
4p. Die Besorgnis vor der korrumpierenden Wirkung des Erfolges ist auch in
der römischen Politik selbst nachzuweisen. In der Auseinandersetzung um die Dro-
hung Karthagos vertrat Scipio Nasica den Standpunkt, die Rivalin müsse als „Wetz-
stein“ Roms erhalten bleiben, während Cato sein ceterum censeo deswegen immer
wiederholte, weil er den Dekadenzprozeß Roms schon so weit vorgeschritten
glaubte, daß Rom sich einen Gegner nicht mehr leisten könne. Nach der Zerstö-
rung Karthagos 146 v. Chr. erklärte Scipio Africanus öffentlich, die römische Herr-
schaft sei nun groß genug, und man solle die Götter lieber darum bitten, sie zu
erhalten, statt sie noch immer zu erweitern.54
4q. In der späten Republik häufen sich die Klagen über den Sittenverfall. Der
äußere Aufstieg Roms habe den inneren Niedergang bewirkt; nachdem die Feinde
im Felde bezwungen seien, hätten diese nun durch ihren Einfluß die Römer besiegt;
und seit es keine fremden Gegner mehr gebe, richteten die Römer die Waffen gegen
ihre eigenen Eingeweide. Tatsächlich beruhten die spätrepublikanischen Bürger-
kriege auf dem Ehrgeiz der militärisch erfolgreichen Prokonsuln. Zeuge der Krisen-
stimmung ist Sallust, der mit der Zerstörung Karthagos den Abstieg beginnen läßt
und unter Caesar in der Geld- und Genußgier seiner Zeitgenossen die Wurzeln des
Übels erblickte.55 Noch in den ersten Jahren des Augustus fand Livius die Schwäche
des Reiches in seiner Größe begründet und glaubte, die raffgierigen Römer könnten
in ihrem Luxus weder ihre Laster noch die Heilmittel dagegen ertragen. Geradezu
verzweifelt fürchtete sodann Horaz, auf Rom laste seit dem Brudermord des Romu-
lus ein Fluch, die Römer sollten auf die Schiffe gehen und im fernen Westen eine
neue Heimat suchen. Der Übergang vom gesunden Landleben zu den Verführun-
gen der Großstadt verschlechtere die Römer von Generation zu Generation. Zeitge-
nössische griechische Autoren stimmen zu, so Diodor.56
4r. Im frühen Prinzipat hat der ältere Seneca geklagt: in deterius cottidie data res
est ... luxu temporum, nihil enim tam mortiferum ingeniis quam luxuria – „täglich
wird es ärger, der Luxus der Zeit verursacht das, denn nichts wirkt tödlicher auf den
Geist als das Luxusleben.“ Ebenso argumentierte sein gleichnamiger Sohn, der Phi-
losoph. Er stellte die ermüdende pax romana an den Pranger.57 Im selben Sinne hat
der ältere Plinius ein großes Klagelied über den inneren Verfall angestimmt. Mit
dem Beginn der römischen Weltherrschaft, mit Handel und Verkehr, mit Wohl-
stand und Friede sei das Leben zwar angenehmer geworden (profecisse vita).
Zugleich hätten sich aber die Interessen zunehmend aufs Materielle eingeengt. Die
Künste der Habsucht (avaritiae artes) und die Fülle der Dinge (rerum amplitudo)
ruinierten die Menschen, nur der Besitz mache noch Freude (sola gaudia in possi-
dendo), alle anderen Lebenswerte (pretia vitae), insbesondere Kunst und Wissen-
schaft, seien dabei zu Fall gekommen. Trotz dauerndem Siegen sei Rom inzwischen
von den Besiegten besiegt worden. Fremder Einfluß habe die guten alten Sitten
zerstört. Griechische Ärzte beherrschten mit ihren Quacksalbereien die römischen
Kaiser. Plinius zitiert den älteren Cato, der vor den griechischen Ärzten warnte. Die
Sittenverderbnis (lues morum) entsprang der Expansion zum Weltreich.58
4s. Tacitus sah dies wenig später ebenso, obschon er auch der Antikritik das Wort
gab. Es sei ein Zeichen menschlicher Schlechtigkeit, Vergangenes zu loben, Gegen-
wärtiges zu schmähen: vitio malignitatis humanae vetera semper in laude, praesentia in
fastidio. In einem Zeitraffer kennzeichnet er die verderblichen Wirkungen der Zivili-
sation bei der Beschreibung der Maßnahmen seines Schwiegervaters Agricola als Statt-
halter in Britannien. Die zerstreut lebenden kriegerischen Kelten habe er bewogen,
Städte zu bauen und ein friedliches Leben zu führen. Die Söhne der Vornehmen ließ
er in den Freien Künsten ausbilden, sie lernten Latein, übten die Redekunst und tru-
gen die Toga. Dann aber machten sich die Laster der Lüste und des Luxus bemerkbar,
man schätzte die schattigen Säulenhallen, die warmen Bäder und die üppigen Gelage.
Das nannten die Ahnungslosen humanitas, ein menschenwürdiges Leben, obschon es
in Wahrheit ein Bestandteil der Unfreiheit, der servitus war. Die römische Herrschaft
bietet – wie Kyros den Lydern – Annehmlichkeiten um den Preis der Freiheit.59
4t. Die Schattenseiten des Römerfriedens sah bereits Caesar, als er die Belgen
die „kriegstüchtigen Kelten“ nannte, weil sie von dem verweichlichenden Einfluß
der römischen Zivilisation am weitesten entfernt wohnten.60 Ganz ähnlich klagt
Juvenal: „Jetzt leiden wir an den üblen Folgen eines lang dauernden Friedens, /
Schwelgerei hat uns erfaßt und nimmt Rache am besiegten Erdkreis.“ Nunc pati-
mur longae pacis mala, saevior armis / luxuria incubuit victumque ulciscitur orbem.
Das einzige, was noch begehrt wird, sind Brot und Spiele, panem et circenses. Es
verwundert nicht, wenn auch Augustinus die Sorglosigkeit im römischen Frieden
tadelte, da sie den Römern erlaubte, wie Sardanapal zu leben. Augustinus begrüßte
den Krieg, weil er die Wertlosigkeit irdischer Güter bloßstelle.61
4u. Einen Beweis für die korrumpierende Wirkung des großstädtischen Wohlle-
bens bot ein Blick auf die Barbaren. Den verweichlichten und sittenlosen, über
zivilisierten und übersättigten Zeitgenossen stellte man die unverdorbenen, kraft-
strotzenden Naturvölker im Norden gegenüber. Schon die rauhe Witterung härte
sie ab, die karge, einfache Kost erübrige die Ärzte, der bescheidene Besitz erspare
ihnen die Rechtsanwälte. Diese urtümliche Lebensweise bewahre ihren Kriegsgeist,
ihre virtus, und ihren Kinderreichtum, ihre fecunditas – Eigenschaften, die von den
Griechen bei den Skythen beschrieben, von den Römern bei den Germanen gefun-
den und gefürchtet wurden, gefährlich für die im langen Frieden erschlafften
Römer. Diese bei Strabon und Vitruv, bei Caesar, Horaz und Tacitus, ja noch bei
Salvian im 5. Jahrhundert zu lesende Charakteristik der „edlen Wilden“ im Norden
ist zwar im Sinne der Gesellschaftskritik stilisiert, aber trotzdem mehr als literari-
sche Konvention.62 Das zeigt die Kriegsgeschichte.
4v. Das antike Dekadenzmodell hat auch in nachantiker Zeit so oft als Denk-
muster gedient, daß es als „klassisch“ bezeichnet werden darf. Wir finden es in der
arabischen Literatur bei Ibn Khaldun (s. u.). Es begegnet in einem Brief von John
Adams an Thomas Jefferson, bezogen auf Amerika am 18. Dezember 1819, und am
11. Dezember 1880 schrieb Moltke, der ewige Friede sei kein schöner Traum, denn
der Krieg sei ein Glied in Gottes Weltordnung, er entfalte die edelsten Tugenden.
Allerdings müsse er geregelt und human geführt und so schnell wie möglich been-
det werden.
5. Das Lebensaltergleichnis
5a. Der Dekadenzgedanke zeigt sich im Altertum nicht nur im Gewande eines
Mythos oder in Form eines Modells, sondern ebenso als Ausdruck eines Lebensge-
fühls, das sich in metaphorischer Form äußert. Der Begriff „Dekadenz“ selbst
stammt zwar vom lateinischen decadere, herabfallen, doch erscheint er in der klassi-
schen Literatur noch nicht in der modernen, übertragenen Bedeutung. Trotzdem
ist die Vorstellung einer Abwärtsbewegung schon im Altertum für „Dekadenz“
geläufig, auch der Gedanke einer Rückwärtsbewegung kommt vor sowie das Denk-
bild eines zusammenbrechenden Gebäudes.63
5b. Am weitesten verbreitet ist das Lebensalter-Gleichnis.64 Es parallelisiert Staa-
ten, Kulturen, Völker und ähnliche Traditionsgemeinschaften mit einem individu-
ellen Lebewesen. Diese Gleichsetzung kann sowohl der Verbildlichung funktionaler
Systeme dienen – der Staat erscheint als Organismus mit Kopf und Körper, Magen
und Gliedern, Gesundheit und Krankheit – als auch zur Illustrierung von Entwick-
lungsphasen benutzt werden – hier ist von Jugend, Alter und Tod von Staatswesen
die Rede.
5c. Die Übertragung der Individualentwicklung auf Geschichtsprozesse läßt
sich schon im griechischen Denken nachweisen. Bekannt ist die von Platon und
Aristoteles vertretene Ansicht, die Ägypter seien ein älteres Volk als die Griechen.
Gedacht war dabei an die längere kulturelle Überlieferung und an die „Altersweis-
heit“ der Ägypter, denen gegenüber die Griechen noch Kinder seien. Die Römer
haben dann auch vom Alter der Graecia gesprochen, sowohl um ihre Weisheit als
auch um ihre Schwäche zu kennzeichnen.65
5d. Bedeutsam wurde das Lebensgleichnis in der Anwendung der Römer auf sich
selbst. Wohl den ältesten Beleg liefert Polybios in den Worten des jüngeren Scipio
vor dem brennenden Karthago 146 v. Chr., dessen Zerstörung er gemäß Senatsbe-
schluß selbst angeordnet hatte. Scipio versank in lang anhaltende Trauer, vergoß
Tränen und zitierte die Weissagung Homers vom Ende Trojas: essetai hēmar – „Einst
wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt. / Priamos selbst und das Volk
des lanzenkundigen Königs.“ Scipio fühlte sich, berichtet Polybios, an den künfti-
gen Untergang Roms gemahnt, den er erwartet habe, nachdem auch die Reiche der
Assyrer, Meder, Perser und Makedonen verschwunden seien. Als Grund habe Scipio
den Verweis auf das einzelne Menschenleben angeführt: so wie die Menschen seien
auch die Staaten sterbliche Wesen. Kann man sich vorstellen, daß einer der alliier-
ten Sieger bei der Potsdamer Konferenz 1945 auf die Idee gekommen wäre, das
Schicksal des zerstörten Berlin sei auch einmal für Moskau, Washington oder Lon-
don zu befürchten?66 Wir halten unseren Besitzstand für ewig, doch Polybios hat
die naturnotwendige Vergänglichkeit aller Erscheinungen, auch der Menschenwelt,
als allgemeines Gesetz formuliert: Jeder Körper, jeder Staat, jede Handlung hat ihre
naturbedingte Zunahme bis zum Gipfelpunkt, und dann folgt der Niedergang wie
in der belebten Natur.67
5e. Ganz ähnlich lautet dann die Ansicht von Sallust: Schließlich haben die
körperlichen Vorzüge und die Gaben des Glücks wie einen Anfang so auch ein
Ende, und alles, was entstanden ist, vergeht wieder, und was gewachsen ist, altert:
postremo corporis et fortunae bonorum ut initium sic finis est, omniaque orta occidunt
et aucta senescunt. Auch der Stadt Rom werde das Schicksal einmal ein Ende berei-
ten, und die Agonie beginne mit dem Bürgerkrieg. Von dieser Regel nimmt Sallust
nur die geistige Tradition aus: Der Ruhm großer Erscheinungen vermöge die Zeiten
zu überdauern.68
5f. In der späten Republik wurde der biologische Dekadenzvergleich von Lucrez
auf die Geschichte der Welt insgesamt angewendet. Er betrachtete den Kosmos als
ein Lebewesen, das geboren sei und sterben müsse, und diagnostizierte in seiner
Zeit eine lange Reihe von Symptomen des Alterns. Die Erde, die einstmals alle
belebten und unbelebten Wesen geboren habe, bringe nichts derartiges mehr her-
vor, die Erträge der Bauern würden immer schlechter, und zu Recht werde beklagt,
daß in früheren Zeiten durch weniger Arbeit mehr zu erzielen gewesen sei. Lucrez
denkt an das Goldene Zeitalter, in dem die Erde ihre Früchte freiwillig geliefert
habe.69
5g. Auf den römischen Staat hat dann wieder Cicero den Lebensvergleich bezo-
gen. Er parallelisierte die Anfänge Roms mit Geburt, Wachstum und Eintritt ins
Alter von Reife und Kraft, um die einzelnen Stadien zu kennzeichnen. Romulus als
Stadtgründer übernimmt dabei eine Art Erziehungsfunktion. Bis auf seine Gegen-
wart hat Cicero den Vergleich nicht fortgeführt, daher wissen wir nicht, wie er die
Zukunft dachte. Zwar spricht er zuweilen vom Leichenbegräbnis der res publica,
aber es ist bedenklich, darin seine wahre Meinung über den Fortgang der Dinge zu
sehen. Denn es gibt auch Zeugnisse für seinen Glauben an Roms Ewigkeit, so in
seiner Schrift über die Republik.70 Dasselbe Nebeneinander pessimistischer Aus-
blicke und hoffnungsvoller Verheißungen finden wir bei Horaz. Seine düsteren
Diagnosen71 dürfen nicht als sein Zeitbild schlechthin verstanden werden. Der
Dichter will aufrütteln. Es ist kennzeichnend für das Geschichtsdenken Roms seit
der späten Republik, daß pessimistische und optimistische Strömungen nebenein-
ander herlaufen, die sich beide in denselben sozialen Gruppen, ja denselben Indivi-
duen nachweisen lassen.
5h. Eine konsequente Durchführung der Lebensalteranalogie bis an den Rand
des Grabes hat erst Seneca geleistet. „Nicht ungeschickt“, schreibt Lactanz,72 „teilt
Seneca die Geschichte Roms in Lebensalter ein. Das erste nennt er die Kindheit
unter der Königsherrschaft des Romulus, unter dem die Stadt geboren und gleich-
zeitig erzogen wurde. Es folgt die Jugend unter den übrigen Königen, in denen
Rom Größe gewann und allerlei Fähigkeiten erlernte. Unter Tarquinius wurde Rom
sozusagen mündig und erwachsen, ertrug die sklavische Unterordnung nicht länger
und warf das Joch der übermütigen Herrschaft ab, um nicht mehr Königen, son-
dern Gesetzen zu gehorchen. Die Zeit des Heranwachsens war mit den Punischen
Kriegen beendet, im Vollbesitz der Kräfte begann die Zeit der Reife. Mit der Unter-
werfung der Stadt Karthago, die lange Roms Nebenbuhlerin war, streckte Rom
seine Hand aus über Länder und Meere, bis alle Könige und Völker besiegt waren
sen noch Lactanz durch den Triumph Constantins. Beide hätten mithin die Gegen-
wart auch optimistisch deuten können, und Zeitgenossen beider haben das getan.
5l. Hatte Lactanz die politische Version des Lebensgleichnisses aufgegriffen, so
übernahm Augustinus die kosmologische. Nach dem Fall Roms 410 war von den
Heiden wieder der Vorwurf gegen die Christen laut geworden, daß sie die alten
Götter beleidigen, und wie Cyprian bediente sich Augustin der Lebensaltermeta-
phorik: „Du wunderst dich darüber, daß die Welt verkümmert? Wundere dich dar-
über, daß sie alt wird. Sie ist ein Mensch, wird geboren, wächst und altert. Viele
Übel kommen im Alter: Husten, Schnupfen, Triefäugigkeit, Ängstlichkeit, Müdig-
keit“ – Miraris quia deficit mundus? Mirare quia senuit mundus. Homo est, nascitur,
crescit, senescit. Querelae multae in senecta: tussis, pituita, lippitudo, anxietudo, lassi-
tudo inest. Wenn der Mensch alt wird, kommen die Plagen. Wenn die Welt alt wird,
kommen die Nöte. Hat Gott schlecht für dich gesorgt, da er im Greisenalter der
Welt Christus zu dir sandte?. Augustin verweist auf die Verjüngung des Einzelnen
im Alter der Welt; die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Mißstände können
dem Christen nichts anhaben, sein Heil liegt im Himmel.79
5m. Die Vorstellung einer sterbenden Welt war in der Spätantike verbreitet.
Eine Generation nach Augustinus brachte Salvian eine neue Variante, indem er die
Vergnügungssucht seiner Zeitgenossen mit der Bemerkung zu treffen suchte, das
römische Volk, gleichsam vom sardonischen Lachkraut vergiftet, stürbe lachend:
moritur et ridet. Salvian hält an dem Gedanken des hohen Alters fest, erklärt aber,
daß Rom nicht deswegen verende, sondern von den Steuern stranguliert werde. Die
letzten Atemzüge würden Rom auf diese Weise abgeschnürt.80
ist ein Bruch mit dem Bild, denn im Menschenleben gibt es derartiges nicht. Den-
noch zeitigte dieser Gedanke seltsame Zwitterformen des Lebensaltersgleichnisses.82
6b. Im späten 4. Jahrhundert hat Ammianus Marcellinus das Bild in ein ewiges
friedlich-würdevolles Greisenalter, ein otium cum dignitate ausklingen lassen. Er hat
den Tod als Ende Roms einfach ausgeblendet. Ähnlich benutzte Symmachus das
Bild, während sein christlicher Gegner Ambrosius der altgewordenen Roma noch
hinreichende Lernfähigkeit zutraute, das Christentum anzunehmen.83
6c. Verjüngungsmetaphern häufen sich in der Zeit um 400 kurz vor dem Unter-
gang des Reiches, in der letzten Blütephase der lateinischen Literatur. Bei Claudian
wird Roma von Juppiter angehaucht, so daß ihr die Kraft wiederkommt und ihre
ergrauten Haare nochmals Farbe gewinnen. Bei Prudentius ist es das Regiment der
christlichen Kaiser, das diese Wirkung erzielt: Die personifizierte Roma renascens
erklärt, sie fühle das Alter weichen und die Haare blond werden. Rutilius redet
Roma an und empfiehlt ihr, die Haare zu färben, und zwar grün!84 Die für uns
damit verbundene Komik war keinesfalls beabsichtigt, denn Grün ist die Farbe der
Jugendfrische. Wie Prudentius so verwendet Rutilius den Begriff renasci für die
Verjüngung. Er zählt die überstandenen Kriege auf und verheißt der Stadt: „Dich
aber stellt wieder her, was andere Reiche zerstörte, / Wiedergeburt ist die Kraft, die
aus dem Übel entspringt“ – illud te reparat, quod cetera regna resolvit / odo renascendi
est crescere posse malis.85 Das Zeitgefühl einer Erneuerung korrespondiert demjeni-
gen des Altgewordenseins, beides findet sich in der Spätantike nebeneinander und
bezeugt den janushaften Charakter der Zeit.
6d. Die Verbildlichung von Aszendenz und Dekadenz ganzer Völker durch die
Lebensalter eines einzelnen Menschen hat in der Renaissance bei den Humanisten
selbst eine Wiedergeburt erlebt und findet sich in der Folgezeit bei zahlreichen
Denkern: bei Rousseau und Herder, bei Hegel und Ranke.86 Die politische Rheto-
rik betont die wiederkehrende Jugend. Treitschke bescheinigte den Deutschen nach
den Befreiungskriegen die erste, unter Bismarck eine zweite Jugend. Max Weber
erwartete diese 1918, die dann die dritte wäre. Hitler stellte 1938 eine vierte fest,87
1945 begann eine fünfte, und die sechste erhoffte man mit dem Sturz des Kommu-
nismus. So wird die Geschichte zum Jungbrunnen.
a. Die Idee des Fortschritts entspringt dem Phänomen des Fortschritts. Bereits in
den Mythen vom Paradies und von Prometheus ist das Bewußtsein davon deutlich,
daß der Mensch seine Kultur nicht immer besessen hat. Man wußte, daß er, anders
als die Tiere, sich selbst und seine Lebensweise gestaltet und sie von einem naturge-
bundenen Anfangszustand allmählich auf das Niveau der Gegenwart geführt hat.1
Bewog die Not, die ihn zwingt, durch Arbeit sein Dasein zu fristen, den Pessimisten
dazu, das Leben zu beklagen, so boten die dabei erzielten Verbesserungen dem
Optimisten eine Grundlage für die Erwartung weiterer Fortschritte. Sehen wir ab
von der allzeit strittigen Bewertung der janusköpfigen Zivilisierung, so ist das
Bewußtsein von ihr ebenso alt wie die ersten Versuche einer geschichtlichen Selbst-
deutung.2
b. Die Fortschrittlichkeit der Kultur erkannten die Griechen einerseits aufgrund
des Vergleichs zwischen ihren Sitten und denen der Barbaren und andererseits
durch die Erinnerung an eigene, jüngst erzielte Fortschritte im Können und Wis-
sen. Ein Bewußtsein unterschiedlicher Zivilisationsstufen unter Zeitgenossen
angeblich schon in mythischer Zeit zeigt bereits Homer. In der Beschreibung der
Kyklopen stellt er „wilde“ und gesittete Lebensformen einander gegenüber.3 Der
Unterschied zur griechischen Gesittung betrifft zum einen den Lebensstandard:
Polyphem, der Kyklop, kennt noch keinen Wein, betrifft zum anderen die Staats-
form: der Kyklop lebt allein in einer Höhle, nicht in Städten, und betrifft zum
dritten den Umgang mit Fremden: diese gelten ihm nicht als Schutzbefohlene des
Zeus Xenios, sondern als rechtlos. Sie werden ohne weiteres getötet und aufgefres-
sen. Dies erschien dem homerischen Odysseus barbarisch. Kultische Menschen
opfer allerdings kannten so wie die Israeliten auch die Griechen in ihrer Frühzeit.4
Die Sage vom Opfer Isaaks durch Abraham5 und der Mythos von Iphigenie in
Aulis6 erklären die Beseitigung dieser Unsitte. Bei den Karthagern blieb sie üblich,
doch forderte der Grieche Gelon in seinen Friedensverhandlungen 480 v. Chr. die
Beseitigung dieses Brauchs.7
c. Nach Herodot wurde Hellas vor den Griechen von den Pelasgern bewohnt,
die als Barbaren betrachtet wurden. Thukydides notiert, daß die Hellenen über-
haupt anfangs wie Barbaren gelebt hätten, und Aristoteles bemerkt, daß die Speere
bei Homer dieselbe Form hätten wie „noch jetzt“ die der Illyrier – sie bewahren
somit noch einen Stand, den die Griechen selbst hinter sich gelassen haben. Auch
1. Mythische Stifter
1a. Wie die ältesten Zeugnisse für ein Dekadenzbewußtsein, so erscheinen auch die
frühesten Belege für ein Fortschrittsdenken in mythischer Form. Es sind die Erzäh-
lungen, daß in der Urzeit Götter oder Halbgötter den Menschen das Leben erleich-
tert, ihnen die einzelnen Fertigkeiten und Einsichten übermittelt hätten. Hephai-
stos, der göttliche Schmied, und Athena, die Herrin der Weisheit, sollen den
Menschen, die anfangs wie Tiere in Höhlen lebten, mit der Technik das bessere
Leben ermöglicht haben.9 Die von Hephaistos erfundenen Dreifüße, die von selbst
(automatoi) zu den Göttern rollten, um ihnen Nektar und Ambrosia zu bringen,10
blieben den Menschen vorenthalten. Doch Athena soll ihnen den Ölbaum, Posei-
don das Pferd gestiftet haben. Der Streit zwischen den Göttern, wer den Menschen
die größere Wohltat erwiesen habe, zeigte der Westgiebel des Parthenon.11 Hätte
Poseidon damals gewonnen, hieße Athen heute Poseidonia. Die Imkerei und die
Zubereitung von Käse verdankte man den Nymphen von Kyrene.12 Die Sternkunde
vermittelte Merkur den Menschen.13 Den Wein schrieb man Dionysos zu, den
Getreideanbau Demeter, lateinisch Ceres. Zuvor hätten die Menschen von Eicheln
und Bucheckern gelebt.14 Schiller hat 1798 in seiner Ballade ›Das eleusische Fest‹
die Geschenke der Göttin und der anderen Olympier verherrlicht. Die Griechen
wußten somit, daß all dieses nicht schon immer da war. Polybios meinte, die Götter
seien einst Menschen gewesen, die für derartige Wohltaten vergöttlicht worden
seien.15
1b. Die Griechen haben ihre größten Heroen als Wohltäter der Menschheit
verehrt. So soll Herakles nicht nur allerlei Unholde besiegt und beseitigt haben,
sondern er soll auch in ferne Länder vorgedrungen sein, bis zum Atlantik im Westen
und zum Hindukusch im Osten. Der Sagenheld hat Dämme gebaut, Flußbetten
gegraben und Gebirgspässe geöffnet. Viele Techniken wurden einem bestimmten
mythischen Erfinder, einem prōtos heuretēs, zugeordnet. Summieren sich mehrere
Leistungen bei demselben Urheber, so spricht die Ethnologie von einem Kulturhe-
ros. Die Griechen besaßen deren mehrere. Sie erhoben Daidalos zum Erfinder der
Töpferscheibe, der Bildhauerei, des Zirkels, der Säge, ja des Fliegens, so im Mythos
von Daidalos und Ikaros.16 Palamedes galt als Schöpfer der Schrift, der Zahlen, der
Astronomie, der Seefahrt, der Gesetzesaufzeichnung, des Würfels und des Brett-
spiels.17 Der berühmteste Kulturheros ist Prometheus, er hat den Menschen selbst
geschaffen, und zwar aus Lehm. Die Kaute wurde bei Panopeus in Mittelgriechen-
land gezeigt, wie Pausanias meldet. Der Lehm roch noch damals unter Marc Aurel
nach Menschenfleisch.18 Bei Aischylos rühmt sich Prometheus, außer dem Feuer
noch weiteres gebracht zu haben: die Ziegelbrennerei, den Holzbau, die Zeitrech-
nung, die Zahlen, die Schrift, die Zähmung des Zugviehs, den Schiffsbau, die Heil-
kunst, die Deutung des Vogelfluges und die Eingeweideschau, die Hebung von
Bodenschätzen, die Metallverarbeitung und überhaupt „alle Künste“: pasai tech-
nai.19 Der Begriff technē hat hier zum ersten Mal seine spätere Bedeutung.20
1c. Kulturheroen finden wir ebenfalls bei anderen Völkern. Nach der Genesis
war es Kain, der die erste Stadt erbaut hat, unter seinen Nachkommen gelten Jabal
als Patron der Viehzüchter und Zeltbewohner, Jubal als Stammvater der Flöten-
und Zitherspieler, Thubalkain als der erste Bronze- und Eisenschmied.21 Im persi-
schen Königsbuch des Firdusi (um 1000) ist es der Sagenkönig Huscheng, der den
Menschen das Feuer und andere Errungenschaften liefert, sein Sohn lernt das
Schreiben von den Teufeln.22 Wie in der Genesis die Schlange verkörpert hier der
Teufel die Klugheit.
1d. Mythische Stifter waren der Stolz von Städten. Den größten Anteil an den
Erfindungen beanspruchten die Athener. Ihrem Stadtheros Theseus legte Euripides
ein Lob auf die Entwicklung der Kultur in den Mund: Theseus erklärt, das Leben
biete mehr Gutes als Schlechtes, und das sei den Göttern zu danken, die den ord-
nungslos, tierähnlich vegetierenden Menschen die Vernunft und die Sprache
geschenkt hätten, desgleichen die Mittel gegen Hunger und Frost, Schiffahrt und
Handel sowie die Seherkunde, so daß die Menschen sich allmählich selbst wie Göt-
ter vorkämen.23 Dies erinnert an den Sündenfall: die Menschen sind geworden wie
Gott. Der zeitgleiche Historiker Thukydides betonte die erfolgverheißende Nei-
gung der Athener zu allem Neuen im Gegensatz zu den konservativen Spartanern.24
Eine Generation später, um 380 v. Chr. feierte Isokrates Athen als die Wiege der
Kultur: Sie sei nicht nur die älteste, größte und berühmteste Stadt der Welt, son-
dern hier habe auch die in Eleusis verehrte Demeter den Menschen den Getreide-
bau geschenkt, der die Menschen aus ihrem tierhaften Dasein herausgeführt hätte.
Nicht von Anfang an hätten die Menschen alle jetzigen Güter besessen, sondern
diese erst nach und nach gewonnen.25 Ein solcher Stolz auf die führende Rolle
Athens ist im 2. Jahrhundert v. Chr. sogar inschriftlich verewigt worden.26
2. Historische Erfinder
2a. Nach den höheren Mächten, den Göttern und Heroen erscheint auch der han-
delnde Mensch als eigentlicher Motor des Fortschritts. Das klassische Zeugnis ist
ein Fragment des Xenophanes von Kolophon aus der Zeit um 500 v. Chr.: „Die
Götter haben den Sterblichen nicht von Anfang an alles offenbart, sondern erst im
Laufe der Zeit (chronō) finden diese suchend das Bessere.“27 Xenophanes behauptet
hier drei Dinge: Zum ersten sind es nicht die Götter, sondern die Menschen selbst,
die das Bessere finden. Diese Ansicht entspricht der Ablehnung anthropomorpher
Göttervorstellungen durch Xenophanes, er war Pantheist. Zum anderen wird ein
ten des Menschen auf, der sich die Natur unterworfen hat und Staaten gründet,
aber immer wieder in Versuchung gerät, die Gesetze der Moral zu brechen.30 Aus
späterer Zeit kennt die griechische Überlieferung zudem zahlreiche Persönlichkei-
ten, die zum technischen und wissenschaftlichen Fortschritt Wesentliches beigetra-
gen haben: Hippokrates zur Medizin, Hippodamos zum Städtebau, Iphikrates zum
Militärwesen, Aristarch zur Astronomie, Eratosthenes zur Geographie, Heron zur
Mechanik usw.
2d. Eine eigene Literaturgattung peri heurēmatōn befaßte sich mit diesen Neue-
rungen. Umfangreiche Erfinderkataloge überliefern Plinius maior und Hygin. Der
Kirchenvater Clemens von Alexandrien bringt eine lange Liste und nennt acht
Autoren, die solche Kataloge zusammengestellt haben.31 Für die reale Geschichte
sind diese Kataloge nahezu wertlos, denn bloß in Ausnahmefällen wird dort eine
Erfindung dem wirklichen Urheber zugeschrieben. Umso wichtiger sind diese Tra-
ditionen für das Geschichtsbewußtsein. Sie zeigen, wie die Vermehrung und Ver-
besserung der menschlichen Errungenschaften als historischer Prozeß, als Fort-
schritt verstanden wurde. Denn in der Regel beruhte der Anspruch auf eine
erfolgreiche Neuerung auf dem Wunsch nach Lob und Ruhm für jene Stadt, die
den Erfinder für sich reklamierte.
2e. Nicht nur einzelne Personen, sondern auch Völkern wurden Erfindungen
und Führungspositionen im Zivilisationsprozeß zugeschrieben. Tatsächlich haben
die Griechen nicht Weniges von den altorientalischen Kulturen übernommen, und
das blieb ihnen bewußt. Als das älteste Kulturvolk galten die Ägypter. Schon Solon
bewunderte ihre uralte Weisheit, wie Platon berichtet. Platon führte vieles auf den
ägyptischen Ibis-Gott Theut zurück: Zahlen- und Rechenkunst, Landvermessung
und Himmelskunde, Brett- und Würfelspiel und die Schrift.32 Aristoteles fand bei
ihnen jene politischen und sozialen Einrichtungen, die dann die Griechen übernah-
men, nachdem die „Not“ (chreia) das erforderlich gemacht habe. Bei Diodor heißt
es, Ägypten habe der Welt das Städtewesen geschenkt, selbst Athen sei eine ägypti-
sche Gründung.33 Anlaß dafür war offenbar die Gleichsetzung der ägyptischen Göt-
ten Neith, alias Isis, mit Athena. Herodot wußte, daß die Griechen das seit etwa
600 v. Chr. nachweisbare Geldwesen den Lydern und ihre seit dem 8. Jahrhundert
v. Chr. bezeugte Schrift den Phönikern verdankten, verlagerte dies jedoch in die
mythische Vorzeit.34
2f. Hinter den orientalischen Völkern blieben auch die griechischen Stämme
und Städte nicht zurück. Kritias wies den Sizilianern das Kottabos-Spiel und den
Reisewagen zu, den Thessaliern den Lehnstuhl (thronos), den Milesiern das
Schlafsofa, den Etruskern die getriebenen Gold- und Bronzebecher, den Phöniziern
die Buchstaben, den Thebanern den Rennwagen, den Kariern den Lastkahn und
den Athenern die Töpferscheibe.35 Um einzelne Erfindungen oder Erfinder gab es
konkurrierende Überlieferungen. So wie sieben Städte behaupteten, die Heimat
Homers zu sein,36 so stritten um Daidalos Ionier und Dorier, um Orpheus Thraker
und Makedonier, um die Erfindung des Dithyrambos die Städte Korinth, Naxos
und Theben.37
3. Progressive Zeit
3a. Das Wissen der Griechen um den zivilisatorischen Fortschritt spiegelt sich nicht
nur in der Überlieferung einzelner Erfindungen und Errungenschaften der Vergan-
genheit. Vielfach erscheinen sie als das Werk der unaufhaltsamen Zeit selbst. Die
frühesten Belege für deren Fortschrittlichkeit stammen aus der ionischen Naturphi-
losophie. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts erklärte Thales aus Milet: „Nichts ist wei-
ser als die Zeit, denn sie erfindet nach und nach alle Dinge“.38 Die Zeit, Chronos,
ist hier personifiziert, sie wurde vielfach mit dem Gott Kronos, dem Vater des Zeus
gleichgesetzt, so daß der gewöhnlich mythenfeindliche Fortschrittsgedanke sich
selbst einer mythischen Denkform bediente. Als Darstellungsmittel blieb der
Mythos lebendig, auch wo man seinen Überlieferungen nicht mehr glaubte. Dies
zeigt bei Aischylos der gefesselte Prometheus sogar seinerseits: Indem die Zeit alt
wird, lehrt sie jeden alles, auch den Zeus; und dem Menschen, meint Prometheus,
bringe das Feuer künftig tausend Künste bei.39 Er bedarf der Götter nicht mehr.
Der von Prometheus in Gang gesetzte Prozeß läuft aus eigener Kraft weiter.
3b. Die Progressivität der Zeit besteht sodann in der Vermittlung von Erkennt-
nis. Die Zeit, offenbart den Charakter eines Menschen, heißt es bei Theognis im
6. Jahrhundert.40 Ein weiteres Zeugnis stammt aus der 10. Olympischen Ode Pin-
dars von 474 v. Chr. Dort heißt es, bei der Geburt der olympischen Spiele habe
Chronos, der Gott der Zeit, daneben gestanden, der allein die wahre Unverborgen-
heit (alatheia) ans Licht bringe. Er verkündete „vorausschreitend“, wie die Spiele
begangen werden sollten.41 Die Zeit wird hier als Hebamme oder als Mutter der
Wahrheit bezeichnet, ihre Handlung als ein Vorwärtsschreiten in die Zukunft
bestimmt. Dies scheint das älteste Zeugnis für den Bildgehalt im Gedanken des
Fort-Schrittes. Er ist ebenso im lateinischen Wort progressus – „Voranschreiten“ ent-
halten, einer Lehnübersetzung Ciceros von griechisch prokopē – „einen Weg frei-
schlagen“,42 neben dem auch epidosis – „Zugabe, Zunahme“ verwendet wird.
3c. Abhängig von Pindar ist ein Fragment des Sophokles: „Nichts bleibt ver
borgen. Die Zeit, die alles sieht und alles hört, bringt auch alles ans Licht.“43 Das
Prädikat lautet anaptyssō, das entspricht dem lateinischen evolvo in der Bedeutung
des Aufrollens einer Buchrolle, eines volumen. Der Gedanke der „Auswicklung“
führt dann zum Gedanken der „Entwicklung“, den wir heute eher mit Lebensvor-
gängen verbinden. Die organische Parallele, die Gellius selbst zieht, ist die Formel
veritatem temporis filiam esse: die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, die sie gebiert.
Die Wahrheit verwandelt sich nicht mit den Zeiten, wie der Historismus wähnte,44
denn dann wäre sie temporum filia – sondern sie tritt wie bei einer Geburt mit bio-
logischer Notwendigkeit im Lauf der Zeit an den Tag.
3d. Die Vorstellung, daß die Zeit voranschreitet und damit den Zivilisations-
prozeß bewirkt, findet sich wieder bei Platon: „Als die Zeit voranschritt und die
Menschheit sich mehrte, ist allmählich alles zu den Zuständen fortgeschritten, die
heute herrschen.“45 Ähnliches lesen wir bei dem gleichzeitigen Tragiker Moschion.
Er betrachtete ebenfalls die Zeit als die Mutter und Amme aller Dinge, sie habe
auch die Menschen zu zivilisierten Wesen gemacht; ob sie sich dazu der Hilfe des
Prometheus oder der Notwendigkeit oder der Natur bedient habe, scheint dem
Autor unerheblich.46 Er nennt als Stufen des Fortschritts den Getreidebau, die
Weinherstellung, das Ackern mit Zugtieren, den Bau von Häusern und Städten
sowie die Bestattung der Toten in der Erde. Woher wußte man, daß dies nicht
schon immer üblich war? Es ist archäologisch seit dem Neandertaler bezeugt.
3e. Die Griechen verstanden die Kulturgeschichte als Lernprozeß, wobei die
weiter entwickelten Völker als Lehrmeister ihrer Nachbarn auftreten. Das Bewußt-
sein der translatio artium, in der die jüngeren Völker die Errungenschaften der älte-
ren übernehmen, ist so alt und so verbreitet wie das der heurēmata selbst. Autoren
wie Herodot und Platon waren sich klar darüber, daß die griechische Kultur jünger
war als die der Ägypter und sich vieles von dieser angeeignet hatte.47 Flavius Jose-
phus betrachtete die Chaldäer in Babylon als die ältesten Weisen und Abraham aus
Ur als den Lehrer der Ägypter, von denen dann die Griechen gelernt hatten.48 Sie
gingen freilich auch bei anderen Völkern in die Schule, vervollkommneten dann
aber die Übernahmen ihrerseits, wie Platon bemerkte. Wo wie in Athen der Natio-
nalstolz mitsprach, da betrachtete man sich freilich lieber als der Gebende denn als
der Nehmende, so Platon im ›Menexenos‹ und Isokrates im ›Panegyrikos‹.49
3f. In noch stärkerem Maße empfanden sich die Römer als Schüler. Polybios
berichtet,50 daß die Römer trotz ihrer konservativen Lebensweise es keineswegs als
Einbuße an Selbstachtung ansähen, Errungenschaften von anderen Völkern bei sich
einzuführen. Das Übernommene aber suchten auch sie jeweils zu verbessern, wie
Cicero den jüngeren Scipio, den Freund des Polybios, sagen läßt. Cicero stellt es
geradezu als Prinzip auf, daß die Römer sich alles aneigneten, was sie irgendwann
und irgendwo an löblichen und nützlichen Dingen fänden.51 Athenaios zählt im
einzelnen auf, was die Römer den Griechen, den Phöniziern, den Etruskern, den
Samniten und den Spaniern im Bereich der Kriegskunst verdankten.52
3g. Den Fortschritt als kollektiven Lernprozeß verdeutlichte Polybios daran, wie
beim Einzelnen das Erlernen der Schrift vor sich geht. Erforderlich sei eine gewisse
Intelligenz, die Einsicht in den Nutzen des Lernstoffes und Geduld. Die Zeit und
die Übung haben inzwischen, so schreibt er, den Kenntnissen und Fertigkeiten zu
einem solchen Aufschwung verholfen, daß von den meisten eine methodische Wis-
senschaft (methodikē epistēme) entstanden ist. Anlaß für diese Bemerkung ist ein
Exkurs über die Verbesserung der Nachrichtenübermittlung durch Feuerzeichen,
die Polybios selbst so weit perfektioniert hatte, daß selbst einzelne Buchstaben
signalisiert werden konnten, im Kriegsfall von hoher Bedeutung.53
3h. Nicht nur im Militärwesen, sondern auch in der Literatur und der Kultur
überhaupt sahen sich die Römer in einem edlen Wettkampf mit den Griechen,
ahmten sie nach und wollten sie übertreffen.54 Cicero nannte Athen die Quelle, von
der aus humanitas, doctrina, religio, fruges, iura, leges zu allen anderen Völkern
gelangt seien. Athen sei die Erfinderin sämtlicher Künste und Wissenschaften, die
Rom dann vollendete.55 Für einen Römer war es so selbstverständlich, daß die Spä-
teren die Früheren nachahmen, daß Cassiodor einmal von der aemulatrix posteritas
sprach.56
4. Kulturentwicklung
4a. Das Bewußtsein der antiken Autoren vom historischen Fortschritt äußert sich
nicht nur in den Hinweisen auf einzelne Neuerungen und die Kräfte, die sie herbei-
geführt haben, sondern fand auch Niederschlag in zusammenhängenden Erzählun-
gen von den Anfängen der zivilisatorischen Entwicklung. Es ging um die Verbesse-
rung der Lebensumstände, die Perfektion der Technik und namentlich um die
Vermehrung des Wissens, auf das die Griechen so stolz waren. Schon von Demo-
krit, dem Begründer der Atomtheorie, wird das Wort überliefert, er wolle lieber ein
neues Naturgesetz (aitiologia) finden als König von Persien werden. Damit ist ein
Lebensgefühl ausgesprochen, das in der Vermehrung und Vertiefung des Wissens
seine Erfüllung suchte.57
4b. Auf Demokrit wird ein bei Diodor überlieferter Entwurf der Kulturentste-
hung zurückgeführt.58 Er schreibt: „Über den Anfang der Geschichte haben wir
folgende Kunde. Nach ihrer Entstehung führten die Menschen ein Dasein in der
Art der Tiere, ohne jede Ordnung. Sie lebten weit zerstreut und suchten sich Fut-
terplätze; wohlschmeckende Kräuter und Baumfrüchte waren ihre Nahrung. Von
wilden Tieren bedrängt, halfen sie einander. So lernten sie sich kennen, indem die
Furcht und ein gemeinsames Interesse sie zusammenführte. Ihre Laute waren
anfangs verworren, später artikulierten sie Wörter und schufen Bezeichnungen für
die Dinge, so daß man sich verständigen konnte. Auf der ganzen bewohnbaren
Erde entstanden solche Vereinigungen, deren jede ihre eigene Sprache entwickelte.
Diese Urhorden wurden die Ahnen der späteren Völker. Die ersten Menschen führ-
ten ein kümmerliches Dasein, da noch keinerlei zum Leben nützliche Erfindungen
gemacht waren. Es fehlte Kleidung, Behausung und besseres Essen. Noch wußte
man nichts vom Speichern der Früchte für Zeiten der Not, darum starben viele zur
Winterszeit vor Hunger und Kälte. Erst Erfahrung machte die Menschen klug, man
zog sich winters in Höhlen zurück und lebte von haltbaren Früchten. Als dann der
Gebrauch des Feuers entdeckt war, wurden nach und nach auch die anderen nütz-
lichen Einrichtungen, die Künste (technai) und Gewerbe erfunden, die das Leben
angenehm machen. Allenthalben war die Not (chreia) die Lehrmeisterin der Men-
schen. Sie brachte ihnen die Erkenntnis (mathesis) der Dinge, denn der Mensch ist
ein begabtes Tier, das sich in jeder Lage seiner Hände, seiner Sprache, seines Ver-
standes bedient.“ Die Tiere zählte Demokrit zu den Lehrern des Menschen. Von
den Spinnen habe er die Textilarbeit gelernt, von den Schwalben den Hausbau und
vom Schwan und von der Nachtigall den Gesang.59
4c. Eine zentrale Rolle spielt der Entwicklungsgedanke bei Aristoteles. Aus
gehend von Beobachtungen in der Biologie findet er allenthalben Vorgänge, die von
der bloßen Möglichkeit, wie sie der Samen birgt, über allmähliche Zunahme
(epdosis eis hauto) zur Vollendung (entelecheia) in Blüte und Frucht führen. Einen
derartigen Prozeß erkennt er in einzelnen Kulturerscheinungen, etwa in der
Geschichte der Tragödie, die für ihn die höchste Stufe der Poesie darstellt. Das
begann mit improvisierten Liedern zur Phallusprozession und kulminierte in den
Dramen des Sophokles.60 Entsprechend habe sich die menschliche Gesellschaft aus
primitiven Anfängen weiterentwickelt. Aristoteles verweist auf den Kyklopen der
Odyssee, der noch separat in seiner Höhle hauste, und zeigt den Fortschritt von der
Hausgemeinschaft über das Dorf zur Stadt, die alles biete, was zum guten Leben
(eu zēn) erforderlich sei. Diesen Zustand nennt er das telos oder die physis, das Ziel
oder die wahre Natur. Barbarische Sitten wie das Waffentragen und der Frauen-
kampf existierten nur noch bei weniger zivilisierten Naturvölkern.61 Zuerst bemü-
hen sich die Menschen um das Notwendige wie Nahrung und Wohnung, dann um
das Angenehme wie Kunst und Musik und zuletzt um das Überflüssige wie den
Luxus oder das Zweckfreie wie die Philosophie und die Wissenschaft, die Aristo
teles in naher Zukunft vollendet glaubt.62
4d. Den von Aristoteles behandelten Fortschrittskriterien hat sein Schüler
Dikaiarchos aus Messene noch diejenigen aus der Landwirtschaft hinzugefügt.63 Im
Naturzustand hätten die Menschen einfach als Sammler gelebt, „ohne die Erde zu
verletzen.“ In der folgenden Periode hätten sie Tiere gezähmt, als erstes Schafe. Die
dritte Phase hätte den Ackerbau gebracht, doch wäre dabei noch vieles aus den bei-
den vorangegangenen Abschnitten übernommen und weitergeführt worden. Mit
dem Fortschritt in der agri cultura, der Pflege des Bodens, verbanden Cicero und
Plutarch eine fortschreitende Kultivierung der Sitten; die cultura animi.64 Lateinisch
cultura ist kein Sammelbegriff für fertiges Menschenwerk oder für einen Lebensstil
wie „Kultur“ im Deutschen, sondern bezeichnet einen progressiven Vorgang, die
Kultivierung des Wildwuchses sowohl in der freien Natur als auch in der des Men-
schen mit seinen angeborenen Trieben. Landbau, meinte man, mache friedlich,
jedenfalls im Vergleich zum vorausgegangenen Nomadentum. Daher wird die dem
frührömischen König Numa zugeschriebene Aufteilung des Bodens durch Grenz-
steine als Befriedung gedeutet. Hier darf man freilich zweifeln: Um Streit zu ver-
meiden, wurde das Eigentum eingeführt, aber seit es eingeführt ist, streitet man um
nichts lieber als um das Eigentum.
4e. Der Fortschritt in der Erkenntnis ist in der römischen Literatur vornehmlich
von Lucrez und von Seneca herausgestellt worden. Lucrez (gest. 55 v. Chr.) hat ein
auf Demokrit und Epikur fußendes Weltbild entworfen. In seinem Gedicht ›De
rerum natura‹ wird eine Theorie der Zivilisationsentwicklung vorgestellt, die aus-
geht vom tierischen Hordenleben der Menschheit.65 Es folgt die Einführung von
Behausung und Kleidung; die Sprache und das Feuer werden verfügbar, Städtebau
und Geldwesen, Gesetz und Religion erleichtern das Zusammenleben. Immer neue
Erfindungen kommen hinzu, Ackerbau und Musik werden genannt. Als größten
Fortschritt aber preist Lucrez die materialistische Philosophie Epikurs,66 die den
Menschen von Aberglauben und Höllenfurcht befreie und die Vernunft allmählich
zum Lichte führe. Nachdem einst der Sophist Kritias die Furcht vor den Göttern als
nützliche Erfindung gepriesen hatte, wird nun deren Überwindung ebenfalls als
Fortschritt gefeiert.
4f. In der römischen Kaiserzeit hält das Bewußtsein eines Wissensfortschritts an.
Während Plinius die neuen Erkenntnisse der Astronomie nutzte und in den kom-
menden Jahrhunderten weitere Entdeckungen auf dem von den älteren Forschern
eröffneten Wegen voraussagte, rühmte Strabon und nach ihm Cassius Dio die
Erweiterung der geographischen Kenntnisse.67 Ebenso pries Seneca die Erfindungen
der Vergangenheit. Er rief auf zu deren Mehrung und prophezeite weitere Einsichten
in kommenden Jahrhunderten. Diese Erwartung künftiger wissenschaftlicher
Erkenntnisse nimmt in den ›Naturales Quaestiones‹ geradezu emphatische Form an.
Die alten Ansichten seien berichtigt worden, denn nichts sei von Anfang an voll-
kommen. So wie bisher große Entdeckungen gemacht wurden, werde jedes Zeitalter
etwas zu tun finden. „Es wird die Zeit kommen, wo die heute noch verborgenen
Geheimnisse der Natur entschlüsselt sein werden, wo die Menschen sich über unsere
Torheiten wundern werden, und wo das heute auf wenige Völker beschränkte
Wissen allgemein verbreitet ist.“ In seiner Tragödie ›Medea‹ erwartet Seneca in den
Worten des Chores von künftigen Jahrhunderten die Entdeckung neuer Kontinente
jenseits der ultima Thule im Atlantik.68 Schon Francis Bacon dachte 1625 in seinem
35. Essay hier an Amerika. Vielen Neuerungen ging eine Vision voraus.
4g. Die Annahme eines Wissensfortschrittes begegnet schließlich auch bei
spätantiken und christlichen Autoren. Der Grammatiker Priscian schrieb um 500
im Prolog zu seinen ›Institutiones grammaticae‹, die späteren Menschen blickten
immer weiter als die früheren: quanto iuniores, tanto perspicatiores. Dies hat zu dem
seit Bernhard von Chartres im Mittelalter beliebten Bild von den Zwergen geführt,
die auf den Schultern von Riesen sitzen: Auch wenn wir selbst kleinere Geister sind
als Platon, Aristoteles und Augustinus, so sehen wir doch weiter als diese. Otto von
Freising verband das höhere Wissen der Gegenwart mit dem inzwischen höheren
Alter der Welt, im senium mundi werde die Menschheit zwar schwach, aber weise.
Das habe selbst der Prophet Daniel vorausgesagt: pertransibunt plurimi et multiplex
erit scientia, „viele werden seine Prophetie durchforschen, und das Wissen wird sich
vermehren.“69 Das aber ändert nichts an der künftigen Verdammnis der verstockten
Sünder.
4h. In ähnlicher Art hat auch Augustinus die Kulturgeschichte in sein Heilskon-
zept eingebaut. Ausführlich beschreibt er, was die Gnade Gottes dem Menschen
geschenkt hat: die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die segensreichen und
staunenswerten Werke der Natur und alles, was der Mensch im Zuge des Fortschritts
daraus hat machen können. Die dunklen Seiten der Zivilisation werden nur angedeu-
tet, insgesamt erscheint sie in blendendem Licht. Und trotzdem sei das kein Grund
zum Stolz. Denn die Güter und Freuden dieser Welt dienten einerseits dazu, daß die
von Gott zur Hölle Verdammten es wenigstens auf Erden schön hatten, und anderer-
seits dazu, daß die zur Erlösung im Himmel Vorausbestimmten schon hienieden
einen Vorgeschmack des Paradieses und Dank für die Gottesgüte empfänden.70
5. Verbesserungen im Staatsleben
5a. Der vierte Sektor des Fortschritts neben der Technik, der Landwirtschaft und
der Erkenntnis ist die Politik. Die Vorzüge eines gut geregelten Zusammenlebens
zeigen sich in progressiven Bereichen wie Seefahrt, Waffenherstellung und Städte-
bau. Das wichtigste Zeugnis dafür liefert Thukydides im ersten Buch zu seiner
Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Thukydides glaubte, dieser Krieg sei der
größte aller Zeiten gewesen, weiß aber, daß dies alle Geschichtsschreiber behaup-
ten, um die Wichtigkeit ihres Werkes zu unterstreichen und sichert sich gegen die-
sen Einwand durch seine sog. „Archäologie“.
5b. Anfangs seien die Bewohner des später Hellas genannten Landes nicht seß-
haft gewesen, ein großes Völkergeschiebe habe geherrscht. Die Lebensweise war
primitiv, große Städte gab es noch nicht. Der Trojanische Krieg brachte den ersten
Zusammenschluß von zahlreichen Stämmen, der gemeinsame Hellenen-Name sei
jünger. Minos auf Kreta habe die erste Flotte gebaut und ein Seereich errichtet.
Damals sei Seeraub nichts Schimpfliches gewesen, die Männer gingen allgemein in
Waffen wie heute noch die nördlichen Barbaren und die Griechen in den Bergen.
Die Athener hätten als erste im täglichen Leben die Waffen abgelegt und ein üppi-
ges Leben geführt, im Gegensatz zu den Spartanern.
5c. Mit fortschreitender Seefahrt, mit wachsendem Handel seien auch immer
mehr Hafenstädte angelegt worden; zum Schutze des zunehmenden Reichtums
habe man Stadtmauern gebaut. Thukydides weist auf den Zusammenhang zwi-
schen Wohlstand und Krieg hin. Die mächtigeren Städte hätten die schwächeren
teils unterworfen, teils friedlich angegliedert, wobei das Streben nach Schutz ein
Motiv dafür gewesen sei, daß sich die Kleinen freiwillig den Großen untergeordnet
hätten. Sofern Homer ein zuverlässiger Zeuge sei – Thukydides läßt das offen, neigt
aber dazu, es zu bejahen –, war das Heer Agamemnons nicht groß, Ausrüstung und
Schiffsbau seien noch vergleichsweise primitiv gewesen. Thukydides erklärt, die
Schiffe hätten noch keine Decks gehabt. Das größte Manko habe im Fehlen des
Geldes bestanden; die Männer Agamemnons konnten nichts kaufen und mußten
während der langwierigen Belagerung selbst Ackerbau treiben. Überhaupt sei ohne
Geld – in Griechenland! – nichts Großes möglich gewesen.
5d. Die aufkommende Geldwirtschaft habe dazu geführt, daß in den Städten
die erblichen Könige von Tyrannen verdrängt worden seien. Korinth habe unter
seinen Tyrannen das Heerwesen entscheidend verbessert und sei durch seine Ein-
künfte die reichste und mächtigste Stadt geworden. Danach hätten die Tyrannen
Siziliens neue, bessere Schiffstypen konstruiert, und gemäß diesen Vorbildern habe
dann Themistokles die Athener dazu bewogen, eine Flotte zu zimmern. Dieser all-
gemeine Aufschwung habe zum Ausgreifen der Poleis und zum Kriegszustand mit
den jeweiligen Nachbarn geführt. Hier zählt Thukydides die kriegerische Konkur-
renz zu denjenigen Faktoren, welche die Entwicklung begünstigt haben.
5e. Als weitere Bedingung für den fortdauernden Aufschwung nennt Thuky
dides die Beseitigung der Tyrannenherrschaft und die im Perserkrieg entstandenen
größeren Bündnisse. Diese betrachtet er als etwas Neues: Unter dem Druck der
äußeren Gefahr seien die Griechen zu bisher ungekannten Leistungen angespornt
worden. Das attische Seereich Athens mit seinen Steuern, der peloponnesische
Bund mit dem Kriegerstaat Sparta an der Spitze sind für Thukydides die politisch
und militärisch stärksten Mächte der Geschichte. Um ihre Bedeutung zu verstehen,
entwarf er diesen Abriß der technischen und staatlichen Entwicklung, die auf bei-
den Gebieten zu einer bisher nie erreichten Höhe geführt habe.
5f. Über den künftigen Gang der Geschichte macht Thukydides keine bestimm-
ten Aussagen, aber er formuliert ein Erfahrungsgesetz: Solange sich Menschen
bemühen, wie er das in Athen bemerkt, solange siegt wie in der Technik auch in der
Politik das Neue notwendig über das Alte. Der Weg dazu sei die polypeiría, die
Erfahrung auf allen Gebieten. Ein Zeitgenosse des Thukydides empfahl, den Fort-
schritt gesetzlich zu verankern: Hippodamos von Milet hat ein Gesetz vorgeschla-
gen, Erfindungen staatlich zu prämieren.71 Im frühen 4. Jahrhundert versicherte der
große Arzt Hippokrates die ständigen Fortschritte der Heilkunde ließen in naher
Zukunft die Vollendung der Medizin erwarten.72 Das hat sich dann doch verzögert.
5g. Die Vorstellung einer fortschrittlichen Entwicklung in Technik und Staats
leben finden wir sodann in dem bei Platon aufgezeichneten „Mythos“ des Sophi-
sten Protagoras.73 Er erzählt, wie die Götter die Tiere geschaffen und sie mit ihren
jeweils lebensnotwendigen Fähigkeiten ausgestattet hätten. Diese waren vergeben,
als der Mensch gebildet wurde. Daher erhielt er durch Prometheus das Feuer und
die Technik. Der Mensch entwickelte die Sprache, versorgte sich mit Kleidung,
Wohnung und Nahrung. Die Gründung von Städten drohte zu scheitern, weil die
Menschen uneinig waren. Da sandte Zeus den Götterboten Hermes zu ihnen, der
brachte ihnen den Sinn für Gerechtigkeit und Gemeinwohl, und zwar nicht wie die
Begabung für das Flötenspiel oder die Heilkunst Einzelnen, sondern Allen. Und
darum habe, so Protagoras, in Athen bei den gemeinsamen Angelegenheiten jeder
Bürger die Fähigkeit und das Recht der Mitsprache.
5h. Platon hat dann auch seinerseits den Ursprung der Polis aus einer idealen
Geschichte abgeleitet. Im zweiten Buch seiner ›Politeia‹ reflektiert er über die Ent-
stehung des Staates aus der Bedürfnis-Struktur des Menschen. Weil ein Einzelner
sich allenfalls kümmerlich am Leben halten könne, hätten sich die Menschen
zusammengeschlossen. Die Vielfalt der Erfordernisse sei der Ursprung des gemein-
samen Arbeitens, Wohnens und Planens. Wo eine dauerhafte Wohngemeinschaft
selbständiger Menschen besteht, rechnet Platon mit einem Staat.
5i. Auf das wichtigste und erste Bedürfnis der Nahrungsbeschaffung folgen
Wohnungsbau und der Kleiderherstellung. Da die einzelnen Menschen teils zu die-
sem, teils zu jenem geschickt seien, habe es im Interesse einer möglichst guten und
reichen Produktion gelegen, die Arbeit aufzuteilen und eine Spezialisierung vorzu-
nehmen. Nur so sei eine höhere Leistung möglich. Platon schildert, wie sich so die
Zahl der Handwerke allmählich vermehrt habe. Da nun aber nicht alles überall
herzustellen ist, sei der Handel entstanden. Ein Staat ohne Handel scheint ihm
undenkbar, Handel setze sowohl Überproduktion voraus als auch einen Kauf-
mannsstand. Der so geschaffene Markt bedürfe des Geldes. Um die Spezialisten für
ihr besonderes Können freizustellen, habe man Tagelöhner eingeführt.
5j. Als Norm des Umgangs bestimmt Platon die Gerechtigkeit, die er auffaßt als
den Ausgleich zwischen dem, was der Einzelne für die Gemeinschaft leistet und
dem, was ihm von der Gemeinschaft zusteht. Platon sieht indessen, daß die Men-
schen immer mehr haben wollen. Ein Staat, der lediglich den Grundbedarf deckt,
wird als Schweinestaat bezeichnet. Dem steht der üppige Staat gegenüber, der auch
den Luxus kennt. Der Wunsch, mehr zu verbrauchen, als man herstellt, führt zur
Expansion, zum Kriege, der ein Heer erforderlich macht, und zwar ein Berufsheer,
weil dieses besser geschult sei. Damit ist Platon von der Staatsbildung zur Politik
gelangt, er ist mitten in der Geschichte.
5k. Im III. Buch seines Alterswerkes über die ›Gesetze‹ geht Platon auf die
Entstehung von Staat und Kultur nochmals ein. Sein Fortschrittskonzept entfaltet
sich innerhalb eines zyklischen Phasenmodells; die einzelnen Abschnitte werden
durch Flutkatastrophen getrennt. Nach der letzten Sintflut seien primitive Berg
hirten übriggeblieben. Sie beherrschten bloß noch Töpferei und Webekunst.74 Im
Laufe der Jahrtausende hätten dann einzelne Erfinder wie Daidalos, Orpheus und
Palamedes die Kultur vorangebracht, auch die Metallbearbeitung mußte erst
entwickelt werden. All das vollzog sich sehr langsam, während die Menschen sich
vermehrten.
5l. Die damalige, erste Gemeinschaftsverfassung ist für Platon – historisch
sicher richtig – die patriarchalisch verfaßte Horde. Als Illustration verweist er auf
die Kyklopen bei Homer, die ohne Rathaus und Gesetze in Höhlen hausten. Auch
bei den zeitgenössischen Barbaren findet Platon noch derartiges. Kriege habe es
damals noch nicht gegeben, die Menschen waren genügsam und hatten auch nichts,
was sie einander rauben konnten. Das Leben war einfach, die Leute waren ehrlich.
5m. Als zweites Stadium der Geselligkeit betrachtet Platon die Anlage befestig-
ter Siedlungen am Fuße der Berge, nachdem sich das Wasser weiter verlaufen hatte.
Es bildeten sich größere Gemeinschaften. Sie bestanden noch aus Familienverbän-
den mit jeweils besonderen Gepflogenheiten. Jetzt wurde die Gesetzgebung nötig.
Über sie entschied die Versammlung der Familienhäupter, der „Könige“, die viel-
leicht auch einen Oberkönig in der Art Agamemnons anerkannten. Wir haben hier
mithin die Polis in aristokratischer oder monarchischer Verfassung.
5n. Der dritte Typus ist nun die reiche, voll entwickelte Stadt in der Ebene.
Platon wählte als Beispiel Troja. Er spricht von einer zusammengesetzten Stadt,
verweist auf die wachsende Größe und denkt an eine konsolidierte Gemeinschaft,
die Kriege führen kann. Als vierten Staat führt Platon dann den Staatenbund an,
eine Symmachie mehrerer Poleis zum gemeinsamen Zweck der Verteidigung und
des Angriffs. Der Krieg erscheint hier als ein die Staatsbildung förderndes Element.
Strabon interpretierte diese politischen Fortschritte bei Platon geographisch: Die
Menschen zogen von den Bergen an die Hänge, dann in die Ebene und weiter auf
die Inseln. Je näher die Menschen dem Wasser kommen, desto zivilisierter werden
sie. Das Wasser verbindet, der meiste Verkehr geht über See. Platon sah darin
freilich auch Schattenseiten, weil die Hafenstädte ein Element der Unruhe darstel-
len – mit neuen Waren kommen neue Ideen, dem Luxus folgt das Laster.75
5o. Platon bleibt beim Staatenbund stehen. Den Schritt vom Staatenbund zum
Bundesstaat oder gar zum Flächenstaat hat er nicht vollzogen. Er und Aristoteles
haben die Polis als Endpunkt des Fortschritts betrachtet; diese Grundform des Staa-
tes schien ihnen nicht mehr überholbar, einzig die Frage blieb offen, wie denn die
ideale Verfassung der Polis aussähe, und ihr galten die Überlegungen der griechi-
schen Staatstheoretiker. Platon entwarf in seiner ›Politeia‹ einen musterhaften Stadt-
staat, den er gleichwohl nicht gegen den schließlichen Zerfall gefeit glaubte,76 wäh-
rend im „zweitbesten Staat“ der Nomoi eine Prozedur vorgesehen ist, wie die
Gesetze zu verbessern sind.77 Hier wird mithin ein Fortschritt eingeräumt, ohne
daß allerdings klar würde, ob er nicht bloß eine Anpassung an veränderte Umstände
bedeutet.
5p. Das weitergehende Bewußtsein von politischem Fortschritt segelte im Kiel-
wasser der faktischen Geschichte. Es war die Entfaltung des Imperium Romanum,
das hier neue Denkanstöße gab. Dies zeigt sich bei Polybios. Obwohl er Grieche
und ursprünglich Gegner Roms war, hat er sich von den Vorzügen dieses Staatswe-
sens überzeugen lassen und erblickte in ihm den Gipfel des politischen Fortgangs.
Alle bisherige Geschichte habe sich auf dieses telos zubewegt, vom Schicksal in diese
Richtung gezwungen. Selbst Katastrophen hätten diesen Prozeß nur beschleunigt,
sie stehen im Zusammenhang einer gesamtgeschichtlichen Ökonomie. Jetzt sei die
Welt gleichsam ein einziger Organismus geworden.78 Der politische Fortschritt hat
gemäß Polybios auch weitergehende Folgen. Er erklärte, in seiner Zeit gingen die
Künste und Wissenschaften schneller voran als früher, weil das Imperium einen
gefahrlosen Verkehr gestatte.79 Die Möglichkeit einer freien Bewegung ist immer
am römischen Reich gerühmt worden, nicht nur von Heiden wie Epiktet, sondern
auch von Christen wie Orosius, und an diesem Punkte treffen sich zivilisatorische
und politische Sphäre.80
5q. Fortschrittsbewußtsein im Bereich der Politik zeigen ebenfalls Ciceros Über-
legungen zur römischen res publica.81 Er erklärt sie für die beste aller Staatsformen
und dies nicht nur im Vergleich zu den geschichtlichen Verfassungen der Griechen,
sondern auch zu den utopischen Idealstaaten. Cicero findet den Vorzug Roms
darin, daß hier über ein halbes Jahrtausend politische Erfahrungen systematisch
gesammelt und ausgewertet worden sei, eine Tradition sich in allen äußeren und
inneren Schwierigkeiten bewährt habe, und dieses historische Faktum wiegt seiner
Meinung nach selbst Platons geniale Ausführungen über den Idealstaat auf.
5r. Die Vorstellungen vom politischen Fortschritt in der Antike kulminieren in
der Romideologie der Kaiserzeit. Mit der Konsolidierung des Imperiums unter
Augustus traten die Untergangsvisionen der Bürgerkriegszeit zurück, die Angst vor
dem Ende wich dem Ende der Angst.82 Zwar hat es bis in die Spätantike einzelne
Gesinnungsrepublikaner gegeben, die den Kaisern die Beseitigung der senatori-
schen Freiheit verübelten,83 aber die herrschende Meinung war, daß die Pax Augusta
die Lebensordnung vollendet habe. Vergil verkündete in seinem vierten Hirtenge-
dicht, der saeculi novi interpretatio, die Wiederkehr des goldenen Zeitalters. In der
Äneis erfüllt Augustus mit seinem imperium sine fine, seinem ewigen Weltreich, die
Verheißung des Göttervaters. Den Römern sei die Aufgabe übertragen, die Völker
zu regieren, ihnen Frieden, Recht und Gesittung zu bringen.84
5s. Die augusteischen Dichter und die Redner der Kaiserzeit haben Rom als
Gipfel und Endpunkt der Weltgeschichte gepriesen, und auch die Griechen stim-
men ein, so Strabon unter Augustus, Dion Chrysostomos, Plutarch und der jüngere
Plinius unter Trajan sowie Aelius Aristides in seiner Rom-Rede unter Antoninus
Pius.85 Die Expansion des Imperiums war abgeschlossen. Okzident und Orient tra-
fen sich auf den Märkten von Alexandria.86 Auch die innere Geschichte erscheint
als der gleichbleibende Endzustand vergangener Fortschritte. Sichtbarer Ausdruck
des Aufstiegs war die Baugeschichte Roms.87 Unter Augustus beschreibt der Dichter
Properz seine Vision, wie da, wo heute Marmorpaläste prangen, einst die strohge-
deckten Hütten armer Hirten standen. Ebenso verherrlicht Ovid die Zivilisation
der Aurea Roma, er lobt die Urbanität seiner Gegenwart – mögen andere die angeb-
lich gute alte Zeit preisen! Haec aetas moribus apta meis! „dieses Zeitalter paßt zu
meiner Lebensart.“88
5t. Erwartung zivilisatorischer Fortschritte bezeugt noch Marc Aurel. Aber er
warnt: „Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern sei zufrieden, wenn es in kleinen
Schritten vorwärts geht.“ Eben dieses bemerkte unter ihm auch der Jurist Gaius in
seiner Schrift über das Zwölftafelgesetz: Die Rechtsgelehrten seien imstande, das
Rechtswesen von Tag zu Tag zu verbessern.89 Bis ins frühe 3. Jahrhundert traf das
auch zu, doch bedeutet das spätantike Vulgarrecht eine Vergröberung, einen
Niveauverlust der Jurisprudenz. Die Vorstellung von Fortschritt im religiösen
Bereich finden wir schon bei Platon, wenn er meint, die Griechen hätten ursprüng-
lich nur die Himmelskörper verehrt, und bei Herodot, der erklärte, Homer und
Hesiod hätten den Griechen die Götter geschenkt.90 Die Römer betrachteten König
Numa als Stifter ihrer wichtigsten Riten; Livius bemerkte, das Kultlied auf Juno
Regina von 207 v. Chr. sei so schaudervoll (abhorrens et inconditum), daß er es nicht
zitieren könne. Dem älteren Geschmack war es vielleicht angepaßt, aber unserem
verfeinerten Empfinden, meint er, ist es zuwider.91
5u. Die religiöse Wende Constantins brachte dann eine abschließende Steige-
rung des antiken Fortschrittgedankens. Das Imperium Romanum Christianum
erschien den Kirchenvätern Eusebios von Caesarea, Ambrosius von Mailand und
namentlich Orosius als die letzte und höchste der Staatsformen.92 Das Christentum
habe auf allen Gebieten, auch auf dem politischen, Besserung gebracht und verspre-
che weitere Fortschritte auf Erden. Es kam zu einer Verschmelzung der progressiven
Reichsideologie mit der eschatologischen Heilsgeschichte. Sie zeigt bereits in der
Spätantike einen säkularen Aspekt, ehe sie in der Aufklärung vollends verweltlicht
wurde.
5v. So begleitet den Fortschritt auf der Ereignisebene ein Fortschrittsgedanke
auf der Bewußtseinsebene bis zur letzten Phase des Altertums. Dabei geht es nicht
allein um die Errungenschaften der Vergangenheit, sondern ebenso um Erwartun-
gen an die Zukunft. Weitere Fortschritte wurden auf vielen Lebensgebieten progno-
stiziert: in den Bereichen der Erfindungen und Entdeckungen, in der Medizin, in
der Philosophie, im Recht, im Staatsleben und in der Mission. Mithin wird man
kaum sagen können, das historische Bewußtsein sei ein „junges Phänomen“, um
1750 entstanden.93 In der Regel sind es die Nutznießer der gegenwärtigen Lage, die
mit weiteren Verbesserungen auf ihren Gebieten rechnen. Mit der Völkerwande-
rung ist das vorbei. Die Einnahme Roms 410 durch Alarich, der die Kirchen
schonte, konnte ein Orosius noch mit seinem Fortschrittsbewußtsein vereinbaren.
Die Goten hätten Gold gesucht und den Glauben gefunden. Den hatten sie freilich
schon vorher, ihren Arianismus, und den behielten sie bei. Die Plünderung Roms
durch Geiserich und seine Vandalen 455 war für Prokop beim besten Willen nicht
mehr progressiv zu interpretieren. Dennoch zweifelte er am Fortbestand des Impe-
riums ebensowenig wie wir heute an der Zukunft der Demokratie.94
6. Fortschrittskritik
6a. Kritik am Fortschritt lag bereits im Paradieses- und Pandora-Mythos vor. Es
wurde früh deutlich, daß die Technik sich allen Zwecken fügt, daß eine verbesserte
Herrschaft über die Natur auch eine verbesserte Herrschaft über Menschen bedeu-
tet und verbesserte Herrschaft gesteigerten Mißbrauch ermöglicht. Die Zivilisation
machte die Menschen nicht besser, nicht zufriedener, nicht menschlicher. Und so
kommt es zur Kritik der fortschreitenden Vernunft an der fortgeschrittenen Zivili-
sation.
6b. Das Bewußtsein von den Grenzen des Fortschritts begegnet im Alten Testa-
ment im Kapitel 28 des Buchs Hiob aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Hiob zählt eine
lange Liste menschlicher Errungenschaften auf, er nennt die Techniken, mit denen
Metalle gefunden und bearbeitet werden, er beschreibt, wie die Menschen Gold
und Silber, Onyx und Saphire aus der Erde holen – bloß Weisheit und Einsicht
finde man so nicht. Man könne sie nicht ergraben, nicht erhandeln – dabei sei sie
kostbarer als alles. Nur Gott kennt ihre Stätte. Er spricht zum Menschen: „Siehe,
die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und Meiden das Böse, das ist Einsicht.“
6c. Innerhalb der griechischen Literatur wurde der Januskopf des Fortschritts
gerade von denjenigen Autoren herausgestellt, die als Zeugen des Fortschrittsbe-
wußtseins heranzuziehen waren. Sophokles ließ sein Chorlied über die Leistungen
der Menschen ausklingen in ein Erstaunen über die Unbesonnenheit und die Ver-
blendung.95 Thukydides entfaltete das Bild vom zivilisatorischen Prozeß just dazu,
den Peloponnesischen Krieg als die größte bisherige Katastrophe zu erweisen. Die
technisch-politischen Möglichkeiten dienen konstruktiven wie destruktiven Zwec-
ken, daher besteht eine Korrespondenz zwischen den positiven und den negativen
Seiten des Fortschritts, solange die Menschen als (un)moralische Wesen sich gleich-
bleiben.
6d. Als zweite Phase der Aufklärung nach der ionischen Naturphilosophie gilt
die Sophistik am Ende des 5. Jahrhundert v. Chr. Sie hat, so wie Sokrates, statt der
Natur den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt. Dabei kam es
auch zu fortschrittskritischen Positionen. Hippias von Elis beklagte den Konflikt
zwischen der segensreichen Natur (physis) und den verderblichen Satzungen der
Menschen (nomos),96 eine Antithese, die bis zu Rousseau, Sigmund Freud und Kon-
rad Lorenz immer wieder variiert wurde.
6e. Breitenwirkung gewann die philosophische Kulturkritik in der kynischen
Bewegung. Bereits Sokrates hatte im Gegensatz zu den Sophisten demonstrativ auf
Wohlstand verzichtet, und sein Schüler Diogenes der Hund machte die Bedürfnis-
losigkeit zum Grundpostulat seiner Lehre.97 Er sonnte sich in seiner Tonne und
suchte mit der Laterne auf dem vollen Markt nach Menschen, fand aber nur
Geschäftemacher aller Art. Beim Anblick eines Wasser saufenden Hundes warf er
seinen Becher weg. Als er Hunde sich in der Öffentlichkeit begatten sah, erklärte er
alles Natürliche für gut und zeigte dies durch Handarbeit (Chirurgie). Zu Recht
hätte Zeus den Prometheus an den Kaukasus geschmiedet, denn mit der Herrschaft
über das Feuer habe die Verweichlichung des Menschen eingesetzt.98 Horaz beklagte
die Tat des Prometheus im Hinblick auf das Kriegsgeschehen.99 Noch während der
römischen Kaiserzeit finden wir in den Städten zahlreiche Kyniker. Kaiser Julian
polemisierte in zwei Schriften gegen diese ungewaschenen, aufdringlichen Sozial
parasiten 362 n. Chr.100 Die christliche Askese setzte diese Strömung ins Mittelalter
fort, doch kasteite man sich nicht für den Seelenfrieden jetzt und hier auf Erden,
sondern für das Seelenheil dermaleinst im Himmel.
6f. Unter zivilisatorisch-technischem Aspekt hatte die antike Kultur ihren
Höhepunkt im Hellenismus erreicht. Die späteren Erfindungen dienten großenteils
Luxusansprüchen. Dies ist der Grund für die Fortschrittskritik eines Seneca, er hielt
seine Gesellschaft für überzivilisiert. In seinem 90. Brief und an einigen Stellen der
›Naturales Quaestiones‹101 wandte er sich gegen die von Poseidonios vertretene
Ansicht, die zivilisatorischen Fortschritte seien Philosophen und Wohltätern der
Menschheit zu verdanken. Am Anfang ihrer Geschichte, so Seneca, hätten die
Menschen in einem genügsamen Kommunismus, in allgemeiner Brüderlichkeit
gelebt. Mit dem Lebensstandard seien die Laster gewachsen, die Menschen mußten
sich gegen Verbrecher durch Gesetze, gegen Feinde durch Waffen schützen. Die
Staatsgewalt wurde nötig und vernichtete die urtümliche Freiheit. Das Ergebnis des
Fortschritts seien Luxus und Laster, Kochkunst und Kriegshandwerk. Wahre Philo-
sophie diene nicht dem Wohlstand, sondern der Wahrheit, nicht der technischen
Vernunft, sondern der rationalen Kritik im Dienst eines Lebens in genügsamer Ein-
tracht und brüderlicher Glückseligkeit. Diogenes sei der wahre Philosoph, nicht
Daidalos. Seneca meint, die Menschen sollten weniger über die Befriedigung als
über die Folgen ihrer Bedürfnisse nachdenken. Ihm geht es, wie Cicero, Vitruv und
Plinius Maior um die humanitas.102 Hier wird ein Konflikt angesprochen, der bis
heute ungelöst ist.
6g. So wie wir den Fortschritt als Binnenfigur der christlichen Heilsgeschichte
gefunden haben, so begegnet uns dort auch die Fortschrittskritik. Tertullian pole-
misierte in seiner Schrift ›De anima‹ (30) gegen die Seelenwanderung mit dem
Argument, daß sie eine gleichbleibende Zahl von Lebewesen voraussetze. Dagegen
aber spreche die Entwicklung der Menschheit, die sich vermehrt und ausgebreitet
hat. Die Erde wird durch Verkehr, Landbau und Siedlung erschlossen, omnia iam
pervia, omnia nota, omnia negotiosa: alles ist zugänglich, alles bekannt, alles geschäf-
tig. Ubique populus, ubique res publica, ubique vita: überall Volk, überall Staat, über-
all Leben. In berüchtigten Einöden entstünden liebliche Landgüter, aus Wäldern,
Wüsten, Sümpfen würden fruchtbare Äcker – heute gebe es mehr Städte als früher
Hütten.
6h. Aber wohin führt das? Onerosi sumus mundo: Wir werden durch unsere
Sittenlosigkeit der Welt zur Last. Die Gaben der Erde genügen uns nicht mehr, wir
schlagen uns um ihretwillen die Köpfe ein. Iam nos natura non sustinet: die Natur
hält den Menschen nicht mehr aus. Der Mensch wird zur Krankheit der Natur; ihre
Heilmittel sind: Seuchen, Hunger und Krieg. Die Natur verschlingt ganze Staaten
und schafft sich dadurch Erleichterung. Tertullian vergleicht das Handeln der
Natur gegenüber dem Menschen mit dem Handeln des Menschen gegenüber der
Natur. Wie der Arzt mit dem Messer, wie der Friseur mit der Schere, wie der Gärt-
ner mit dem Beil die allzu üppig wuchernden Teile beseitigt, so vermindert die
Natur die Menschheit, indem ihr Tun auf unser Geschick zurückschlägt. Das ist die
Dialektik des Fortschritts, die Balance von Produktion und Destruktion, die sich in
der Natur selbstläufig erneuert.
6i. Selbst das Streben nach Wissen geriet in die Kritik. Es wurde schon von
Paulus gegenüber der Nächstenliebe abgewertet: „Das Wissen (gnōsis, scientia) bläht
auf, Liebe (agapē, caritas) baut auf.103 Entsprechend wurden Vermehrung und Ver-
besserung der Erkenntnis von manchen Kirchenvätern für überflüssig gehalten.
„Fleischliche Neugier“ trage nichts zum Seelenheil bei, alles Wissenswerte sei in der
Heiligen Schrift enthalten, sie gelte es zu studieren und den Glauben zu stärken. So
wie Paulus die Weisheit der Welt für Torheit vor Gott erklärte,104 haben Tertullian,
Lactanz und die Apostolischen Konstitutionen aus der Zeit um 380105 die heidni-
sche Literatur schlechthin verworfen und damit jeden Wissensfortschritt für eitel
und nutzlos befunden.
6j. Hand in Hand mit dem Fortschrittsbewußtsein hat sich somit die Fort-
schrittskritik entwickelt. Schon die Griechen haben erkannt, daß mit dem Wohl-
stand der Neid wächst,106 daß die verbesserte Technik wie im guten so im bösen
Sinne verwendet werden kann und namentlich im Kriege endloses Unheil anrich-
tet. Nulla salus bello.107 Es hat schon früh Versuche einer Schadensbegrenzung gege-
ben. So hing im Tempel der Artemis Amarynthia bei Eretria auf Euboia eine
Inschrift aus dem Lelantinischen Kriege um 580 v. Chr., die jede Art von Fernwaf-
fen (tēlebolos) als unritterlich verbot.108 Über den Erfolg hören wir leider nichts –
mit Grund –, aber selbst der erwiesene Mißerfolg wäre ein Anlaß, ein vernünftiges
Ziel wie jenes mit besseren Mitteln anzugehen – denn darin liegt der eigentliche
Fortschritt.
a. Im 12. Buch seiner ›Civitas Dei‹ wendet sich Augustin gegen die Kreislauftheo-
rien Platons. Zyklische Vorstellungen, so meint der Kirchenvater, kennzeichneten
das ziellose Umhertappen der Heiden. Der Christ hingegen wisse, daß die
Geschichte vom Sündenfall zum Gericht voranschreite, daß nichts sich wiederhole,
daß Christus nur einmal für unsere Sünden gestorben sei. Semel enim Christus mor-
tuus est pro peccatis nostris. Augustin meint, wenn der ewige Wechsel wahr wäre,
dann schwiege man besser, oder noch besser: man wüßte nichts davon. Ganz ähn-
lich hatte kurz zuvor Johannes Chrysostomos gegen die christenfeindlichen Lehren
vom Kreislauf der Zeiten und vom Gesetz des Horoskops gewettert: Weder der
Untergang von Sodom noch die Sintflut sei ein zweites Mal aufgetreten.1
b. Demgegenüber war für antikes Denken, wie Platon es zeigt, der Kreislauf die
vornehmste Form der Bewegung. Er rangiert an der Spitze der Mobilitätsarten,
denn er entspricht dem Umlauf der Gestirne, den Regungen der Seele und verbin-
det Wandel mit Stetigkeit wie der Kreisel.2 Die Konstanz der Rotation erlaubt
Erkennung, während diese als unmöglich erachtet wird an Gegenständen, die sich
im linearen Sinne dauernd ändern. Für den Christen war der Weltlauf ein singulä-
rer Weg vom Urparadies zum Endparadies; der rotierende Kreis erschien daher als
Bild der Sinnlosigkeit; für den Heiden war er das Symbol der Vollkommenheit.
c. Die zitierten und ähnliche Stellen stützen die verbreitete Annahme, daß die
Antike eine zyklische, das Christentum hingegen eine lineare Geschichtskonzeption
vertreten habe. Nach dem, was über Dekadenz und Fortschritt zu bemerken war,
läßt sich eine solche einfache Gegenüberstellung nicht aufrecht erhalten. Gleich-
wohl spielt der Gedanke von Kreisläufen im Geschehen bei den antiken Autoren
eine wichtige Rolle. Das gilt für die altorientalische wie für die griechisch-römische
Literatur.
sten. Diese vollzieht sich in der Form einer ewigen Wiederkehr, deren man sich
durch Kulthandlungen symbolisch vergewissert. Ihnen wird zuweilen magische
Bedeutung zugewiesen, indem das Unterlassen oder der fehlerhafte Vollzug von
Ritualen die Naturordnung gefährdet. So bindet sich der archaische Mensch in das
kosmische Geschehen ein und findet durch sein Wissen über die Natur seine Rolle
in der Natur. In der Darstellung dieses Weltbildes sah Mircea Eliade die „Einleitung
zu einer Philosophie der Geschichte.“3
1b. Spuren dieses Denkens finden sich in den Weltbildern der Hochkulturen, so
bei den alten Ägyptern. Ihrem Geschichtsdenken liegt die Vorstellung einer gleich-
bleibendenWeltordnung, der Ma’ at, zugrunde. Sie wird in der Menschenwelt voll-
zogen durch den Pharao und seine Diener. Letztere erscheinen in den Texten
gewöhnlich nur mit ihrem Titel, auch die Feinde bleiben meist anonym.
1c. Die geschichtlichen Ereignisse sind streng typisiert. Jeder Regierungsantritt
beginnt damit, daß der König als Inkarnation des Gottes Horus das Chaos des vor-
angegangenen Interregnums beendet, das gar nicht stattgefunden haben muß. In
der Regierungszeit werden die großen Staatsfeste notiert, die Stiftung von Kultanla-
gen, die Höhe der Nilüberschwemmung und Ähnliches. Dazu kommen die Verei-
nigung der beiden Länder, die rituellen Jagden sowie die Kriege. In diesen greift der
Pharao niemals an, sondern schlägt nur Feinde nieder, die als Rebellen der göttli-
chen Ordnung hingestellt werden. Das normierte Resultat ist, daß die „Welt wieder
wie bei ihrer Schöpfung“ ist – so Tutanchamun über das Ergebnis seines Wirkens.4
Das Muster für die Kriege der Pharaonen ist der Sieg der Götter Re und Horus in
der mythischen Urzeit über ihre Feinde; nach ihm wurde noch in ptolemäischer
Zeit die Schlacht bei Raphia 217 v. Chr. modelliert. Ja noch ums Jahr 400 n. Chr.
beschrieb Synesios von Kyrene den Aufstand des germanischen Heermeisters Gai-
nas gegen Kaiser Arcadius unter der Maske des Kampfes zwischen dem Gott Osiris
und seinem bösen Bruder Typhos.5
1d. Das Geschichtsbild der alten Ägypter wird gerahmt von einem Goldenen
Zeitalter am Anfang der Welt und einem Diluvium am Ende, das einen Neubeginn
verheißt. Das Geschehen zwischen den Polen besteht aus einem Rondo ritueller
Erneuererungen. Eine kulturelle oder politische Entwicklung kommt nicht vor,
nicht einmal eine längere zusammenhängende Ereignisfolge. Es gibt keine Historio-
graphie.6 Vielleicht fanden auch in der Realität keine langfristigen Vorgänge statt,
die ein dynamisches Geschichtsbild gerechtfertigt hätten.
1e. Das Geschichtsdenken der altorientalischen Kulturen im Zweistromland
ähnelt dem altägyptischen. So scheint sich hier die ebenfalls konstante Binnen-
struktur in einen kosmologischen Kreislauf einzufügen. Als Element der Welten
zyklik im orientalischen Denken dürfte die Sintflutsage zu werten sein. Sie ist früh
als Fall einer periodischen Katastrophe verstanden worden. Die Sibyllinischen
Orakel aus dem jüdisch-christlichen Alexandria schoben die Verfallsphasen vom
Goldenen zum Eisernen Zeitalter zwischen Paradies und Sintflut, nachdem jedes
ein vergangener Zustand ist in vielen Fällen wiederherstellbar.12 Darum ist der
antike Radvergleich sinnvoller als der moderne. Er besagt, daß nichts ewig ist, daß
wir mit der Vergänglichkeit rechnen sollten.
*
2e. Die einfachste Regelform des ewigen Wandels ist die Zweiphasenfolge, das Auf
und Ab, entsprechend dem Wechsel von Tag und Nacht. Sie wurde im 5. Jahrhun-
dert v. Chr. durch den Philosophen Empedokles aus Agrigent in Sizilien als Weltge-
setz beschrieben. Alles Geschehen beruht nach seiner Lehre auf dem Wettstreit von
Liebe (philia) und Streit (neikos). Beide Kräfte sind gleichursprünglich und gleich-
stark, sie gewinnen abwechselnd die Oberhand im Verlauf der endlosen Zeit. Die
Philia bewirkt die Vereinigung der Elemente zu einem Ganzen, der Neikos führt
dessen Zerfall in Einzelteile herbei. Entstehen und Vergehen der Welt lösen einan-
der ab in ewigem Kreislauf, in kosmischem Kyklos. Gegenstand dieser peristalti-
schen Zustandsfolge sind bei Empedokles überhaupt alle Naturphänomene, unter
denen in den erhaltenen Fragmenten seines Weltgedichtes Historisches allerdings
nicht eigens genannt wird.13
2f. Den Bezug dieses Verlaufsmodells zur Geschichte finden wir bei Herodot. Er
wußte, daß Glück und Unglück, Aufstieg und Niedergang, Wachsen und Welken
unweigerlich einander ablösen. Als der Perserkönig Kyros die Massageten angreifen
wollte, da warnte ihn nach Herodot der gefangene Kroisos vor dem drohenden
Umschlag des bisherigen Erfolges: „Die Angelegenheiten der Menschen bewegen
sich im Kreise, und dieser Kreislauf beläßt nicht dieselben Leute im Glück“. Die
Reiche kommen und gehen, die Städte wachsen und schrumpfen, darum sollte
man beide Phasen bedenken.14 In römischer Zeit haben die Stoiker dieses ewige Auf
und Ab, diesen Kreislauf der menschlichen Dinge als Grund dafür angeführt, daß
die Geschichte kein lohnender Gegenstand des Nachdenkens sei, daß man sich
vielmehr dem Geschehen in der Natur und den göttlichen Dingen zuwenden
solle.15
2g. Eine mythische Begründung für diesen Wechsel im Leben bietet der „Neid
der Götter“, die, nur um ihre Macht zu beweisen, das Herz des Pharao verhärten,16
den untadeligen Hiob ins Unglück stürzen und den glücklichen Polykrates ans
Kreuz bringen.17 Eine rationale Erklärung liefert das klassische Dekadenzmodell:
Erfolg führt zum Hochmut und Hochmut zum Fall.18 Eine theologische Deutung
lesen wir bei Augustin, der die gottgewollte Folge von Morgen und Abend auf alle
Einzeldinge der Schöpfung und auf diese als ganze übertrug: Gottes Werke haben
ihren Anfang und ihr Ende in der Zeit, erleben Aufstieg und Niedergang, Fort-
schritt und Rückschritt, Gestaltgewinn und Gestaltverlust. In diesem Sinne konnte
der Diakon Agapetos an Kaiser Justinian schreiben: Die menschlichen Angelegen-
heiten verlaufen im Kreise – darum soll man wenigstens am Glauben unwandelbar
festhalten.19
2h. Das Auf und Ab im Leben verdeutlicht das Bild vom Glücksrad, griechisch
trochos bei Pseudo-Phokylides,20 lateinisch rota fortunae bei Cicero, Tacitus und
Ammian.21 Dieses Bild hat seine bekannteste Fassung erhalten in den beiden
Glücksliedern der ›Carmina Burana‹: O Fortuna/ velut luna/ statu variabilis/ Semper
crescis/ aut decrescis./ Vita detestabilis/ nunc obdurat/ et tunc curat/ ludo mentis aciem,/
egestatem/ potestatem/ dissolvit ut glaciem. „O Fortuna/ wie Frau Luna/ wechselhaft
und wandelbar/ ewig steigend/ und sich neigend/ Fluch der Unrast immerdar!/
Eitle Spiele/ keine Ziele/ also trügts den klaren Sinn./ Not, Entbehren/ Macht und
Ehren/ schmelzen wie das Eis dahin.“22
2i. Noch prägnanter: Fortunae rota volvitur,/ descendo minoratus./ Alter in altum
tollitur,/ nimis exaltatus./ Rex sedet in vertice,/ caveat ruinam,/ nam sub axe legimus/
Hecubam reginam. „Das Glücksrad kreist im ewgem Lauf,/ ich steige ab und falle./
Den Andern trägt es nun hinauf/ allzuhoch, wie alle./ König auf dem Scheitel-
thron,/ sei des Sturzes inne./ Hekuba liegt unten schon/ einstmals Königinne.“
Hecuba, griechisch Hekabe, war die Frau des Priamos und Königin von Troja, die
nach dem Fall der Stadt ins tiefste Unglück stürzte. Sie galt in den Dramen des
Euripides und den Metamorphosen Ovids als Beispiel für die Wandelbarkeit des
Glückes. Unsere Redensart „Das ist mir Hekuba“ geht zurück auf Shakespeares
›Hamlet‹ , wo der Prinz sich fragt, weshalb ein Schauspieler um Hekuba trauern
kann: What´s Hecuba to him? Zuvor brauchte der Schauspieler das Bild vom
Glücksrad selbst, als er die olympischen Götter aufrief, das Rad zu zertrümmern
und die Nabe vom Himmel zur Hölle hinabrollen zu lassen.23
3. Ewige Wiederkehr
3a. Neben dem regelhaften Zweitakt von Tag und Nacht liefert der Wechsel des
Wetters ein zyklisches Interpretationsmuster für Geschichte. Ein begrenzter Vorrat
von Ereignissen wiederholt sich, allerdings in unberechenbarer Reihenfolge, so wie
Sonnenschein und Regen, Wind und Nebel, warme und kühle Tage sich ablösen,
ohne daß etwas völlig Neues passiert. Mehrere antike Autoren betonen, daß ebenso
in der Geschichte nichts grundsätzlich Neues geschehe, daß alles irgendwann schon
einmal dagewesen sei. Der locus classicus steht im ›Prediger Salomonis‹ (1, 9): „Was
ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan
hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der
Sonne.“ Also beruhige man sich! Nur: War denn nicht immerhin diese Erkenntnis
etwas Neues? Jedenfalls nicht mehr für Seneca. Er tröstet sich angesichts des unver-
meidlichen Todes mit der Erfahrung, daß die Wiederholung der Erlebnisse Über-
druß erzeuge: Wachen und Schlafen, Hunger und Sättigung, Frost und Hitze, alles
im Kreislauf verbunden: in orbem nexa sunt omnia. Es gibt auch für ihn nichts
Neues, nicht einmal den Überdruß eben deswegen. Etwas genauer ist Marc Aurel.
Bei ihm findet sich der bemerkenswerte Satz, daß jemand, der 40 Jahre alt gewor-
den sei, alles gesehen habe, was es in der Welt gibt, selbst wenn er zehntausend
Jahre alt würde.24 Diese Äußerung resultiert aus einer Erfahrung, welche die An
nahme einer dauernden Neuerung korrigiert. Müßte man aber nicht wenigstens
bereits zehntausend Jahre alt geworden sein, um so etwas vertreten zu können?
3b. Eine unvorhergesehene Wiederholung überrascht, und der damit verbun-
dene Erklärungsbedarf bedient sich der Kreislauf-Metapher. Tacitus wundert sich
über den Rückgang des Tafelluxus seit Galba, schließt einige Deutungsmöglichkei-
ten an und endet in der Bemerkung: „Vielleicht liegt in allen Dingen eine Art Kreis-
lauf, so daß sich mit den Zeiten auch die Sitten wandeln“ forte rebus cunctis inest
quidam velut orbis, ut quem ad modum temporum vices ita morum vertantur. Zwi-
schen dem älteren und dem jüngeren Ereignis wird von einer Umdrehung der Zeit,
vom Ablauf einer Periode gesprochen. Aurelius Victor im 4. Jahrhundert. bemerkt
bei einer solchen Gelegenheit: „Alles dreht sich im Kreise, und nichts geschieht, was
die mächtige Natur nach dem Ablauf einer Periode (spatium aevi) nicht wiederbrin-
gen könnte“ cuncta in se orbis modo verti nihilque accidere, quod rursum naturae vis
ferre nequeat aevi spatio. Was einmal möglich war, ist wieder möglich.25
3c. Voraussetzung für die Annahme einer Wiederkehr gleichartiger Ereignisse ist
die Erkenntnis, daß die menschliche Natur sich im Laufe der Geschichte nicht
ändert. Programmatisch formuliert hat dies Thukydides.26 Die anthrōpeia physis
zeigt sich in Not- und Ausnahmesituationen. Die stärkste Belastungsprobe ist der
Krieg, der „Lehrer der Gewalt“. Hier brechen alle Konventionen zusammen, hier
entpuppt sich der Kern – im Guten wie im Bösen. Namentlich im Zusammenhang
mit dem Bürgerkrieg auf Kerkyra entfaltet Thukydides seine „Pathologie“. Der
Kampf gewann eine Erbitterung, die alle Rücksicht, alle Menschlichkeit zugunsten
des Parteien-Egoismus vergaß und selbst die Sprache korrumpierte. Begriffe, die als
Werte der Gesamtheit gegolten hatten, wurden für die Interessen der Parteien per-
vertiert. So trat die Triebstruktur des Menschen zutage: die Hybris (die Selbstüber-
schätzung), die Pleonexia (das Immer-Mehr-Haben-Wollen), die Philoneikia (das
Streiten um des Schadens willen), aber auch die Philotimia (der Ehrgeiz), die, von
der Vernunft gezügelt, der Grund großer Leistungen sein könnte.
3d. Thukydides liefert auch den locus classicus für die Lehre vom naturgemäßen
Recht des Stärkeren. Es ist der Melierdialog.27 Die Athener waren während des
Krieges mit Sparta vor dem neutralen Melos erschienen und stellten das Städtchen
vor die Wahl: entweder Anschluß an den Seebund oder Zerstörung. Sie beriefen
sich dafür auf das ewige Naturrecht des Stärkeren. Die Melier appellierten an die
göttliche Gerechtigkeit, mußten sich aber sagen lassen, daß sie ebenso situationsbe-
dingt argumentierten wie die Athener. Wären die Rollen vertauscht, so die Athener,
wäre das Ergebnis dasselbe, denn das Recht des Stärkeren entspreche dem Willen
der Götter, wie in der Natur so in der Geschichte. Daß in der Welt allein das Recht
des Stärkeren gelte, erklärten die Sophisten Thrasymachos und Kallikles bei Pla-
ton.28 Bei Schon Hesiod bringt die Fabel vom Habicht und der „Nachtigall“, die
sich vergeblich durch Bitten aus seinen Krallen befreien möchte,29 und bei Horaz
lesen wir, das Recht sei eine Erfindung der Schwachen.30 Wie die Starken darüber
denken, lehrt die nicht überlieferte Antwort der Löwen, als die Hasen ihnen den
Beschluß meldeten, alle Tiere wären gleich.31
3e. Die antike Auffassung von einer homogenen Geschichtszeit mit ewig gülti-
gen Gesetzen erklärt die moralisierende Haltung gegenüber den Taten der Vergan-
genheit und die Hoffnung auf Ruhm bei den Menschen der Zukunft. So wie man
das Recht beanspruchte, die früheren Handlungen zu richten, so sah man es als
Pflicht an, sich dem künftigen Urteil zu stellen, unter den Augen der Nachwelt zu
bestehen. Indem Homer die Taten Achills verherrlichte, erfüllte er den diesem zuge-
schriebenen Wunsch nach Ruhm und vertraute seinerseits auf Anerkennung für
seine eigene poetische Leistung. Sie ist zugleich Mittel und Gegenstand des Ruh-
mes. Wir besitzen zahlreiche Zeugnisse für das Bestreben, nicht den Zeitgenossen,
sondern den Nachfahren Eindruck zu machen; und immer wieder überrascht das
keineswegs unberechtigte Vertrauen, Werke für die „Ewigkeit“ geschaffen zu haben,
da diese Werke sich immerhin bis zu uns erhalten haben.32
3f. Die Überzeugung, daß die geschichtlichen Ereignisse grundsätzlich wieder-
holbar sind, erlaubt die Verwendung von Beispielen (exempla) aus der Historie zum
Zwecke der Nachahmung oder Vermeidung.33 Seneca erklärte, Erziehung durch
abstrakte Lehren sei langwierig und unsicher, durch konkrete Beispiele jedoch kurz
und wirksam: longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla.34 In dem para-
digmatischen Wert der res gestae sah die Antike den didaktischen Nutzen der historia
als testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis.35
Polybios bezeichnete die Geschichte als die beste Schule der Politik im technischen
Sinn, und Livius entnahm ihr Anschauung in der Ethik. Er wolle die großen Taten
der Vergangenheit auf einen hohen Sockel stellen, damit jeder sie erkennen und
wählen könne, was er um seiner selbst oder seines Staates willen nachahmen und was
er unterlassen solle. Die exempla werden dabei den virtutes und vitia zugeordnet,
und über diesen ethischen Gehalt der res gestae gibt es kaum Diskrepanzen.36
3g. Die paradigmatische Funktion hervorragender Taten aus der Geschichte, sei
es im guten oder im bösen Sinne, bewog den Kaiser Augustus, praecepta et exempla
aus der Geschichte zu sammeln und anzuwenden. So hat er zur Unterstützung sei-
ner Familienpolitik mit Geschichte argumentiert. Als die großen alten Familien
eine nach der anderen ausstarben, beschwor er das altrömische Familienbewußt-
sein, in der Hoffnung, dies würde die Senatoren überzeugen. Er erfuhr, daß Men-
schen, die genügend Geld besitzen, durch Maßnahmen und Beweisgründe schwer
zu fassen sind. Reiche Leute sind kaum zu belehren.37
3h. Das Bewußtsein, in einer verpflichtenden Tradition zu stehen, war bei römi-
schen Staatsmännern verbreitet und wurde ihnen in der Historiographie zugemu-
tet. Die römischen Historiker verglichen die von ihnen berichteten Taten gerne mit
entsprechenden Handlungen aus der Vergangenheit, die als Muster und Maßstab
herangezogen werden; und Rhetoren wie Valerius Maximus verfaßten große Samm-
lungen historischer Beispiele, zum bequemeren Gebrauch nach Sachgebieten
sortiert: „Über Männer, die noch in hohem Alter Staatsdienste leisteten“, oder
„Über Eltern, die den Verlust ihrer Kinder mit Fassung getragen haben“, oder
„Über Frauen, die aus Eifersucht großes Unglück bewirkt haben“ usw., jeweils nach
römischen und nichtrömischen exempla getrennt. Keine Rolle spielt dabei, wann
die jeweilige Handlung stattgefunden hat. Nie sind Daten angegeben, wie über-
haupt das chronologische Bewußtsein im antiken Geschichtsdenken schwach aus-
gebildet ist. So schreibt ein „ungebildeter Sophist“, Alexander der Große habe den
Philosophen Karneades beschenkt, der zweihundert Jahre später gelebt hat. Aber
auch ein respektabler Historiker meinte, die Einwohner von Troja hätten schwer an
dem Einfall der Goten 262 n. Chr. getragen, da sie sich kaum vom Krieg gegen
Agamemnon erholt hätten.38
3i. Neben dem literarischen Medium der Erinnerung gab es ein künstlerisches,
die Ahnenbilder (imagines maiorum) der großen römischen Familien, durch welche
das Gedächtnis an Taten der Vergangenheit wachgehalten wurde. Die Geschichte,
die wir sehen, wirkt ja stärker als jene, die wir hören. Bei den Leichenbegängnissen
der senatorischen Familien hat man die Porträtbüsten oder die Wachsmasken der
berühmten Vorfahren mitgeführt, ihre Verdienste aufgezählt und dadurch bei der
Jugend den Eifer zur Nachahmung der mores maiorum geweckt. Wir haben das
Zeugnis des jüngeren Scipio, daß ihn das bloße Betrachten dieser Bilder bewogen
habe, Entsprechendes zu leisten.39 Die Liebe zum Ruhm, die Hoffnung auf den
Beifall der Nachwelt wurde so zu einer der stärksten Motivationen politischen Han-
delns, wogegen dann zunächst die Stoiker und später die Christen polemisiert
haben – die Stoiker, indem sie den Lohn der Mühen allein ins Gewissen ver-
lagerten, die Christen, indem sie die Liebe zu Gott als einzigen Beweggrund gelten
ließen – zwei unhistorische Alternativen. Die Römer haben zeitgebundene
Erscheinungen zu zeitlosen Mustern guten oder üblen Tuns erhoben, haben Indi
viduen zu Typen stilisiert, die dann im Rollenspiel auftreten (s. u.!). Caesar wurde
zum Titel.
3j. Die Wiederholbarkeit von Ereignissen war sodann ein Topos der antiken
Trostliteratur. Ein Unglück wird besonders schmerzhaft empfunden, wenn es bei-
spiellos erscheint. Daher erklärt man dem Leidtragenden, daß dergleichen sich
auch früher schon ereignet hat, eigentlich gar nichts Neues darstellt und mithin
hätte erwartet werden können. So tröstete Seneca seinen Freund Lucilius über den
Brand von Lugdunum-Lyon im Jahre 65 n. Chr. Neuheit verleiht einem Unglück
Gewicht – novitas adicit calamitatibus pondus. Darum muß der Geschichtskundige
durch Verweis auf Parallelen zeigen, daß es sich um einen Fall von vielen handle
und der conditio humana zuzurechnen sei.40
3k. Verweise auf die Wiederholbarkeit von Ereignissen gibt es auch heute noch.
Man denke nur an Wendungen wie „kein zweites München“, „kein neuer Elfter
*
3o. Die Vorstellung von der Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte fand Aus-
druck in der Parallelisierung zwischen dem menschlichen Geschehen und dem
Drama auf der Bühne. Die Allegorie vom Welttheater, auf dem die Menschen bloß
Marionetten sind, gibt es in der antiken Literatur seit Platon. Marc Aurel erblickte in
der Geschichte immer dieselben Bühnenspiele: am Hof von Hadrian und Antoninus
Pius, von Philipp, Alexander und Kroisos: Die Szenen wiederholen sich, die Darstel-
ler allein wechseln. So war das, so ist das, so wird das sein. Aus der Perspektive von
oben zeigen sich allzeit gleichartige Schaubilder: Versammlungen, Heere, Bauern bei
überhaupt nicht gekannt hätte. Sie tritt uns entgegen in einem Kreislaufmodell, das
sich an der Folge der Jahreszeiten orientiert. Hierbei handelt es sich um regelhaft
Ereignisketten, die mit dem zuvor besprochenen Wettermodell zwar die begrenzte
Zahl möglicher Ereignistypen gemein haben, die Einzelereignisse aber in einer
gesetzmäßigen Sequenz anordnen, indem sie nach dem Durchlaufen mehrerer Sta-
dien am Ende zum Anfang zurückführen und insofern Kreisgestalt besitzen. Die
jeweils verfliegende Zwischenzeit wird mit dem griechischen Begriff perihodos (Peri-
ode, Umlauf ), aiōn oder lateinisch aevum (Weltzeit, Ewigkeit) benannt, wonach
dieselben „Symptome“ wiederkehren.47 Das Wort aiōn stammt aus der Biologie und
meint ursprünglich die Lebenszeit,48 das Wort „Periode“ kommt aus der Astrono-
mie und bezeichnet den Umlauf eines Gestirns. Dies ist auch der ursprüngliche
Sinn von „Revolution“, während die Ausdrücke „Konstellation“ (von stella – Stern)
und „Epoche“ (Anhalt) eine momentane Figuration am Himmel bedeuten. Der
Terminus „Phase“ (von phaino – scheinen) gewinnt seine Anschaulichkeit von den
Mondphasen. Noch heute stammen unsere wichtigsten Ordnungsbegriffe für
Geschichte somit aus der Sprache der Astronomie für das Kreisen der Gestirne.
4b. Regelkreise werden einerseits für Teilbereiche der Geschichte angenommen,
andererseits für das Gesamtgeschehen. Zunächst zu den Teilkreisen. Einen solchen
hatten wir im klassischen Dekadenzmodell49 vor uns, seine Anwendung auf die
Geschichte führt zur Theorie der Weltreichsabfolge.50 Ein anderer ist das Auf und
Ab der Künste. Plinius konstatiert dies für die Bildhauerei,51 und Velleius sucht eine
Erklärung. Er fragt sich, weswegen bestimmte Zeiten besonders reich an Größen
auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kunst sind und weshalb sich diese nicht
gleichmäßiger verteilen. Seine Antwort: Wettbewerb, Neid und Bewunderung
(aemulatio, invidia, admiratio) entfachen die Geister. Was mit höchstem Eifer
betrieben wird, erreicht naturnotwendig irgendwann seinen Gipfel. Auf dem Punkt
der Vollendung aber ist es schwer, zu verweilen, drum fällt ganz natürlich das wie-
der zurück, was keinen Fortschritt mehr machen kann“ (naturaque quod summo
studio petitum est, ascendit in summum, difficilisque in perfecto mora est, naturaliter-
que quod procedere non potest, recedit).52 Auch diese Wellentheorie wurzelt in der
Sprachpraxis, indem die Merkmale, die einen als „Vollendung“ bezeichneten
Zustand ausmachen, langsam zusammenkommen und langsam wieder verlorenge-
hen. Dies veranschaulicht das Märchen vom Wolf und dem „Menschen“.53
4c. Das exemplum classicum für diese dritte Variante der Zyklik ist der Verfas-
sungskreislauf, die anakyklōsis politeiōn, wie Polybios ihn in Anlehnung an Platon
nannte. Es handelt sich um eine regelhafte Abfolge von Herrschaftsformen, die sich
naturgemäß (physikōs) abspielt, indem sie mit dem Königtum beginnt, über dessen
Mißbrauch als Tyrannis zur Aristokratie und über deren Entartung als Plutokratie
zur Demokratie führt, bis diese selbst zur Anarchie ausufert und wieder in eine
Monarchie, ein Königtum oder eine Tyrannis umschlägt. Damit vollendet sich
nach Aristoteles der Kreis.54
Königtum
Tyrannis Anarchie
Aristokratie Demokratie
Plutokratie
4d. Cicero übertrug dies von der Verfassungstheorie auf die Geschichte Roms:
„Hier, d. h. mit der Vertreibung der Könige, beginnt der Kreislauf sich zu drehen,
dessen natürlichen Umschwung (naturalem motum) ihr von Anfang an erkennen
sollt.“ Die Königsherrschaft des Romulus und der folgenden Könige verwandelte
sich in die Tyrannis des Tarquinius Superbus, die Republik der Patrizier danach läßt
sich durchaus als Aristokratie begreifen. Diese nimmt plutokratische Strukturen an,
die sich mit dem Demokratisierungsprozeß verbinden. Die späte Republik zeigt
Züge einer Anarchie, in die sich insofern tyrannische Elemente hineinmischen, als
die einzelnen Fraktionen führende Persönlichkeiten benötigten. Caesar brachte
dann den Umschlag in die Monarchie. Er plante, das Königtum zu erneuern.
Indem ebenso Octavian mit dem Gedanken gespielt hat, sich als neuen Romulus zu
bezeichnen, bestätigt er, wie derartige Zyklusvorstellungen lebendig waren.55
4e. Wo bei griechischen und römischen Schriftstellern der Kreislauf in der
Geschichte als Regel der Natur bezeichnet wird, ist die durchschnittliche Beschaf-
fenheit der menschlichen Psyche gemeint, die Natur des Menschen, die den Grund
für die Regel abgibt. Die Regel selbst hat bloß statistische Bedeutung: der Kreislauf
spult sich ab, wenn man nichts dagegen unternimmt. Alle antiken Autoren, die sich
mit ihm befaßt haben, taten dies in kritisch-praktischer Absicht, sie gaben Rat-
schläge zur Kontrolle der politischen Entwicklung. Der Handlungsspielraum ist
immer der des Arztes. Man kann einiges, aber nicht alles.
4f. Aufgrund der Annahme, daß in der Geschichte zum einen ein begrenzter
Kanon von Ereignissen vorliegt, und daß zum anderen gleiche Ursachen gleiche
Wirkung erzeugen, war die Ansicht verbreitet, daß historisches Wissen politische
Prognosen erlaube. Klio war nicht nur die Muse der Geschichtsschreibung, sondern
auch der Weissagung; sie blickt wie Janus nach beiden Seiten.56 Damit ist mythisch
dasselbe gesagt, was Thukydides auch vernünftig meinte begründen zu können:
Wer einen bestimmten Ereigniszusammenhang, wie den Peloponnesischen Krieg,
begriffen habe, der wisse, was in der Geschichte zu allen Zeiten passiere, den könne
nichts mehr überraschen. Sobald eine ähnliche Situation eintrete, würden die Men-
schen sich wieder ähnlich verhalten. Auch Polybios verwies darauf, daß es für den
Politiker keine bessere Schulung gebe als das Studium der Geschichte: sie lehre, aus
den Anfängen das Kommende zu erkennen.57 Freilich erfüllt nur ein von Vorurtei-
len gereinigtes Bild der Geschichte diesen Zweck. Wir erkennen die Zukunft nur
dann im Spiegel der Vergangenheit, wenn wir uns selbst durchschauen, wenn wir
unserem Blick nicht selbst mit unseren Wünschen und Ängsten im Wege stehen.
4g. Fragen wir nach dem Realitätsgehalt dieser Annahme, so ist kritisch einzu-
wenden, daß sie die Wirklichkeit stark vereinfacht. Die auf diese Weise möglichen
Prognosen bleiben immer allgemein. Nichtsdestoweniger ist das zugrundeliegende
Denkmodell vernünftig. Es behauptet die Geltung von Kausalitäten, d. h. Ereignis-
folgeregeln, ohne welche wir überhaupt keinen Anlaß hätten, vernünftigeres und
unvernünftiges Verhalten zu unterscheiden. Denn als vernünftig bezeichnen wir ein
Handeln, das aufgrund von Prognosen die möglichen Folgen einkalkuliert. Und
solche sind immer nur da möglich, wo wir Erfahrungen versuchsweise auf die
Zukunft anwenden. Insofern ist Ciceros Wort von der historia als magistra vitae
richtig.
17 v. Chr. ist der religiöse Sinn noch faßbar.61 Spätere Jubiläen, so die Tausendjahr-
feier Roms, die Philippus Arabs 248 n. Chr. mit großen Pomp beging, waren reiner
Rummel. Die Erinnerung an die erneuernde Kraft der Säkularspiele war gleichwohl
bei einigen Gebildeten noch im 5. Jahrhundert so lebendig, daß Zosimos den Zer-
fall des Imperiums mit dem Verzicht auf diese Feste verknüpfte.62
5c. Das lateinische Wort saeculum dient als Äquivalent des griechischen aiōn,
beides wird von Luther übersetzt mit „Welt“. „Wer etwas redet wider den Heiligen
Geist, dem wird´s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt.“63 Wir den-
ken hier an Erde und Himmel, gemeint ist aber der alte laufende Aion und der
neue kommende Aion. Das Verhältnis ist nicht räumlich, sondern zeitlich gedacht.
Unser Wort „Welt“ geht zurück auf althochdeutsch weralt – englisch world – das
aus wer – „Mann“ und alt – „Alter“ zusammengesetzt ist und somit ursprünglich
dieselbe zeitliche Bedeutung besitzt wie saeculum. In der biblischen Verwendung
haben die Zeitalterbegriffe saeculum und aiōn eine neue Dimension gewonnen. Sie
bezeichnen nicht mehr einen Ausschnitt der Geschichtszeit, etwa das „Jahrhun-
dert“, sondern die Geschichtszeit als ganze, von der Schöpfung zum Gericht. In der
Wiedervereinigung des Menschen mit Gott rundet sich die Zeit, so wie im Hebrä-
ischen die fernste Vergangenheit und die fernste Zukunft mit demselben Begriff
bezeichnet werden (olam), ähnlich dem deutschen „einst“.
5d. Die kosmologische Vorstellung eines einmaligen Geschichtskreislaufs liefert
ebenfalls die organische Weltaltertheorie bei Lucrez. Der Dichter verglich die Welt-
zeit mit den Lebensphasen eines Einzelmenschen, der geboren wird, wächst, altert
und stirbt. Dasselbe tat Augustinus, der die Nöte seiner Zeit aus dem Alt- und
Schwachwerden nicht des Römerreiches, sondern der Welt erklärte. Der Materialist
Lucrez stellte die Weltzeit ins Chaos, der Christ Augustin legte sie in die Hand
Gottes. Die Binnenstruktur ist im Grunde beidemale ein geschlossener Kreislauf.64
5e. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen der christlichen und der heidni-
schen Kosmologie ist deren Lehre von der kosmischen Periodizität, der unendlichen
Wiederholung des jetzigen Weltlaufs. Diese Form des Kreislaufdenkens, die
anakyklōsis, läßt sich bei den Griechen bis zu Anaximandros von Milet in die erste
Hälfte des 6. Jahrhunderts zurückverfolgen.65 Sie findet sich ebenso bei seinem
Zeitgenossen Xenophanes von Kolophon, der regelmäßige Überschwemmungen
(kataklysmos) annahm,66 und bei dem wenig jüngeren Heraklit von Ephesos, der die
Welt periodisch im Weltenbrand (ekpyrōsis) aus Feuer entstehen und in Feuer verge-
hen ließ.67 Diese Lehre hat unter den Sokratikern insbesondere Platon beeinflußt
und blieb dann ein Kernsatz der Stoa.68 So wie bei der biblischen Sintflut geht eine
wachsende Schlechtigkeit (kakia) unter den Menschen voraus.69 Ein christlicher
Vertreter der kosmischen Wiederkehr ist der alexandrinische Gnostiker Basileides in
der Zeit Hadrians, der von den Kirchenvätern als Ketzer bekämpft wurde.70
5f. Die Grundidee der antiken Kosmologie besagt, daß die Naturgeschichte
einen ewigen und unaufhaltsamen Prozeß darstelle, der durch regelmäßige Feuer-
5j. Die Annahme der Periodizität der Welt beantwortet schließlich die Frage,
warum der Weltprozeß nicht schon längst abgelaufen ist, warum er erst jetzt den
gegenwärtigen Stand erreicht hat. Die Frage, warum jetzt ausgerechnet jetzt, wes-
halb hier ausgerechnet hier sei, wird damit beantwortet, daß eben dieser Eindruck
eine Täuschung sei, daß die augenscheinliche Auszeichnung der Gegenwart nicht
zutreffe, da sie sich unendlich oft wiederholt habe und wiederholen werde. Konse-
quenterweise hat Anaximandros nicht nur eine zeitliche Unzahl von Weltperioden,
sondern auch eine räumliche Unzahl von Weltsystemen postuliert.77
5k. Dieser Erklärungszweck erfordert die Annahme, daß die Weltperioden
genau gleichartig sind. Entstehung, Entwicklung und Untergang der Kultur wie-
derholen sich, alle Erfindungen, meinte Aristoteles,78 müßten immer wieder erneut
gemacht werden. Nach dem Ablauf der nächsten Periode, erklärte der Aristoteles-
schüler Eudemos von Rhodos seinen Studenten, werde er wieder ebenso vor ihnen
stehen wie jetzt;79 wieder werde Sokrates die Xanthippe heiraten, wieder werde er
von Anytos und Meletos vor Gericht gebracht.80 So etwas kann nur gesagt werden,
um das Problem der Einmaligkeit als Paradoxon zu identifizieren, ist aber nicht
ganz so absurd, wie es klingt. In seiner Kritik an Epikur hat David Hume ausge-
führt: Wenn die in begrenzter Zahl vorhandenen, stets beweglichen Elementarteil-
chen im Laufe der unendlichen Weltzeit wieder einmal im gleichen Verhältnis
zueinander stehen, dann wiederholt sich der Weltlauf geradeso und immer wieder.81
5l. Platon hat das Problem vereinfacht. Er nahm als Periodengrenze die gleich-
artige Konstellation der Planeten. Die metaphorische Bezeichnung für diese Peri-
ode lautet das „große Jahr“. Sie wurde von ihm anscheinend auf 36 000 Jahre veran-
schlagt, doch gibt es verschiedene Angaben. Damit wird gesagt, das Gesetz der
wiederkehrenden Jahreszeiten gelte auch für die Phasen des Kosmos. Mit der con-
versio magni anni und dem allgemeinen Neubeginn wurde die Erscheinung des
Phönix verbunden, wie Plinius berichtet.82 Der circuitus des Weltenjahres und der
göttliche Kreislauf der Natur wurden bis in die Spätantike vertreten.83
5m. Eine eigentümliche Variante zur kosmischen Drehbewegung bietet Platon
in seinem Dialog über den Staatsmann.84 Hier unterscheidet er in einem Zweipha-
senmodell eine Vorwärts- und eine Rückwärtsdrehung (anakyklēsis). Die Vorwärts-
bewegung kommt zustande, indem der Gott oder der Daimon als Schöpfer und
Ordner der Welt die Kurbel dreht, wogegen die Rückwärtsdrehung einsetzt, sobald
er losläßt, wie bei einer Rolle, auf die ein Seil mit einem Gewicht gewickelt ist. Die
Kraft, die das Zurückschnurren bewirkt, nennt Platon die der Welt natürlich beige-
mengte Stofflichkeit, die Materie (sōmatoeides). In der ersten, vergangenen Periode
wandert die Sonne von West nach Ost, in der zweiten, gegenwärtigen von Ost nach
West. Mit der Umkehr der Rotation (kyklēsis) läuft die Zeit zurück: die Toten erhe-
ben sich aus ihren Gräbern, die Alten werden wieder jung und verschwinden als
Kinder in der Erde, der sie einst entsprossen sind. Während der Vorwärtsdrehung
herrschte Kronos, die Menschen lebten sorglos und glücklich im Goldenen Zeital-
ter; aber während der momentanen Rückwärtsdrehung im Zeitalter des Zeus voll-
zieht sich ein ambivalenter Prozeß: die platonische Schere. Mit der Kulturentste-
hung, wie wir sie von Demokrit kennen (s. o!), entwickelten sich nach und nach die
Verhältnisse bis zu ihrem gegenwärtigen Zustand: das Wissen der Philosophen hat
eine noch nie dagewesen Höhe erreicht, aber das Verhalten der Menge ist auf einem
Tiefpunkt der Unordnung (anharmostia) angekommen, der die Zerstörung von
allem nach sich zieht, so daß der Gott als Steuermann des Weltenschiffs wieder
selbst das Ruder ergreift und einen neuen Kursus beginnt. Dieser Wechsel wieder-
holt sich endlos.
*
5n. Die eingangs erwähnte Alternative zwischen einer linearen und einer zyklischen
Gesamtschau der Geschichte betrifft die beiden letztgenannten Vorstellungen: ob
die Weltzeit endlich sei und durch Schöpfung und Gericht eingerahmt werde, oder
ob die Weltzeit unendlich sei und durch immer wiederholte Katastrophen geglie-
dert werde. Diese Kontroverse hatte ein modernes Nachspiel. Der Zweite Thermo-
dynamische Hauptsatz besagt, daß die Gesamtheit der Ereignisse in einem
geschichtlichen Prozeß zwischen einem „Urknall“ am Anfang und einem Kälte-
oder Wärmetod am Ende steht.85 Dies entspricht dem Weltbild Augustins. Auf der
anderen Seite ist von H. Bondi, T. Gold und F. Hoyle eine periodische Theorie
(steady state) entwickelt worden, die einen Phasenwechsel von Expansion und Kon-
traktion des Universums behauptet, so daß ein Modell ähnlich dem der antiken
Weltzyklen entsteht. Die Verankerung der beiden Haltungen in verschiedenen gei-
stesgeschichtlichen Traditionen hat Max Born unterstrichen.86
5o. Beide Theorien bieten eine Antwort auf die Frage, was jenseits der zeitlichen
Grenzen der Empirie angenommen werden soll: biblisch das völlig Andere oder
antik das Gleiche noch einmal, entweder die totale Negation oder die perfekte
Identität. Wenn am Ende der Weltzeit das Chaos steht, dann könnte nach der anti-
ken Zyklus-Theorie wieder der atomare Querschläger (clinamen) eintreten,87 den
Epikur am Anfang der Formenbildung annahm, und dann beginnt der Durchgang
von neuem. Die Aussicht darauf ist aber nach der herrschenden Meinung unter den
Astrophysikern gering. Zeit und Ewigkeit lassen sich nur symbolisch verbinden.
Das meinte jedenfalls Goethe am 3. November 1823 zu Eckermann: „Jeder
Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsen-
tant einer ganzen Ewigkeit“.
ten bewegt sich auf und ab und scheint den Zyklen in der Natur zu entsprechen.
Die Ansicht, daß nur Naturvorgänge sich wiederholen, während historische Ereig-
nisse einmalig seien, trifft nicht ganz. Denn genau wiederholen sich auch Natur
vorgänge nicht, während historische Vorgänge wie Wahlen, Krisen und Konferen-
zen durchaus wiederkehren, wenn auch stets mit Besonderheiten. Die Frage der
Wiederholbarkeit ist eine Sache der Sprachregelung.
6b. Die antiken Kreislaufmodelle zeigen in der Binnenstruktur, d. h. einphasig
betrachtet, den Charakter von lineare Entwicklung: so im Weltenzyklus der Auf-
stieg von barbarischen Nomaden zur alexandrinischen Weltstadtzivilisation; so im
klassischen Dekadenzmodell der Abstieg von der Aurea Aetas der Pax Augusta zum
Chaos der Völkerwanderungszeit; so im Verfassungskreislauf die Entwicklung vom
patriarchalischen Stammeskönigtum über Aristokratie und Demokratie zur absolu-
tistischen Kaiserherrschaft. Diese Teilprozesse wurden als konsequent und in sich
geschlossen erfahren und begriffen. Insofern ist die Ansicht von einer Wiederho-
lung und einem Kreislauf in Teilbereichen des Geschehens empirisch triftig. Speku-
lativ ist die Übertragung der Periodizität der Epochen auf die Gesamtgeschichte.
Hier stehen wir vor der Aporie, daß der Analogieschluß, auf dem alles empirische
Wissen beruht, nur von Teilen auf andere Teile tragfähig ist, nicht der vom Teil auf
das Ganze. Daß die Zukunft irgendwann in die Vergangenheit zurückmünden
könnte, übersteigt unser Vorstellungsvermögen.
6c. Varianten der Kreislauflehre haben die Antike überdauert. Die Vorstellung
von Wiederholung im einzelnen begegnet uns wieder bei den paradigmatischen
Konzeptionen von Goethe und Nietzsche; der Gedanke in sich gerundeter und
einander ablösender Ereigniszyklen wird in der Geschichtsmorphologie von Speng-
ler und Toynbee vertreten. Der Glaube, daß die Zukunft in gewisser Weise die
Vergangenheit wiederbringe, liegt in der Verheißung einer Rückkehr zu Gott nach
dem Weltgericht, in der Hoffnung der Aufklärung auf eine erneuerte Natürlichkeit
und in der Prophezeiung der Wiederherstellung einer klassenlosen Gesellschaft
durch den historischen Materialismus. Insofern könnten wir Salomons Wort, daß
es nichts wirklich Neues unter der Sonne gebe, für die Grundfiguren der Geschichts-
philosophie bestätigen.88 Salomon liefert damit ein Argument für die Beschäftigung
mit Geschichte: Willst Du das Neue kapieren, mußt du das Alte studieren.
V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte
a. In den Zeitvorstellungen der Griechen und Römer begrenzt das Walten höherer
Mächte den Handlungsspielraum der Menschen , sie greifen ein teils wie diese es
verdienen, teils wie es den Launen der Götter gefällt. Schon die Ilias läßt aber
erkennen, daß über den Göttern das Schicksal waltet, dessen Spruch unabänderlich
ist. Die Zukunft steht fest; durch Zeichen und Orakel kann man sie ergründen,
aber nicht ändern. Wer sie, wie Laios, der Vater des Ödipus, ändern will, erfüllt sie
eben dadurch.1 Das Schicksal hat bei den Griechen und Römern viele Namen. Sie
verweisen darauf, daß es den Menschen „trifft“ (Tyche), daß ihm etwas „zugeteilt“
wird (Nemesis, Heimarmene, Moira), daß ihm etwas „geschickt“, etwas „gebracht“
(Fortuna) oder „zugesprochen“ (Fatum) wird. Stets ist eine höhere Macht am Werk,
die nicht näher bestimmt wird. Der Mensch muß es nehmen, wie es kommt; es
dankbar zu nehmen, ist Weisheit.
b. Der Schicksalsbegriff der Perser, der Juden und der Christen sieht anders aus.
Bei ihnen wird das irdische Geschehen nicht von einer anonymen Himmelsmacht
bestimmt, sondern aus einem von Gott persönlich erdachten und durchgeführten
Heilsplan gedeutet, wonach die Geschichte kurz vor ihrer Vollendung steht. Das
Handeln der Menschen ist hier nur noch soweit von Bedeutung, als es zum Willen
Gottes in Beziehung steht, der sich nicht nur in den heiligen Schriften, sondern
auch im irdischen Geschehen offenbart. So singen die Kinder Korah: „ Kommet her
und schauet die Werke des Herrn, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet; der
den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen
mit Feuer verbrennt“.2
dert n. Chr. gesammelt worden. Die ältesten Texte werden gleichwohl ins 7. Jahr-
hundert v. Chr. datiert.5 Zu den eschatologischen Überlieferungen zählt außer der
pessimistischen Metallbaum-Allegorie ein optimistisches Periodenschema, das enge
Verwandtschaft mit der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte aufweist. Die Ähnlich-
keit wird wohl zu Recht auf persischen Einfluß zurückgeführt, nicht umgekehrt.
Die Juden nahmen Anregungen aus Persien schon früh auf, dann verstärkt während
des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert und wieder in der seleukidischen Zeit,
wie das Buch Daniel dartut.
1b. Die persische Eschatologie hat im Laufe der Zeit verschiedene Formen ange-
nommen. Eine von ihnen, die schon Theopomp im 4. Jahrhundert v. Chr. kannte6,
rechnet mit einem Weltlauf von 12 000 Jahren. Während der ersten 3 000 Jahre
bestehen das Reich des Lichtes und das Reich der Finsternis nebeneinander. Dieser
dualistische Gegensatz ist das bekannteste Merkmal der persischen Religion. Das
Licht oben steht unter der Herrschaft Ahura Mazdas, die Finsternis unten regiert
Ahriman. Nach 3 000 Jahren eröffnet der Geist der Finsternis den Kampf gegen das
Licht. Im Jahre 6 000 erschafft Ahura Mazda die Erde, die damit zum Schauplatz
der Auseinandersetzung wird. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich zum Guten
oder zum Bösen zu bekennen. Im Jahre 9 000 erscheint Zarathustra und verkündet
die wahre Lehre. Alle tausend Jahre folgt ihm ein Prophet aus seinem Geiste. Im
Jahre 11 000 beginnt der Endkampf des Tausendjährigen Reiches mit dem Sieg des
Saoschyant, dem von einer Jungfrau geborenen Heilsbringer aus dem Samen Zara-
thustras. Es folgen die Auferstehung der Toten, das Weltgericht, die Vernichtung
alles Bösen und die Einkehr eines ewigen Zustandes der Ruhe und der Seligkeit.
Alle haben nur noch eine einzige Lebensform, eine einzige Verfassung (politeia) und
eine einzige Sprache. Sie brauchen keine Nahrung und werfen keinen Schatten.7
1c. Für die Wirren der Endzeit besitzen wir das bei Lactanz überlieferte, aus
Persien stammende »Orakel des Hystaspes«, der als Schutzherr Zarathustras und als
Vater von Darius betrachtet wurde:8 „Es kommt eine Zeit, wo die Gerechtigkeit mit
Füßen getreten, die Unschuld gehaßt wird, wo die Bösen die Guten ausplündern,
weder Gesetz und Ordnung noch Zucht im Heere gelten. Niemand achtet die
Alten, niemand übt Frömmigkeit, nicht Frauen, nicht Kinder werden geschont ...
Dann werden die Gerechten und Freunde der Wahrheit sich von den Bösen tren-
nen und in die Einöde fliehen. Der gottlose König, in Zorn entbrannt, wird mit
einem großen Heer kommen und den Berg belagern, auf dem die Gerechten woh-
nen. Sie aber werden Gott um Hilfe anflehen, und er wird einen großen König vom
Himmel senden, der sie befreit und alle Bösen mit Feuer und Schwert vernichtet“.
1d. Derartige Eschatologien begegnen uns vorwiegend im Orient. Varro berich-
tet von den Etruskern, die ja in vielfältiger Weise vom Osten beeinflußt waren, sie
sähen sich im neunten saeculum der Welt, vor dem Ende des nomen Etruscum. Den
Beginn des zehnten verkündete der Seher Vulcanius im Juli 44 v. Chr.. Plutarch
bestätigt, daß die Etrusker an eine nahe metakosmēsis glaubten, an den Übergang zu
einem anderen Zeitalter.9 Die späte Republik und das frühe Prinzipat wurden viel-
fach als welthistorische Epoche empfunden, so von Heiden, Juden und Christen.10
an diesen Aion anschließt wie der Tag an die Nacht. „Die Wölfe werden bei den
Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird
Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander hüten. Kühe und Bären wer-
den gemeinsam auf die Weide gehen, während ihre Jungen beieinander liegen, und
Löwen werden Stroh fressen wie die Ochsen“. Es ist das Bild vom Goldenen Zeit
alter der Zukunft.20
2h. Der Übergang von diesem zu jenem Aion ist durch eine dichte Folge außer-
ordentlicher Ereignisse charakterisiert. Die Propheten sprechen von den „Geburts-
wehen“ der Endzeit. Mord und Totschlag stehen auf der Tagesordnung, der Messias
naht auf den Wolken des Himmels, die Toten stehen auf, es kommt zum Endkampf
zwischen Zebaoth mit seine Himmlischen Heerscharen und den Truppen Babels.21
Es folgt das Weltgericht, bei dem die Bösen ins Höllenfeuer, die Guten in die
Gemeinschaft mit Gott gelangen. Das Gericht nimmt zuweilen die Züge einer kos-
mischen Katastrophe an. Bei Zephanja verheißt Gott die Vernichtung der Welt im
Feuer seines Zorns. Das besagt die Sequenz im Requiem: Dies irae, dies illa solvet
saeclum in favilla. Die gottlosen Völker werden ausgerottet und die gottesfürchtigen
wieder mit einer gemeinsamen Sprache begabt, um dem HErrn zu lobsingen.
Damit gewinnt das jüdische Geschichtsbild eine zyklische Gestalt: die paradiesische
Freude der Urzeit wird am Ende erneuert. Die Wanderschaft des Volkes Gottes
durch das irdische Jammertal ist beendet. Das Himmlische Jerusalem nimmt die
Gerechtfertigten auf.22
2i. Wie die babylonische Gefangenschaft zu Endzeitvisionen geführt hat, so
wiederholte sich das in späteren Notlagen der Juden regelmäßig. Am folgewirksam-
sten wurde das Buch Daniel,23 das während des Makkabäerkriegs gegen den Seleu-
kiden Antiochos IV entstand. Daniel war ein jüdischer Knabe, der angeblich
586 v. Chr. vom Chaldäerkönig Nebukadnezar aus Jerusalem nach Babylon ver-
schleppt und als Page angestellt wurde, dort durch seine prophetischen Traumdeu-
tungen und seine Standhaftigkeit im Glauben großen Eindruck machte und den
Sturz der Chaldäer erlebte. Nebukadnezar, so heißt es, hatte einst einen schweren
Traum, den ihm seine Zeichendeuter und Wahrsager nicht erklären konnten.
Daniel aber vermochte es. Er trat vor den König und sagte:
2j. „O König, du schautest, und siehe, ein Bild – dieses Bild war gewaltig groß
und sein Glanz außerordentlich – stand vor dir, und sein Anblick war schrecklich.
Das Haupt dieses Bildes war von gediegenem Golde, seine Brust und seine Arme
von Silber, sein Bauch und seine Lenden von Erz, seine Schenkel von Eisen, seine
Füße teils von Eisen, teils von Ton. Du schautest, da riß sich auf einmal ohne Zutun
von Menschenhand ein Stein vom Berge, traf das Bild auf seine eisernen und
tönernen Füße und zertrümmerte sie. Da zerstoben mit einem Male Eisen, Ton,
Erz, Silber und Gold und flogen davon wie die Spreu im Sommer von den Tennen,
und sie wurden vom Winde verweht, so daß keine Spur mehr von ihnen zu finden
war. Der Stein aber, der das Bild zerschlagen hatte, wurde zu einem großen Berg
und füllte die ganze Erde.“24 Diese Vision vom Koloß auf tönernen Füßen ver
sinnbildlicht nach Daniel die Abfolge von vier irdischen und einem fünften himm-
lischen Reich. Die irdischen Reiche werden durch Metalle gekennzeichnet, die
nach Wert und Haltbarkeit von oben nach unten abnehmen. Das fünfte Reich
stellt der gewaltige Stein dar, der alles in Stücke schlägt und selbst zum Koloß
anschwillt.
2k. So wie die Messiaserwartung ist das Schema der Weltreichsfolge keine
ursprünglich jüdische Idee, diese verweist auf griechische Vorbilder. Schon Herodot
kannte den Übergang der Herrschaft von den Assyrern zu den Medern und weiter
zu den Persern „im oberen Asien“.25 Um 400 v. Chr. schrieb Ktesias von Knidos die
translatio imperii von den Assyrern über die Meder zu den Persern.26 Als Abfolge in
der Vorherrschaft, der summa imperii, werden nach dem Sieg der Römer über
Antiochos III im Jahre 189 v. Chr. die drei orientalischen Reiche durch Aemilius
Sura gedeutet, der Makedonen und Römer anschloß.27 Letztere hatte der Verfasser
des Danielbuches noch nicht im Blick.
2l. Später erzählt Daniel einen eigenen Traum, der das Weltreichsschema im Bild
von den vier Tieren aus dem Abgrund vorführt. Am Ende heißt es: „ Ich schaute: auf
einmal wurden Throne hingestellt, und ein Hochbetagter nahm Platz; sein Gewand
war weiß wie Schnee und sein Haupthaar rein wie Wolle, sein Thron war Feuer-
flamme und dessen Räder loderndes Feuer. Ein Feuerstrom ging von ihm aus; tau-
sendmal Tausende dienten ihm und zehntausendemal Zehntausende standen vor
ihm. Der Gerichtshof nahm Platz, und die Bücher wurden aufgetan. ... Mit einem-
mal wurde das Tier getötet und sein Leib vernichtet und dem Feuerbrande überlie-
fert.“ Weiter heißt es: „Mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Men-
schen glich, und gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn gebracht.
Und es wurde ihm gegeben Macht und Ehre und Herrschaft über alle Völker und
Zungen. Ihm dienen sie, seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht vergeht, und
sein Reich ein ewiges Reich, das unzerstörbar ist.“28 Eine dritte Vision eröffnet den
Sinn der Bilder. Sie symbolisieren die Reiche der Meder und Perser und den König
von Griechenland, also Alexander, dem vier Könige folgen, bis schließlich einer ihrer
Nachfolger – Antiochos IV – sich am Jerusalemer Tempel vergreift. In einer letzten
Vision erfährt Daniel das Ende des frevelhaften Griechenkönigs.29
2m. Schon der neuplatonische Philosoph Porphyrios (s. u.) hat erkannt, daß
diese angebliche Weissagung ein vaticinium ex eventu war, eine Kampfschrift aus
dem Makkabäeraufstand. Ihre Entstehung läßt sich auf das Jahr 164 v. Chr. datie-
ren, denn die Prophezeiungen werden immer zuverlässiger, je näher die Geschichte
diesem Jahre kommt, d. h. je genauer der anonyme Autor sie kannte. Im Jahre 164
jedoch beginnt die Phantasie. Die weiteren Vorhersagen stimmen nicht mehr, der
Messias blieb aus.
2n. Die nächste Notlage nach dem Makkabäerkrieg war die Eroberung Jerusalems
durch Pompeius im Herbst 63 v. Chr.30 Aus jener Zeit stammt das nach dem Vater
des Methusalem benannte Henoch-Buch, 1773 von einem britischen Reisenden in
Abessinien entdeckt. Ähnlich wie später Dante durchreist Henoch das Weltenge-
bäude von der Hölle zum Himmel, berichtet über die Engel, die Sterne, den Mes-
sias, über seine Rückkehr und das Gericht über die Feinde Israels.31
2o. Als die Verwaltung Judäas durch die Prokuratoren Roms drückend wurde
und unter Nero im Jahre 66 n. Chr. die Erhebung der Zeloten unter ihrem messia-
nischen Führer Menachem auslöste, entstanden mehrere jüdische Endzeitvisionen.
Zu ihnen zählt die in den Höhlen von Qumran am Toten Meer gefundene ›Kriegs-
rolle‹. Sie schildert mit militärischer Akribie den bevorstehenden Heiligen Krieg der
„Kinder des Lichts“, unterstützt von Gott und seinen Engeln, gegen das von Belial
und seinen Trabanten geführte Heer aus dem „Reich der Finsternis“, mit dem die
Römer gemeint sind. Ihre Vernichtung führt zur ewigen Herrschaft Israels „über
alles Fleisch“ und bringt so die Wende von der „eschatologischen Drangsal zum
Anbruch der Heilszeit“. Sieger ist der Kriegsmessias aus dem Hause Davids. Zu ihm
spricht der Prophet: „Es erhebe dich der Herr zu ewiger Höhe, wie einen starken
Turm auf ragender Mauer, auf daß du die Völker mit der Kraft deines Mundes
schlügest und mit deinem Szepter die Erde verwüstetest, mit dem Geist deiner Lip-
pen die Frevler tötetest. Er mache deine Hörner eisern und deine Hufe ehern, sto-
ßen sollst du wie ein Jungstier und die Völker zertreten wie Straßenkot. Denn Gott
hat dich zur Zuchtrute der Herrscher bestellt, und alle Nationen werden dir die-
nen.“32
2p. Nach der Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 fanden die Juden
Trost in weiteren Apokalypsen, überliefert durch das syrische Buch Baruch und das
lateinische Vierte Buch Esra.33 Sie enthalten weitgehend denselben Stoff, sicher aus
der Feder zweier palästinensischer Juden. Dem Ende gehen Zeichen voraus: „Bäume
bluten, Steine schreien, Sterne hageln vom Himmel ...“ Die Schöpfung, heißt es, ist
alt geworden, wie eine alte Frau, die ihre Jugendkraft hinter sich hat. Das Jüngste
Gericht ist nahe, die Götzendiener erwartet eine gnadenlose Gerechtigkeit. Der
Untergang Roms, des gottlosen vierten Reiches der Danielvision, steht bevor, und
das Reich Gottes wird errichtet. Die Masse der Menschen endet im Feuerofen der
Hölle, nur die wenigen Auserwählten gelangen zu Gott ins Paradies – so vermutlich
der Autor und sein Leser. Der jüdische Aufstand war getragen von der Hoffnung
auf einen endzeitlichen Sieg über die Kaiser. Antike Autoren überliefern Orakel auf
einen siegreichen Herrscher aus dem Osten, weil sie dies ihrerseits auf den
69 n. Chr. in Alexandria erhobenen Kaiser Vespasian bezogen.34
2q. Endzeitprophetien ertönen dann wieder im Zusammenhang mit dem zwei-
ten jüdischen Krieg unter dem Messiasanwärter Bar Kochba, dem „Sohn des
Sterns“. Aus jener Zeit, um 140 n. Chr., stammt die Paradiesesvision des dritten
Buches der Sibyllinen-Orakel, in griechischen Hexametern verfaßt,35 Ein mächtiger
König erscheint aus Asien, wirft die „Makedonen“ nieder, erobert Ägypten und
stellt die Gottesherrschaft her. Die Götzenbilder werden ins Feuer geworfen, Obst-
bäume und Schafherden bringen den Menschen freiwillig ihre Güter, Wein und
Honig, Milch und Weizen – soviel man will, wenig Arbeit und viel Freude. Das
jüngere achte Buch prophezeit die Wiederkehr Neros unter Marc Aurel, den Unter-
gang Roms durch einen König aus dem Osten beim fünften Erscheinen des Phönix
und eine paradiesische Zukunft.
schien unvorstellbar, daß dies so weitergehen könne, aber ebenso unglaublich war,
daß es ein Ende nehme. Alle erdenklichen Staatsformen hatte man durchprobiert,
von der Polis über den Stammes- und Volksstaat bis zum Großreich, von der patri-
archalischen Monarchie über mehrere Spielarten der Oligarchie zur radika-
len Demokratie – kein System hatte den Frieden gebracht. Lucrez entwarf die
Szenerie des Weltuntergangs: Die machina mundi bricht an einem einzigen Tage
zusammen. Eine verbreitete Verzweiflung, nicht nur bei den Gegnern Roms,
sondern auch bei Sallust und Cicero, bei Horaz und Livius, weckte die Hoffnung
auf eine Wiederherstellung des Altbewährten oder auf die Stiftung von etwas gänz-
lich Neuem.42
3d. Augustus hatte es gebracht. Er wurde von den Dichtern als Gott gefeiert,
galt als „neuer Stern“, entging einem Kindermord und regiert nach seinem Tode
mit dem Göttervater Juppiter gemeinsam den Himmel.43 Griechische Inschriften
aus Kleinasien44 feierten die neue Ordnung als evangelion. Die frohe Botschaft von
der Pax Romana fand ihre gültige Fassung in Vergils 4. Ekloge. Sie verhieß 40 v. Chr.
die Geburt eines göttlichen Königskindes, unter dessen Herrschaft das Goldene
Zeitalter wiederkehre. Möglicherweise schrieb Vergil das Gedicht unter Augustus
und datierte es zurück, um sich als Prophet zu erweisen.45 Ovid behandelt den
Mythos der aurea aetas in seinen Metamorphosen, und fortan verkünden Münzen
die felicium temporum reparatio. Vergils Gedicht erhielt im Mittelalter die Über-
schrift ›Saeculi novi interpretatio‹. Der damals verheißene novus ordo saeclorum
wurde seither vielmals, vorläufig zum letzten Mal 1937 unter Victor Emanuel III
durch Mussolini proklamiert.46
3e. Die christliche Rede vom Endgericht in der „Fülle der Zeit“, genauer: der
Erfülltheit (plēroma) der Zeit, beruht auf den Prophetien47 und der Predigt Johan-
nes des Täufers. Als dessen Schüler verkündete Jesus das nahe herbeigekommene
„Reich Gottes“ oder „Himmelreich“, wobei „Himmel“ in der Mehrzahl steht und
statt „Reich“ genauer „Königsherrschaft“ (basileia) gesagt werden müßte.48 Dieser
Begriff weckt politische Assoziationen, er stammt aus der Messias-Erwartung der
Juden, die an die Wiederherstellung des Königtums Davids auf Erden glaubten.
Gemäß den Evangelisten wird das Paradies für die Mehrzahl der Erlösten mit dem
Jüngsten Gericht eröffnet, doch finden Einzelne – so der gute Schächer49 – schon
vorher Aufnahme. Es handelt sich um eine Art Schlaraffenland, wo die Auferstan-
denen mit Gott und Jesus zu Gericht sitzen50 und zu Tische liegen, essen und trin-
ken.51 Paulus hat diese Vorstellung bekämpft und die paradiesische Gaumenlust
durch „Freude in dem heiligen Geist“ ersetzt.52 Die Hoffnung, mit Gott zu bechern
und zu schmausen, blieb aber selbst bei Kirchenvätern lebendig. Das Himmelreich
wird als Symposion gedacht nach dem Vorbild eines Gelages beim Kaiser.53 Sehr
ähnlich zeigt sich die germanische Walhalla, wo die „erwählten“ Helden ihre
Unsterblichkeit in Form eines Banketts genießen, allerdings beim Met und nicht
beim Wein, der dem Götterkönig Odin vorbehalten ist.54
3f. Jesus selbst wird von Paulus und den Evangelisten als der Messias betrachtet,
„Christus“ ist die Übersetzung des hebräischen „Messias“ ins Griechische und
bedeutet „der Gesalbte“ (chriō). Die Evangelien sind bemüht, alle Hinweise des
Alten Testaments auf einen künftigen Heilsbringer als im Messias Jesus erfüllt zu
erweisen. Er wird als Nachkomme Davids bezeichnet und soll in Bethlehem, der
Heimatstadt Davids, geboren sein. Johannes der Täufer versteht sich bei den Evan-
gelisten als Vorläufer des Messias, als welchen er angeblich Jesus ansieht. Der Ein-
zug in Jerusalem auf der Eselin, die Palmen bei der Begrüßung, das Hosianna – all
das sind Elemente des jüdischen Königszeremoniells. Jesus bekennt sich gemäß den
Evangelisten vor Pilatus als König der Juden, erhält einen Purpurmantel, eine Dor-
nenkrone und über seinem Kreuz steht sein Verbrechen: „Jesus aus Nazareth, König
der Juden“.55
3g. Die Messiasidee bei Jesus steht im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe
von teils militanten, teils quietistischen Bewegungen. Die kriegerischen Vertreter
sind die sogenannten Zeloten, die „Eiferer“. Das Neue Testament berichtet von
fünf Messiasgestalten und ihren Aufständen: In den Evangelien ist von einer anony-
men Erhebung in Galiläa die Rede, sowie von derjenigen des Barabbas in Jerusa-
lem.56 Die Apostelgeschichte bezeugt drei Empörungen: die des Theudas, die des
Judas von Gamala in Galiläa und die des namenlosen „Ägypters“.57
3h. Daneben gab es quietistische Bewegungen, die nicht zuschlagen, sondern
abwarten wollten. Hierher zählen Johannes der Täufer mit seinen Jüngern58 und die
Essener, obschon die ihnen zugerechnete Kommune von Qumran sich den End-
kampf minutiös und martialisch ausgemalt hat (s. o!). Das Bild Jesu in den Evange-
lien schillert. Seinen von Matthäus in der Bergpredigt zusammengestellten Worten
des Friedens stehen unverhüllt militante Äußerungen gegenüber.59 Sie wurden redak-
tionell nicht getilgt. Jesu Anhänger sympathisierten teilweise mit den Zeloten, so
anscheinend Judas Iskarioth, Petrus mit dem Schwert und die Söhne des Zebedäus.
3i. Wie sich Jesus die mit dem Messias verbundene Eröffnung des neuen Welt-
zeitalters vorgestellt hat, ist unklar. Die Evangelisten bieten zwei Antworten. Die
erste lautet, der Anbruch der Endzeit stehe unmittelbar bevor. Diese Ansicht ver-
kündete Jesus im Hinblick auf Daniel.60 Die Gegenthese vom Evangelisten Johan-
nes heißt, der „Fürst dieser Welt“, d. h. der Teufel als Herr des alten Aion, sei bereits
gerichtet,61 so daß schon mit der Verkündung Jesu der neue Aion begonnen hätte.
Diese Auffassung setzt ein anderes Verständnis des neuen Säkulum voraus: es wäre
kein kosmisches, äußeres, spektakuläres Ereignis, sondern lediglich eine innere
Umkehr im Herzen des einzelnen Christen. Nach Lukas sagte Jesus: „Das König-
tum Gottes kommt nicht beobachtbar, es ist in euch drinnen.“62 Diese Deutung
entsprang wohl der enttäuschten Naherwartung, die lebendig blieb. Denn bei
Lukas folgt der Satz: „Der Menschensohn kommt wie ein Blitz“.
3j. Der Terminus technicus für das Erscheinen des Messias lautet Parusie oder
Advent. Beides bezeichnet die feierliche Ankunft des hellenistischen Königs. Die
Römer sprachen von adventus Caesaris. Ihm voraus reiten die Herolde. Dement-
sprechend brauchte man einen Vorboten des Messias. Im Alten Testament wurde
mit einer Wiederkehr des Elias zu diesem Zweck gerechnet, das Neue Testament
überwies Johannes dem Täufer diese Funktion, möglicherweise tat dies Jesus auch
seinerseits. Die Erscheinung des Messias ist bei Jesus merkwürdig verdoppelt –
einerseits in seinem eigenen Leben erfüllt, andererseits als Wiederkehr in nächster
Zukunft erwartet. Vor dieser zweiten Parusie sollen nach den Worten des Auf
erstandenen die Jünger allen Völkern das Evangelium predigen.63 Der Missions
auftrag hebt das Christentum über die nationaljüdische Religion hinaus.
*
3k. Die Vorstellungen von Zeitenwende und Zeitenende stehen bei Jesus im Vor-
dergrund, erst Paulus wirft den Blick zurück auf die Vergangenheit.64 Für die äußere
Geschichte hat er jedoch kein Interesse, die Taten und Schicksale der Juden, Grie-
chen und Römer beschäftigen ihn nicht. Politik ist für ihn kein Thema. Die Obrig-
keit ist von Gott, dem Untertan gebührt Gehorsam. Wenn Paulus dies der römi-
schen Gemeinde einschärft,65 gab es dort wohl Neigung zum Widerstand gegen
Nero. Der erste Petrusbrief fordert Gehorsam der Christen gegenüber den Römern,
der Sklaven gegenüber den Herren, der Frauen gegenüber den Männern. Leid sei
eine von Gott gesandte Prüfung, in der Nachfolge Jesu hinzunehmen.
3l. Das Interesse des Paulus an der Vergangenheit konzentriert sich auf die
innere Geschichte. Er betrachtet das Gottesvolk unter Einschluß der Juden als ein
alterndes Individuum. Im Galaterbrief heißt es: „Bevor der Glaube kam, war das
Gesetz unser Zuchtmeister (paidagōgos), das uns auf Christus vorbereitet hat, damit
wir durch den Glauben gerecht würden. Seitdem der Glaube nun da ist, stehen wir
nicht mehr unter der Gewalt des Pädagogen“. Der „Pädagoge“ in seinem Bilde ist
das mosaische Gesetz, der Zögling, das sind „wir“. Paulus meint damit aber nicht
die von Jesus gestiftete Gemeinde, sondern zunächst die Juden bis zurück auf Abra-
ham, sodann aber auch alle möglichen Adressaten der christlichen Botschaft, wie
hier die Galater, samt deren eigenen Vorfahren, die nun zwar nicht dem Gesetz,
aber den diesem gleichgeachteten heidnischen Bräuchen gehorcht haben.66 Damit
haben wir als Kollektivsubjekt nicht mehr, wie im alten Testament, das Volk Israel,
sondern wieder, wie in der griechischen Geschichtsphilosophie, die Menschheit vor
uns. Erziehungsgegenstand freilich ist nicht wie bei den Griechen die Zivilisation,
sondern wie im Alten Testament die religiöse Haltung, die zum Heil führt. Die
Geschichte gliedert sich somit in drei Teile: ante legem von der Schöpfung bis zum
mosaischen Gesetz, sub lege von dort bis zu Christus und sub gratia seither bis zum
Jüngsten Tag. Letzteres sind die tempora Christiana.67
3m. Bedeutsamer als der Alte Bund mit Moses ist der Neue Bund durch Chri-
stus. Seine Erscheinung vergleicht Paulus im Galaterbrief mit dem Eintritt der
Mündigkeit. Der junge Mann wird frei: „Solange der freigeborene Erbe unmündig
ist, besteht zwischen ihm und einem Sklaven kein Unterschied, obschon ihm doch
künftig alles gehört. Aber er untersteht Vormündern und Verwaltern so lange, wie
es der Vater vorausbestimmt hat. So auch wir: solange wir unmündig waren, blie-
ben wir Sklaven der Naturgewalten.“ Paulus denkt sich die Gemeinde als einen
freigeborenen Knaben, dessen offenbar verstorbener Vater testamentarisch festge-
setzt hat, in welchem Alter der Sohn das Verfügungsrecht über sein Erbe erhalten
soll. Mit der Erbschaft meint Paulus den durch die Erlösung erreichbaren Zustand
der Seligkeit, den Inhalt der Verheißung an Abraham, die in derselben Metapher
bei ihm als Testament (diathēkē) erscheint.68
3n. Als Zeitpunkt der Mündigkeit wird die „Fülle der Zeit“ angegeben, in der
Christus erschien: „Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, gebo-
ren von einem Weibe und unter das (mosaische) Gesetz getan, auf daß er die, so
unter dem Gesetz waren, erlöste, daß wir die Kindschaft empfingen.“69 Luther ver-
wendet den Ausdruck „erlösen“ für Termini, die den Loskauf aus dem Sklaven-
stande oder der Kriegsgefangenschaft bedeuten und im Neuen Testament metapho-
risch für die Heilstat Christi gebraucht werden. Der Empfang der Kindschaft läßt
sich auch als Adoption verstehen. Mit Loskauf und Adoption kommen hier nun
zwei neue Bildelemente hinzu, die – wie das Mündigwerden – eine Änderung des
Gewaltverhältnisses zum Ausdruck bringen.
3o. Zwischen der Lösung aus der Vormundschaft des Gesetzes und der Bindung
in ein neues Kindschaftsverhältnis könnte man einen Widerspruch empfinden. Was
ist das für eine Erlösung, die aus der Unterordnung unter das Gesetz in den Gehor-
sam gegenüber dem Messias führt? Der römische Begriff der Freilassung, emancipa-
tio, bedeutet nicht nur Auflösung, sondern auch Wechsel des Gewaltverhältnisses,
se emancipare wird sogar für die Tat eines Menschen gebraucht, der sich freiwillig in
die Sklaverei eines anderen begibt. „Emancipare ist an sich nichts anderes als ein
verstärktes mancipare“.70 Damit im Einklang steht, daß Paulus denselben Erlö-
sungsakt in zweifacher Weise verbildlicht. Der Messias hat uns nicht nur freige-
kauft, sondern auch selbst gekauft, macht aber von seinem Eigentumsrecht keinen
Gebrauch. „Wer ein Sklave des Herrn genannt wird, ist (in Wirklichkeit) ein Frei-
gelassener des Herrn.“71
3p. Das Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament ist somit gekennzeichnet
durch eine Zwischenphase. Einerseits ist Christus schon erschienen, andererseits ist
der Tag des Herrn noch nicht angebrochen. Alle Zeugnisse deuten aber darauf hin,
daß man ihn in allernächster Zeit erwartete, und dies glaubte auch Paulus. Die
Naherwartung wurde jedoch durchkreuzt durch die Parusieverzögerung. Als die
ersten Gläubigen gestorben waren, ohne daß der Herr zurückgekehrt war, erhob
sich das Problem, was mit ihnen nun geschehe. Hier griff Paulus auf den jüdischen
Gedanken der Auferstehung des Fleisches zurück72 – der nicht mit der griechischen
Idee von der Unsterblichkeit der Seele zu verwechseln ist. Den Zeitraum bis zum
Tage des Herrn füllte Paulus mit der Predigt des Evangeliums. Den Christen in
rollt eine Phantasmagorie des bevorstehenden Weltendes. Die Kirche als Gemeinde
Gottes wird dem Imperium Romanum als dem Gefolge des Teufels gegenüberge-
stellt, der Kampf beider beginnt mit der Erscheinung des Menschensohnes und
endet mit dem Sturz des satanischen Rom, verbildlicht als große Hure Babylon. Es
folgt die glückliche Zwischenzeit des Tausendjährigen Reiches, eine Vorstellung, die
sich so verbreitet hat, daß für sie der Begriff Chiliasmus geprägt worden ist. Danach
kommt es zum letzten Aufstand Satans und zu seinem endgültigen Sturz. Mit dem
Jüngsten Gericht beginnt die ewige Seligkeit im Himmlischen Jerusalem für die
Erlösten, das ewige Höllenfeuer für die Verdammten.
4d. Die Johannesapokalypse inszeniert die Zukunftsschau des Buches Daniel.
Dessen Schema der Weltreichsfolge prägte das christliche Geschichtsdenken.81 Der
erste christliche Kommentar zu einem Buch der Bibel, verfaßt um 200 von Hippo-
lytos in Rom, galt dem Propheten Daniel. Natürlich hat man an dessen Geschicht-
lichkeit unter Nebukadnezar geglaubt. So wie es innerhalb der Bibel keine histori-
sche Kritik gibt, haben die Kirchenväter nirgends Zweifel an der Geschichtlichkeit
dessen zu äußern gewagt, was im „Wort Gottes“ zu lesen war. Daniel ist in der
Weltchronik Eusebs eine historische Gestalt und ein hellsichtiger Prophet, der
Christus vorausgesagt habe. Hieronymus polemisiert in seinem Danielkommentar
gegen die um 300 n. Chr. formulierte, tatsächlich zutreffende Fälschungsthese des
Neuplatonikers Porphyrios, dessen 15 Bücher ›Gegen die Christen‹ auf Geheiß des
frommen Kaisers Theodosius II im Jahre 448 verbrannt wurden.82 Um das Schema
beibehalten zu können, hatte man es modernisiert. Die Lehre von den vier Weltrei-
chen war seit der Entstehung des Imperium Romanum in der alten Form unbrauch-
bar. Um die Aktualität des Schemas zu erhalten, mußte man dessen Ende umdeu-
ten. Das vierte Weltreich war nun nicht mehr das makedonisch-hellenistische,
sondern das römische. Das gilt für die christliche wie für die jüdische Tradition.83
Die Vierzahl wurde beibehalten, indem das medische und persische Reich zusam-
mengefaßt wurden.
4e. Der vom Messias gestürzte frevelhafte König konnte nicht mehr Antiochos
Epiphanes sein, der ja längst tot war, sondern wurde mit dem erwarteten Antichrist,
dem angeblich von Jesus vorausgesagten falschen Messias gleichgesetzt. Diese Figur
aus den um 100 n. Chr. verfaßten Johannesbriefen84 hat zu vielfältigen Spekula
tionen Anlaß gegeben. So wie der Autor der Johannesbriefe glaubte um 380 der
heilige Martin, der Antichrist sei schon geboren.85 Ums Jahr 400 taucht er auf in
dem syrisch überlieferten ›Testamentum domini nostri Jesu Christi‹. Da werden
allerlei Schreckzeichen geschildert, die das Ende einleiten. Im Westen werde der
Antichrist erscheinen in Gestalt eines fremdländischen Königs, eines trugreichen,
gottlosen, mörderischen Herrschers, der das Römerreich verwüsten werde. Vermut-
lich ist hier Alarich gemeint.86 Aber auch andere verhaßte Herrscher wurden mit
dem Antichrist identifiziert: so im 4. Jahrhundert Constantius II, im 5. Geiserich,
im 6. Justinian.87
4f. Aus der Neuinterpretation der Danielprophetie ergab sich die Überzeugung,
das Römerreich werde bis zum Weltende bestehen. Auch nach dem Einbruch der
Germanen konnte sich weder ein Christ noch ein Heide ein anderes politisches
System als das Imperium vorstellen.88 Man glaubte wie einst Lactanz, wenn Rom
fiele, falle die Welt.89 Dessen Annahme stützte sich auf die dunkle Aussage des Pau-
lus,90 daß erst „hinweggetan werden müsse, was den Tag des Herrn aufhalte.“ Dieses
katechon wurde seit der Mitte des 2. Jahrhunderts mit dem Römerreich identifiziert.
Um die Schrecken der Endzeit hinauszuschieben, betete man für Kaiser und
Reich.91 Wie verträgt sich das mit der zweiten Bitte im Vaterunser?
4g. Das Danielschema blieb die am häufigsten verwendete Periodisierung im
Geschichtsdenken von Byzanz und über das Mittelalter hinaus. Die Unmöglichkeit
eines fünften irdischen Reiches hatte Orosius erwiesen, indem er die Weltreiche den
vier Himmelsrichtungen zuordnete: Babylon dem Osten, Karthago dem Süden,
Makedonien dem Norden und Rom dem Westen.92 Damit war die Vierzahl nicht
nur theologisch, sondern auch geographisch beglaubigt. Die Endzeitstimmung aus
Daniel steigerte sich jeweils im Zusammenhang mit der Bedrohung des Neuen
Rom durch Naturkatastrophen und Kriege, so beim Angriff der Araber 717 unter
Maslama, beim Erscheinen der Kreuzfahrer 1204 unter Balduin von Flandern und
beim Angriff der Türken 1453 unter Mehmed II. Stets hoffte man auf eine Retter-
figur wie in der Kyffhäusersage.93
4h. In das Szenarium der Endzeitschrecken gehört der Angriff der wilden Nord-
völker. Beim Propheten Hesekiel führt sie der Fürst Gog aus dem Lande Magog, in
der Johannes-Apokalypse und bei späteren Autoren sind es die Stämme Gog und
Magog, die nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches unter der Führung des
losgebundenen Satan zum letzten Kampf gegen das Gottesvolk antreten.94 Das
Motiv ist in den Alexander-Roman übernommen worden. Dort schließt der Make-
done diese Barbaren durch ein Eisentor im hohen Norden ein, um zu verhindern,
daß sie vorzeitig über die Kulturwelt hereinbrechen. Hier ist er die „aufhaltende
Macht“. Aus dem Alexander-Roman gelangte das Motiv in den Koran,95 der eine
ähnliche Endzeiterwartung bezeugt. Weltenrichter der Muslime ist Isa, Jesus. Der
Erzengel Israfil, der auf dem Tempelberg von Jerusalem die Posaune des Jüngsten
Gerichts blasen wird, geht auf hebräisch „Serafim“ zurück. Unter den Abbassiden
um das Jahr 1000 erfuhr das Danielschema eine weitere Aktualisierung. Der Stein,
der den Koloß der Weltreiche zerschmettert, ist nun nicht mehr der Messias, son-
dern Mohammed. Eine Variante bringt die Umdeutung des vierten Weltreichs von
den Römern auf die Araber, so in koptischen, jüdischen und muslimischen Quel-
len. Selbst bei Joachim von Fiore gibt es die Deutung des vierten Weltreichs auf die
Sarazenen.96 Die Idee vom Mahdi, der vor dem Erscheinen des Antichrist alle Mus-
lime unter seiner Herrschaft vereinen wird, trägt messianische Züge.97
4i. Aus politisch-ideologischen Gründen blieb es im Abendland bei der Gleichset-
zung des vierten Weltreichs mit dem Imperium Romanum, das mit der Translatio Impe-
rii an die Deutschen übergegangen sei. Eine germanisierte Form der Danielprophetie
findet sich im mittelhochdeutschen ›Annolied‹ aus der Zeit um 1080. Der unbe-
kannte Kölner umschreibt die Visionen, die seiner Meinung nach auf die Römer und
Julius Caesar hindeuten. Dieser habe die vier Stämme der Deutschen besiegt, die in
das orosianische Schema eingepaßt und mit den antiken Völkern verwandtschaftlich
verbunden werden. Die Sachsen im Norden gelten als Nachkommen der Makedonen
Alexanders, die Franken im Westen als Abkömmlinge der Trojaner wie die Römer, die
Baiern im Osten werden aus Armenien hergeleitet, während für die „übers Meer
gekommenen“ Schwaben die Karthager als Vorfahren anzunehmen seien. Wurde der
Bodensee zu einer Bucht des Mittelmeeres? Auch der Autor des Annoliedes glaubte,
der Antichrist sei bereits geboren. Die unhaltbare Mischung aus Ton und Eisen im
Bild vom Koloß auf tönernen Füßen paßt auf jede Gegenwart. Hieronymus sah darin
den Gegensatz von Römern und Germanen in der Spätantike, Otto von Freising
meinte im Widmungsbrief seiner Chronik damit das Stauferreich.98
4j. Die neuzeitliche Geschichtsdeutung nach Daniel beginnt in der Reformati-
onszeit. Auf den Staat Karls V bezogen das Bild Thomas Münzer in seiner Allstedter
Fürstenpredigt von 1524 und Luther in der Vorrede zu Daniel 1544. Für den
Reformator war der Papst der Antichrist. In der protestantischen Historiographie
des 16. Jahrhunderts ist die Vier-Reiche-Folge noch fest verankert.99 1556 diente sie
der Weltgeschichte ›De quattuor summis imperiis‹ des Johannes Sleidan als Gliede-
rungsprinzip. Sein Werk wurde bis in die Zeit der Aufklärung benutzt. Im katholi-
schen Frankreich hielt trotz der fundierten historischen und ideologischen Ein-
wände, die Bodin100 1566 gegen das Danielschema erhoben hatte, noch Bossuet
1681 an ihm fest, während in England Isaac Newton mit seinen postum 1733
erschienenen ›Observations upon the Prophecies of Daniel and the Apocalypse of
Saint-John‹ die Zukunft zu ergründen suchte.
4k. Die schon von Münzer vorgenommene politische Instrumentalisierung des
Danielschemas findet sich wieder bei der Eröffnung des „Parlaments der Heiligen“
durch Oliver Cromwell am 4. Juli 1653, aber auch bei seinen Gegnern, den Fifth
Monarchy Men. Vergebens hatte Thomas Hobbes in seinem ›Leviathan‹ von 1651
darauf bestanden, daß the Kingdom of God erst mit der world to come zu erwarten
sei. Das von Daniel prophezeite fünfte Weltalter einer goldenen Zeit wurde auf
Erden herstellbar gewünscht, so in den demokratischen USA bei George Berkeley,
bei den angloamerikanischen Postmillenniaristen und den lateinamerikanischen
Quintomonarchisten. Noch auf dem Wieder Kongreß 1815 forderte der Kardinal
Ercole Consalvi als Gesandter des Papstes die Wiederherstellung des 1806 erlosche-
nen römischen Kaisertums, doch die Furcht vor dem Antichrist war nicht mehr zu
vermitteln. Das Danielschema blieb gleichwohl lebendig, solange Moskau als drit-
tes Rom galt und das russische Byzanz die Prophetie zu erfüllen schien – so noch
bei Wladimir Solowjew, der Ende des 19. Jahrhunderts im Geiste des russischen
Messianismus die All-Einheit der Menschen in christlicher Nächstenliebe vertrat.101
4l. Das Denkmodell Daniels prägt noch immer das Geschichtsbild der Adventi-
sten, der Zeugen Jehovas und der Heiligen der letzten Tage. Im Buch Mormon von
1830 heißt es: „Tut Buße, alle Enden der Erde, denn das Himmelreich ist nahe; ja
der Sohn Gottes kommt in seiner Herrlichkeit.“102 In der politischen Rhetorik der
Gegenwart spukt der eschatologische Endkampf, wenn bei born-again Christians
von der „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaaten“, und wenn auf islamischer Seite
vom „Großen Satan“ Amerika die Rede ist.103
*
5c. Die geschichtsphilosophische Bedeutsamkeit der Inkarnation konnte wie in
dem Vierstadienmodell so auch in der Periodisierung durch die Idee der Weltenwo-
che zum Ausdruckgebracht werden. Dazu wurde die Geschichte entsprechend den
Schöpfungstagen der Genesis in sechs Abschnitte gegliedert, denen als siebenter die
Sabbatruhe des Gottesreiches folge. Letztere wird im Hebräerbrief den Gläubigen
verheißen.107 Ausgeführt wird die Parallele im apokryphen Barnabas-Brief aus der
Zeit um 130.108 Dort werden nach dem 90. Psalm „denn tausend Jahre sind vor dir
wie ein Tag“ die sechs Schöpfungstage mit sechs Jahrtausenden gleichgesetzt. Am
siebten Tag, dem Weltensabbat, sei alles vollendet, dann komme Gottes Sohn,
richte die Gottlosen und verwandle Sonne, Mond und Sterne. Die zweite Parusie
wird offenbar ins Jahr 6000 nach der Schöpfung gesetzt; über die erste ist nichts
gesagt.
5d. Das Geschichtsmodell der Weltenwoche ist in der frühchristlichen Literatur
mehrfach anzutreffen.109 Einflußreich wurde Lactanz. Auch er erklärte, die Welt
werde entsprechend den sechs Schöpfungstagen sechs saecula zu je tausend Jahren
bestehen und wähnte sich selbst am Ende es sechsten Zeitalters. Dieses aber
beschloß er nicht mit dem Weltgericht wie Barnabas. Zwar erwartete er die
Geburtswehen der Endzeit, deren Schrecken in den Evangelien110 angedeutet, in
der Apostellehre zu Anfang des 2. Jahrhundert ausgeführt111 und von Lactanz breit
ausgemalt werden.112 Dann aber folge am siebenten Tag das in der Johannesapoka-
lypse dem Endgericht vorgeschaltete Tausendjährige Reich. In dieser Zeit werde
Satan gebunden sein und Christus mit den in einer ersten Auferstehung wiederbe-
lebten Märtyrern tausend Jahre das vollendete Gottesvolk regieren. Honig wird von
den Felsen träufeln, Milch und Wein aus Quellen sprudeln; Löwen und Wölfe wer-
den Gras fressen, die Tauben mit dem Habicht tändeln ... Anschließend folgt die
zweite Auferstehung und der letzte Kampf mit Satan, der sich losreißt, aber samt
seinen Trabanten gerichtet und vernichtet wird. Die Gottlosen schmoren in der
Höllenglut, die Gerechten werden in Engel verwandelt zu einem Gottesdienst in
Ewigkeit.
5e. Die Lehre vom Tausendjährigen Reich am letzten Tag der Schöpfungswoche,
der Chiliasmus, findet sich in der Antike bei Justinus Martyr, bei Hippolytos und
Tertullian, im Mittelalter bei Joachim von Fiore, bei den Hussiten und Taboristen,
sowie in der Neuzeit bei mehreren aus dem Protestantismus hervorgegangenen
Glaubensgemeinschaften wie den Wiedertäufern, den Zeugen Jehovas und bei der
Brüderbewegung der Darbysten.113 John Nelson Darby (1800 bis 1882) gliederte
die Weltgeschichte ähnlich wie Lactanz in sieben Abschnitte, die er Dispensationen,
Befreiungsschritte, nannte, deren sechster von Christi Himmelfahrt bis zu der in
Kürze erwarteten Wiederkehr des Herrn währt.114
5f. Ein Problem der Millennaristen war, daß man wissen mußte, wieviel Jahr-
tausende die Schöpfung zurücklag, um berechnen zu können, wann das Ende der
Welt eintreten würde. Theophilos von Antiochia datierte den Tod Marc Aurels
180 n. Chr. ins Jahr 5695 nach der Schöpfung.115 Der Verfasser der ersten christli-
chen Weltchronik Sextus Julius Africanus aus Jerusalem setzte um 220 n. Chr. die
Geburt Christi ins Jahr 5500 nach der Erschaffung der Welt, so daß noch über
250 Jahre auf die Posaune des Gerichts zu warten war. Hippolytos von Rom datierte
sich im Jahre 234 ins Jahr 5738 nach der Schöpfung, kam somit zu einem ähnli-
chen Ergebnis. Euseb hat in seiner Weltchronik die Zeit vor Abraham nicht zu
berechnen versucht, weil schwer zu schätzen ist, wie lange Adam und Eva im Para-
dies gelebt haben. Der Chiliasmus als Hoffnung auf ein tausendjähriges Friedens-
reich wurde bei Kant 1784 als Variante zum Ziel der Aufklärung zitiert (s. u!). Ein
politisches come back erlebte der Begriff des Tausendjährigen Reiches im NS-Staat
bei Anhängern Hitlers, obschon dieser selbst den Ausdruck als „Anmaßung“
ablehnte.116
*
5g. Die Verwendung der Schöpfungswoche als Muster für eine Periodisierung wird
als „figurale“ oder auch „typologische“ Interpretation bezeichnet.117 Sie geht davon
aus, daß der Text der Bibel einen verschlüsselten prophetischen Sinn enthalte. Die
dort geschilderten Ereignisse werden als vorausweisende Abbilder (Typen) von spä-
teren Vorgängen (Antitypen) verstanden, die sie symbolisch andeuten. Eine solche
innerhistorische Metaphorik ist nicht auf die christlich-jüdische Denkwelt
beschränkt, sie findet sich ebenso in der griechisch-römischen Überlieferung und ist
wohl ein Kennzeichen mythischen Denkens überhaupt. Der Mythos dient als Spie-
gel der Gegenwart, wenn man die historischen Perserkriege in der sagenhaften
Amazonomachie vorgebildet fand, wenn man im legendären Streit der Götter und
Giganten die realen Kämpfe der Pergamener mit den Galatern entdeckte,118 wenn
die großen Reisenden sich im Osten auf den Spuren von Dionysos, im Westen auf
denen von Herakles wähnten. So enthielt der Mythos gewissermaßen die gesamte
historia in nuce.
5h. In der Bibel selbst finden wir solche über sich selbst hinausweisenden Ereig-
nisse, wenn bei Deutero-Jesaja der Durchzug durchs Rote Meer als Hinweis auf die
Errettung aus dem babylonischen Exil aufgefaßt wird oder wenn Matthäus den
Propheten Jonas im Bauche des Walfisches als Hindeutung auf Christus in der
Unterwelt verstand.119 Der beliebteste Antitypus war Christus. Wo immer von
Opfer, von ungerecht Verfolgten, ja bloß von Holz die Rede war, erkannte man
einen Hinweis auf Christus.
5i. Die Kirchenväter haben die Bibel in diesem Sinne als Kompendium der
Geschichte aufgefaßt und umgekehrt die Geschichte als einen fortlaufenden Kom-
mentar zur Bibel verwendet. Dies geschah, indem Euseb den Tod des Maxentius im
Tiber 312 mit dem Ende der Ägypter im Roten Meer verglich oder indem Orosius
die zehn ägyptischen Plagen als Hindeutungen auf die zehn Christenverfolgungen
auffaßte. Orosius schreibt: haec in figura nostri facta sunt und zitiert damit Paulus,
der für lateinisch figura den griechischen Begriff typos benutzt.120 Nach diesem Ver-
fahren hat man auch die Schöpfungstage als Präfiguration der Weltperioden ver-
standen.
5j. Die Inkarnation als Epoche liegt unserer modernen Zeitrechnung Anno
Domini oder „nach Christi Geburt“ zugrunde. Sie geht zurück auf den römischen
Mönch Dionysius Exiguus. Er führte die Ostertafeln des Kyrill von Alexandria für
die Jahre 414 bis 442 fort, bezifferte die Jahre jedoch nicht mehr nach der Aera
Martyrum, die mit dem Regierungsantritt des Christenverfolgers Diocletian 284 als
dem Jahr 1 begann, was als Ärgernis empfunden wurde,121 sondern nach der
Fleischwerdung des Herrn, indem er das 247. Jahr Diocletians mit dem 531. Jahr
nach Christus gleichsetzte und damit den Herrschaftsantritt Diocletians auf 284
nach der Geburt Christi und diese ins Jahr 754 nach der Gründung Roms ver-
legte.122 Diese Jahreszählung wurde von Beda in seine Kirchengeschichte übernom-
men und hat sich dann im Mittelalter langsam gegen andere Ären durchgesetzt. Ihr
religiöser Ursprung wurde mehrfach als anstößig empfunden, doch hat ihr prakti-
scher Nutzen dazu geführt, daß nur das Etikett verändert wurde. Im Dritten Reich
hieß es „n. Zw.“, nach der Zeitenwende, in der DDR „u. Z.“, unserer Zeitrech-
nung, in den Vereinigten Staaten gestattet die Deutung „c. e“. die Deutung chri-
stian era oder common era. Das Erbe der Heilsgeschichte in den Staaten zeigt sich in
der Konzeption des National Museum of Natural History in Washington, wo die
Geschichte der Vergangenheit von den Dinosauriern über den Neandertaler zu
Perikles und Alexander, bis zu Caesar und dem Christenverfolger Diocletian ausge-
stellt wird.123 Die Kulturgeschichte beginnt dort erst mit der Christianisierung.
mit dem Juden Tryphon. Der Barnabasbrief reklamiert Moses für die Vorgeschichte
der Christen; die Juden hätten das Recht, sich auf ihn zu berufen, durch den Tanz
um das goldene Kalb eingebüßt.126 Ebenso hat Bischof Theophilos von Antiochia
unter Marc Aurel die biblische Überlieferung seit der Genesis für die Christen in
Anspruch genommen.
6b. Wenn Kirchenväter von „unserer Geschichte“ sprechen, meinen sie nie die
griechisch-römische Überlieferung, sondern stets die jüdisch-christliche Tradition
der Bibel. Über das Verhältnis der beiden Vergangenheiten gingen die Ansichten
auseinander. Rigoristische Autoren betrachteten die Heiden als den Dämonen, das
heißt den Trabanten des Teufels verfallen. Konziliante Christen hingegen erklärten
die Zeit vor der Verkündung des Evangeliums als Vorschule, als paidagōgia Theou,
wodurch die Völker auf ihre Bekehrung vorbereitet worden seien. Damit gewann
die neue Lehre eine zweite historische Wurzel. Neben die jüdisch-biblische Vorge-
schichte trat die antik-heidnische. Clemens von Alexandria127 verstand die helleni-
sche Philosophie als Wegbereiterin für die Offenbarung. Manche Kirchenväter gin-
gen darin sehr weit, indem sie einzelne Philosophen wie Heraklit und Sokrates
gewissermaßen als Strukturchristen betrachteten und Vergil, den Dichter der vier-
ten Ekloge, als anima naturaliter Christiana bezeichneten.128
6c. So wie die jüdischen Apologeten, namentlich Philon von Alexandria im
1. Jahrhundert n. Chr., verficht Euseb in seiner ›Praeparatio evangelica‹ die These,
daß Moses mit seinem Gesetz auch die Griechen beeinflußt und aus dem Zustand
der Barbarei herausgeführt habe. Kennzeichen für Barbarei waren für ihn nament-
lich Menschenopfer, Kannibalismus und Tötung von Alten. Kronzeuge für den
jüdischen Einfluß auf die Griechen ist für Euseb, Ambrosius und Augustinus kein
Geringerer als Platon, der während seines angeblichen Ägyptenaufenthaltes den
Propheten Jeremia getroffen und von diesem die monotheistische Lehre Moses‘ ent-
lehnt habe. Euseb nennt Platon den „attischen Moses“.129 Der entscheidende
Schritt, der das Christentum dann über das Judentum hinausgeführt habe, sei die
Predigt des Evangeliums bei allen Völkern, die Universalisierung der Frohen Bot-
schaft, die Katholizität. Mit dem Fall Jerusalems 70 n. Chr. hört für Euseb die jüdi-
sche Geschichte auf. Er betont die Einheit des Menschengeschlechts über alle kul-
turellen Unterschiede hinweg. Das Pfingstwunder vereint die nach dem Turmbau
zu Babel zerstörte Sprachgemeinschaft wieder, nun im Glauben.
6d. Neben der vorchristlichen Geschichte erforderte auch die Zeit nach der
Inkarnation, der ersten Parusie, eine Deutung, und zwar um so dringender, je län-
ger die zweite Parusie auf sich warten ließ. Dieses Erfordernis erfüllte Eusebios mit
seiner Kirchengeschichte. Ihr Thema sind die Geschicke der Gemeinde unter den
Kaisern: die Ausbreitung des Glaubens und die Verfolgung der Gläubigen, die Ein-
richtung der Bistümer und die Streitigkeiten um deren Besetzung, die Bekräftigung
der Orthodoxie und der Kampf gegen die Ketzereien. Euseb vertritt im Anschluß
an Origenes einen christlichen Fortschrittsglauben. Gott habe unter allen Völkern
die Juden erwählt, um die Menschheit zu zivilisieren. Das über Moses den Völkern
vermittelte Sittengesetz habe sich „wie ein Wohlgeruch“ (pnoē euōdēs) verbreitet
und allenthalben die rauhen Bräuche durch friedliche Verkehrsformen ersetzt. Als
dann die Menschen hinreichend vorbereitet waren, sei Christus als der Logos Got-
tes erschienen.130
6e. Im Anschluß an Melito von Sardes aus der Zeit von Marc Aurel und an
seinen Lehrer Origenes erblickt Euseb in der Gleichzeitigkeit von Augustus und
Jesus eine providentielle Fügung. Der Triumph der Römer über die Barbaren ge
währt irdischen Wohlstand, der Sieg der Christen über die Dämonen eröffnet den
himmlischen Frieden. Das sind die „zwei Blüten des Guten unter den Menschen:
die fromme Lehre und das Reich der Römer“. Augustus habe die Kriegslust der Bar-
baren gedämpft, habe anstelle der grausamen Tyrannei und der wankelmütigen
Demokratie die Monarchie als naturgemäße und gottgewollte Herrschaft begründet,
mit der nun aufgehobenen Städtefreiheit habe er die Poliskulte entwertet und durch
den Kaiserfrieden der christlichen Mission die Wege geebnet. Euseb bezieht in küh-
ner Wendung die Endreichsprophezeiungen der Psalmen und Propheten nicht auf
den Neuen Aion der Zukunft, nicht auf den Messias, sondern bereits auf die Frie-
densbringer Augustus und Jesus.131 Er verschmilzt römisch immanente und christ-
lich transzendente Geschichtsdeutung zu politischer Theologie.
6f. Eusebs Held ist der „gottgeliebte“ Constantin.132 Er habe vollendet, was
unter Augustus begann: die Einheit in Leben und Glauben – ein Gott, ein Reich,
ein Kaiser. Wie der Reichspräfekt zum Kaiser so verhält sich Constantin zu Gott, er
ist dessen Stellvertreter auf Erden und bringt als weltliches und geistliches Ober-
haupt für die Menschheit den Heiligen Geist zur Wirkung.133 Der Kampf gegen die
Trabanten des Teufels ist nun in seine letzte Phase getreten, und sobald das Wort
Gottes alle Völker erreicht hat, kann das Weltgericht stattfinden. Das römische
Reich ist, wie bei Vergil, die letzte irdische Ordnung.
6g. Die Euphorie Eusebs unter Constantin ist nachvollziehbar. Der erkennbare
göttliche Segen für Kirche und Reich aber hielt nicht an. Glaubenskämpfe zersetz-
ten die Einheit der Gemeinde, die Barbarengefahr wuchs. 378 vernichteten die
Goten das oströmische Heer bei Adrianopel. Franken und Alamannen plünderten
Gallien, die Sachsen beherrschten die Nordsee und ihre Küsten. Desungeachtet ver-
trat Bischof Ambrosius von Mailand die eusebianische Romtheologie134 und eine
universale Fortschrittsidee, indem er 384 gegen den heidnischen Senator Symma-
chus, der religiöse Toleranz angemahnt hatte, den Sieg des Christentums mit der
Formel omnia postea in melius profecerunt verteidigte. In seinem Sechstagewerk
beschreibt er, wie die Menschen durch Probieren, Üben und Nachmachen nach
und nach die Naturgüter zu nutzen lernten.135 Auf die Religion angewandt war der
Fortschrittsgedanke insofern gefährlich, als das Christentum um 400 schon längst
nicht mehr die neueste Religion war. Wäre Ambrosius konsequent gewesen, so
hätte er zur Gnosis oder zum Manichäismus konvertieren müssen.
6h. Am 24. August 410 eroberte Alarich Rom. Wie war das möglich? Dem Vor-
wurf der Heiden, der Abfall von den alten Göttern sei schuld, begegnete Augusti-
nus mit seiner Zweireichelehre und sein spanischer Schüler Orosius in ungebroche-
nem Optimismus mit einer angepaßten Fortschrittstheorie.136 Ganz im Sinne
Eusebs werden die zivilisatorischen Errungenschaften des Kaiserfriedens seit
Augustus auf die Gnade des Mensch gewordenen Gottes zurückgeführt. „Ich habe
gefunden, daß die Zeit in der Vergangenheit nicht nur ebenso schwer zu ertragen
war wie die Gegenwart, sondern daß sie um so übler war, je weiter sie von der wah-
ren Religion entfernt war. Solange das Evangelium unbekannt blieb, regierte blutige
Mordgier. Als der Glaube erschien, ging die Gewalt zurück, und sie wird ganz ver-
schwinden, sobald das Christentum allein herrschen wird – mit Ausnahme der fer-
nen Schreckenstage des Antichrist vor dem Weltgericht.“137 Orosius meint wie viele
seiner Zeitgenossen, daß man nur den rechten Glauben haben müsse, und alle Pro-
bleme verschwänden. Der bereits erreichte Zustand wird von dem Kirchenvater
gefeiert: „Überall finde ich mein Vaterland, mein Gesetz, meine Religion, in allen
Himmelsrichtungen stoße ich als Christ und Römer auf Christen und Römer.
Sicherheit und Gastfreundschaft herrschen allenthalben. Ein einziger Gott hat diese
Einigkeit geschaffen, er wird von allen geliebt und gefürchtet. Überall kann ich
durch die Gesetze den Staat (res publica) anrufen, kann ich durch die Religion mein
Gewissen befragen, durch den Verkehr die Naturgüter gewinnen. Alle Welt ist
meine Heimat, alles ist allen gemeinsam, und das ist der Vorzug unserer Zeit vor
den traurigen Zuständen der vorrömischen und vorchristlichen Zeit.“138 Orosius
ließ sich durch die ins Reich eingebrochenen Germanen nicht beirren. Sie hätten
Beute gesucht und den Glauben gefunden, sie seien bestrebt, das Reich mit ihren
Kräften zu erhalten.139
7. Augustins Zwei-Reiche-Lehre
7a. Die Nachricht von den Goten in Rom wurde keineswegs überall so bagatelli-
siert wie bei Orosius. Ganz im Gegenteil. Sie erschütterte selbst Hieronymus im
fernen Jerusalem.140 Seit achthundert Jahren hatte kein Feind die Ewige Stadt betre-
ten – was bleibt, wenn Rom gefallen ist? Ein letztes Mal erhoben die Heiden die
Klage, mit dem Christentum habe das Reich den Schutz der Götter verloren. Dage-
gen wandte sich Augustinus (354 bis 430), seit 396 Bischof von Hippo Regius im
heimischen Nordafrika. In seinem umfangreichen Werk De civitate Dei lieferte er
eine vernichtende Abrechnung mit dem römischen Stolz auf den Staat, mit seiner
Religion und seinem Geschichtsbild, dem imperium sine fine Vergils, der felicitas
temporum und der Pax Romana.141
7b. In aller Breite werden Absurditäten des heidnischen Götterglaubens und die
Kalamitäten der römischen Geschichte vorgeführt. Was ist an dem Machthunger
der Römer, an ihrer Ruhmsucht schon zu loben? Die Tugenden der Gottlosen sind
nur glänzende Laster;142 ihre politischen Taten, kulturellen Leistungen und religi-
ösen Gebräuche sind für den Christen verächtlich. Die Idee der Praeparatio Evange-
lica und die Romtheologie der älteren Kirchenväter, die auch das säkulare Gesche-
hen heilsgeschichtlich verstanden, hat bei Augustinus keine Spuren hinterlassen.
„Der Lauf der Zeiten lehrt uns, die zeitlichen Dinge zu verachten und die ewigen
zu erstreben“ – temporum cursibus ipsa nobis insinuetur doctrina contemnendorum
temporum et appetendorum aeternorum. Historia war nur als Magd der Theologie
nützlich. Sie diente zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift143 und als Mate-
rialbasis für seine Apologie. Wenn Augustinus sich nicht gegen Euseb und dessen
Reichstheologie wandte, so vermutlich deswegen, weil ihm die notwendigen Grie-
chischkenntnisse fehlten.144 Zudem polemisierten rechtgläubige Kirchenväter gegen
Heiden und Ketzer, nicht aber gegen andere katholisch-orthodoxe Autoren, auch
wenn es, wie hier, nahe gelegen hätte. Anders als Euseb und Orosius sieht Augustin
mit seiner Romkritik keinen Grund, Augustus, den Kaiserfrieden oder das Impe-
rium Romanum zu bewundern oder mit Hieronymus die Eroberung der Urbs
Aeterna durch die Goten zu beklagen.145 Er hält es mit Tertullian: nulla magis res
aliena quam publica – nichts ist uns fremder als der Staat, als die Sache der Allge-
meinheit.146 Den Christen als fremden Gast auf Erden bewegen allein Gottesliebe
und Gottesfurcht, um nach der Auferstehung zu Gott emporzusteigen. Es dürfe
den Christen nicht irre machen, daß die Mehrzahl der Menschen irdische Güter
erstrebe und dem Teufel ergeben sei, deswegen sei der noch lange nicht Sieger, denn
er werde am Ende überwunden.147
7c. Gegen die Romtheologie stellt Augustinus seine Zweireichelehre148 Sie
beruht auf einem universalhistorischen Dualismus zwischen einem guten und
einem bösen Prinzip, wie Augustinus ihn in seiner Frühzeit als Manichäer149 ken-
nengelernt haben dürfte.150 So wie Mani sein ›Lebendiges Evangelium‹ nach der
Zahl der Buchstaben des syrischen Alphabets in 22 Bücher einteilte151, so gliederte
auch Augustinus sein Werk in 22 Bücher. Bei seiner Leitidee der civitas Dei152 oder
civitas caelestis auf der einen Seite und der civitas diaboli oder civitas terrena auf der
anderen, handelt es sich nicht um Staaten, sondern um die Gemeinde Gottes und
die Gefolgschaft des Teufels. Die civitas Dei ist nicht die Kirche, wie das Mittelalter
meinte.153 Sie ist eher das „Haus“ als das „Volk“ Gottes,154 die Trennung der Grup-
pen erfolgte bereits mit dem Brudermord Kains an Abel. Seitdem zerfällt die
Menschheit unbewußt und unerkannt in die dereinst erlöste „Gemeinschaft der
Heiligen“ aus dem Glaubensbekenntnis und die zur Hölle Verdammten. Beide
Gruppen leben als civitas permixta miteinander und treten erst am siebten Welten-
tag, im Gericht auseinander.155
7d. Augustinus übernimmt von Lactanz das Gliederungsschema der Welten
woche, doch ersetzt er die Jahrtausende durch jeweils zehn Generationen. Der erste
Weltentag reiche von Adam zur Sintflut, der zweite bis Abraham, der dritte bis
David, der vierte bis zur babylonischen Gefangenschaft, der fünfte bis Christus, bis
zur Wiedergeburt des Gottesvolkes. Im sechsten Zeitalter lebt Augustin selbst, doch
lasse sich dies nicht berechnen. Augustin hatte zu viele Fehlkalkulationen kennen-
gelernt. Darum polemisierte Augustin gegen die „Chiliasten“, die auf ein Tausend-
jähriges Reich mit Essen und Trinken ohne Maß spekulierten. Wann der siebente
Tag anbreche, dieses wisse Gott allein.156
7e. Parallel zu den sieben Tagen der Schöpfungswoche benutzt Augustin die
sieben Lebensalter des Menschen zur Veranschaulichung seiner Geschichtsvorstel-
lung. Wie der Einzelne, so entwickelt sich auch die Menschheit, repräsentiert durch
das Gottesvolk, von der infantia im ersten Stadium bis zur Sintflut, über die puerita
bis zu Abraham, die adulescentia bis zu David, die iuventus bis zur babylonischen
Gefangenschaft, die gravitas bis zu Christus und die senectus im sechsten, dem vor-
letzten, ehe das Gottesreich anbricht. Die erste Stufe heiße infantia, da der Mensch
noch nicht sprechen (fari) kann, weil er sich an die Zeit vor der Sintflut nicht erin-
nert.157
7f. Wie alle frühen Christen glaubte Augustinus an das bevorstehende Jüngste
Gericht. Doch zuvor müsse die Frohe Botschaft alle Völker erreicht haben158 und
die vorherbestimmte Zahl der Erlösungsfähigen erfüllt sein.159 Sie dienen Gott als
Ersatz für die mit dem Teufel von ihm abgefallenen Engel.160 Zu den Erlösten zäh-
len Abraham, David und die Propheten sowie die wahren Christen. Natürlich rech-
net sich Augustin selbst dazu. Die Auffüllung der Zahl der Erlösungsfähigen durch
die Mission ist der einzige Vorgang, der als heilsrelevante Entwicklung für die Welt-
geschichte in Betracht kommt.161 Diesen Prozeß sucht der Teufel im eigenen Inter-
esse zu verzögern. Da er am Ende der Tage ausgespielt haben wird, verführt er die
Menschen zur Sünde und bringt sie in die Hölle. Er verlangsamt so den Geschichts-
ablauf und verlängert sein Leben. „Der Teufel ist ein Egoist“ und eine reale Macht.
Johannes nennt ihn „den Fürsten dieser Welt“. Der Mensch ist seit Adams Fall
durch die Erbsünde gezeichnet,162 im übrigen spielen Dekadenz und Fortschritt im
Geschichtsdenken Augustins keine Rolle. Die Gläubigen erwarten den Tag des
Herrn. Er bringt den ewigen Weltensabbat, einen Tag ohne Abend, ein Ende ohne
Ende. Augustins regnum sine fine erinnert an Vergils imperium sine fine, doch sei das
ewige Reich nicht das Römerreich, sondern das Gottesreich.163
7g. Bürger im Gottesreich wird nicht jeder. Augustin unterscheidet den „Alten“
Menschen, der fleischlichen Interessen wie Wohlstand und Geselligkeit gehorcht,
und den „Neuen Menschen“, den novus homo, der nur geistige Ziele wie Vernunft
und Gottesfurcht anstrebt.164 Der Gedanke stammt von Paulus. Der Neue Mensch
entsteht durch göttliche Gnade in Form einer Bekehrung, indem der „alte Adam
ausgezogen“ und der Neue Mensch „angezogen“ wird, oder aber durch eine geistli-
che Wiedergeburt, wie es in den christlichen Namen Renatus, der „Wiedergebo-
rene“, und Anastasios, der „Auferstandene“, zum Ausdruck kommt.165 Die Wieder-
geburt zum Neuen Menschen wird indes nur den Erlösungsfähigen zuteil, die turba
impiorum ist massa damnata und verbleibt im Stande des Alten Menschen. Diese
Zweiteilung der Menschheit beherrscht die Weltgeschichte von Adam bis zum finis
saeculi. Die große Masse der Gottlosen baut Städte, gründet Staaten, trägt die säku-
lare Kultur. Sie haben mit dem Erfolg für ihre zeitlichen Leistungen „ihren Lohn
dahin“.
*
7h. Augustins unpolitisches Geschichtsmodell hat in der Nachantike weniger Wir-
kung gezeigt als die Reichstheologie Eusebs. Das Schema der Weltenwoche jedoch
hat um 630 Isidor von Sevilla übernommen, es findet sich ebenfalls um 730 bei
Beda.166 Gedanken der Zweireichelehre Augustins und der politischen Theologie
des Orosius verband der bedeutendste Geschichtsschreiber der Mittelalters, der
Zisterzienserabt Otto von Freising (1112 bis 1158).167 Er verfaßte eine Darstellung
der ersten Jahre seines Neffen Barbarossa, die Gesta Friderici, und eine Weltchronik
De duabus civitatibus, deren Konzept er Augustinus entnahm, während er den Stoff
aus Euseb, Orosius und späteren Autoren schöpfte. Otto teilte die Geschichte auf
zwei Ebenen in jeweils drei Abschnitte. Die Heilsgeschichte hat einen Vorlauf in
der heidnischen Zeit, das war ein verworfener (abjectus), niedriger (humilis)
Zustand. Die finsterste Nacht (nox profundissima) beendete die Inkarnation, diese
begründete das regnum oder die civitas Christi, die ecclesia. Das ist ein blühender
(prosper), mittlerer (mediocris) Zustand, aber er enthält Gute und Böse noch unge-
schieden. Die Trennung von Weizen und Spreu erfolgt im Jüngsten Gericht.
Danach umfaßt die civitas Dei nur noch die Guten, ihr Zustand ist glücklich (bea-
tus), vollkommen (perfectus). Anders als Augustins unsichtbare civitas Dei ist diese
nun bereits gegenwärtig in der Kirche verkörpert.
7i. Die profane Geschichte der civitas terrena, bei Otto civitas perversa, beginnt
in der Zeit ante gratiam wegen der Unkenntnis des Glaubens als elender Zustand
(status miser), verschlechtert sich in christlicher Zeit, im tempus gratiae, wegen des
verweigerten Glaubens (miserior) und wird künftig, wegen der göttlichen Strafe, am
aller elendsten sein (miserrimus). Die civitas perversa ist mithin als Personengruppe
ohne institutionellen Rahmen gedacht.168 Die erzählte Geschichte fügt sich in die-
ses Dreierschema nicht ganz zwanglos ein. Denn in der ersten glücklosen Phase
werden die Patriarchen, Propheten und Makkabäer zu den Erlösten gerechnet. Die
Geburt Christi zu Beginn des sechsten Zeitalters der Weltenwoche unter Augustus
deutet Otto im Sinne der Romtheologie als providentielle Gleichzeitigkeit weltwei-
ten Friedens mit dem Erscheinen des Erlösers.169
7j. Ottos Geschichtsbild enthält progressive Elemente. Zwar wandert die
Menschheit durch das Jammertal, in hac valle lacrimarum,170 doch gibt es eine
„Spur der Wahrheit“. Alle Macht und alle Weisheit sei im Orient entstanden und
finde ihr Ende im Okzident. Verbunden damit sei im processus temporis ein Zuwachs
an Wissen, das sich nun, im Greisenalter der Welt, vervielfältigt habe und weiter
vermehre. Während die fiebernde Menschheit sich ihrem Krankenbett hin und her
wälzt und die weltlichen Belange zurückgehen, wüchsen die geistlichen Kräfte, das
Irdische zu verachten.171 Der entscheidende Fortschritt ist natürlich die Ausbrei-
tung des Glaubens, das Wachstum der civitas Dei. Sie wurde durch die Konstanti-
nische Schenkung von Gott auf den „höchsten Gipfel“, zur Monarchie über die
Völker geführt. Mit Konstantin und Theodosius beginnt nach Gottes Ratschluß das
Imperium Romanum Christianum, in dem sich die beiden civitates zur ecclesia per-
mixta, zur gemischten Gemeinde vereinen und an dessen Spitze gleichberechtigt
der Kaiser und der Papst stehen. Mit Karl dem Großen vollzog sich die Translatio
Imperii zu den Franken und Deutschen, den Teutonici.172 Barbarossas Vorgänger
Konrad III wird als 93. Kaiser seit Augustus gezählt.173 Otto wußte, daß die Konti-
nuität der Reichsidee von tiefen Krisen bedroht war. In ihnen erkannte er die Hin-
fälligkeit alles Irdischen, den notwendigen Abstieg jeder Entwicklung, die ihren
Höhepunkt erreicht hat: die mutatio rerum, den rotatus mundi, das Rad der For-
tuna, wie es in den ›Carmina Burana‹ besungen wird.174 Das Unglück soll die Sehn-
sucht nach dem Himmelreich wecken, das Glück einen Vorgeschmack von ihm
gewähren.
7k. Entsprechend der christianisierten Danielvision, wonach Rom das letzte
und größte der vier Weltreiche darstellt, erwartet Otto nach dessen Ende die Rück-
kehr des HErrn. Zuvor jedoch erscheine der Antichrist, der die civitas Christi
erniedrigt und die civitas perversa erhöht, bevor er überwunden wird. Otto verheißt
das Ende der Erde im Feuer und das Jüngste Gericht mit dem Höllensturz der Ver-
dammten und der Erhöhung der Erlösten im Himmlischen Jerusalem, wo sie mit
den Engeln in Ewigkeit zum Lobe Gottes jubilieren. Das ganze achte Buch seiner
Chronik beschreibt die bevorstehende Endzeit.175
*
7l. Die Fleischwerdung Gottes bleibt Wendepunkt im christlichen Geschichtsden-
ken. Alanus ab Insulis († 1203) aus Lille parallelisierte die Epochen des Paulus mit
den Jahreszeiten: ante legem mit dem Winter, sub lege mit dem Frühling, sub gratia
mit dem Sommer und die Zeit nach dem Gericht sub specie aeternitatis mit dem
Herbst, der Ernte des Weltenjahres.176 Etwas anders zeigt sich das zeitgleiche Drei-
stadienmodell des Zisterziensermönchs Joachim von Fiore (gest. 1202).177 Er unter-
schied das erste Zeitalter, das des Vaters (den Winter) von Adam bis Christus,
bestimmt durch das Alte Testament, gekennzeichnet durch die Furcht, ausgefüllt
durch Aktion, symbolisiert durch die Hochzeit; das zweite Zeitalter, das des Sohnes
(den Frühling) von Christus bis in Joachims nahe Zukunft, etwa 1260, bestimmt
durch das Neue Testament, gekennzeichnet durch den Glauben, ausgefüllt teils
durch Aktion, teils durch Kontemplation, symbolisiert durch das Priestertum; das
dritte Zeitalter, das bevorstehende des Heiligen Geistes (den Sommer), bestimmt
durch ein neues, ewiges Testament, gekennzeichnet durch die Freiheit, ausgefüllt
durch Kontemplation, symbolisiert durch das Mönchtum.
8. Geschichtstheologie
8a. Die Heilsgeschichte besitzt innerhalb der geschichtsphilosophischen Modelle
insofern eine Ausnahmestellung, als sie sich nicht mit konkret-immanenten Poten-
zen (wie der Natur) und allenfalls abstrakt-transzendente Faktoren (wie dem Welt-
geist) begnügt, sondern einen religiösen Glauben voraussetzt und allenthalben den
Willen des persönlichen Gottes erkennt. Die profane Sphäre des politischen und
kulturellen Geschehens bleibt weitgehend ohne Interesse. Die historia sacra ver-
zeichnet keine großen Taten und wunderbaren Werke von Menschen im Sinne
Herodots, sie zeigt keine kausale Verkettung der Ereignisse wie bei Thukydides,
keine geschichtsimmanente Entwicklung, wie Polybios sie bietet, sondern offenbart
einen höheren Heilsplan für das Gottesvolk, so daß für diese Theorie oft ein eigener
Terminus verwendet wird, man spricht von Geschichtstheologie.
8b. Wir finden eine solche metaphysische Geschichtslehre bei den monotheisti-
schen Buchreligionen: in den Lehren Zarathustras, in der Bibel und im Koran.
*
8c. Aktualisiert wurde ein heilsgeschichtliches Grundproblem, die religiöse Dignität
von Geschichte und Politik, in der Meinungsverschiedenheit zwischen Euseb und
Augustinus. Sie hat im 20. Jahrhundert zwischen dem Staatsrechtler Carl Schmitt
und dem seit 1930 katholischen Theologen Erik Peterson eine Kontroverse ausge-
löst, die weitreichende Fragen berührte.182 Zeigt die Entstehung der Pax Romana
die Fürsorge Gottes, wie Euseb meinte? Oder ist und bleibt die Menschenwelt das
Jammertal des 84. Psalms, wie Augustinus erklärte? 1922 hatte Carl Schmitt
geschrieben: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte
theologische Begriffe.“ Die Souveränität entspricht der Allmacht Gottes, die Mon-
archie dem Monotheismus, der Ausnahmezustand den biblischen Wundern usw.
Dafür verwendete Schmitt den Begriff „politische Theologie“.183 Die hier historisch
wie methodisch vorhandene Nähe zwischen den beiden Sphären Religion und
Recht erinnert an Euseb und seine theologische Rechtfertigung der römischen
Geschichte und des Kaisertums.
Auch Peterson zeigte 1935 die Parallelen, hielt sie aber aus katholisch-dogmati-
scher Sicht für illegitim. Er sprach von ihrem hellenistisch-jüdischen Ursprung und
meinte, in christlicher Tradition lasse sich Politik nur auf arianischer, d. h. häreti-
scher Basis legitimieren, wie an Euseb zu zeigen sei.184 Dieser hatte zwar das Nicae-
num unterschrieben, wurde aber trotzdem des Arianismus beschuldigt. Anders als
Euseb bestand Peterson auf einer scharfen Trennung von jenseitsbezogenem Glau-
ben und diesseitsgebundener Politik, so wie Augustinus das vertreten hatte. Ist
nicht jeder Versuch, das Himmelreich auf Erden herzustellen, des Teufels? Gottes
Gerechtigkeit verwirklicht sich erst im Jüngsten Gericht. Nachdem die Rombegei-
sterung der eusebianisch denkenden Christen ins Chaos der Völkerwanderung
geführt hatte, wurde klar, daß Euseb die christliche Verkündigung als politische
Ideologie propagandistisch mißbraucht hatte. Quod absit. Daher sollte statt des
Friedens auf Erden der Friede Gottes gesucht werden und jegliche politische Theo-
logie erledigt sein.
Dagegen wandte sich Schmitt 1970.185 Er zeigte, daß auch auf orthodox katho-
lischer Basis Politik gerechtfertigt worden ist und gerechtfertigt werden kann. War
doch für Jesus der Kaiser Tiberius, für Paulus gar der Despot Nero die gottgegebene
Obrigkeit, die den Auftrag hat, das Schwert zu führen, und der auch Christen
Gehorsam schulden.186 Und werden sie mißhandelt, so ist das nach menschlichem
Maß ungerecht, aber nach biblischem Verständnis „Gnade“, denn es ist eine Prü-
fung, die himmlischen Lohn verheißt.187 Schmitt erklärt wie Paulus für Recht, was
der Staat als Recht setzt. Das kann auch der Führer sein.188
Wenn zwei kluge Köpfe in seiner Sachfrage streiten, hat gewöhnlich jeder in
gewisser Weise Recht und in gewisser Weise Unrecht. Letzteres ist hier offensicht-
lich. Sowohl die Position von Schmitt als auch die von Peterson führt, zu Ende
gedacht, zu schwer akzeptablen Resultaten. Die Verbindung von weltlicher und
geistlicher Macht in Constantin bei Euseb, seine Verquickung von Weltgeschehen
und Heilsgeschichte degradiert die Religion, wie Peterson moniert, zu einer Magd
der Politik, reduziert sie auf eine Ideologie im Dienste der christlich gerechtfertig-
ten Macht. Ist alles, was geschieht, Gottes Wille, so müssen wir zu allem, was
geschieht, Ja und Amen sagen. Das sei ferne, aber scheint von Carl Schmitt mit
seinem Plädoyer für Euseb so gemeint zu sein.189
Die strikte Trennung von Heilsgeschichte und Weltgeschehen durch Augustinus
wiederum entwertet letzteres und erschöpft sich im Nachweis seiner Profanität und
Absurdität, die der Afrikaner minutiös vorführt. Das aber ist nur im Rahmen einer
radikalen Jenseitsorientierung annehmbar, allein für Augustinus, Peterson und
andere selbsterwählte Bürger der Civitas Dei. Hingegen Bürger der Civitas terrena,
denen Gott einen „Geist des Schlafs“ gegeben hat, „Augen, die nicht sehen, und
Ohren, die nicht hören“,190 sie werden in der Geschichte nicht demütig Gottes
Finger begrüßen, sondern Menschenwerk erblicken und zwischen Ja und Nein
unterscheiden.
8d. Die in allen geschichtsphilosophischen Konzeptionen wirksame Trost-Funk-
tion besitzt in der Heilsgeschichte eine besondere Kraft, indem sie Gewißheiten
ausspricht, die nicht durch unsichere Erfahrung und begrenzte Vernunft, sondern
durch unerschütterlichen Glauben garantiert werden. Das Trostbedürfnis kann
darin begründet sein, daß die Gläubigen wie die ersten Christen ungewöhnlichem
Leid unterworfen waren. Nicht zufällig hat ja das heilsgeschichtliche Modell eine
Erneuerung im historischen Materialismus erfahren, der seinerseits vor dem Elend
der Arbeiter im 19. Jahrhundert gesehen werden muß. Wenn es eine Entsprechung
gibt zwischen dem irdischen Elend und der Hoffnung auf höheres Heil, dann müß-
ten wir wünschen, daß beides hinter uns läge.
a. O seculum! O literae! Juvat vivere ... Vigent studia, florent ingenia – „O Jahrhundert!
O Literatur! Es ist eine Lust zu leben ... Die Studien gedeihen, die Geister blühen.“
Mit diesem Jubelruf begrüßte Ulrich von Hutten in seinem Brief an Willibald Pirck-
heimer vom 25. Oktober 1518 seine Zeit. Es ist der Ausdruck eines Epochenbe-
wußtseins, das mehrfach bezeugt ist. Um 1500 pries der Augustiner Aegidius von
Viterbo vier Errungenschaften seiner Zeit: die Mission in Amerika (praedicatio ad
gentes), den Neubau des Petersdoms (Vaticani templum inchoatum), die Erschließung
der hebräischen Bibel (lex cognita) und die humanistische Predigt in gereinigtem
Latein (elegantia laudum divinarum).1 Allbekannt ist das Morgenlied von Hans
Sachs. „Wachet auf, es nahet gen den Tag, ich hör singen im Hag eine wunnigliche
Nachtigall“. Richard Wagner hat aus diesem Lied vermutlich aus Rücksicht auf den
katholischen Bayernkönig diejenigen Strophen ausgelassen, die seine Bedeutung
entschlüsseln: „Nun daß ihr klärer mügt verstahn, wer die liebliche Nachtigall sei,
die uns den hellen Tag ausschrei: ist Doktor Martin Luther.“ Mit dem „finstern Mit-
telalter“ – seit dem 15. Jahrhundert eine verbreitete Vorstellung – ist es nun vorbei.2
b. „Die Zeiten kommen wieder“, Le tems revient, war die Devise von Lorenzo il
Magnifico, und dieses Lebensgefühl der aufblühenden Kultur äußerte sich in ver-
schiedenen Bildern. Die vergangene Zeit erscheint als Winter, dem nun ein Früh-
ling folgt; als eine Senke, aus der es jetzt wieder aufwärts geht; als eine Nacht, die
endlich wieder in einen neuen Tag hinüberführt. Der Zeitenmorgen bringt Licht
ins Dunkel, der schlafende Geist erwacht, wird neu belebt und erhebt sich wieder,
nachdem er lange darniederlag. Der umgestürzte Baum der Kultur schlägt wieder
aus. Albrecht Dürer sprach 1523 von der „itzigen Wiedererwachsung“ der Kunst
und hoffte, durch seine Arbeiten und Schriften, die sich auf Euklid, Vitruv und
Plinius stützten, das Niveau wieder zu erreichen, das vor tausend Jahren die Künste
bei Griechen und Römern einst aufwiesen.3
c. Das neue Grün im Frühjahr, der wieder ausschlagende Baum liefert den Bild-
gehalt des Begriffs Renaissance. Er findet sich zuerst 1550 als rinascita bei Vasari.
Das zugrunde liegende Zeitwort renasci wurde schon in der Antike metaphorisch
verwendet,4 so für den Phönix aus der Asche, für die wiedererstandenen Städte
Troja, Tyros und Rom, wie nach dem Galliersturm so nach dem Goteneinfall. Ruti-
lius sprach 417 vom ordo renascendi, der Kraft, durch Unglück zu wachsen.5 Verjün-
gungsmetaphern in der zeitgenössischen Publizistik konterkarierten den Nieder-
gang Roms in der Spätantike.6
d. Durch Jacob Burckhardts Buch ›Die Kultur der Renaissance in Italien‹ von
1860 wurde im deutschen Sprachgebiet „Renaissance“ als Epochenbegriff heimisch,
den Jules Michelet 1855 in Frankreich durchgesetzt hatte. Gemeint ist die Zeit von
etwa 1350 bis 1550, während der zunächst in der Toskana, dann in ganz Italien die
antike Kultur ihre „Wiedergeburt“ erlebte, um in kurzer Zeit das gesamte Europa
zu prägen. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand diese Bewegung in der Kunst. In
Architektur und Malerei wurde der Formenkanon der Gotik abgelöst durch Vorbil-
der aus der griechisch-römischen Zeit. Die frühneuzeitliche Renaissance war nicht
der erste Rückgriff auf die Antike. Ernst Robert Curtius konnte zeigen, daß es im
Frankreich des 12. Jahrhunderts eine Protorenaissance gab, daß um 1000 eine otto-
nische, um 800 eine karolingische Renaissance die Antike zum Muster erhoben hat.
Damit wurde das Wort Renaissance vom Epochen-Namen zum Typen-Begriff, ähn-
lich den Wörtern Barock oder Archaik.
e. Ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammt der Begriff Humanismus. Er
bezeichnet im Reich der Bildung, was die Renaissance im Reich der Kunst aus-
drückt. Die Bildung, zuvor ein Privileg des Klerus, verweltlichte, genauer: verbür-
gerlichte. Hatte das Mittelalter den antiken Denkern bloß eine Vorschule für das
Christentum, eine praeparatio evangelica, zugestanden – ähnlich schon Clemens,
Origenes und Euseb im Anschluß an den Galaterbrief des Paulus –, so wurden die
griechisch-römischen Autoren nun zu Vorbildern erhoben. Die Rangordnung
wurde umgekehrt.
f. Auch der Humanismus ist ein periodisches Phänomen. Die Zeit Wilhelm von
Humboldts wird als Zweiter, die Bemühungen Werner Jaegers als Dritter Humanis-
mus bestimmt. Zur Präzisierung des ersten, eigentlichen Humanismus verwendete
Eduard Spranger daher den Begriff Renaissance-Humanismus.7 Nur diese Bewe-
gung hat – anders als die abgeleiteten – ein Epochenbewußtsein entwickelt, das für
das Geschichtsverständnis prägend werden sollte.
g. Drei Mächte des Mittelalters hatten Anspruch auf das Erbe des Imperium
Romanum erhoben: der römisch-deutsche Kaiser, der Papst und der byzantinische
Basileus. Sie alle haben ihren Rang im späten Mittelalter verloren. Die Tradition des
universalen Kaisertums erlosch, als Konradin am 29. Oktober 1268 in Neapel
durch Karl von Anjou enthauptet wurde. Konradin war als Enkel Kaiser Friedrichs
II der letzte Erbe des Stauferreiches. Er war im Kampf gegen den König von Frank-
reich und den Papst unterlegen. Die spätere habsburgische Kaiserwürde blieb bloß
ein abendländischer Ehrenrang, die Zukunft gehörte den Herren der Territorial-
und Nationalstaaten.
Die Sieger über die Staufer zerstritten sich. Papst Bonifaz VIII verkündete wie-
der einmal den weltlichen Vorrang des Papsttums, daraufhin ließ ihn Philipp IV der
Schöne von Frankreich am 7. September 1303 in Anagni überfallen. Die Päpste
mußten ihre Residenz nach Avignon verlegen, ihre weltpolitische Rolle war ausge-
spielt. 1440 bewies Laurentius Valla, daß die Urkunde der Konstantinischen Schen-
kung eine Fälschung ist, und damit verlor die weltliche Herrschaft der Päpste ihre
historische Legitimation. Die anhaltenden Kriege unter den christlichen Staaten
erlaubten den türkischen Osmanen, das byzantinische Reich zu erobern. Am 29.
Mai 1453 zog Mehmed II in Konstantinopel ein. Konstantin XI, der letzte Basileus,
fiel auf der Mauer. Damit war auch der dritte Erbe Roms gestürzt.
h. An die Stelle der alten Mächte traten neue. Neben Adel und Klerus stieg das
Bürgertum empor. Es entfaltete sich nicht auf den Burgen, nicht in den Klöstern,
sondern in den aufblühenden Städten. Die Wirtschaftshistoriker sprechen vom
„Frühkapitalismus“ der Fugger und Welser, das Geldwesen erhielt eine neue Bedeu-
tung. Ein wichtiges Werkzeug des Aufstiegs war die Bildung. Schulen und Univer-
sitäten entstanden allenthalben.8
i. Die neue Bewegung zeigte zunächst politisches Gepräge. In den oberitalieni-
schen Städten erwachte bereits unter den Staufern ein Selbständigkeitsbewußtsein,
das die Autorität des römischen Kaisers deutscher Nation in Frage stellte. Dem
Selbstverständnis des deutschen Kaisertums, in der Nachfolge Konstantins zu ste-
hen, wurde die Auffassung entgegengestellt, daß die Germanen die antike Tradition
nicht fortgesetzt, sondern zerstört hätten. Die Theorie von der staatsrechtlichen
Kontinuität wurde bestritten, das Imperium Romanum erklärte man mit der Völ-
kerwanderung als erloschen. Darum griff man über die mittelalterlich-deutsche
Geschichte unmittelbar auf das klassische Altertum zurück. Dies hat in Rom Cola
di Rienzo, der Volkstribun von 1347, versucht, als er gegen Kaiser, Papst und Adel
die römische Idee der Volkssouveränität erneuern wollte, dabei jedoch dem Bünd-
nis seiner Gegner erlag.9
j. Das politische Motiv wurde durch ein kulturelles verstärkt. In der Renaissance
knüpften die bildenden Künste, im Humanismus die gelehrten Studien und die
Poesie wieder direkt an die griechisch-römische Antike an, deren Überreste nun
sorgfältig gepflegt und durch den um 1450 von Johannes Gutenberg erfundenen
Buchdruck verbreitet wurden. Anstelle des im Mittelalter verwilderten Lateins
wurde Cicero zum Stilmuster erhoben. Man glaubte, die antike Kultur erneuern zu
können. Im Vertrauen auf die seit Aristoteles vertretene These, Indien sei auch auf
dem Weg über den Atlantik erreichbar,10 segelte Kolumbus nach Amerika. Die von
Cicero überlieferte Lehre des Hiketas von Syrakus, nicht die Sonne, sondern die
Erde vollziehe die Kreisbewegung,11 inspirierte Kopernikus zur Revolutionierung
des Weltbildes.
k. Neben die politische und kulturelle Erneuerung trat dann die religiöse. In der
Reformation, deren Anfänge in England und Böhmen ja weit hinter die deutsche
Bewegung zurückreichen, vollzogen sich eine Abwendung vom traditionellen
Katholizismus und eine Rückkehr zum Neuen Testament, zur Urgemeinde und zu
den Kirchenvätern. Alle drei Spielarten der neuen Denkrichtung – Renaissance,
Humanismus und Reformation – beriefen sich auf die christlich-antike Vergangen-
heit. Die neue Zeit konstituierte sich durch den Rückgriff auf die alte.
1e. Auf der Ebene der Stadtkultur hat die progressive Zivilisationsentwicklung
ihr Ziel erreicht.24 Einen weiteren Fortschritt erwartet Ibn Khaldun nicht.25 Im
Gegenteil: nun beginnt der Abstieg nach dem Muster des klassischen Dekadenz
modells. Ausführlich schildert der Autor, wie das einfache, naturnahe Leben den
Gemeinsinn (asabiya) und den Kriegsgeist begünstigt, was zu Macht führt, dann zu
Reichtum und letztlich zum Luxus. Die Menschen begehren immer mehr und lei-
sten immer weniger, Üppigkeit und Bequemlichkeit führen zur moralischen Entar-
tung.26 Die Herrscher müssen fremde Amtsträger und Söldner anwerben; deren
Kosten belasten die Steuerzahler, und in fünf Schritten erfolgt der Niedergang.27
Das Ende ist die Machtübernahme durch unverdorbene Nachbarn. Denn während
die Städter degenerieren, bewahren die Beduinen ihre alte Tapferkeit und den
Gemeingeist. Vom Reichtum der Städte gelockt, setzen sie sich in deren Besitz.28
Damit aber wiederholt sich der geschilderte Verfall. Ibn Khaldun unterbreitet den
Herrschern ausführliche Vorschläge, die verblüffend an Machiavelli erinnern, doch
ist er nicht davon überzeugt, daß der Niedergang aufzuhalten sei. Jede Dynastie
versage in der dritten, spätestens der vierten Generation durch die Verführungen
des Wohllebens.29 Ibn Khalduns Ausführungen sind gespickt mit historischen Bei-
spielen aus der islamischen Welt; er muß sich nicht auf Platon oder Isokrates
berufen.
1f. Mit seinem zyklischen Geschichtsdenken von Aufstieg und Niedergang
nimmt Ibn Khaldun Vicos Folge von corsi und ricorsi (s. u!) vorweg und greift wie
jener zur Analogie der Lebensalter. So wie jeder einzelne Mensch, so habe jede
Dynastie, jede Stadtkultur ihr naturgesetzliches Werden, Blühen und Vergehen. Ist
der Mensch vierzig Jahre alt geworden, hat er seine Höhe erreicht, die er eine Weile
halten kann, ehe der Niedergang beginnt.30 So auch in der Politik. Unberührt vom
Auf und Ab der Kulturen ist die religiöse Sphäre, der Islam. Mohammed als der
gottgesandte Prophet, hat zwar den rechten Glauben gebracht, der auch den Auf-
stieg der arabischen Reiche ermöglicht hat, doch fällt deren weiteres Schicksal unter
das Gesetz der Vergänglichkeit. Auf die Geschichtsphilosophie Europas hat Ibn
Khaldun nicht gewirkt trotz der lobenden Worte Toynbees.31 Die mit den antiken
Geschichtsdenkern übereinstimmenden Beobachtungen und Denkfiguren bestäti-
gen die Einsicht Ibn Khalduns, daß die Menschen allzeit ähnlich sind.32
2. Boccaccios Naturtheologie
2a. Unter den frühen italienischen Zeugnissen für das neue Zeitbewußtsein ragt ein
Brief hervor, den Florentiner Giovanni Boccaccio, der Dichter des Decamerone,
1372 an Jakob Pizzinga geschrieben hat.33 Diesen Brief kennzeichnet eine tiefe
Wehmut, die ihm aus dem Vergleich der gegenwärtigen Zustände Italiens mit dem
Glanze des römischen Reiches erwuchs. So wie sein Freund Petrarca im Epos
›Africa‹ den älteren Scipio verherrlichte, rühmt Boccaccio die Leistungen seiner
antiken Vorfahren auf allen Gebieten und stellt ihnen die trüben zeitgenössischen
Verhältnisse gegenüber, insbesondere die Knechtung Italiens durch die Pharisäer
und Barbaren, d. h. Franzosen (oder Kleriker?) und Deutsche.
2b. Dennoch sieht Boccaccio einen Hoffnungsschimmer, indem er Dante
(† 1321) und Petrarca († 1374) als Geister geradezu antiken Ranges betrachtet. Zu
Recht sei Petrarca 1372 von Kardinal Philippe de Cabassoles als „ein wahrer Phö-
nix“ gerühmt worden,34 der, wie jener Wundervogel sich aus der Asche erhob, die
Musenkünste erneuert habe. Plinius überliefert, man sage, der Phönix stürbe und
werde „aus sich wiedergeboren“, wofür er das Wort renasci verwendet.35 Dante und
Petrarca, so Boccaccio, hätten durch ihr literarisches Werk den zugewachsenen Weg
zum Ruhme wieder freigeräumt, so daß in ihrer Nachfolge wieder Leistungen mög-
lich seien, die sich mit dem Altertum messen könnten. Ähnlich sahen das auch
spätere Humanisten, so der schweizerische Reformator Vadianus, der 1518 zwi-
schen Claudius Claudianus um 400 und Dante eine öde Zeit der Literatur, der
Philosophie und der Theologie konstatierte, ehe Petrarca „dem Lager der Barbarei
den Kampf ansagte.“36
2c. Boccaccio zitiert die vierte Ekloge Vergils: redeunt Saturnia regna. Die Rück-
kehr eines Goldenen, saturnischen Zeitalters – wie sie im 15. Jahrhundert auch
Marsilio Ficino vertrat37 – war bei Vergil politisch motiviert, Konstantin und die
Kirchenväter – insbesondere Lactanz und Augustinus – haben das Hirtengedicht
theologisch umgedeutet und auf Jesus bezogen;38 Diese Interpretation erscheint im
9. Jahrhundert bei Christian von Stablo in seinem Matthäuskommentar und war
im Mittelalter verbreitet.39 Indem Christus nicht nur von jüdischen Propheten,
sondern auch von heidnischen Dichtern vorhergesagt worden sein soll, schien die
Menschwerdung Gottes universal beglaubigt. Vergils Erneuerungsidee verstand
Boccaccio nicht mehr politisch oder religiös, sondern kulturell: Kunst und Literatur
erblühten aufs Neue. Die Metapher vom Licht, das bei Griechen und Römern
geleuchtet hat, später unter der Herrschaft erst der despotischen Kaiser, dann der
rohen Barbaren erlosch und neuerdings wieder zu strahlen beginnt, verwandte
Boccaccio für die Malerei seines älteren Zeitgenossen Giotto.40 Allenthalben fassen
wir wie im Handeln so im Denken die Abkehr von der mittelalterlichen Tradition,
die Rückwendung zu den alten Klassikern.
2d. Ein Problem bot das Heidentum der antiken Autoren. Das wollte natürlich
niemand erneuern. Dante fand den Ausweg, Vergil als maestro und Seelenführer auf
der Traumreise durch das Weltengebäude zu wählen, wobei diesem das Inferno und
das Purgatorium offenstanden, nicht aber das Paradies. Er war eben noch Heide.
Boccaccio milderte den Gegensatz zur christlichen Lehre durch den geschichtsphi-
losophischen Entwurf einer natürlichen, antiklerikalen Theologie, den er in seine,
um 1360 geschriebene ›Vita di Dante‹ einflocht,41 zumal auch dieser Dichter
Anfeindungen der Kirche erlebt hatte. Boccaccio führt aus, daß die ersten Men-
schen aus dem Staunen über die Ordnung in der Natur zur Ahnung eines höchsten
Wesens gelangt seien. Zu seiner Verehrung seien Kunst und Dichtung entwickelt
worden. Erleuchtet von der Natur, hätten die Menschen allmählich ein gesittetes
Leben angenommen und Könige eingesetzt, und dieser Zivilisierungs-Prozeß sei
durch die Poesie unterstützt worden.
2e. Einen ersten Höhepunkt fand Boccaccio in Solon, dem weisen Staatsmann
und frommen Dichter in einer Person, der in Athen einen Musterstaat errichtete.
Die Griechen als Lehrer hätten mit ihrer Weisheit, die Römer als Schüler mit ihren
Waffen die Welt beherrscht. Der Heilige Geist, der sich in der Bibel offenbarte,
habe bereits die heidnischen Poeten inspiriert, wie jeder erkenne, der sie mit Ver-
nunft lese. Denn so wie die Bibel uns moralisch bessern und prophetisch belehren
will, so taten dies auch die griechischen und lateinischen Autoren zuvor, beide
bedienten sich der Allegorie und des mehrfachen Schriftsinnes. Insbesondere Vergil
galt im Mittelalter als Zauberbuch.42 Die verhüllte Wahrheit, meint Boccaccio, sei
allzeit reizvoller als die nackte. Er verband die Theologie mit der Poesie. Theologie
sei die Poesie Gottes, so wie die Poesie die Theologie des Menschen. Die Spaltung
der Geschichte in eine verblendete heidnische und eine erleuchtete christliche Zeit
ist damit überbrückt.
ist dann angemessen, wenn wir ihn im Ursinne von „taugen“ herleiten und als „Taug-
lichkeit“ verstehen. Es ist das römische Ideal der Männlichkeit, denn virtus kommt
von vir und bezeichnet die Fähigkeit, sich durchzusetzen, sich zu behaupten. Virtù
meint weniger den guten Willen als die moralische Kraft, die sich vor allem in Zeiten
von Krieg und Not bewährt. Fortuna, die wechselhafte äußere Lage, die wir als gege-
ben hinnehmen müssen, und virtus, die innere Fähigkeit, die uns zu Gebote steht,
werden vermittelt durch occasio, die Gelegenheit, die Fortuna der virtus bietet und in
der sich die virtus entfaltet. Fortuna ist ein Weib, darum ist sie jungen Männern hold,
die den Mut haben, zuzupacken und nicht den Alten, die viel wissen und wenig tun.44
3c. Im Hinblick auf die Moralität des Menschen ist Machiavelli Pessimist,45 in
diesem Punkte teilt er die Auffassung der Kirche. Freilich läßt er deren Dogmatik
auf sich beruhen, es gibt keine Anzeichen für eine kirchliche Frömmigkeit Machia-
vellis. Die altrömische Religion war – so schon Kritias und Polybios –ein klug
erdachtes Mittel zur Disziplinierung des Volkes,46 die christliche Lehre aber ist,
meint er, vom Klerus mißbraucht worden. Er hat Italien moralisch verdorben und
politisch entmündigt. Das Papsttum befindet sich seit der Gründung Konstantino-
pels im Niedergang. Wo aber echtes Gottvertrauen fehlt, muß ein Staat verfallen.47
Die Kirche – und ebenso der Kaiser – ist keine göttliche Institution, sondern eine
profane Macht wie jede andere.
3d. Aus nächster Nähe hat Machiavelli das Schicksal des Reformators und Buß-
predigers Girolamo Savonarola miterlebt, dem es allein durch seine hinreißende
Rede gelungen war, die lebenslustigen Florentiner in ein reuiges Volk in Sack und
Asche zu verwandeln. 1498 vermochte ein Bund zwischen Papst und Adel, den
Dominikaner zu stürzen. Er wurde der Ketzerei angeklagt, gefoltert und aufgrund
gefälschter Protokolle verbrannt. Machiavelli führte den Sturz nicht auf die Droh-
predigten von Gottes Strafgericht über Rom zurück, sondern auf das Versäumnis
des Predigers, seine Anhänger zu bewaffnen. Erfolg hätten nur jene Propheten, die
wie mit Worten so mit Waffen zu kämpfen verstünden.48 Das Christentum trium-
phierte erst an der Milvischen Brücke.
3e. Machiavelli glaubte weder an die Erlösung durch Gnade wie Augustin noch
an die Besserung durch Erziehung wie Platon, sondern einzig an die Perfektion der
Politik. Das lehrte ihn die Geschichte. Die Menschen sind Egoisten, mal kleinere mal
größere, aber grundsätzlich einander darin gleich. Ungleich sind indessen die Mög-
lichkeiten, die eigenen Leidenschaften auszuleben. Diese werden durch Sitten und
Gesetze geregelt. Gesunde Staaten leben in Eintracht, genießen Freiheit und sind zu
großen Leistungen fähig. Gesunkene Völker frönen dem Luxus, sind in Parteien zer-
rissen und verfallen früher oder später der Herrschaft eines Tyrannen oder eines
Nachbarvolkes. Diese Zusammenhänge zu durchschauen ist für Machiavelli ein
Gebot der Klugheit. Sie ist instrumentale Rationalität; deren Zwecke sind im Prinzip
beliebig und nur nach ihrer Erreichbarkeit zu bewerten. Machiavelli ist oft als Ratge-
ber zur Ruchlosigkeit mißverstanden worden, so als vertrete er jenen Machiavellis-
mus, der den Politikern empfiehlt, sich bloß um die Staatsraison zu kümmern. Tat-
sächlich liefert Machiavelli nur Gebrauchsanweisungen für den Staatsmann in der
Form: Wenn du selbständig bleiben willst, so verbünde dich nicht mit einem Stärke-
ren. Oder: Wenn du Gegner beseitigen willst, so laß andere für dich handeln, die du
dann nach Belieben zur Rechenschaft ziehen kannst. Oder: Wenn du einen Vertrag
geschlossen hast, so halte ihn, solange das ohne Schaden für dich geht.
3f. Machiavelli behandelt Politik wie eine Technik, die fragt, mit welchen Mit-
teln gesetzte Zwecke zu erreichen sind, beziehungsweise für welche Zwecke die
gegebenen Mittel ausreichen. Er vertritt die Autonomie des Politischen, indem er
einfach beschreibt, was erfolgreiche Politiker vor und nach ihm getan haben, und
da dies häufig unsittlich war, versteht man auch den ›Antimachiavell‹, den Friedrich
der Große 1739/1740 als Kronprinz verfaßte.49 Wo Machiavelli doch einmal sittli-
che Urteile fällt, da folgen sie durchaus den Geboten der Humanität. So erklärt er,
man könne den sizilischen Tyrannen Agathokles nicht zu den größten Männern
rechnen, dafür habe er zu viele Grausamkeiten begangen.50
3g. Gleichwohl huldigte Machiavelli einem politischen Ideal. Angesichts der
endlosen Kämpfe zwischen den italienischen Städten, zwischen Kaiser, Papst und
französischem König, angesichts der Söldner, vor allem aus der Schweiz, träumte
Machiavelli von einem starken, geeinten Italien. Als den Führer und Retter ersah er
Lorenzo de‘ Medici; ihn forderte er auf, Italien von den Fremden zu befreien. Inso-
fern steht Machiavelli in der Zeitströmung der Humanisten, die unbeschadet ihrer
gemeinsamen Huldigung an die Antike und deren kosmopolitischer Humanität
Nationalisten waren. Conrad Celtes, Jakob Wimpfeling und Ulrich von Hutten
waren überzeugte Deutsche; Jean Bodin und François Hotman überzeugte Franzo-
sen; Petrarca, Bruno Aretinus und Machiavelli überzeugte Italiener.
3h. Seiner positiven Stellung zum nationalen Prinzip entspricht Machiavellis
Distanz zur imperialen Tradition. So wie die Humanisten allesamt wußte er, daß es
mit dem Imperium Romanum vorbei war. Ursache für dessen Zerfall war die mora-
lische Verderbnis der Römer und die Unsitte, „gotische“ Söldner anzuwerben. Hier
führt ihm die Erfahrung mit den Condottieri seiner Zeit die Feder. Dasselbe gilt für
die Rolle der Kirche, die als zersetzende Kraft gewertet wird. So konnten die aus
Landnot wandernden Germanen das Reich erobern. Sie haben ihren Kriegsgeist
bewahrt.51 Das tröstet angesichts der immer wieder drohenden Gefahr aus dem
Osten, namentlich seitens der Türken. Machiavelli vertritt nach der Rede von
Aeneas Silvius Piccolomini auf dem Frankfurter Reichstag 1442 wieder jene schon
von Jordanes formulierte Bollwerktheorie,52 gemäß der später Gibbon, Arndt,
Friedrich Engels und Adolf Hitler die Aufgabe Deutschlands für Europa bestimm-
ten: Schutz für den kultivierten Westen vor dem barbarischen Osten.53
3i. Aufstieg und Niedergang Roms waren für Machiavelli Musterbeispiel für die
zyklische Struktur aller Geschichte, wie sie Polybios beschrieben hat. Er sah in ihr keine
universale Entwicklung, kein Sinnganzes, sondern ein ewiges Auf und Ab, ein Geboren-
werden und Sterben in unaufhaltsamem Wechsel. Der Kreislauf zwischen Ordnung und
Unordnung im Staatsleben gemäß dem klassischen Dekadenzmodell war für ihn ein
Weltgesetz. Es sei von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, still zu ste-
hen, sie müßten steigen oder fallen. Unter eben diesem Aspekt bewertete er die Welt-
reichsfolge Daniels von Assyrien, Medien und Persien zu Rom. Sie alle sind für ihn Fälle
des Dekadenzmodells. Auf die Arbeit folgt die Ruhe, nach den Waffen kommen die
Bücher, die Kultur verbraucht die Tugend. Am Ende steht die Erschlaffung, die virtù
wandert weiter zu anderen Völkern. Aus dem Imperium entstanden die europäischen
Nationalstaaten, die nun ihrerseits derartige Kreisläufe durchmachen. Die Verderbnis
hat in Frankreich, Spanien und Italien bereits Einzug gehalten. Rechtschaffenheit
(bontà) findet sich nur noch bei den Deutschen, weil sie ihre alten Sitten bewahren.54
3j. Neben diesen Kreisläufen im kleinen übernimmt Machiavelli auch die
kosmische Zyklustheorie der Antike.55 Die biblische Kosmologie von Schöpfung
und Gericht wird kommentarlos verabschiedet, doch ereignen sich Naturkata
strophen immerhin durch göttliche Fügung. Sie bewirken eine regelmäßige Ver
tilgung der Menschheit, die für ihre Sittenlosigkeit gezüchtigt werden muß und
wegen Übervölkerung nicht mehr genügend Nahrung findet. Die Natur reinigt so
die Erde wie den Körper des Menschen, wenn er sich überfressen hat, durch Erbre-
chen und Durchfall. Es kommt zu Hungersnot, Seuchen und Überschwemmun-
gen, bei denen lediglich einige Bergbewohner überleben und eine Regeneration der
Menschheit ermöglichen. Dabei wechseln aber Religion und Sprache, so daß kaum
eine Erinnerung an die vergangene Periode überdauert.56
3k. Die Geschichte ist für Machiavelli ein Arsenal von Exempeln. Wer sie kennt
und beherzigt, wird klug für ein andermal. Denn alles, was geschieht, hat sich ähn-
lich schon einmal – oder mehrere Male – abgespielt. Darum müsse ein Staatsmann
Geschichte studieren.57 Von besonderem Interesse waren für Machiavelli die unver-
dorbenen Frühzeiten. Daher beklagt er die Vernichtung antik-heidnischer Kultur-
güter durch die Kirche, namentlich durch Gregor den Großen.58 Aber nicht alles
ging verloren. Machiavelli kommentierte die Anfänge Roms aus der eigenen politi-
schen Erfahrung. Nur solche Veränderungen sind für Staaten und Religionen heil-
sam, die zu ihren Ursprüngen zurückführen: quelle alterazioni sone a salute, che le
riducono verso i principii loro. Dies schien ihm erreichbar. So wie Poesie, Malerei
und Skulptur an einem Neubeginn stehen, so solle sich auch Kriegs- und Staats-
kunst erneuern.59 Die durch periodische Rückkehr zu den unverdorbenen Ursprün-
gen erreichbare Genesung von Religion und Staat ist eine Erneuerung, wie sie über
dem Geschichtsdenken der Renaissance überhaupt steht.
Praxis, denn er diente als Jurist dem Dritten Stand am Pariser Parlament und war
zuletzt Kronanwalt in Laon. Als junger Mann war er Karmelitermönch, bekam
einen Ketzerprozeß, wandte sich dem Calvinismus zu und galt als heimlicher Huge-
notte, so daß er 1572 nur durch Zufall dem Gemetzel der Bartholomäus-Nacht
entging. In der Folgezeit war er offiziell Katholik, vielleicht heimlich Jude – ein
gottgläubiger Christ. Das Schwanken zwischen den Konfessionen hat er in seiner
religionsphilosophischen Spätschrift gleichsam entschuldigt, insofern er mehrere
Möglichkeiten des Christseins gleichberechtigt nebeneinanderstellte. Als Anhänger
Heinrichs IV – „Paris ist eine Messe wert“ 1593 – vertrat Bodin Toleranz gegenüber
den Protestanten, forderte aber Kampf gegen die Teufelsdiener. 1580 schrieb er ein
Buch über deren Aburteilung, er stand fest im Hexenwahn seiner Zeit. Voltaire
nannte ihn darum den Generalstaatsanwalt Beelzebubs.
4b. Bodin verdankt seinen Ruhm seinen ›Six livres sur la République‹ von 1576.
Die Grundgedanken finden sich bereits zehn Jahre zuvor in Bodins ungemein
kenntnisreicher ›Methodus ad facilem historiarum cognitionem‹, wo er im
Anschluß an Aristoteles seine Lehre von der Souveränität des Staatsoberhauptes
entwickelt. Im Gegensatz zu dem Gesinnungsrepublikaner Machiavelli erklärt
Bodin die dynastisch legitimierte Monarchie für die beste aller Staatsformen. Wie
Machiavelli die praktische, so entfaltete Bodin die rechtliche Seite der Staatsraison
(ius maiestatis), und darum gilt er als der staatsrechtliche Begründer des Absolutis-
mus. Das monarchische Prinzip gliedere die Welt überhaupt: Bodin nennt den
„König“ der Bienen, den Leitstier der Rinder, den Leithammel der Schafe, den
Leitvogel der ziehenden Kraniche.60 Entsprechend sei der Diamant der König der
Steine, das Gold der König der Metalle, Sol der König der Sterne. Die Familie
werde vom Vater, die Welt von Gott, also auch der Staat vom Fürsten regiert.61 Der
König müsse, durch kein Gesetz, durch keine Körperschaft gebunden, über den
Parteien stehen. Allein das göttliche und natürliche Recht habe er zu respektieren,
d. h. die christliche Gewissensfreiheit, die Autonomie der Familie und das Privat
eigentum der Bürger. Aus letzterem leitet Bodin das Steuerbewilligungsrecht des
Parlaments ab. Zu Bodins ökonomischen Entdeckungen gehört seine Preistheorie,
in der er die Teuerung seiner Zeit zurückführt auf die aus Amerika einströmende
Geldmenge.
4c. Bodins Geschichtsauffassung steht in humanistischer Tradition. Als bestim-
mende Faktoren der historischen Entwicklung nennt er die durch Klima und
Boden geprägte Natur der Völker – auch hierin folgt er Aristoteles – und – das ist
kennzeichnend für das 16. Jahrhundert62 – den Umlauf der Gestirne. Allerdings
äußert er doch eine gewisse Skepsis.63 Gemäß dem seit der Spätantike angenom
menen Alter der Welt rechnet Bodin so wie Luther mit einer Geschichtszeit von
6000 Jahren. Diese teilt er in drei Abschnitte auf. Die ersten 2000 Jahre befaßten
sich die Menschen im Orient mit religiösen Themen, insbesondere mit der Him-
melskunde. Die zweiten 2000 Jahre gründeten sie im Mittelmeergebiet Städte und
gaben sich Gesetze. Die dritten 2000 Jahre, beginnend mit dem Tod Christi, brei-
tete sich der Glaube aus, neue Erfindungen wurden gemacht, aber auch unter den
wilden Nordvölkern große Kriege geführt.64
4d. Mit den älteren Verlaufsmodellen rechnet Bodin ab. Die Idee vom Golde-
nen Zeitalter trifft sein Spott. Damals lebten die Menschen wie die Bestien unter
dem Faustrecht: Wo wären wir heute, wenn es seither immer weiter abwärts gegan-
gen wäre?65 Ebenso verwirft er die Prophetie Daniels. Die noch immer in Deutsch-
land von Luther, Melanchthon und Sleidan vertretene Abfolge der vier Weltreiche
erklärt Bodin für einen inveteratus error, alteingefleischt und daher schwer auszurot-
ten. Ihn bekämpft er mit historischen und ideologiekritischen Argumenten. Einer-
seits beruhe das Schema auf einem längst veralteten Kenntnisstand – wo sind die
Reiche der Araber, Tartaren und Türken? –, andererseits diene es der Selbstüberhö-
hung des römisch-deutschen Kaisers, dem Bodin keinen Vorrang vor dem König
von Frankreich mehr einräumt. Aus diesem Grunde war auch vorher schon das
Weltreichschema verworfen worden, im 12. Jahrhundert bei Hugo von Sankt Vic-
tor, im 14. Jahrhundert dann bei Petrarca.66
4e. Bodin teilt die Ansicht Machiavellis, daß der Mensch sich im Wesen stets
gleich bleibe. Er zitiert den Prediger Salomonis, nichts Neues geschehe unter der
Sonne.67 Dies erlaubt ihm, wie zuvor Machiavelli, die Geschichte als Lehrbuch des
Lebens zu benutzen. Er beruft sich auf Ciceros Kennzeichnung der Geschichte als
magistra vitae und erklärt, das menschliche Leben habe sich nach den heiligen
Gesetzen der Geschichte (sacrae leges historiae) zu richten wie die Darstellung des
menschlichen Körpers nach dem Kanon Polyklets, denn die Historie biete ein Bild
der Wahrheit, ein getreues Gemälde der Geschehnisse.68
4f. Dementsprechend verweist Bodin auch auf die Zyklik der Geschichte. Im
Hinblick auf das Dekadenz-Modell führt er an, nach einem ewigen Naturgesetz
vollziehe sich der Umschwung der Dinge wie eine in sich selbst zurücklaufende
Kreisbewegung im ständigen Wechsel zwischen Laster und Tugend, Wissen und
Ignoranz, Finsternis und Licht.69 Mit den Humanisten seiner Zeit teilt er die
Annahme einer tausendjährigen Kulturarmut während des Mittelalters und erklärt
sie mit dem wechselhaften Geschick, der vicissitudo auch der Literatur und der
Künste. Sie würden durch geniale Männer hochgebracht, wüchsen und blühten
eine Zeit lang, würden dann aber alt und schlaff, stürben ab, um in Vergessenheit
begraben zu werden. Diese Gesetzlichkeit sei von den Goten vollzogen worden, sie
hätten die Bibliotheken und Kunstwerke vernichtet, so daß die Barbarei wieder
eingekehrt sei.
4g. Originell ist die Bewertung dieses Kulturkreislaufs, dieser rerum omnium
certa conversio. Sie beweist für Bodin nicht die unausweisliche Vergänglichkeit, son-
dern den regelmäßigen Neuaufstieg. So wie der Bauer nach der Brache eine desto
reichere Ernte erwarte, so erhole sich die Kultur in einer Verfallszeit, um desto schö-
ner wieder aufzublühen.70 Hier wird Hegels dialektischer Pendelschlag vom Mittel-
alter zur Neuzeit vorweggenommen. Ebenso finden wir hier den später von Herder
aufgegriffenen Hinweis, daß der Rückgriff auf die antiken Klassiker unter Almanzor
im muslimischen Spanien, ja vorher schon in Nordafrika und im Nahen Osten
begonnen habe.71
4h. Das Verhältnis zwischen Gegenwart und Antike sah Bodin unter dem
Aspekt eines Wettbewerbs. Helden wie Cato und Fabricius, Camillus und Alexan-
der gebe es ebenfalls in der Gegenwart. Auch an glorreichen Neuerungen fehlte es
nicht. Allein die Erfindung der Buchdruckerkunst stelle alle Leistungen der Alten
in den Schatten. Hinzu kämen die Verwendung des Kompasses, die Entdeckungs-
fahrten über die Weltmeere, das Schießpulver, die Abschaffung der Gladiatoren-
spiele und ähnliches. Bodin erklärte, daß die Neueren die von den Alten unvollen-
det gelassenen Errungenschaften verbessert der Nachwelt übergäben. Durch den
Hinweis auf diese Fortschritte wird der Gedanke einer Konkurrenz mit der Antike
insofern aufgegeben, als die Neuen und die Alten nicht auf dieselbe Startlinie zu
bringen sind, weil vielmehr die Neueren da weitermachten, wo die Alten aufgehört
haben. Aus dem Wettlauf wird ein Staffellauf. Somit kommt doch wieder die Idee
eines Gesamtprozesses in das Geschichtsbild.72
4i. Musterfall für den möglichen Aufstieg ist ihm die Kulturgeschichte der
Deutschen. Sie selber gäben zu, sie hätten einstmals in ihren Sümpfen und Wäldern
nicht viel anders als die wilden Tiere gehaust und einen altüberkommenen Haß auf
die Bücher gehegt. Nun aber, meint Bodin, seien sie so weit fortgeschritten, daß sie
an Humanität die Asiaten übertreffen, in der Kriegskunst die Römer, in der Fröm-
migkeit die Hebräer, in der Philosophie die Griechen, in der Geometrie die Ägyp-
ter, in der Mathematik die Phönizier und in der Kenntnis der Gestirne die Babylo-
nier. Opificiorum varietate populis omnibus superiores esse videantur (Germani)– „In
der Vielfalt der Handwerke sind die Deutschen offenbar allen Völkern überlegen.“
Als Grund für diesen Aufschwung nennt Bodin die „Disziplin“, die, wo sie fehlt,
auch den Niedergang verschuldet.73 Damit relativiert Bodin das Kreislaufschema.
Es läßt sich durchbrechen. Fortschritt ist möglich.
meint er, falsch und widersprüchlich. Das wahre Altertum ist nämlich die jetzige,
späte Zeit, sie ist das Greisenalter der Welt, nicht jene junge und frühe Zeit, in der
die sogenannten Alten lebten.75 Die Alten seien eigentlich die Jungen. In der litera-
rischen Variante dieser Kontroverse in Frankreich, der ›Querelle des anciens et des
modernes‹ argumentierte Fontenelle († 1757) dann ebenso (s. u!).
5b. Bacons Begründung lautet: Jene antike Zeit ist aus späterer, gegenwärtiger
Sicht alt, aus damaliger, vergangener Perspektive aber jung. Der Unterschied der
Altersbezeichnung beruht auf der Konzeption des alternden Subjekts. Wer die Grie-
chen als die Alten bestimmt, unterstellt eine spirituelle Postexistenz, in der sich der
Vorgang des Alterns bis heute abgespielt hat. Derselbe Gedanke liegt der Redensart
von den „alten Römern“, den „alten Germanen“ zugrunde: sie sind, relativ zu uns,
desto älter, je jünger sie, relativ zum Alter der Menschheit, sind. Die „Modernen“
erscheinen in dem verworfenen Bilde als separates Subjekt, dessen jüngeres Alter
mit dem inzwischen höheren Alter der anderen Subjekte verglichen wird. Wer hin-
gegen, wie Bacon, die Modernen die „Alten“ nennt, hat ihnen eine spirituelle Prä-
existenz vorgeschaltet. Verglichen werden die verschiedenen Lebensstufen der
alternden Menschheit. Insofern liegt eine andersartige Idee der Gesamt-Geschichte
vor – an die Stelle der Mehrzahl von Völkern ist die Einheit des Menschenge-
schlechtes getreten. Bereits Otto von Freising hatte mit dem Blick auf die „Alters-
weisheit“ der Späteren den Fortschritt über die Antike hinaus begrüßt76.
5c. Die von Bacon wieder vertretene Einheit der Geschichte beweist ihm die
Überlegenheit der Modernen. So wie wir die größere Weltkenntnis und das reifere
Urteil eher von einem älteren Menschen erwarten, so wäre auch von unserer Gegen-
wart, wenn sie nur ihre Kräfte kennen würde (si vires suas nosset), mehr zu erwarten
als von jenen früheren Zeiten. Während ein derartiger Gedankengang für die
Geschmacksbildung, um die es in der ›Querelle‹ ging, kaum gerechtfertigt ist, weil
man hier nicht von langfristigen Lernprozessen sprechen kann, trifft er für die Wis-
senschaft zu. Deren Fortschritt beruht auf der Kontinuität der Tradition, die es
erlaubt, die gesamte Geschichte mit dem Bewußtseinskontinuum eines einzigen
Menschen zu vergleichen. Der Unterschied liegt darin, daß sich im Individuum
Erinnerungen mit gelegentlicher Nachhilfe von selber halten, während in der
Geschichte die Erfahrungen der Früheren von den Späteren aus Büchern gelernt
werden müssen. Daran erinnert Bacon mit der Parenthese si vires suas nosset. Bacon
beweist, daß die Gegenwart die Vergangenheit überwinden kann, macht aber
zugleich deutlich, daß dies nicht auf einer organischen Gegebenheit beruht, son-
dern allein auf der Bereitschaft, aus den Erfahrungen früherer Zeiten zu lernen. Die
Überlegenheit des Altertums wird zwar aufgehoben, aber nur um den Preis einer
dauernden Auseinandersetzung mit ihm.
5d. Den Beginn der Geschichte fand Bacon im Sündenfall, der für ihn weder
bloß heilsgeschichtliches Faktum noch allein profangeschichtliche Metapher ist. Der
Mensch sei damals um seine Unschuld und seinen Einklang mit der Natur gekom-
men, könne aber beides wiedergewinnen: das erstere durch den religiösen Glauben,
das letztere durch Kunst und Wissenschaft.77 Aller Fortschritt ist eine Rückkehr.78
5e. So wie einen Kreislauf im Großen erkennt Bacon Zyklik im Kleinen. In
seinem 58. Essay von 1626 ›Of Vicissitude of Things‹ zeigt er das mit dem Lebens-
altergleichnis für die Politik: In der Jugend eines Staates florieren die Waffen, im
mittleren Alter die Wissenschaften, dann diese mit den Waffen zusammen, im Alter
des Niedergangs blühen Technik und Handel. Auch die Wissenschaften entwickeln
sich nach diesem Muster: anfangs kindisch, in der Jugend unternehmend, im Man-
nesalter gefestigt und im Greisenalter dry and exhausted.
5f. Unter diesem Blickwinkel teilt Bacon die Geschichte in drei revolutiones et
periodi ein: die der Griechen, der Römer und die des gegenwärtigen Westeuropa.
Das Mittelalter fällt wieder heraus. Von den überschaubaren 25 Jahrhunderten der
Vergangenheit seien kaum sechs fruchtbar gewesen, auch die Geschichte habe ihre
Wüsten.79 Bacon begreift die Geschichte als Einheit, deutet sie aber nicht als strin-
genten Prozeß. Auch bei ihm lebt noch zuviel antike Pragmatik.
5g. Im Rahmen seiner Gesamtkonzeption will Bacon mit seinen methodischen
Überlegungen der Zukunft einen neuen Weg eröffnen, er will die vom rechten Pfad
systematischen Denkens abgeirrten Menschen durch die Aufstellung fester Prinzi-
pien aus ihrem Labyrinth des Irrtums herausführen und dem curriculum der Wis-
senschaften Ziele setzen, zu denen ein Fortschritt, ein progressus und profectus mög-
lich ist. Bacon denkt hier keineswegs allein an die Naturkunde, sondern auch an
Logik, Ethik und Politik.80 Recta ratio und vera religio seien die Mittel gegen einen
Mißbrauch des Wissens. So hofft Bacon auf eine regeneratio scientiarum, zu der er
die semina veritatis für die Zukunft ausgestreut habe.81 Diese Anspielung auf das
Gleichnis vom Sämann82 ist bewußt gewählt; auch Bacon rechnet damit, daß eini-
ges unter die Dornen, einiges auf den Weg fällt und ist von dem Glauben an einen
sicheren Fortschritt weit entfernt. Er sucht noch keine Garantie dafür in höheren
Mächten, alles hängt vom unvorhersehbaren Verhalten der Menschen ab. Mit sei-
ner Idee einer regeneratio gehört sein Denken eher der Renaissance als der Aufklä-
rung an.
6. Vicos Kreislauflehre
6a. Der letzte, nachgeborene Vertreter einer humanistischen Zyklustheorie war
Giambattista Vico (1668 bis 1744). Er lehrte Rhetorik in Neapel, befaßte sich aber
als Philosoph mit allen Disziplinen unter methodischen Gesichtspunkten.83 1708
empfahl er mit seiner Rede ›De nostri temporis studiorum ratione‹ im Anschluß an
Francis Bacon eine Erneuerung des Wissenschaftsbetriebes im Geiste der Antike.
Denn trotz des Zuwachses an Wissen und Können sei von den Alten noch immer
viel zu lernen. Es komme darauf an, die Vorzüge beider Zeitalter zu verbinden:
utriusque aetatis commoda componere.84 Vico widersprach Bacons Vermutung, daß
nur die leichtgewichtigen Werke der Alten, vom Zeitenstrom getragen, auf uns
gekommen, die schwerwiegenden aber darin untergegangen seien. Umgekehrt
meint er: das Bewährte wurde und wird bewahrt; und wer weiß, was unter den
neueren Schriften die Probe der Zeit besteht? Also legamus antiquos prius – lesen wir
zunächst die Alten!85 Antike und Humanismus haben Vicos Werk geprägt.
6b. In dem genannten Traktat wendet sich Vico methodenkritisch gegen die
cartesianische Physik, die vorzugsweise mit mathematischer Analysis und logischen
Ableitungen arbeitete. Dagegen vertraute Vico auf den gesunden Menschenver-
stand, den sensus communis, der durch Beobachtung und Erfahrung das wenige
sichere, auf Logik begründete Wissen um Erkenntnisse bereichert, die immerhin
die Wahrscheinlichkeit für sich haben. Gegenüber dem Anspruch der Naturwissen-
schaft auf alleinige Exaktheit betont Vico, daß der Mensch nur das wirklich verste-
hen können, was er selber gemacht habe, was psychischer Natur ist. Die physische
Natur lasse sich zwar beobachten, hingegen könne sie niemand als der Deus Opti-
mus Maximus, der Schöpfer begreifen.86 Spricht der Archeus Terrae zu Faust: „Du
gleichst dem Geist, den du begreifst“, so sagt Vico seinem Leser: „Du begreifst nur
den Geist, dem du gleichst.“
6c. Im Jahre 1725 publizierte Vico sein geschichtstheoretisches Hauptwerk, die
›Scienza Nuova‹. Das Werk fand keinen Anklang, denn es stand quer zu den Denk-
weisen der Zeit. Das Thema dieser „vernunftgegründeten Theologie der göttlichen
Vorsehung in der Geschichte“87 ist weder Heilsgeschichte (die Geburt Jesu ist in
diesem Konzept historisch unerheblich) noch Fortschrittsverheißung (abgesehen
von einem zaghaften Ausblick), sondern die gemeinschaftliche Natur der Völker. Es
sei eine Leistung der Philosophie, so schrieb er schon 1708, in weit auseinander
liegenden, verschiedenartigen Dingen die Ähnlichkeiten zu entdecken: facultas phi-
losophorum propria est, ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes.88
Die Geschichten aller Nationen verlaufen gemäß Vico nach demselben zyklischen
Grundmuster und machen zusammengenommen die ideale, ewige Geschichte
aus.89 Der Kreislauf heißt Aufstieg, Fortschritt, Stillstand, Verfall und Ende. Das
weist auf Spenglers Morphologie voraus.90 Doch folgt dem corso der ricorso, kein
„Rücklauf“, sondern die „Wiederkehr der menschlichen Einrichtungen“, und sie
erscheint Vico „wunderbar“. Das ist für ihn nicht trostlos, wie für Augustin,91 son-
dern erweist die „Harmonie, die ganze Schönheit der historischen Welt“.92
6d. Vico erkennt allenthalben den schon „von den Ägyptern“ festgestellten
Dreitakt: ein Zeitalter der Götter, eines der Heroen und eines der Menschen.93
Überall sieht er dieselben organischen Stadien im Völkerleben. Sie werden in kon-
zentrischen Ringen beschrieben. Ein erster Ring ist die zivilisatorische Entwicklung
vom Leben im Wald, dann ihn Hütten, weiter zum Bau von Städten und zuletzt
von Akademien. Sie schützen nicht vor der „Barbarei der Reflexion“.94 Ein zweiter
Ring, der denselben Kreislauf beschreibt, kennzeichnet die moralische Entwick-
lung. Es ist der Durchgang von einer Urbarbarei über drei Kulturphasen, eine gött-
Kuppel Brunelleschis auf dem Dom von Florenz.102 Als heimlicher Optimist hält er
die Fatalität des Verfalls für überwindbar. Vico glaubt an den Fortschritt der Huma-
nität, denn diese werde sowohl durch bewußte und einsichtige Politik als auch durch
die genannten blinden Kreisläufe befördert. Vico ist stolz auf die in seiner Zeit
erreichte Zivilisation, an der es nur in einigen zurückgebliebenen Völkern noch
haperte.103 Alles ändert sich, so meinte er, wenn eines Tages die Nationen durch ein
Bündnissystem miteinander vereint sind und der Egoismus dem Streben nach Wohl-
fahrt für alle weicht. Dies zu erkennen, sei Aufgabe einer vernunftbegründeten
Theologie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte. In der Weisheit und in der
Beredsamkeit aber seien die Alten noch nicht übertroffen.104 Hier gibt es Nachhol-
bedarf. Mit diesem Erneuerungsgedanken schließt Vico, wenn auch verspätet, an die
Renaissance-Humanisten an. Sein Ausblick gehört schon in die Aufklärung.
Bild eines Wettstreites ein. Leone Battista Alberti († 1472) glaubte bereits, das
Altertum sei in der bildenden Kunst übertroffen worden.5 Daraus erwuchs unter
Ludwig XIV die durch Perrault 1687 ausgelöste Kontroverse, ob die Antike oder
die Moderne es weiter gebracht hätte: die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹.
Im Hinblick auf die technischen Leistungen wurde der Streit bald zugunsten der
„Modernen“ entschieden, in Anbetracht der künstlerischen und literarischen Mei-
sterwerke fanden jedoch die Alten bis zu Wilhelm von Humboldt6 und Karl Marx7
entschiedene Verfechter.
1b. Auf der theoretischen Ebene hat – im Anschluß an Francis Bacon – Fon-
tenelle8 den Streit gelöst, indem er die Menschheit als sich entwickelndes Einzel
wesen ansah,9 und diese Metapher bleibt für die Aufklärungshistorie von tragender
Bedeutung. Es ist das Bild einer Erziehung des Menschengeschlechts. Die Griechen
kannten das Bild noch nicht, ihnen fehlte die Person des Erziehers: Die Götter
kamen nicht in Betracht, weil sie uneinig waren. Vertraut war den Griechen da
gegen die Idee des Fortschritts zur Zivilisation, zur Humanität. Juden und Christen
hingegen kannten den Gedanken der paidagōgia theou, der univeralhistorischen
Erziehung. Sie verfügen in ihrem Gottesgedanken über einen Erzieher. Indessen
war bei ihnen der Erziehungsgegenstand der Glaube, nicht die Kultur. Erst in der
Neuzeit wurden beide Traditionen so vereint, daß dem jüdisch-christlichen Erbe
Gott oder eines seiner Substitute als Erzieher entnommen wurde, dem griechisch-
römischen Denken hingegen der Unterrichtsgegenstand: die Zivilisation, die Mora-
lität, die Vernunft.
1c. Die ersten Fanfarenstöße kamen aus Frankreich. Enfin toutes les ombres son
dissipées. Quelle lumière brille de toutes parts! Mit diesen enthusiastischen Worten
begrüßte der damals 23jährige Turgot,10 der spätere Finanzminister Ludwigs XVI,
in seiner Rede vom 11. Dezember 1750 an der Sorbonne die „Zerstreuung der
Wolken“ und das nun „allseits glänzende Licht“ der Aufklärung. Im siècle de la
Raison rief er: „Europa erhebe dich aus der Nacht, die dich bedeckte!“ Die Sitten
werden milder, der Geist wird klarer und der Geschmack besser. Die Wissenschaft
blüht auf, die Völker kommen einander näher und fördern den Fortschritt. Diesen
als Gesetz der Geschichte entdeckt zu haben rühmte später Condorcet an seinem
Lehrer Turgot. Dieser erklärte, die Menschheit marschiere à une perfection plus
grande, wenn auch in kleinen Schritten. L’humanité se perfectionne11.
1d. Turgots geschichtsphilosophischer Optimismus bezüglich der aufgehen-
den Sonne der Vernunft fand nicht überall Anklang. Wo viel Licht ist, ist starker
Schatten. Gewiß, doch auch im Schatten kann es zur Erleuchtung kommen, nicht
nur unter dem Feigenbaum von Bodhgaya bei Buddha, sondern auch unter jener
Eiche an der Straße nach Vincennes, wo Jean Jacques Rousseau im Oktober 1749
rastete. Beiden Denkern offenbarte sich unter einem Baum der Erkenntnis die
dunkle Seite der Zivilisation. Rousseau berichtet in seinem Brief an Malesherbes
vom 12. Januar 1762 und in seinen Konfessionen, wie er damals zufällig im
›Mercure de France‹ auf das Preisausschreiben der Akademie von Dijon getroffen
sei, wo gefragt wurde, „ob der Fortschritt der Wissenschaft und Künste zur Ver-
derbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen habe“. Dieses Thema, schreibt
Rousseau, habe bei ihm einen Schock ausgelöst, eine halbe Stunde seien ihm unter
heftigem Herzklopfen die Tränen geflossen, und fortan sei er ein anderer Mensch
geworden.
1e. Beraten von Diderot, den er im Gefängnis von Vincennes besuchte, verfaßte
Rousseau seine Antwort an die Akademie, die ihn über Nacht berühmt machte. Sie
trug ihm den Preis ein. Die frühen Griechen, insbesondere die Spartaner erschienen
Rousseau Muster an Tugend. Doch sei diese durch Verfeinerung des Lebens unter-
graben worden, so daß die Makedonen Herr über Hellas wurden. Eine entspre-
chende Entwicklung fand Rousseau bei den ursprünglich tugendhaften Römern,
bis sie, im Luxus degeneriert, von den barbarischen Germanen unterworfen wur-
den. Rousseau verwendet das klassische Dekadenzmodell,12 das er Seneca entnom-
men haben dürfte, und bezieht es auf die europäische Geschichte. Die ländlich
gesunden Sitten seien durch wachsenden Wohlstand, durch die Vervollkommnung
der Wissenschaft und Künste verdorben worden. Zum Glück der Menschheit hätte
das nichts beigetragen – im Gegenteil. Dies wird in grellen Farben ausgemalt. Wel-
che Erfindung, welche Neuerung hätte keine üble Nebenwirkung gezeitigt? Selbst
die Buchdruckerkunst diente laut Rousseau zwar nicht ihm, aber anderen dazu,
Irrtümer und Extravaganzen zu verbreiten. Vier Jahre später beantwortete Rousseau
wiederum eine Preisfrage der Akademie von Dijon. Es ging um den Ursprung der
Ungleichheit unter den Menschen. Auch sie war für Rousseau das Ergebnis des
Zivilisationsprozesses und das Grundübel der modernen Gesellschaft. Rousseau
glaubte, ähnlich wie Kyniker und Stoiker, der Mensch sei gut von Natur, werde
aber durch die selbstgeschaffenen, gleichwohl übermächtigen Verhältnisse korrum-
piert. Die Maxime, die man aus seiner Lehre folgerte, müßte daher heißen: Retour
à la nature! Dies ließ hoffen.
Herrschaft des Klerus die Geister verdunkelt hat? Hier half die alte Idee einer Erzie-
hung des Menschengeschlechts. So wie Clemens von Alexandria und Eusebios von
Caesarea die heidnische Philosophie als paidagogia Theou , als Vorbereitung auf
Christus hin gedeutet hatten, so verstand der Katholik Turgot in seiner Rede vom
3. Juli 1750 die christliche Religion als Vorschule für das Zeitalter der Vernunft14.
Das Christentum habe anstelle des Götzendienstes die Verehrung des einen Schöp-
fergottes und allgemeine Menschenliebe gelehrt und mit den barbarischen Zirkus-
spielen Schluß gemacht. Da die Fürsten den himmlischen Richter fürchten müß-
ten, sei der Tyrannei eine Grenze gesetzt. So wird das Christentum durch einen
katholischen Theologen in die Geschichte der Zivilisation eingeordnet.
2c. Das Gegenstück auf protestantischer Seite bietet in der Praxis der humane
Geist der Franckeschen Stiftungen; in der Theorie der Dichter und Kritiker Gott-
hold Ephraim Lessing (1729 bis 1781).15 Der Pfarrerssohn aus Sachsen lebte und
wirkte in Berlin, Breslau und Hamburg und wurde 1769 Bibliothekar in Wolfen-
büttel. In seiner 1780 erschienen Schrift ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹16
erklärt er, „was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung
bei dem ganzen Menschengeschlechte“ (§ 1). Lessings „Vorbericht“ betrachtet alle
positiven Religionen in diesem Sinne, im weiteren befaßt er sich jedoch vor allem
mit der jüdisch-christlichen Religion. Deren Vorrang konnte Lessing noch rein
historisch begründen. Tatsächlich hat keine Religion derartige Wirkungen gezeitigt
wie das Christentum.
2d. Lessing teilt die Weltgeschichte in drei Lebensalter ein. Die alttestament
liche Zeit versteht er als das „Kindesalter“ der Menschheit (§ 70). Dem entsprach
das erste „Elementarbuch“ (§ 26), aus dem die Menschen die Einheit Gottes begrei-
fen und den natürlichen, primitiven Polytheismus und Fetischismus überwinden
lernten. Dies war das Alte Testament. Da aber jedes Elementarbuch nur für ein
gewisses Alter gut ist (§ 51), heißt es: „Ein beßrer Pädagog muß kommen und dem
Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen – Christus kam“
(§ 53). Der Schüler „war zu dem zweiten großen Schritte der Erziehung reif“
(§ 54). Das zweite, bessere Elementarbuch ist das Neue Testament (§ 64), aus dem
der ins „Knabenalter“ getretene Jüngling die „Lehre der Einheit des Menschen
geschlechts und der Unsterblichkeit“ aufnimmt (§ 71).
2e. In dieser zweiten Phase glaubt Lessing noch seine Zeit befindlich. Aber er
meint, daß auch diese zu Ende gehe, um einer dritten Periode zu weichen. Hier
stützt er sich auf Joachim von Fiore (§ 88). Lessing erklärt, in dieser kommenden
Zeit werde auch das Neue Testament entbehrlich (§ 72) und durch ein erhofftes
„neues ewiges Evangelium“ ersetzt (§ 86). Joachim hatte nach dem Zeitalter des
Vaters und dem des Sohnes das des Heiligen Geistes prophezeit und nach dem
Alten und dem Neuen Testament eine dritte, ewige Frohe Botschaft erwartet. So
auch Lessing. Er warnt jedoch davor, das Neue Testament allzu früh aus der Hand
zu legen, bevor alle „Mitschüler“ es aufgenommen haben (§ 68). Eine dritte Heilige
Schrift lieferte dann erst 1830 Joseph Smith junior mit dem Buch Mormon, nicht
ganz im Geiste Lessings.
2f. Eine wesentliche Erziehungsleistung der Bibel findet Lessing in der Tatsache,
daß in ihr alle Völker sich an demselben Text heranbilden und von daher zu einer
Einheit finden, die niemals erreicht würde, „wenn jedes Volk für sich besonders sein
eignes Elementarbuch gehabt hätte“ (§ 66). In der bevorstehenden dritten Periode
erwartet Lessing die „völlige Aufklärung“ (§ 80), die „Zeit der Vollendung“ (§ 85).
Denn „die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem
Einzelnen“ (§ 82). Diese dritte Phase hält Lessing für möglicherweise ewig (§ 20).
2g. Lessing stimmt bei dieser Einteilung der Weltgeschichte in Altersabschnitte
mit der heilsgeschichtlichen Tradition überein, nicht aber im Inhalt der Erziehung:
die Offenbarung sollte bei ihm nicht den Glauben festigen, sondern die Vernunft
leiten, bis diese selbst imstande sei, selbständig zu denken (§ 36; 76). Lessing
behauptet den „Nutzen und die Notwendigkeit der Erziehung“ durch Offenbarung
(§ 21), aber er erweist lediglich den Nutzen, nicht die Notwendigkeit. Er räumt
nämlich die Möglichkeit ein, daß das Neue Testament den menschlichen Verstand
nicht aus göttlichem Licht, sondern nur durch jenes, „welches der menschliche
Verstand selbst in die Schrift hineintrug“, erleuchtet habe (§ 65), und behauptet
geradezu: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst
haben könnte; sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwin-
der und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts,
worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen
würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“ (§ 4).
So wie der Rechenmeister dem Schüler das Resultat im voraus verkünde, um ihm
eine Kontrolle zu ermöglichen, so enthalte die Offenbarung Wahrheiten, die durch
rationale Begründung in Vernunftwahrheiten erhoben werden können (§ 76). Dies
zeige sich zwar erst nachträglich, beschleunige aber, wie Lessing meint, langfristig
den Fortschritt in der Erziehung. Kurzfristig, meint er, kämen begabte Kinder, wie
Griechen und Römer, auch ohne Lehrer einmal schneller voran (§ 20). Daß Gott
sich mit den Juden mehr Zeit gelassen hat, bezeuge seine erzieherische Weisheit.
Denn es sei ein „Fehler des eiteln Pädagogen, der sein Kind lieber übereilen und mit
ihm prahlen als gründlich unterrichten will“(§ 17).
2h. Indem Lessing die Bibel historisiert und relativiert, befindet er sich im Ein-
klang mit der „Neologie“, jener theologischen Strömung,17 die im Sinne der Auf
klärung der Vernunft traute, da ja der Mensch ein Ebenbild Gottes sei. Lessing
brauchte Gott nur noch zur Beantwortung der Frage, weswegen die Erziehung der
Menschheit das rechte Tempo genommen hat, und damit macht er keinen grund-
sätzlichen Unterschied mehr zwischen dem Erziehungs- und dem Entwicklungs-
prozeß. Dies spiegelt sich darin, daß Lessing gleichbedeutend mit „Gott“ von „Vor-
sehung“ oder „Natur“ spricht (§ 84; 90f ). Das ist dann auch der Sprachgebrauch
im deutschen Idealismus.
Kinde die Autorität des Vaters nottut, so unterstanden die Menschen damals der
Despotie der Monarchen. In Ägypten sodann saß der Knabe „auf der Schulbank
und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten.“28 In derselben Phase erfolgte noch der
Schritt zur Buchstabenschrift und zur republikanischen Staatsform, beides durch
die Phönizier, die Zwillinge der Ägypter.
3d. Die Jünglingszeit, derer wir uns „mit Lust und Freude erinnern“, liefern die
Griechen. „In der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz
bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat.“ Herder verknüpft
wieder das kulturelle mit dem politischen Motiv: „Die Blüte brach hervor: holdes
Phänomen der Natur! heißt Griechische Freiheit!“ Das eigentliche Mannesalter
jedoch brachten die Römer: „tu regere imperio populos, Romane, memento Römer
tugend! Römersinn! Römerstolz!“ Herder findet hier „männliche Gerechtigkeit“,
planmäßiges Vorgehen beim Aufbau des Imperiums.29 Am Ende stand der Univer-
salstaat, der die Mauern zwischen den Völkern eingerissen hatte, aber wegen seines
unnatürlichen Umfangs und seiner brüchigen Künstlichkeit einstürzen mußte.30
Herder liebt die großen Reiche nicht; was mit Krieg und Eroberung verbunden
ist, lehnt er ab. Alle Völker, auch die kleinsten, seien zur Freiheit bestimmt, um
ihre jeweilige Nationalkultur entfalten zu können. Dies weist voraus auf die
Romantik.31
3e. In seinen ›Ideen‹ hat Herder dieses Lebensaltergleichnis nicht nochmals auf-
gegriffen, wohl aber betont er hier den Gedanken einer „Erziehung des Menschen-
geschlechts.“ Er beschreibt die Erde als „ein Erziehungshaus unserer Familie, zwar
mit vielen Abteilungen, Klassen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der
Lektionen.“32 Gleichwertig mit „Erziehung“ sprach Herder von „Kultur“ (im Sinne
einer Bodenbearbeitung), von „Aufklärung“ (in der Symbolik des Lichtes) und von
der „Kette der Bildung“ (als Metapher des Zusammenhangs). Anders als später
Hegel betonte Herder die Unabschließbarkeit der Geschichte. Es sei dem Men-
schengeschlechte bestimmt, „sich einem Punkt der Vollkommenheit zu nähern, den
es nicht kennt und den es mit aller tantalischen Mühe nicht erreicht.“ Wo die Fessel
der Tradition den ewigen „Fortgang der Menschenvernunft“ hindere, da sei sie das
„wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen.“33
3f. Das Lebensgleichnis erklärt die Entfaltung der Vernunft. So wie sie sich im
Individuum einerseits durch das biologische Wachstum des Gehirns, andererseits
durch die Erziehung seitens der Eltern und Lehrer allmählich ausbildet, so erscheint
Herder auch die Geschichte als ein Entwicklungs- und Lernprozeß, der die Mensch-
heit zur Humanität heranbildet. Gelenkt wird dieser Vorgang durch Gott, und
darin könnte man eine christliche Erbschaft sehen, zumal Herder selbst Theologe
war. Dennoch liegt dem biblischen Christentum der Gedanke einer Geschichte der
Vernunft fern. In der Gegenüberstellung zur Weisheit Gottes ist die menschliche
Vernunft immer abgewertet worden, noch Luther sprach von der „Vernunft, des
Teufels Hure“.34 Was den Menschen auszeichne, sei gerade nicht die Vernunft, son-
dern der Glaube. Und ebenso fern steht frühchristlicher Anschauung der Gedanke
einer Entwicklung der Menschheit. Für die Bibel ist der Mensch seit dem Sünden-
fall komplett. Aus unserer grundsätzlichen Verderbtheit, aus unserer Unfähigkeit
zum Guten kann uns nur der Glaube an Jesus Christus retten, während für den
Aufklärer der Mensch nach dem Plan der Natur seine guten Anlagen aus eigener
Kraft entwickelt, sich sozusagen selbst erlöst. In der Aufklärung wird Jesus vom
Erlöser von Tod und Sünde zum Lehrer der Humanität, zum Rabbi rejudaisiert.
Der Kreuzestod ist nicht mehr Sühneopfer, sondern Beglaubigung für die Ethik.
3g. So zeigt sich, daß die Konzeption einer Erziehung des Menschengeschlechts
keineswegs aus der christlichen Tradition allein zu erklären ist, und sie versagt
ebenso, wenn wir nach der Funktion der biblischen Offenbarung in diesem Prozeß
fragen. „Wenn Offenbarung die Erziehung des Menschengeschlechts ist, wie sie es
wirklich war und sein mußte, so hat sie die Vernunft gebildet und erzogen.“35 Her-
der erläutert auch, was er mit Vernunft meint: „Vernunft... ist der natürliche, leben-
dige Gebrauch unserer Seelenkräfte.“ Und diese „gebildete Vernunft fällt nicht vom
Himmel“, sondern ist so wie bei jedem einzelnen Kind, so auch bei der Menschheit
insgemein ein Produkt der Erziehung durch Gott, der sich dafür unter anderem der
biblischen Offenbarung bedient hat.
3h. Der in Herders Zeit so heftig umstrittene Gegensatz zwischen Vernunft und
Offenbarung wird in ein historisches, instrumentales Verhältnis aufgelöst. Für Her-
der behauptet die Bibel nicht Dinge, die, obschon sie mit der Vernunft nicht einge-
sehen werden können, nur blind hinzunehmen sind oder aber, eben weil sie nicht
mit der Vernunft eingesehen werden können, strikt verworfen werden müssen.
Vielmehr sollten wir einsehen, daß unsere eigene Vernunft nicht das geworden
wäre, was sie ist, wenn uns die Bibel nicht gelehrt hätte, auf den Schöpfer der Welt
zu vertrauen und alle Menschen als Brüder anzusehen. Die Bibel wird auf einen
Kerngedanken reduziert und hinsichtlich ihrer Bedeutung historisiert. Herder
scheut nicht vor der Konsequenz zurück, die Bibel mit dem Maße unserer Vernunft
zu messen. Er bringt beide in das Verhältnis von Mutter und Tochter: „Mag‘s sein,
daß die Tochter einmal von der Mutter gehen gelernt; aber jetzt kann sie allein
gehen, sie braucht ihr Leitband nicht mehr; sie will sie nicht immer hinter sich
haben! Die Mutter darf nichts als antworten: „gehe allein!“ Herder meint zwar
anschließend; „Alle Vergleichungen hinken“,36 aber auch was hinkt, geht.
3i. Die Bibel behandelt Herder ähnlich wie Paulus das mosaische Gesetz.37 Pau-
lus bezeichnete das Gesetz als durch Jesu Erscheinen überholt; Herder erachtete die
Bibel durch die auf ihren eigenen Beinen stehende Vernunft für überwunden.
Dabei faßte Paulus Jesu Erscheinen als ein von außen kommendes, übernatürliches,
plötzliches Ereignis; Herder dagegen verstand die Aufklärung als einen von innen
her sich entfaltenden, natürlichen, schrittweisen Vorgang. Herders Theologie
besteht nicht darin, die Ansicht des Paulus inhaltlich zu übernehmen, sondern wen-
det dessen Interpretationsmethode auf Paulus selbst an. Das Bild des Erziehungs-
mittels, dort das Gesetz, hier die Bibel, verdeutlicht einerseits den Respekt des Zög-
lings, andererseits sein Bekenntnis zur Selbständigkeit. Der Gedanke der Erziehung
verbindet Kontinuität und Fortschritt. Das Bild des Menschenlebens für die
Geschichte unterstreicht, daß jede Zeitspanne einen Wert in sich trägt und zugleich
einen Teil im Ganzen ausmacht.
3j. Wenn Herder von der Geschichte eine allmähliche Humanisierung des Men-
schen erhofft, stellt sich die Frage, ob seine Geschichtsphilosophie überhaupt noch
auf dem Boden des Christentums steht. Seine Hoffnung gemahnt an die von Augu-
stinus wie von Luther abgelehnte Lehre des Pelagius, eines britannischen Mönchs,
der um 400 n. Chr. verkündete, der Mensch könne sich durch gute Werke die
Seligkeit verdienen.38 Diese Theorie konnte dazu führen, die Vermittlung der
himmlischen Gnade durch die Kirche, ja die Gnade überhaupt für überflüssig zu
erklären, und das wäre eine Auflehnung wie die des Teufels gegen Gott. Der Pela-
gianismus war die einzige nennenswerte Ketzerei, die nicht aus dem Osten, sondern
aus dem Westen stammt. Sie stellt den Menschen gewissermaßen auf die eigenen
Füße, und eben das war auch die Absicht der Aufklärer. Hätte man Herder pelagia-
nische Häresie vorgeworfen, so hätte er sich vermutlich damit gerechtfertigt, daß er
hier über historia humana, nicht über historia divina rede, über Fortschritt auf
Erden und nicht über den Weg zur ewigen Seligkeit, an dem er durchaus festhielt.39
3k. In seinen ›Briefen zur Beförderung der Humanität‹ von 1795/96 akzentuiert
Herder den technischen Fortschritt. „Die Menschen schaffen sich immer mehrere
und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als
Werkzeuge brauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu.“ Das
zeigt sich an der Entwicklung der Maschinen. Der „Geist der Erfindungen“ scheint
„unbeschränkt und fortschreitend“. Das führt zu einem „Wettkampf menschlicher
Kräfte“. Einen „Konflikt aller Völker unserer Erde“ sieht Herder voraus, der Grund
dafür sei gelegt. Kriege und Katastrophen, die der Mensch sich selber oder die
Natur ihm zufügt, sind jedoch keine Einwände gegen den Fortschritt, sondern
Mittel desselben. Denn: „zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle
gelangt.“ Hindernisse sind ihm „in den Weg gelegt, damit er sie überwinde“. Die
Not ist das „Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet.“ Das gilt ebenso
für die Laster und Leidenschaften der Menschen; es sind, so wie bei Hegels „List
der Vernunft“, Kräfte, die unfreiwillig die Humanität befördern. Sie lehrt Christus,
sie ist Sinn und Ziel der Geschichte, auch wenn es unerreichbar ist. Moralisch und
politisch befindet sich die „Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.“ Daher
der Aufruf an seine „Brüder“ von 1774 und sein Credo: Speremus atque agamus!
Laßt uns hoffen und handeln!40
3l. Bemerkenswert für Herder als Generalsuperintendent ist es, daß er im 84.
und 85. seiner ›Briefe zur Beförderung der Humanität‹ die Aufklärung historisch
über Frankreich aus dem islamischen Spanien herleitet. Bodin hatte das für den
Humanismus getan. Herder schrieb: „Spanien war die glückliche Gegend, wo für
Europa der erste Funke einer wiederkommenden Kultur schlug.“ Dieser Funke sei
die „Fröhliche Wissenschaft“ der provençalischen Trobadoren (Erfinder) gewesen.
Am Anfang der Aufklärung stand die Poesie. Das erinnert an Boccaccio.41 Ob das
zutrifft oder nicht, schlägt nicht zu Buche gegenüber dem Faktum, daß die Aufklä-
rer ihre eigenen Wurzeln teils in antikem, teils in christlichem, teils in islamischem
Boden suchten. Die Idee der Humanität stand für sie über den Religionen, über
den Völkern, über den Staaten. Sie ist individualistisch und kosmopolitisch
zugleich: „Wenn du mußt, so diene dem Staat, und wenn du kannst, so diene der
Menschheit.“42
an uns Wohlgefallen.“ Gewiß war sich Kant stets der Unzulänglichkeiten dieser
Welt bewußt, aber sie bewiesen ihm nicht mehr Sünde und Satan, sondern waren
durch die Freiheit als dem „inneren Principium der Welt“ gebotene Durchgangszu-
stände auf dem Wege zur „moralischen Vollkommenheit“. Sie ist das Ziel der
Geschichte und der „allgemeine Zweck der Menschheit“. Wenn dieser „nach dem
Verlauf vieler Jahrhunderte“ erreicht sein wird, „so ist dieses das Reich Gottes auf
Erden“.48Die Geschichtlichkeit wird somit zum Instrument der Überwindung des
scheinbar Fehlerhaften auf Erden, und hierin konnte Kant das Bild des Psalmisten
aufnehmen, daß wir durch ein Jammertal hindurch müßten, ohne welches wir kei-
nen Begriff vom Paradiese hätten.49
4d. Die von Herder zu Lessing erkennbare Tendenz, den Fortschritt weniger als
Erziehung, mehr als Entwicklung zu deuten, setzt sich bei Kant fort, um dann bei
Hegel ihren Abschluß zu erreichen. In der Auffassung von der Bibel als Lehrbuch
stimmt Kant mit Herder überein. In seiner Schrift ›Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft‹ von 1793 schreibt Kant: „Die Hüllen, unter welchen
der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er
nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit sei-
nen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dien-
ste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jüng-
lingsalter eintritt. So lange er (der Mensch) ein Kind war, war er ‚klug als ein Kind‘
und wußte mit Satzungen, die ihm ohne sein Zutun auferlegt worden, auch wohl
Gelehrsamkeit, ja sogar eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; ‚nun
er aber ein Mann wird, legt er ab, was kindisch ist‘. Der erniedrigende Unterschied
zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren
Freiheit.“ Kant überträgt hier, in wörtlicher Anlehnung, was Paulus von sich selbst
sagt, auf die Geschichte insgesamt.50 Nicht alle Zeiten benötigen denselben Leitfa-
den; was einer früheren Periode nützte, kann einer späteren schädlich sein. Eine
derart historisch-rationale Deutung der Bibel trug dem Königsberger die Ungnade
König Friedrich Wilhelms II ein.51
4e. Den engsten Anschluß an das ältere Konzept einer Erziehung des Men-
schengeschlechts zeigt Kant in seiner Ethikvorlesung von 1781. „Nirgends als durch
Erziehung“ sei moralischer Fortschritt zu erhoffen, erst bei den Bürgern, dann bei
den Fürsten. Ein Zeichen sind ihm die „Basedowschen Anstalten“, das 1774 im
Geiste der Aufklärung gegründete Internat Philanthropin in Dessau.52 1798 verla-
gerte sich Kants Hoffnung, so in seiner ›Anthropologie‹: „Die Erziehung des Men-
schengeschlechts im Ganzen ihrer Gattung, d.i. collectiv genommen (universorum),
nicht aller Einzelnen (singulorum), wo die Menge nicht ein System, sondern nur ein
zusammengelesenes Aggregat abgibt, das Hinstreben zu einer bürgerlichen, auf dem
Freiheits-, zugleich aber auch gesetzmäßigen Zwangs-Princip zu gründenden Ver-
fassung ins Auge gefaßt, erwartet der Mensch doch nur von der Vorsehung, d. i.
von einer Weisheit, die nicht die seine, aber doch die (durch seine eigene Schuld)
ohnmächtige Idee seiner eigenen Vernunft ist, – diese Erziehung von oben herab,
sage ich, ist heilsam, aber rauh und strenge, durch viel Ungemach und bis nahe an
die Zerstörung des ganzen Geschlechts reichende Bearbeitung der Natur, nämlich
der Hervorbringung des vom Menschen nicht beabsichtigten, aber, wenn es einmal
da ist, sich ferner erhaltenden Guten aus dem innerlich mit sich selbst immer sich
veruneinigenden Bösen.“ Die unendliche Perfektibilität der Moral erlaube die
Hoffnung auf unendliche Fortdauer der Menschheit.53
4f. Kant verwendet das Bild der Erziehung für den Weg der Menschheit zu einer
bürgerlichen, d. h. republikanischen Staatsordnung, die das Prinzip der Freiheit
aller mit Hilfe eines gesetzmäßigen Zwangs gegen Rechtsbrecher schützt. Damit
fassen wir eine für Kant spezifische Neuerung: das Ziel der Geschichte wird nicht
mehr, wie bei Herder, rein moralisch mit Humanität wiedergegeben, sondern zum
ersten Male klar politisch definiert und für erreichbar angesehen. In seiner ›Idee zu
einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‹ von 1784,54 Kants wich-
tigster Schrift zum Thema, wird der angestrebte Endzustand noch genauer
umschrieben. Kant denkt an einen weltweiten von ihm zuerst so genannten (§ 7)
„Völkerbund“ republikanischer Staaten, dessen Zweck es ist, Kriege zu verhindern,
so wie es die Aufgabe des einzelnen Staates sei, das Faustrecht zu unterbinden. Kant
spricht von einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“
(§ 5) und von einem „gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnis“ (§ 7).
4g. Kant hat 1795 im Anschluß an das ›Projet pour rendre la paix perpétuelle en
Europe‹ und den Vorschlag eines „Völkersenats“ durch den Abbé von Saint-Pierre
aus dem Jahre 1713 einen Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹ vorgelegt, der bereits den
Text des zwischen den Völkern abzuschließenden Friedensvertrages enthält.55 Die
wichtigsten Bestimmungen des Präliminar-Vertrages sind: Respektierung aller Staa-
ten, Abschaffung der stehenden Heere, Verbot von Krediten an andere Staaten,
Verzicht auf Feindseligkeiten und auf gewaltsame Einmischung in die Angelegen-
heiten anderer Staaten. Der Definitiv-Vertrag sodann besagt, daß alle Staaten repu-
blikanisch verfaßt sein sollen, daß zwischen ihnen ein Bund geschlossen werden
soll, der durch ein Weltbürgerrecht jedem Bürger in jedem Staat Gastrechte
gewährt. Der ewige Friede ist eine handlungsleitende Idee, die anzustreben,
„obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung“, Menschen-
pflicht sei. Im Anhang behandelt Kant das Verhältnis zwischen Moral und Politik
und bestimmt es ebenso evident, wie Machiavelli das Verhältnis zwischen Politik
und Erfolg analysierte, weswegen man den ›Principe‹ und den ›Ewigen Frieden‹
zusammen lesen müßte. Den Principe, um zu lernen, wie man Politik macht, den
Ewigen Frieden, um zu erkennen, wie und wozu man Politik machen sollte.
4h. Kant glaubt, daß auch der Krieg, die Wurzel aller Übel, letzten Endes den
Frieden bringe (Idee § 8). Entweder, meint er, wird sich auf kriegerischem Wege
schließlich ein einziger Staat durchsetzen, der alle anderen beherrscht, oder aber die
Staaten verzichten freiwillig auf den Krieg. Dies letztere hält Kant für wünschens-
wert, ja für unvermeidlich deswegen, weil die Rüstung immer teurer und die Kriege
immer verheerender würden, und daher, je schrecklicher die Auseinandersetzungen,
desto wahrscheinlicher die Einsicht und der Wille der Menschen, sie ein für allemal
zu beseitigen. So finden wir eine Schere: Die Verhältnisse werden im gleichen Maße
schlechter, wie die Aussicht auf ihre Besserung größer wird. Kant benutzt das pie
tistische Modell: Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Die
Menschen selbst, „aus krummem Holze gemacht“, werden sich nicht ändern, die
„ungesellige Geselligkeit“ der Menschen (§ 4) und die Mischung von Gut und Böse
in den Charakteren hält er für konstant. Wie sie handeln, scheint ihm objektiv
unerheblich. Auch wer gegen den Fortschritt angeht, befördert ihn ungewollt; wer
aber für ihn eintritt, befindet sich auch subjektiv im Einklang mit ihm.
4i. In der Erziehung des Menschengeschlechts wirkt der Finger der Vorsehung,
der die Menschen dahin bringt, wo sie eigentlich alle hinwollen, faktisch aber nicht
hinstreben. Auch wenn die Staatsführungen nur egoistisch, d. h. im Interesse der
Staatsraison handeln, sind sie gezwungen, meint Kant, die innere Kultur, die Bewe-
gungsfreiheit und den geistigen Austausch zu fördern und damit der Aufklärung in
die Hand zu arbeiten, die notwendig zur Befestigung der bürgerlichen Freiheiten
führen werde. Ein Staat, der sie unterdrücke, bleibe auf die Dauer nicht konkur-
renzfähig. Die Förderung der Aufklärung liege daher im wohlverstandenen Eigen-
interesse jedes Staates.
4j. Aus dem gleichen Jahre wie die ›Idee‹, 1784, stammt Kants ›Beantwortung
der Frage: Was ist Aufklärung‹.56 „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist
diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Kant übernimmt von Paulus
die Metapher des Mündigwerdens, der Emanzipation in die Freiheit für den Über-
tritt vom Stande der Sünde in den der Gnade57 und überträgt sie auf den Übergang
von der Fremdbestimmung auf die Selbstbestimmung. Kant fragt, wieso die Men-
schen noch immer andere für sich denken lassen. Er findet den Grund in der
Bequemlichkeit der Regierten und in der Eigensucht der Regierenden.
4k. Vermittelnd wirkt das Geld. Mit dem Geld, das die Menschen unter der
Herrschaft ihrer Vormünder verdient haben, bezahlen sie wiederum diese Herr-
schaft. „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn
ich nur bezahlen kann.“ Kant glaubte indessen an die Überwindbarkeit dieses
Zustandes und nennt seine Gegenwart zwar noch nicht aufgeklärt, aber ein Zeit
alter der Aufklärung. Als wichtigstes Mittel dazu denkt er nicht an eine Revolution,
weil diese zwar die Machtverhältnisse, nicht aber die Menschen ändere, und daher
keine langfristige Wirkung zeitige. Vielmehr müsse dies über die Erziehung und
den geistigen Austausch erfolgen, und das sei auch erreichbar. Der Mensch müsse
das Stadium der Kindheit überwinden und selbst gehen lernen. Kant wiederholt:
„Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht;
man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.“
Selbstdenken ist die Maxime der Aufklärung.58
4l. Dieses emanzipatorische Interesse macht Kant zur Richtschnur für die
Historie. Er kann kaum geglaubt haben, daß beispielsweise Erasmus und Leibniz
sich im Zustand der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befanden und die Auffor-
derung, selbst zu denken, nötig hatten, zumal die Parole sapere aude! von Horaz
stammt.59 Kant hat lediglich die Politik im Auge. Deren Geschichte, so meint er,
wäre ein „planloses Aggregat menschlicher Handlungen“, wenn sie nicht durch die
Idee des Fortschritts zur Freiheit einen Sinn gewänne. Die allmähliche „Verbesse-
rung der Staatsverfassungen“ müsse der leitende Gesichtspunkt für den Historiker
sein. Andernfalls fragt sich Kant, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen
werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinter-
lassen mögen, zu fassen“ (Idee § 9). Hier wendet Kant die „weltbürgerliche Absicht“
auf die Historiker an. Demgemäß endigt er die oben referierte Passage aus der
›Anthropologie‹: „Übrigens soll und kann die Menschengattung selbst Schöpferin
ihres Glücks sein; nur daß sie es sein wird, läßt sich nicht a priori aus den uns von
ihr bekannten Naturanlagen, sondern nur aus der Erfahrung und Geschichte mit so
weit gegründeter Erwartung schließen, als nötig ist, an diesem ihrem Fortschreiten
zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern mit aller Klugheit und moralischer
Vorleuchtung die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel an ihm ist) zu
befördern.“
4m. Kants bedingte Zuversicht erfuhr eine Bestätigung durch die Zugkraft der
Ideen der Französischen Revolution. 1797 verfaßte er seine kurze Schrift: ›Erneuerte
Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren
sei?‹ Die Zensurbehörde Friedrich Wilhelms II lehnte die Publikation ab, daraufhin
versteckte Kant sie 1798 in seinem umfangreichen Traktat ›Streit der Fakultäten‹.60
Kant stellt fest, daß eine empirische Prognose des Fortschritts unmöglich sei, denn
selbst wenn die Menschheit von Anfang bis heute vorwärtsgegangen wäre, könnte
sie doch ab morgen wieder rückwärts gehen.61 Vielmehr sei eine solche Voraussage
auf eine Einsicht in das Wesen des Menschen zu gründen, die ihrerseits freilich
empirischer Indizien bedürfe. Ein solches Symptom nun sah Kant in der inneren
Teilnahme der europäischen Völker an der Französischen Revolution. Die Revolu-
tion selbst hielt er, was ihre Mittel betrifft, für unklug, ungerecht, ja unmenschlich,
aber die Ziele akzeptierte er, und die Welle der Sympathie in Europa gegenüber
diesen Zielen wertete Kant als Indiz für die Natur des Menschen. „Ein solches Phä-
nomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und
ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat.“ Derartiges
werde sich wiederholen. Kant vertrat weiterhin einen unbedingten Optimismus:
„Es ist also ein nicht bloß gut gemeinter und in praktischer Absicht empfehlungs-
würdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie halt-
barer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer
gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde.“62 Nur müsse man die Menschheit
insgesamt im Auge haben.
4n. Kant hat den wichtigsten Grund für seinen Fortschrittsoptimismus aber
weder im bisherigen Gang der Geschichte noch im Wesen des Menschen gesucht,
sondern in der Vorsehung der Natur. In dem erwähnten Text aus der ›Anthropolo-
gie‹ hatte Kant die Vorsehung angeführt als die Erzieherin der Menschheit, und
dieser Begriff wird erläutert: „Vorsehung bedeutet eben dieselbe Weisheit, welche
wir in der Erhaltung der Species organisierter, an ihrer Zerstörung beständig arbei-
tender und dennoch sie immer schützender Naturwesen mit Bewunderung wahr-
nehmen, ohne darum ein höheres Princip der Vorsorge anzunehmen, als wir es für
die Erhaltung der Gewächse und Tiere anzunehmen schon im Gebrauch haben.“63
Der für uns mythische Beigeschmack im Begriff „Vorsehung“ scheint herausgefil-
tert, indem hier nur das Sorge-Prinzip, die „Selbstorganisation“ der Natur übrig
gelassen ist.
4o. Zum Verständnis des Gedankens hilft uns die ›Idee‹ von 1784. Dort subsu-
miert Kant die Geschichte unter die „Naturbegebenheiten“ und sucht sodann nach
„Naturabsichten“ in der Geschichte. Zu diesem Zweck bestimmt er einen Wesens-
zug der Natur durch den Begriff der Teleologie, der zielgerichteten Entwicklung.
Eine solche findet Kant, wie schon Aristoteles, in den Lebensläufen der einzelnen
Organismen. „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal voll-
ständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (§ 1). Wäre dies nicht das Ziel der Natur,
so wäre sie trostlos. Hatte Lucrez aus der Vergänglichkeit der einzelnen Lebewesen
auf die Vergänglichkeit der gesamten Natur geschlossen, so schließt Kant von der
Zweckmäßigkeit in der Individualentwicklung auf die Zweckmäßigkeit der Total-
entwicklung. 1728 hatte Christian Wolff den Begriff „Teleologie“ für die Natur
betrachtung geschaffen, und er eignete sich ebenso für das Geschichtsdenken. So
bei Kant. Nachdem er induktiv von der Teleologie im Einzelwesen auf die Teleolo-
gie der Natur insgesamt gefolgert hat, wird deduktiv aus der Teleologie der Natur
die Teleologie der Gattungen und damit auch die Teleologie der Menschenge-
schichte abgeleitet. Kant stellt fest, daß die Vernunft sich im Einzelnen nicht entfal-
ten kann, weil die politisch-gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Kommunika-
tion verzerren – wie Habermas das ausdrücken würde –; er stellt weiter fest, daß die
Vernunft als Naturanlage dennoch dazu vorgesehen sei, sich völlig zu entfalten, und
kommt zu dem Resultat, daß das, was in der geistigen Entwicklung des Individu-
ums bisher nicht möglich war, in der Geschichte der Gattung zu erwarten sei.
4p. Der Glaube an die Vorsorge der Natur ist eine säkularisierte Form des Glau-
bens an die Güte Gottes. In diesem geschichtsphilosophischen Naturbegriff läßt
sich sogar eine Trinität entdecken: Denn die Entwicklung geht von dem realen tie-
rischen Urzustand der rohen Natur (1) durch die Vorsehung der höheren Natur (2)
zur idealen Natur (3) des dermaleinst voll entwickelten Menschen. Kant vertraute
auf das glückliche Ende gemäß der Denktradition der Heilsgeschichte und wußte
das: „Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben“ (Idee § 8).
Unumwunden heißt es 1784: „Man kann aber mit Grunde sagen, daß das Reich
Gottes zu uns gekommen sei, wenn auch nur das Prinzip des allmähligen Übergan-
ges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion und so zu einem (gött
lichen) ethischen Staat auf Erden allgemein und irgendwo auch öffentlich Wurzel
gefaßt hat: Obgleich die wirkliche Errichtung desselben noch in unendlicher Weite
von uns entfernt liegt.64
und Ackerbau (2). Nach den technischen Fortschritten bis zur Erfindung der
Schrift (3) behandelt er die Griechen bis zu Alexander (4) und die weiteren Errun-
genschaften bis zur Entstehung des römischen Rechts (5). Condorcet verbindet die
Verbreitung des Christentums mit der Dekadenz der antiken Kultur bis zum Zeit-
alter der Kreuzzüge (6); es folgen der Neuaufstieg bis zur Erfindung des Buchdrucks
(7) und die allmähliche Befreiung des Geistes von kirchlichen und weltlichen Auto-
ritäten (8). Die letzte Phase eröffnet Descartes, sie kulminiert in der Begründung
der République Française (9). Nun steht Condorcet an der Schwelle zu einer ganz
neuen Zeit des Fortschritts (10). Die Vollendung steht bevor.68
5d. Als Ziel des Fortschritts bestimmte Condorcet ein „Elysium“, als Inhalte sah
er die drei für alle aufgeklärten Menschen gültigen Ideale der Revolution und
danach die Technik und die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik, kurz: das
Menschenglück. Allenthalben Fortschritt, außer – wie zumeist – in der Kunst. Fel-
senfest war er überzeugt davon, daß die Unterschiede zwischen den Ständen und
Völkern verschwänden, daß sich die Gleichberechtigung der Religionen, der
Geschlechter und Klassen durchsetzen werde, daß die Menschen klüger, besser und
gesünder würden. Freiheit und Vernunft würden auch bei den Kolonialvölkern Fuß
fassen.69 Condorcet forderte Wahlrecht und Bildung für alle, Abschaffung der
Todesstrafe und der Sklaverei und die Einführung einer internationalen Kunstspra-
che für die Wissenschaft,70 die von Leibniz geplante lingua universalis.
5e. Condorcet vertraute auf die Globalisierung: Der Handel verbinde die Völker
der Welt, und die aufgeklärten Menschen wirkten als Freunde der Humanität
gemeinsam und erfolgreich für die Perfektion und das Glück der Menschheit. Die
rückständigsten Völker fand er in Afrika, die fortgeschrittensten in Anglo-Amerika
und Frankreich. Suchen die deutschen Aufklärer die Gewähr für den Fortschritt in
einer höheren Macht, die aus dem christlichen Gottesgedanken stammt, so ist dies
bei dem atheistischen Revolutionär Condorcet nicht mehr der Fall.71 Bevor man an
übernatürliche Kräfte denkt, solle man nicht nur das Ungenügen der bekannten
natürlichen Kräfte in Rechnung stellen, sondern auch sicher sein, daß der mensch-
liche Geist auch künftig keine entdecken werde.72 Eine ironische Forderung!
*
5f. Condorcet hat August Comte (1798 bis 1857) beeinflußt, den Vater des Positi-
vismus.73 Dieser Begriff ist mehrdeutig, aber alle Varianten hängen irgendwie mit
dem rationalistischen, antimetaphysischen und optimistischen Konzept seines
Autors zusammen. So wie Condorcet war Comte von Haus aus Mathematiker und
Mechaniker, und dies prägte sein Wissenschaftsideal. Es führte zur Konzeption
einer sozialen Physik. Als Sekretär von Saint-Simon lebte Comte in der Gedanken-
welt der frühsozialistischen Gesellschaftsreformer, und dies verlieh seinen
geschichtsphilosophischen Bemühungen einen praktischen Akzent. Entsetzt über
das intellektuelle Chaos gegensätzlicher Ansichten, suchte er nach einer Erklärung
für die geistige Anarchie seiner Zeit und nach Wegen ihrer Überwindung. Sein Ziel
war die Errichtung einer harmonischen, organischen Gesellschaftsordnung auf
rational naturwissenschaftlicher Basis. In seinem Hauptwerk ›Cours de philosophie
positive‹74 hat er 1839 für die historisch-politische Gesellschaftswissenschaft den
Namen sociologie benutzt75 und gilt daher als der Begründer dieser Disziplin. Das
lateinische Wort socius kommt von sequor – „folgen“, eine societas ist demgemäß
ursprünglich eine Gefolgschaft, keine Gesellschaft, die sich etymologisch von „Saal“
herleitet.
5g. Comte hat 1844 in seinem ›Discours sur l‘esprit positif‹ wieder auf die
Parallele hingewiesen, die zwischen der Einzelentwicklung des Menschen und der
Gesamtentwicklung der Menschheit bestehe.76 Dieser Gleichlauf wird an den ein-
zelnen Lebensaltern erläutert. Sie hatte er schon in seinem Hauptwerk in drei Stu-
fen geteilt: die Theologie der Kindheit, die Metaphysik der Jugend und die Physik
des Mannesalters. Dieses von Turgot und Condorcet übernommene „Dreistadien-
gesetz“, loi des trois états, gelte ebenso für die Menschheitsgeschichte. Comte meinte,
daß sie sich in drei Schritten entwickelt habe. Der erste sei gekennzeichnet durch
religiöses Denken, das vom Fetischismus über den Polytheismus zum Monotheis-
mus führe. Letzterer erscheint als Verfallsprodukt der „anfänglichen Philosophie“,
und damit entspricht das erste Stadium dem Altertum unter Einschluß des Chri-
stentums bis zur Hochscholastik. Das zweite Stadium des Geistes bezeichnet Comte
als metaphysisch. Man berief sich nun auf abstrakte Prinzipien. Diese Zeit umfasse
die „letzten fünf Jahrhunderte“, also etwa von 1300 bis 1800.77 Comte kennzeich-
net sie zudem durch Klerikalismus, Militarismus und Feudalismus.78 Das sei nun
glücklich überwunden. Der dritte und höchste Zustand der Menschheit sei das
positive, realistische Zeitalter, beginnend mit der noch anhaltenden „sozialen Krise“
Europas seit der Französischen Revolution.79 Vernunft und Wissenschaft hätten
endlich die Führung übernommen und eröffneten uns gemäß den „Gesetzen des
Fortschritts des menschlichen Geistes“ eine glänzende Zukunft.80 Wahlspruch des
Positivismus war Savoir pour prévoire, afin de pourvoir: Wissen erwerben, um vor-
aussehen und versorgen zu können.81
5h. Comtes Dreistadiengesetz entspricht dem Dreischritt der Hegelschen Dia-
lektik, da der zweite Zustand die Negation des ersten und der dritte die Negation
der Negation darstellt und wieder positiv wird. Gemäß dem klassischen Konzept
der Rückkehr auf höherer Ebene – bei Milton Paradise Lost, Paradise Regained –
bringt der Endzustand erneut die geistige Einheit des Anfangszustandes, bloß nicht
auf dogmatisch-religiöser, sondern auf rational-wissenschaftlicher Grundlage. So
wie der soziale Fortschritt den Aufstieg vom Tier zum Menschen fortsetze82 und der
geistige Fortschritt in der Entwicklung der Naturerkenntnis bestehe, so bringe das
Ende der Geschichte die Herrschaft der exakten Disziplinen über alle Bereiche des
Lebens. Der Fortschritt vollzieht sich nach Comte – ähnlich wie bei Kant, dessen
›Idee‹ er schätzte –, mit naturgesetzlicher Notwendigkeit.
brachte.98 Er wollte sie als die letzte „Religion der Menschheit“ auch emotional
hinterfüttern, écarter Dieu comme irreligieux, und verfaßte dazu 1852 einen Kate-
chismus des Positivismus mit strengen liturgischen Vorschriften. Dazu gehörte u. a.
eine neue Flagge, ein neuer Heiligenkalender mit Monatsnamen nach historischen
Helden – darunter Karl der Große und Friedrich der Große – und Gedenktagen für
Leibniz, Kant und Hegel, während Herder und Fichte immerhin als „stellvertre-
tende Tagesheilige“ auftraten.
5l. Diese Pseudoreligion lieferte den Gegnern der Aufklärung das Argument,
daß ein unbegrenztes Vertrauen in die menschliche Vernunft zur Selbstvergottung
und Selbstanbetung des Menschen führe, wie das der Kult der Göttin Vernunft bei
den Jakobinern vor Comte und der Marx-Lenin-Kult im Stalinismus nach ihm
bestätigen. Comte verband Impulse der Aufklärung mit der katholisierenden Mit-
telalterschwärmerei der Romantik. Er hatte sich in seiner Jugend mit dem Philoso-
phen Aristoteles, im Alter mit dem Apostel Paulus verglichen und wurde von seinen
Schülern als Heiliger verehrt. Positivistische Gemeinden entstanden in Frankreich,
Schweden und den USA; in London gab es zwei comtistische Kirchen und in Bra-
silien wurde seine religion de l‘Humanité 1890 Staatsideologie.
esse der „Horde“ über dem des Einzelnen steht. Muster ist der „totalitäre“ spartani-
sche Kriegerstaat, wie ihn Plutarch in seiner Lykurgvita stilisiert. Dem gegenüber
steht die „offene Gesellschaft“ des demokratischen Athen, wie sie Thukydides in
seiner Periklesrede idealisiert. Hier findet Popper bei dem „vielleicht größten Histo-
riker, der je lebte“ das „unübertroffene demokratische Glaubensbekenntnis“, die
Totenrede des Perikles bei Thukydides,101 Mit ähnlichem Akzent kontrastierte
schon Schiller die beiden Systeme 1790 in seinem Aufsatz über die ›Gesetzgebung
des Lykurgus und Solon‹.102
6c. Mit der Erfindung der Freiheit durch die Athener eröffnet Popper die zweite
Großperiode im Prozeß der Menschheit, erfüllt vom Kampf der Anwälte der open
society gegen die Verfechter der closed society. In der Art eines gnostischen Dualismus
zwischen Licht und Finsternis geht es bei Popper um die Auseinandersetzung zwi-
schen Liberal und Totalitär, zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen Rationa-
lismus und tendenziell „verbrecherischem“ Irrationalismus103. Jedermann steht
gemäß dieser Schwarz-Weiß-Philosophie vor der Wahl zwischen Vernunft und
Unvernunft und hat hier eine „moralische Entscheidung“104 zwischen Gut und
Böse zu treffen. Popper liefert einen Beitrag zur Ethik der Entscheidung, die mit
Herakles am Scheideweg bei Prodikos beginnt, bei Matthäus in dem Wort Jesu liegt
„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“, die von den Anhängern Zarathustras
gefordert wird und in der Neuzeit zwischen Kierkegaards ›Entweder-Oder‹ und
Carl Schmitts Dezisionismus changiert105.
6d. Der Kampf zwischen Poppers Sozialprinzipien ist unerbittlich. Die Feinde
der offenen Gesellschaft sind durch christliche Nächstenliebe nicht zu überwinden,
vielmehr würde diese Jenen „Tür und Tor öffnen, die durch Haß regieren“.106 Im
Dienste der Demokratie ist Gewalt, zuweilen sogar Imperialismus „notwendig“, wie
Athen lehrt. Die administrativen und militärischen Maßnahmen zur Aufrechterhal-
tung der Herrschaft über den delisch-attischen Seebund nennt Popper „ziemlich
liberal“, ohne die damit verbundenen Brutalitäten107 – so er sie kannte – zu entkräf-
ten. Die Ausplünderung der schwächeren Bundesgenossen und der Massenmord an
Widerstrebenden waren stets demokratisch legitimiert. Als Ziel der Athener ver
mutet Popper ein – freilich erst von Alexander dem Großen angedachtes108 – „Com-
monwealth“ weltweit. Der Versuch Spartas, durch die Einrichtung eine Oligarchie
in Athen die „geschlossene Gesellschaft“ wiederherzustellen, konnte laut Popper
„unmöglich“ gelingen, eine „Rückkehr in die Vergangenheit“, sei ausgeschlossen.
Popper vertritt die These, that our own social world ist the best that has even been.
Gemeint ist the Society of the Atlantic Community. Die beste Gesellschaftsordnung
für uns ist zugleich die beste für die Menschheit. Der Vormarsch zur „besseren
Welt“ der offenen Gesellschaft ist allen Reaktionen zum Trotz unaufhaltsam109.
6e. Popper leitet „unsere abendländische Zivilisation von den Griechen her“.
Gemeint sind die Athener unter Perikles. Waren sie doch „die ersten, die den Schritt
von der Stammesmoral zu humanitärer Gesinnung taten“. Die Asebieprozesse, die
Sklaverei und der Schierlingsbecher kommen für Popper nicht in Betracht. Die
Athener, meint er, haben „für uns jene große Revolution begonnen, die sich, wie es
scheint, noch immer im Anfangsstadium befindet, im Übergang von der geschlos-
senen zur offenen Gesellschaftordnung.“ Popper hätte es wohl gern gesehen, wenn
die Demokratie Athens unmittelbar in die der Moderne übergegangen wäre. Sobald
die wohl auf dreitausend und mehr Jahre zu veranschlagende „Revolution“ vollen-
det sein wird, tritt die Menschheit in ihr drittes Stadium ein, das der offenen Gesell-
schaft. Dann verwirklicht sich der „neue Glauben an die Vernunft, an die Freiheit
und an die Brüderlichkeit aller Menschen“, wie es der von Popper angenommenen
„großen Generation“ um Thukydides vorschwebte. Sie bildet einen „Wendepunkt
in der Geschichte der Menschheit“.110 Poppers Polemik gegen die trügerischen
„Heilsversprechen“ der totalitären Ideologen basiert auf dem „zuverlässigen“ Heils-
versprechen der triumphierenden Demokratie. Wie aber verträgt sich die Prognose
der offenen Gesellschaft mit der Annahme einer offenen Zukunft?
6f. Bis das von Popper anvisierte „Endstadium“ der offenen Gesellschaft erreicht
sein wird, leiden wir unter „Selbstentfremdung“.111 Kommt hier Hegel durch die
Hintertür? Mitnichten! Denn der kritische Rationalist stellt gegen Hegel fest: „Es
gibt keine Geschichte der Menschheit.“ Und dessen ungeachtet „hat sie keinen
Sinn“. Sie verläuft selbsttätig; der entscheidende Schritt zur Freiheit geschah natur-
wüchsig, unbeabsichtigt. Denn die Revolution der Athener wurde „natürlich nicht
bewußt herbeigeführt“, sondern ergab sich, gut positivistisch, einfach aus dem
„Wachstum der Bevölkerung“ und ihrer Seefahrt. Wir heute aber, so lernen wir,
müssen die große Revolution bewußt vollenden, „indem wir jene demokratischen
Institutionen verteidigen und stärken, von denen die Freiheit und mit ihr der Fort-
schritt abhängt“, an den Popper nun doch glaubte. Das verbindet ihn mit den Ver-
tretern der Modernisierungstheorien in Amerika, die bei sich zuhause das Entwick-
lungsziel aller Völker erreicht sehen und das, so wie die Athener, mit den Waffen
beglaubigen.112
4g. Poppers Zukunftsideale ähneln denen des von ihm als „Clown“ geschmähten
Hegel. Dessen Rechtfertigung Gottes durch die Theodizee, und Nietzsches Rechtfer-
tigung des Lebens durch die Ästhetik113 erscheint bei Popper als Rechtfertigung der
Geschichte durch die Demokratie. Sein Schlußsatz lautet: Gelänge es uns, die
„Macht“ zu kontrollieren, „könnten wir sogar die Geschichte rechtfertigen. Sie hat
eine solche Rechtfertigung dringend nötig.“114 So die Botschaft aus Neuseeland.
7. Fortschritt schillert
7a. Der Fortschrittsglaube der Aufklärer hatte seit der Terrorherrschaft der Jako
biner in Paris sein Janusgesicht offenbart. Das zeigt Schiller. Er läßt erkennen, wie
die Aufklärung sich überschlug. In seiner Jenenser Antrittsvorlesung115 als Professor
der Geschichte vom 26. Mai 1789 ›Was heißt und zu welchem Ende studiert man
bedichtete,118 werden von Schiller mit der Lösung des Menschen aus der urtümli-
chen Bindung an die „fromme“, die „heilge Natur“ jetzt aber auch die finsteren
Seiten des Fortschritts benannt. Denn wie Kant sah Schiller in der Zivilisierung
noch keine Moralisierung, da „wir noch immer Barbaren sind“. Das Maß fehlt.
„Freiheit! ruft die Vernunft und Freiheit! die wilde Begierde.“ Es folgen die Unter-
drückung der echten Empfindungen, die Unaufrichtigkeit der Konvention, die
Reglementierung durch Vorschriften und die Gewaltausbrüche der Politik. Dann
aber erwacht die Natur, es kommt zu Katastrophen, bei der Städte zu Asche werden
und der Mensch, verarmt aber gerettet, zu der verlassenen Flur zurückkehrt.
7d. 1795 schreibt der Dichter: „Wir waren Natur ... und unsere Cultur soll uns
auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit zur Natur zurückführen.“119 Die damit
verbundenen Hoffnungen werden durch die Auswüchse der Französischen Revolu-
tion bedroht, die Schiller 1797 am Ende des ›Lieds von der Glocke‹ benennt. Und
1799 heißt es, der Glaube an die „goldene Zeit, wo das Rechte, das Gute wird
siegen“, sei ein ›Wort des Wahns‹. Es gibt kein irdisches oder himmlisches End
paradies. Denn die Weltgeschichte ist selbst schon das Weltgericht, und zwar in
Permanenz, wie es schon im Gedicht ›Resignation‹ von 1786 steht.120 Ein Trost
bleibt. So wie Augustin in seiner Glaubensgewißheit den Freispruch im Jüngsten
Gericht vorwegnahm, wird Schiller schon jetzt durch die Betrachtung der Natur
der Einheit mit ihr teilhaftig. Denn am Ende des ›Spaziergangs‹ heißt es: „Die
Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns.“
7e. Der säkulare Chiliasmus der Aufklärung wurzelt so wie Augustins Heilslehre
in einem Trostbedürfnis angesichts der Unzufriedenheit mit der jeweiligen Lage.
Dennoch hat der Fortschrittsglaube gegenüber dem christlichen Erlösungsgedan-
ken den Nachteil, daß er nur den Späteren etwas verspricht. Paulus erklärte seinen
Glaubensbrüdern, durch ihre Auferstehung würden auch diejenigen Frommen der
Seligkeit teilhaftig, die vor dem Anbruch des Weltendes stürben. Niemand kommt
zu kurz. Kant hingegen spürt ein begreifliches Befremden bei dem Gedanken, daß
nur die letzten Menschen das Glück haben sollen, im friedliebenden Völkerbund
ihre Vernunft entfalten zu dürfen, während die früheren Generationen, die viel-
leicht am meisten für den ewigen Frieden getan haben, um ihren Lohn betrogen,
gewissermaßen verheizt werden.121 Das traurige Ende Condorcets im Kerker von
Bourg-la-Reine stellt diese Frage. Das ungelöste Problem der Fortschrittsidee heißt:
welchen Sinn haben ihre Opfer? Darauf hat die Aufklärung keine Antwort. Sie gab
erst Ranke mit dem Historismus: Jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. Doch muß
man hier Walther von der Vogelweide, seinen Kommentar zum Blumenorakel zitie-
ren: dâ hoeret ouch geloube zuo.
a. Am 21. Januar 1793 wurde König Ludwig XVI im Namen der Vernunft. guilloti-
niert. Die Zeit danach war innenpolitisch durch die terreur, außenpolitisch durch die
Koalitionskriege gekennzeichnet. Das Erbe der Revolution übernahm Napoleon, der
das Kaiserreich der Vernunft auf den Spitzen seiner Bajonette errichten wollte. Die
Opfer Robespierres zählen nach Tausenden, sein Leichnam wurde in ein Massengrab
geworfen. Die Opfer Napoleons zählen nach Hunderttausenden, sein Leichnam
erhielt das prachtvollste Mausoleum, das je in Europa gebaut wurde. Zeigt hier die
Vernunft ihr wahres Antlitz? Jedes Gesicht ist ein halbierter Janus. – Die Ziele der
Revolution waren aus der Aufklärung erwachsen, die Mehrzahl der Gebildeten Euro-
pas fand sie gut. Nun aber wandten sich die meisten Denkenden von der Bewegung
ab. In der Frage, wie die Begeisterung für die Vernunft in die Bereitschaft zum Mas-
senmord umschlagen konnte, scheiden sich die Geister bis heute. War das eine para-
doxe Perversion der Vernunft oder eine logische Konsequenz ihrer Verabsolutierung?
b. Gegen die kompromittierte Rationalität wandte sich die Romantik, die Ge
genströmung zur Aufklärung. Sie brachte eine Bewegung, die sich von der Vernunft
auf das Gefühl, aus der Aktion in die Kontemplation zurückzog, die nicht mehr
von der Zukunft schwärmte, sondern von der Vergangenheit träumte. Die Vorliebe
für die Antike wurde durch eine Rehabilitierung des Mittelalters ergänzt. Gegen
den Imperialismus Napoleons richtete sich der deutsche Nationalismus der Frei-
heitskriege, der durch die Restauration des dynastischen Gottesgnadentums 1815
nur vorübergehend aufzuhalten war. Gegen den Materialismus der französischen
Aufklärer stemmte sich der deutsche Idealismus, der dem Kosmopolitismus das Ja
zum Volksstaat entgegensetzte1 und mit der Romantik das Ja zur Kontemplation
teilte. Schelling schrieb das stolze Wort: „Der Idealismus ist das allgemeine System
unserer Zeiten.“2
c. Die idealistische Philosophie in Deutschland beruht auf der platonisch-christ-
lichen Denktradition. Platon3 hatte im Höhlengleichnis die Phänomene als Schat-
tenbilder der Ideen beschrieben, die wir erst erkennen, wenn wir aus der Höhle der
landläufigen Meinungen heraustreten und die Dinge sozusagen mit geistigen Augen
betrachten. Der Apostel Paulus bezeichnete unser Wissen als Stückwerk, als Spiegel-
bild der göttlichen Wahrheit, deren wir erst teilhaftig werden, wenn wir aus dem
alten Aion in den neuen übergegangen sein werden.4 Beide Male wird unterschie-
den zwischen dem Schein und dem Wesen der Dinge, zwischen der Sache und dem
Bild, das jene ausdrückt, ohne mit ihr identisch zu sein.
d. Der Grundgedanke des Idealismus ist nachvollziehbar. Alles, was in Sprache
erscheint, beruht auf Bewußtsein. Das Bewußtwerden prägt das Bewußte. Der
immer vorhandene subjektive Faktor ist nach Art und Umfang unterschiedlich und
ein Problem nicht nur für die Wissenschaften, sondern bereits für deren methodi-
sche und philosophische Voraussetzungen. Kant hatte gezeigt, wie die sprachlichen
Resultate des Denkens auf dem dafür erforderlichen gedanklichen Instrumentarium
beruhen. Die dabei wirkenden regulativen Ideen wurden vom Idealismus zu konsti-
tutiven Potenzen erhoben und durch die Identitätsphilosophie in ein oberstes Prin-
zip verschmolzen, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind. Wie schon bei Anaxago-
ras und Plotin erschien alles Reale als Erzeugnis von Geist,5 vom Geist des Menschen,
vom Geist der Zeit, vom Geiste Gottes. Der durch Fichte in seiner Wissenschafts-
lehre aus dem Todesjahr Kants 1804 begründete spekulative Idealismus inspirierte
Hegel und faszinierte noch Benedetto Croce, wenn er schrieb, daß „eine Tatsache
geschichtlich ist, insofern sie gedacht wird“ und fortfährt, daß „außerhalb des
Gedankens nichts existiert.“ Geschichte spielt sich nicht in der Zeit ab, sondern, so
wie diese, ohne Anfang, ohne Ende, nur gegenwärtig in den Köpfen.6 Damit spricht
Croce freilich auch sich selbst eine reale Existenz außerhalb seines Kopfes ab, ver-
mutlich zu Unrecht. Ein vorläufig letztes Aufleuchten dieses, nun freudianisch
gefärbten Gedankens steht hinter dem linguistic turn von Hayden White 1987.7
e. Der deutsche historische Idealismus nimmt demgemäß an, daß die Geschichte
die allmähliche Verwirklichung eines vorgegebenen Konzepts, die fortlaufende
Offenbarung eines geistigen Prinzips sei, daß in den geschichtlichen Erscheinungen
ein irgendwie göttliches Wesen zum Ausdruck komme. Dabei lassen sich zwei
Denkschulen unterscheiden: eine Weltgeist-Schule und eine Volksgeist-Schule. Sie
setzen unterschiedliche Akzente. Die erste, näher mit der vorangegangenen Aufklä-
rung verbunden, betrachtet die Geschichte als Einheit, ihre Entwicklung als Fort-
schritt des Weltgeistes. Die einzelnen Völker dienen der Menschheit als ganzer oder
sind historisch irrelevant. Diese Ansicht finden wir bei Schelling und Hegel. Die
zweite, enger mit dem nachfolgenden Historismus verknüpfte Richtung versteht
die Geschichte als einen Völkergarten, in dem die einzelnen Nationen ihren jewei-
ligen Volksgeist entfalten. Der Fortschritt des Ganzen besteht in der Zunahme an
einzelnen Individualitäten. Diese Vorstellung wurde durch Wilhelm von Humboldt
ausgearbeitet, aber bereits von Herder skizziert und sei daher zunächst vorgestellt.
Romantik, die gegen den Kosmopolitismus der Aufklärung den einzelnen Nationen
zu ihrem Recht verhelfen wollte. Gegenüber der allein aufs Ganze schauenden
Geschichtsphilosophie der Aufklärer hatte Herder einen Blick auch fürs Individu-
elle. Schon er sah, daß die Phänomene ihres Charakters beraubt werden, wenn sie
zu Trittstufen eines „Höheren und Weiteren“ funktionalisiert, ja degradiert werden.
1b. Für die spätere Historie ist Herder namentlich durch den Gedanken des
Volksgeistes wichtig geworden. Die Idee von den Volksgeistern entspricht der Lehre
von den Völkerengeln, die als Schutzgeister der Nationen amtieren. Diese Vorstel-
lung hat Dionysius Areopagita, ein unbekannter Kirchenautor der Zeit um 500,
einerseits aus einer Notiz des Buches Daniel, andererseits aus der neuplatonischen
Engellehre entwickelt.8 Diese Geister sind personifizierte Ideen, wie sie laut Herder
hinter allen Erscheinungen und daher auch hinter Völkern stehen. Die Vorstellung
vom Volksgeist betrachtet die Lebensäußerungen eines Volkes als Ausdruck eines
unfaßbaren Prinzips, einer metaphysischen Substanz. Das zugrundeliegende Denk-
bild entstammt der organischen Metaphorik: so wie der einzelne Mensch in seinen
Handlungen seinen Charakter sichtbar zum Ausdruck bringt, so wie die einzelne
Pflanze ihren Lebenskeim in reale Formen verwandelt, so spreche sich auch in den
Handlungen, Institutionen und Erzeugnissen eines Volkes der betreffende Volks-
geist aus. Herder betrachtet die Weltgeschichte als Pflanzengarten, „wo hier diese,
dort jene menschliche Nationalpflanze in ihrer eigenen Bildung und Natur blühet.“
Die Vielfalt an Blumen verbildlicht Ordnung und Schönheit in der Völker
geschichte, die Abfolge der jährlichen Pflanzengenerationen veranschaulicht das
Wachsen, Blühen und Welken in den sich stetig erneuernden und verjüngenden
Völkern.9
1c. Wie Herder sich den Zusammenhang zwischen der als Einheit begriffenen
universalhistorischen Erziehung der Menschheit und der Vielfalt der Völker vorge-
stellt hat, wird nirgends klar, und man erfährt nicht, wie sich das Ziel der Geschichte
am Ende der Zeiten zum Gedanken der individuellen Selbstverwirklichung der ein-
zelnen Völker verhält. Jedenfalls verlören sie im Weltstaat ihre Eigenart. Herder
bietet für den Zusammenhalt nur eine Metapher an: „Die ganze Geschichte der
Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des
schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde.“10 Man fragt sich, wie das
angesichts der ungleichen Startbedingungen zu denken ist und wer denn eigentlich
Kampfrichter sein soll, wo doch die Völker selbst laufen.
1d. Herders Hinwendung zu den kleinen, „ungebildeten“ Völkern, den Serben
und Balten, den Türken und den Schotten, läßt keine Rangordnung unter den
Nationen erkennen. Gewiß wies er den Juden eine Vorzugsstellung am Beginn der
Geschichte zu, aber für deren Vollendung kannte er keinen Favoriten. Sein Patrio-
tismus, der sich etwa 1770 in der Ode ›An den Genius von Deutschland‹ aus-
spricht, begnügt sich mit einem Bekenntnis zu Arminius. Herders multikultureller
Ansatz zeigt sich in seiner Sammlung von Volksliedern, in den ›Stimmen der Völ-
ker‹. Er sah in diesem, bis dahin unbeachteten Kulturgut einen besonders prägnan-
ten Ausdruck der Volksgeister, ein Zeugnis ihrer „Jugend“. Er sammelte das Mate-
rial von Indien bis nach Peru. Damit schuf er für kleinere Völker gegenüber dem
drückenden Übergewicht der europäischen Zivilisation eine Grundlage ihres natio-
nalen Selbstbewußtseins, das namentlich bei den slawischen Völkern weitreichende
Wirkungen für ihr Selbstwertgefühl hatte. Es ist merkwürdig, daß der durch die
Europäisierung bedrohte Volksgeist erst wieder durch Europäer belebt werden
mußte, daß bei aller Zerstörung alter kultureller Substanz durch die Europäer eben
diese doch wieder den Völkern zu einem Verständnis ihrer Eigenständigkeit verhol-
fen haben, nachdem die Völker ihre eigenen Kulturdenkmäler teilweise in empö-
rendem Ausmaße vernachlässigt oder gar zerstört hatten.
*
1e. Der deutsche Patriotismus entzündete sich an Napoleon. Die Demütigung bei
Jena und Auerstedt weckte das Bedürfnis nach einem Ausgleich auf höherer Ebene,
und ihn lieferte, erfüllt vom „Geist der Deutschheit“ Johann Gottlob Fichte (1762
bis 1814) mit seinen öffentlichen ›Reden an die deutsche Nation‹ 1804 bis 1808 im
Runden Saal der Berliner Akademie.11 Zwar verwirkliche sich in jedem Volkstum
eine Idee des Göttlichen, doch gebühre unter allen neueren Völkern den deutschen
Jünglingen der „Vorschritt in der Entwicklung“ zur menschlichen Vervollkomm-
nung. „Versagt ihr, so ist alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Ret-
tung aus der Tiefe seiner Übel dahin.“12
1f. Die Sonderstellung der Deutschen begründet Fichte mit ihrer Sprache. Wäh-
rend die Franzosen und in geringerem Grade auch die Engländer durch die lateini-
sche und römische Tradition überfremdet worden seien, hätten die Deutschen ihre
ursprüngliche Sprache rein bewahrt, und das erhebe sie – neben den Juden und
Griechen – in den Rang eines Urvolkes. Da Juden und Griechen aber bereits die
Bühne verlassen haben, bilden die Deutschen den letzten Rest des „ursprünglichen
Normalvolkes“, das einst im „Zustande der vollkommenen Vernunftkultur“ lebte.
Sie waren von Gott dazu ausersehen, das von den romanischen Völkern verfälschte
Christentum in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen. Das war die
Leistung Luthers. So falle seinen Landsleuten die Aufgabe zu, mit dem Deutschen
Reich das Vernunftreich, ja, das ewige Reich Gottes auf „unserer Kugel“ zu verwirk-
lichen.13 Fichte erblickt die „Morgenröte der neuen Welt“. Er fordert eine Erzie-
hungsreform in seinem Sinne, so wie das nach Platon auch Rousseau und Kant
getan haben. Dadurch will er den „deutschen Namen zum glorreichsten unter den
Völkern erheben“. So werde die Nation, sittlich gereinigt, Wegweiserin für die
Menschheit, ja „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt“.14
1g. Fichtes biblisch und kantianisch gefärbter „Weltplan“ wird bestimmt durch
Gott, philosophisch neutralisiert durch den allem „innewohnenden ewigen Geist der
Zeiten und Welten“. Die Annahme einer „toten Natur am Ruder der Weltregierung“
erklärt Fichte für „undeutsch“, desgleichen die Vorstellung von „Stillstand, Rückgang
und Zirkeltanz“.15 Die Menschheit durchläuft in fünf Etappen auf dem Wege fort-
schreitender Kultur, ausgehend vom Stande der paradiesischen Unschuld und der
instinktgeleiteten Vernunft, ein langes Stadium der Sünde, um als „Endzweck des
Erdenlebens“ die Freiheit der bewußten Vernunft, die „höhere Sphäre der Ewigkeit“
zu erringen. Damit wird sie die ursprüngliche, gerechtfertigte Heiligkeit wie einst im
Paradies wiedergewinnen.16 Vorläufig befindet sich die Menschheit aber noch auf der
dritten Stufe der Treppe, in der Mitte der Zeit, in der „vollendeten Sündhaftigkeit“.17
1h. Das aber ändert sich nunmehr. Der Philosoph verheißt das ewige Zeitalter
des Geistes, des Friedens und der Freiheit. Sobald die „Wilden“ – vermutlich die
Kolonialvölker – gezähmt sein werden, können die Menschen vereint in einem staa-
tenlosen Überstaat sich im Genuß erreichter Freiheit und vollendeter Zivilisation
höchster Kultur befleißigen und erfreuen. Der Patriot Fichte versteht sich als
„christlicher Europäer“ und kann sich im „Weltbürgersinne“ über das, was kommt,
beruhigen, denn was auch immer geschieht, ist gottgewollt, notwendig und gut.18
schätzt er indes als Literaten –, steigt dann aber doch einmal herab auf die Ebene
der gemeinen Fakten, indem er die Entstehung des Christentums, die Völkerwan-
derung und die Kreuzzüge als „Werkzeuge einer ewigen Ordnung der Dinge“ deu-
tet. Auch die maßgebenden Individuen – so vermutlich auch er selbst – sind „Werk-
zeuge der absoluten Notwendigkeit“, die auf mysteriöse Weise mit der Freiheit
identisch ist. Hatte Kant es für inhuman erklärt, Menschen lediglich als Zwecke zu
benutzen, so gilt das nicht für den Täter droben. Gott handelt unmenschlich.27
2g. Alles Geschehen unterstellte Schelling dem „Urphänomen der Polarität“. Es
vollzieht sich als „ewiges Aus- und Einatmen“, als Wechsel von Systole und Dia-
stole, seitdem sich „zuerst Irdisches und Himmlisches schied.“28 Die den Wandel
bestimmenden Gegensätze seien einer anfänglichen Einheit entsprungen, um am
Ende zu ihr zurückzukehren. Dies ist das christliche Verlaufsschema vom Urpara-
dies durch das Jammertal zum Endparadies, entsprechend der realistischen säkula-
ren Vorstellung vom Austritt des Menschen aus der Natur und seiner künftigen
Rückkehr zu ihr. Schelling bestreitet eine Entwicklung aus urtümlicher Barbarei zur
kulturellen Höhe der Gegenwart, indem er erklärt: „Es gibt keinen Zustand der
Barbarei, der nicht aus einer untergegangenen Kultur stammte.“ Der „Zustand der
Kultur“ herrschte am Anfang der Geschichte und kehrt an deren Ende „in der letz-
ten Vollendung“ wieder.29 Schelling unterstellt eine Dreiphasenfolge, zentriert
durch die Entstehung des Christentums. Steht Homer hier Pate? Die zentrifugale
Bewegung, sozusagen die Ilias der Menschheit, der Zug der Achäer aus der Heimat
in die Fremde (1), stagniert während der Belagerung Trojas (2) und schlägt um in
eine zentripetale Richtung, gewissermaßen die Odyssee, in die Heimkehr des grie-
chischen Dulders zu Penelope (3) wie der Heimgang der Menschen zu Gott.
2h. Schelling teilt die als Offenbarung verstandene Geschichte auch in anderer
Form in drei Teile.30 „Wir können drey Perioden jener Offenbarung, also auch drey
Perioden der Geschichte annehmen. Den Eintheilungsgrund dazu geben uns die
beyden Gegensätze, Schicksal und Vorsehung, zwischen welchen in der Mitte die
Natur steht, welche den Uebergang von dem einen zum andern macht.
Die erste Periode ist die, in welcher das Herrschende nur noch als Schicksal,
d. h. als völlig blinde Macht kalt und bewußtlos auch das Größte und Herrlichste
zerstört; in diese Periode der Geschichte, welche wir die Tragische nennen können,
gehört der Untergang des Glanzes und der Wunder der alten Welt, der Sturz jener
großen Reiche, von denen kaum das Gedächtnis übrig geblieben, und auf deren
Größe wir nur aus ihren Ruinen schließen, der Untergang der edelsten Menschheit,
die je geblüht hat, und deren Wiederkehr auf die Erde nun ein ewiger Wunsch ist.
Die zweyte Periode der Geschichte ist die, in welcher, was in der ersten als
Schicksal, d. h. als völlig blinde Macht erschien, als Natur offenbart, und das dunkle
Gesetz, das in jener herrschend war, wenigstens in ein offenes Naturgesetz verwan-
delt erscheint, das die Freyheit und die ungezügeltste Willkür zwingt, einem Natur-
plan zu dienen und so allmählig wenigstens eine mechanische Gesetzmäßigkeit in
der Geschichte herbeiführt. Diese Periode scheint von der Ausbreitung der großen
römischen Republik zu beginnen, von welcher an die ausgelassenste Willkür in all-
gemeiner Eroberungs- und Unterjochungssucht sich äußernd, indem sie zuerst die
Völker allgemein untereinander verband, und was bis jetzt von Sitten und Geset-
zen, Künsten und Wissenschaften nur abgesondert unter einzelnen Völkern bewahrt
wurde, in wechselseitige Berührung brachte, bewußtlos, und selbst wider ihren
Willen einem Naturplan zu dienen gezwungen wurde, der in seiner vollständigen
Entwicklung den allgemeinen Völkerbund und den universellen Staat herbeiführen
muß. Alle Begebenheiten, die in diese Periode fallen, sind daher auch als bloße
Naturerfolge anzusehen, so wie selbst der Untergang des römischen Reichs weder
eine tragische, noch moralische Seite hat, sondern nach Naturgesetzen nothwendig
und eigentlich nur ein an die Natur entrichteter Tribut war.
Die dritte Periode der Geschichte wird die seyn, wo das, was in den früheren als
Schicksal und als Natur erschien, sich als Vorsehung entwickeln und offenbar werden
wird, daß selbst das, was bloßes Werk des Schicksals oder der Natur zu seyn schien,
schon der Anfang einer auf unvollkommene Weise sich offenbarenden Vorsehung
war. Wann diese Periode beginnen werde, wissen wir nicht zu sagen. Aber wenn diese
Periode seyn wird, dann wird auch Gott seyn.“ Die drei Abschnitte werden von
Schelling chronologisch näher bestimmt. Der erste umfaßt den Alten Orient und die
Griechen, der zweite reicht von den Römern bis in die Gegenwart, während der
dritte in der Zukunft erwartet wird. Die drei regierenden Prinzipien sind in aufstei-
genden Stufen angeordnet: vom blinden Schicksal über eine ahnende Natur zu einer
sich offenbarenden Vorsehung. Schelling formuliert den bedenkenswerten Satz: „Der
Mensch hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie
zum voraus berechnen läßt.“31 Darin liegt eben die Offenbarung, daß anders als
Johannes in seiner Höhle auf Patmos, wir sie nicht im Vorgriff erfassen können.
2i. Schelling hat sein Dreiphasenmodell später noch einmal modifiziert und
theologisch legitimiert. In seinen Berliner Vorlesungen von 1841 wählte er als
Wende von der ersten zur zweiten Periode wie Joachim und Lessing die Inkarnation
und als Übergang zur dritten die Gegenwart. Die zweite, christliche Zeit wird wie-
derum gedrittelt. Vorgebildet fand er das in der Dreizahl der Apostel Petrus, Paulus
und Johannes, die er dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist zuordnete und
auf die Abfolge Katholizismus, Protestantismus, Vernunftreligion des reinen Geistes
bezog. Die bevorstehende welthistorische Coda ist das Reich Gottes. Schelling ver-
stand, ähnlich wie Hegel, seine Philosophie als „neue Bewußtseinsstufe“ und sich
selbst als Geburtshelfer einer „neuen Religion“.32
für Herder einen blühenden Garten, für Humboldt eine eindrucksvolle Baum-
gruppe, für Fichte ein Wetterleuchten, für Schelling ein geheimnisvolle Nebelbank,
für Marx einen Vulkan, für Nietzsche eine Gewitterwolke und für Hegel ein ganzes
Gebirge, das Kontinente trennt, von jeder Seite anders erscheint und schwer ersteig-
bar ist. Vergleichsweise zugänglich ist es über den Pfad der Geschichtsphilosophie,
der aber gleichfalls steinig ist und in dünne Höhenluft führt.
3b. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) ist so wie sein früherer
Freund und späterer Gegner Schelling aus dem Tübinger theologischen Stift her-
vorgegangen und verstand sich als der Vollender des absoluten Idealismus. Von ihm
gibt es zwei Deutungen der Weltgeschichte. Die erste, skizzenhafte, findet sich in
seinem Hauptwerk, in der ›Phänomenologie des Geistes‹, die Hegel zwar nicht, wie
es bisweilen heißt, unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena und Auer-
stedt, aber in der Nacht zuvor, am 13. Oktober 1806 abgeschlossen hat. In der
Phänomenologie entfaltet Hegel die Grundfigur seiner Vorstellung von Geschichte.
Er definiert: „Die Geschichte ist das wissende, sich vermittelnde Werden – der an
die Zeit entäußerte Geist“, der sich im Zustand der Entfremdung33 von sich selbst
auf dem Wege zu sich selbst befindet und diesen mit seiner Bewußtwerdung durch
Hegel vollendet hat.34 Die Frage, warum der Weltgeist den doch beschwerlichen,
nicht eben vernünftigen Umweg durch die Weltgeschichte zu sich selbst gewählt
hat, ist wohl blasphemisch, zumal der Fragende sich damit selbst in Frage stellt,
quod absit! Doch erfordert die Vorstellung, wie man sich von sich selbst entfernen
und zu sich selbst zurückkehren kann, eine Verständnishilfe. Hegel hatte offenbar
das klassische Werwolfmotiv im Sinn, wonach die Seele des Schlafenden als versipel-
lis, Fellwechsler, die Gestalt eines Wolfes annimmt, der allerlei Unheil anrichtet,
und morgens in den Körper des Schlafenden zurückkehrt. Dichter erzählen davon,
antike Ärzte betrachten die Ekstase der lykanthrōpia als Form der Schizophrenie.35
3c. Nachdem schon die Zeitgenossen über die schwere Verständlichkeit der Phä-
nomenologie geklagt hatten, gelang dem russischen Philosophen Alexandre Kojève
1947 eine Interpretation, die klare Linien erkennen läßt und nachfolgend benutzt
wurde.36 Die tragenden Gedanken entwickelt Hegel im 4. Kapitel der Phänomeno-
logie unter dem Titel ›Herrschaft und Knechtschaft‹. Die Geschichte vollzieht sich
demnach im Rhythmus der Dialektik.37 Dabei handelt es sich ursprünglich um eine
philosophische Methode, um den Versuch, der Wahrheit im Gespräch näherzu-
kommen, so wie Platon und Cicero das in ihren Dialogen vorgeführt haben. Der
Idealist Schelling, bei dem Vorstellung und Wirklichkeit verschwimmen, übertrug
den Gedankengang auf die Ereignisfolge in dem Dreischritt von These zu Antithese
zu Synthese. So auch Hegel, bei dem der Weg des Weltgeistes im Zickzack zum
Ziele führt. In der ersten geschichtlichen Periode erzwingt der künftige Herr seine
Anerkennung, indem er als Krieger seine Freiheit höher schätzt als sein Leben und
den künftigen Knecht besiegt, dem sein Leben lieber ist als seine Freiheit, der sich
ergibt und bereit ist, für den Herrn zu arbeiten. Der Herr kommandiert und
k onsumiert, der Knecht produziert und laboriert. In der so entstandenen – sit venia
verbo – Sklavenhaltergesellschaft liegen die politischen Rechte bei den Waffen
trägern.
3d. Die zweite Periode kommt zustande, indem der Knecht durch seine Arbeit
die Herrschaft über die Natur gewinnt und dabei die Technik entwickelt, die ihm
Macht verleiht und ihm schließlich erlaubt, die Abhängigkeit von seinem Herrn zu
beenden. Die sich so vollziehende schrittweise Überwindung der Unfreiheit ist der
Inhalt der folgenden Menschheitsgeschichte. Die durch den Herrn erzwungene,
vom Knecht geleistete körperliche und geistige Arbeit verändert die Welt und
bewirkt so den Fortschritt, während die Kämpfe der Herren untereinander bloße
Machtverschiebungen und Heldenlieder zur Folge haben. Hier denken wir an den
Traktat über den Wettstreit zwischen Homer, der den Ruhm der Krieger pries, und
Hesiod, der den Segen der Arbeit besang und dafür den Preis davontrug – so in der
postheroischen römischen Kaiserzeit.38 Bei Hegel kompensiert der Knecht den Ver-
lust der Freiheit durch Ideologien in der Art des Stoizismus, der dem objektiv
Abhängigen den subjektiven Trost bietet, die wahre Freiheit bestünde in der Beja-
hung der gegebenen sozialen Situation. Die damit verbundene Langeweile wird
durch die mit Leistung erworbene Anerkennung nicht gestillt. Daher brechen die
zum Arbeiter aufgestiegenen Knechte aus und besiegen ihre Herren in einem End-
kampf, durch den sie selbst zuletzt mit jenen zu freien Bürgern verschmelzen und
den allgemeinen und homogenen Staat schaffen. Nun kann sich die Individualität
verwirklichen, die Geschichte findet ihren Abschluß.
3e. Kojève alias Hegel benutzt hier erkennbar die Französische Revolution als
Kompendium und Modell der Weltgeschichte, die er so wie die gesamte Wirklich-
keit als Erscheinungsform des „Geistes“ deutet. Und eben dieses macht sie dem
Denkenden wesensverwandt und verständlich. Erreichbar ist die volle Erkenntnis
freilich erst am Ende der Geschichte, an der Grenze zwischen Tag und Nacht, wenn
die Eule der Minerva ihren Flug beginnt, wie Hegel 1820 in der Vorrede zu den
›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ schrieb. Der Vogelfreund darf allerdings
anmerken, daß der Steinkauz (Athena noctua) gerade nicht zu den lichtscheuen
Eulen zählt, sondern, wie Brehm bestätigt, „sich bei Tage sehr gut zu benehmen
weiß.“
3f. Es war für Hegels Weltgeist nicht leicht, zu sich selbst zu gelangen, Hegel
bewunderte ihn, der die „Geduld gehabt“ habe, „in der langen Ausdehnung der
Zeit ... die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte ... zu übernehmen“, ohne welche
er allerdings „das Bewußtsein über sich selbst“ nicht erlangen und die Entfremdung
von sich selbst nicht überwinden konnte. Das Bewußtsein von sich und die Wie-
dervereinigung mit sich gelang dem Weltgeist dann in Thüringen.39 Im Herbst
1806 war es endlich so weit, als das, was Hegel idealiter am Schreibtisch leistete,
Napoleon durch seinen Sieg über die Preußen realiter auf dem Schlachtfeld schaffte.
Als die Franzosen am 13. Oktober 1806 die Stadt besetzten, erkannte Hegel, wie er
ten für Hegel die Sittlichkeit, das erste „Reich“ oder „Prinzip“ oder „Moment“ der
Geschichte. Natürlich meint Hegel nicht, daß der Orient die Sittlichkeit rein ver-
wirklicht habe, aber er überläßt ihm nur die Wahl zwischen blindem Gehorsam
und „greulicher Willkür“. Demselben unfreundlichen Asienbild huldigt Hegel mit
der Ansicht, daß die Staaten des Orients eigentlich keine Staaten seien, ihre
Geschichte eigentlich keine Geschichte sei – sozusagen versteinerte Kindheit.
3j. Nichtsdestoweniger geht der Wachstumsvorgang andernorts weiter, und als
Endphase des ersten Abschnitts folgt das Knabenalter, das den Übergang von Ost-
nach Mittelasien verbildlicht und sich dabei „raufend und herumschlagend ver-
hält“. Dabei denkt Hegel wohl vornehmlich an die achämenidischen Perser, die er
im engeren Sinne als „das erste geschichtliche Volk“ definiert. „In Persien beginnt
das Prinzip des freien Geistes gegen die Natürlichkeit“, hier setzt der Fortschritt ein.
Schon Augustinus hatte die Kindheit des Menschengeschlechts, die bei ihm bis zur
Sintflut reichte, von den folgenden Altersabschnitten stärker unterschieden, als
diese voneinander getrennt seien. Er hatte das damit begründet, daß der Mensch an
die ersten Jahre keine Erinnerung habe. So differenziert nun auch Hegel zwischen
der frühen organischen und der späten bewußten Entwicklung der Menschheit,
welch letztere erst mit dem Knabenalter beginnt.47
3k. Das Jünglingsalter erlebte die Menschheit wie bei Herder in der griechi-
schen Welt. „Das griechische Leben ist eine wahre Jünglingstat. Achill, der poeti-
sche Jüngling hat es eröffnet, und Alexander der Große, der wirkliche Jüngling, hat
es zu Ende geführt.“ Hatte der Orient die Sittlichkeit bloß in unbewußtem Tradi-
tionalismus und kollektivem Konformismus verwirklicht, so verschmilzt sie nun
mit der Willkür der Individuen. Das zweite Hauptprinzip der Weltgeschichte
erscheint: die Individualität. „Dieses Reich ist wahre Harmonie, die Welt der anmu-
tigsten, aber vergänglichen ... Blüte“. Hegel bewundert bei den Griechen die unbe-
fangene Einheit zwischen Individuum und allgemeinem Zweck, vermißt aber noch
die Sittlichkeit.48
3l. Das nächste Stadium, das Mannesalter, ist sodann im römischen Imperium
erreicht. Hier tritt das dritte Weltprinzip in Erscheinung: der Staat als das „Reich
der abstrakten Allgemeinheit“, der, im Gegensatz zu den älteren Staaten, seinen
Namen wirklich verdient. Trotz des anerkannten Fortschritts geizt Hegel Rom
gegenüber mit seiner Sympathie, hier spüren wir die philhellenische Strömung sei-
ner Zeit, die auch Herders Urteil über Rom getrübt hatte. Hegel spricht von der
„sauren Arbeit“ dieser Periode, behauptet die Lösung von Gesamt- und Einzelinter-
esse, ja die Unterjochung von diesem durch jenes. Der Gegensatz zwischen Staat
und Bürger äußere sich im kaiserzeitlichen Despotismus, werde aber wieder ver-
söhnt, und zwar weltlich im Privatrecht, einem Ersatz der Freiheit, und geistig im
Christentum, deren wahrer Erfüllung.49
3m. So gelangt Hegel mit dem christlich-germanischen Reich ins vierte und
letzte Stadium der Geschichte und damit zu sich selbst. „Der germanische Geist ist
der Geist der neuen Welt, deren Zweck die Realisierung der absoluten Wahrheit als
der unendlichen Selbstbestimmung der Freiheit ist“. Die Germanen standen „im
Dienste des Weltgeists“, um den Begriff der Freiheit „aus dem subjektiven Selbst
bewußtsein frei zu produzieren.“50 Die von Hegel unterstrichene Verbindung
zwischen Germanentum und Freiheit hat eine lange Vorgeschichte. Schon die
antike Ethnographie hat beide verknüpft. In Anlehnung an die Klimatheorie
des Hippokrates führte Aristoteles die Freiheitsliebe der nordeuropäischen Völker
auf das kalte Wetter zurück, das einen raubtierhaften, unbändigen Menschentyp
erzeuge. Der Nordländer tauge daher wohl zum Kriegsdienst, aber besitze keine
Kunstfertigkeit. Tacitus übernahm das Bild und fand den germanischen Freiheits-
willen vor allem im Widerstand gegen Rom bestätigt. Arminius, den er durchaus
als Verräter hätte darstellen können, beschreibt er als Freiheitshelden,51 der ger
manische Freiheitsstolz (Germanorum libertas) sei für Rom bedrohlicher als die
Macht des parthischen Königs. Humanisten und Aufklärer haben diese Begriffs
verbindung übernommen, und nicht nur Deutsche wie Wimpheling und Ulrich
von Hutten dachten so, sondern auch Engländer wie Milton (1651), Harrington
(1656) und Bolingbroke (1751/54) und Franzosen wie Hotman (1573), Boulain-
villiers (1722) und Montesquieu (1748). Die Fronde opponierte mit dem fränki-
schen Freiheitsgedanken gegen den „römischen“ Absolutismus des französischen
Königs.52
3n. Hatte Fichte, so wie Kant, das Ziel der Geschichte in die Zukunft verlagert,
so sieht Hegel es bereits in der Gegenwart erreicht. Denn er erkennt im vierten
Stadium das letzte der Geschichte, es sei ihr Greisenalter, eine Art otium cum digni-
tate.53 „Das natürliche Greisenalter ist Schwäche, das Greisenalter des Geistes aber
ist seine vollkommene Reife“. Wie in den antiken Lebensvergleichen, so liegt auch
bei Hegel der kritische Punkt am Ende. Hier sträubt man sich üblicherweise gegen
die Logik des Bildes, das zum Tode führt. Zunächst entdeckt Hegel den Gegensatz
zwischen christlicher Milde und germanischem Draufgängertum einerseits und den
zwischen Staat und Kirche andererseits und erklärt das Mittelalter für das „widrigste
und empörendste Schauspiel, das jemals gesehen worden“, denn dort sei das „Ver-
nunftwidrigste, Roheste, Schmutzigste durch das Religiöse begründet und bekräf-
tigt“ worden.54 Wie bei Kant,55 ja schon in der Bibel,56 wird der glücklichen End-
phase eine vorletzte Zeit des Unglücks vorgeschaltet. Geistesgeschichtlich erklärt
sich das aus der überlieferten Vorstellung vom „finsteren Mittelalter“. Der Pro
testant Hegel assoziiert dies mit Inquisition und Dogmatismus. Methodisch bewäl-
tigt wird der Umschlag mit Hilfe der Dialektik. So war das finstere Mittelalter
durch die Idee des Pendelschlags zu verschmerzen. Die Philosophie erkenne, daß
der Tiefpunkt nötig war um des nachfolgenden Höhepunktes willen. Nur aus der
völligen Entfremdung gewinne der Geist seine wahrhafte Versöhnung. Und diese
verlegt Hegel in den Staat seiner Zeit: „Der Geist findet sich in die Weltlichkeit und
bildet diese als ein in sich organisches Denken aus.“57
3o. Auf religiösem Gebiet ist durch die Reformation der letzte Abschnitt
eröffnet. Sie zeigt, daß der Mensch durch sich selbst bestimmt sei, frei zu sein. Auf
katholischer Basis sei ein vernünftiges Staatswesen unmöglich. Im Bereich der Poli-
tik bildet nun nicht mehr der Imperialismus eines Napoleon, sondern der aufge-
klärte Absolutismus Friedrichs des Großen die höchste Stufe. Somit wird auch die
vierte Phase zweigeteilt in die Abschnitte, die wir Mittelalter und Neuzeit nennen.
Diese letzte bedeutet die Vollendung. Das vierte Prinzip, die Freiheit, ist verwirk-
licht, und das „Ziel der Weltgeschichte“ ist in der konstitutionellen preußischen
Erbmonarchie erreicht.58
3p. Hegels Geschichtsbegriff ist auf den Staat fixiert. Die Renaissance-Humani-
sten dachten vornehmlich an Kunst und Kultur, die Aufklärer stellten die Geistes-
entwicklung in den Mittelpunkt, auch Kant sah in seinem Völkerbund keinen
Selbstwert, sondern eine Voraussetzung für die Entfaltung des Geistes durch den
Gedankenaustausch in Frieden und Freiheit. Bei Hegel verkörpert nun aber der
Staat selbst die Sittlichkeit, und er ist die höchste Erscheinungsform des Geistes
Der Staat sei „die vernünftige und sich objektiv wissende und für sich seiende Frei-
heit“, ja „die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.“ Mehr noch: „Man
muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren.“59 Die Zeit vor der Staa-
tenbildung und die Phänomene daneben bleiben außer Betracht. Ein künftiger
Kosmopolitismus kam für ihn nicht in Frage.
3q. Indem Hegel das letzte Stadium der Weltgeschichte bereits erreicht glaubt,
vertritt er wieder eine innergeschichtliche Eschatologie, wie wir sie bei Vergil gefun-
den haben. Dies unterscheidet ihn von der Aufklärungshistorie, die das Ziel – wenn
überhaupt – erst in der Zukunft erreichbar glaubte. Daraus ergibt sich auch ein
andersartiges Verhältnis zur Praxis, als wir es bei den Aufklärern gefunden haben.
Hegel kritisiert in der Politik alles „negative Tadeln“, ihm ist dies ein Zeichen der
Unreife, namentlich bei der Jugend, die bekanntlich immer unzufrieden sei. Wir
sollten einsehen, „daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll, daß das wahrhafte
Gute, die allgemeine göttliche Vernunft auch die Macht ist, sich selbst zu vollbrin-
gen.“60 Wenn Hegel die Tadler tadelt, tut er freilich dasselbe wie sie und ist mit
ihnen einig darüber, daß eine Welt, in der es Störenfriede gibt, doch nicht ganz so
ist, wie sie sein sollte. Wenn alles, was geschieht, vernünftig ist, dann ist auch das
Tadeln vernünftig, aber die Kritik an den Kritikern ist ebenso unvernünftig wie
Kritik durch die Kritiker.
3r. Hegels uneingeschränktem Ja zur Gegenwart entspricht sein ungeschmä-
lertes Ja zur Vergangenheit. Während für Herder das moralische Urteil über Ver
gangenes eine Form darstellte, Gegenwärtiges zu kritisieren, lehnt Hegel jedes
Moralurteil ab. Das erscheint ihm bloße Schulmeisterei des Weltgeistes. Die Welt-
geschichte bewege sich „auf einem höheren Boden als der ist, auf dem die Moralität
ihre eigentliche Stätte hat“; die Leidenschaften in der Geschichte erscheinen ihm als
notwendige Mittel, womit der Weltgeist seinen höheren Zweck fördert, als „List der
Vernunft“.61 Hier variiert Hegel einen geläufigen Gedanken, den vor ihm Augusti-
nus, ja schon Jesaja ausgesprochen hat.62
3s. Hatte Kant die Fortschritte in der Staatskunst für das Kriterium des histo-
risch Bemerkenswerten bestimmt und die Erinnerung daran als Mittel zu weiteren
Verbesserungen betrachtet, sieht Hegel jedes Entwicklungsstadium eines Staatswe-
sens im organischen Zusammenhang mit der jeweiligen Geistesstufe der Völker. Wo
er hinschaut, ist alles da, wo es hingehört, so wie es zu sein hat. Wo es anders
scheint, da fehlt dem Betrachter die nötige Einsicht in die Notwendigkeit des Wirk-
lichen, die Unmöglichkeit des Unwirklichen.
3t. Kant hatte in der bisherigen Geschichte Rückschläge zugegeben, glaubte aber,
daß der „Keim der Aufklärung“ stets überdauert habe und sich doch endlich durch-
setzen werde. Hegel hingegen leugnet die „Rückschläge als äußerliche Zufälligkei-
ten“, ihm erscheint die Trauer gegenüber allem Elend, das durch die Gewalttätigkeit
einzelner Gruppen erzeugt worden ist, als bloß selbstgefällige Trübsal, als Sentimen-
talität. Wer in der Geschichte Mißerfolge hatte – seine Absichten mögen so edel
gewesen sein, wie sie wollen – der war von Gott verlassen, denn das „Recht des Welt-
geistes geht über alle besonderen Berechtigungen.“ Der Sieger vollstreckt den Auf-
trag des Weltgeistes, bis er selbst dessen Opfer wird. In jedem Untergang vollziehen
sich eine Verjüngung und ein Fortschritt. Völker sterben immer nur naturgemäß,
„gewaltsamen Todes kann ein Volk nur sterben, wenn es natürlich tot in sich gewor-
den.“63 Völkermord gibt es nicht, nur Totengräber.
3u. Das Freiheitsbewußtsein ist das hehre Ziel, „dem alle Opfer auf dem weiten
Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden.“ Wenn wir die
„Geschichte als diese Schlachtbank“ betrachten und fragen, „welchem Endzweck
diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind“, so müßten wir mit Hegel erken-
nen, daß dies das Freiheitsbewußtsein des Weltgeistes ist, für den kein Opfer zu groß
war. Die Weltgeschichte sei nicht der Boden der Moral, nicht der Boden des Glücks;
„die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“64 Die Geschichte dient dem
Selbstgenuß des Weltgeistes, sie soll sein „Sein“ verwirklichen, „daß er selig werde.“65
3v. Eine besondere Funktion in diesem Geschichtsbild haben die welthistori-
schen Individuen, „Heroen“ wie Alexander, Caesar und natürlich Napoleon. Hegel
nennt die großen Männer die „Geschäftsführer des Weltgeistes“, die ihr Lebens-
glück großmütig ihrem welthistorischen Zweck opfern und das tun, „was an der
Zeit ist.“ Bei Droysen sind es dann die „Werkmeister“, bei Croce die „Werkzeuge“
des universalen Geistes, der durch sie den Bau der Weltgeschichte vollendet. Das
Denkbild ist biblisch, da bei Jeremia die Babylonier als „Hammer des HErrn“, bei
Jesaja die Assyrer als „Geißel Gottes“ erscheinen.66 Die subjektiven Beweggründe
der Auftragnehmer interessieren Hegel nicht. Sie dienen unbewußt objektiven
Zwecken und dürfen alles. „Aber was diese Individuen wollen und tun, hat die
höhere Berechtigung des Weltgeistes für sich und muß endlich den Sieg davontra-
gen.“. Die Kosten nimmt Hegel hin.67 Nach dem katastrophalen Rückzug aus Ruß-
land hatte Napoleon am 26. Juni 1813 in Prag zu Metternich bemerkt: „Un homme
comme moi se fout de la vie d’un million d’hommes“,68 und das hätte Hegel nicht
erschüttert. Denn „solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten,
manches zertrümmern auf ihrem Wege.“ Dasselbe ereignet sich, wo Hegel einzel-
nen Völkern die geschichtliche Aufgabe zuteilt, Träger des Weltgeistes zu sein. Sol-
che Völker seien in ihrer Periode die herrschenden, sie vertreten das absolute Recht,
dagegen seien „die Geister der anderen Völker rechtlos“, und sie, wie die, deren
Epoche vorbei ist, „zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.“ Wie für Schiller so ist
auch für Hegel die Weltgeschichte das permanent amtierende Weltgericht.69 Es
führt zum Freispruch für Täter und Töter.
3w. Hegels Fortschrittsglaube zeigt sich grenzwertig in seinem Kommentar zur
Erfindung des Schießpulvers. Er erklärt: „Die Menschheit bedurfte seiner und alsobald
war es da“. Wie beim Tischlein-Deck-dich. Das Schießpulver „war Hauptmittel zur
Befreiung von der physischen Gewalt und zur Gleichmachung der Stände. Mit dem
Unterschied in den Waffen schwand auch der Unterschied zwischen Herrn und Knech-
ten. Das Schießpulver ... hat eine vernünftige, besonnene Tapferkeit, den geistigen Mut
zur Hauptsache gemacht“. Tapferkeit ohne persönliche Leidenschaft wird möglich,
„denn beim Gebrauch der Schießgewehre wird ins Allgemeine hineingeschossen, gegen
den abstrakten Feind, und nicht gegen besondere Personen.“ Was hätte Hegel zur
Atombombe gesagt? Übrigens ist Hegel hier nicht originell. Schon Leibniz konnte das
Schießpulver einer wohlmeinenden Vorsehung zurechnen. Ganz anders Luther. Dieser
meinte, die Welt sei nur durch eine Vergeßlichkeit Gottes entstanden. Denn hätte er an
das „schwere Geschütz“ gedacht, hätte er die Welt nicht erschaffen.70
3x. Hegel erklärt „Gott regiert die Welt“ in der Gestalt des „Geistes“71 und be
zeichnet seine Geschichtsphilosophie in unpraktischer Absicht eingangs wie ausgangs
als Theodizee.72 Diesen Begriff hatte Leibniz 1697 geprägt und dann 1710 in seinem
so betitelten Werk dem lieben Gott (theos) bescheinigt, daß er die Welt gerecht (dika-
ios) regiere. „Wenn das geringste Übel, das in der Welt geschieht, fehlte, dann wäre es
nicht mehr diese Welt, die, alles ein- und abgerechnet, von dem Schöpfer, der sie
gewählt hat, als die beste befunden worden ist.“73 Leibniz bestätigt Gott, was dieser
selbst am Freitag der Schöpfungswoche einst sagte: „Und Gott sah an alles, was er
gemacht alles, und siehe, es war sehr gut.“74 Die Theodizee nimmt gewissermaßen das
Jüngste Gericht vorweg und bildet ein Tribunal, vor dem der Allmächtige beschuldigt
wird, die Übel der Welt nicht zu verhindern. Der Angeklagte wird von dieser Unter-
lassungssünde jedoch großzügig freigesprochen. Aber nicht nur er, sondern auch der
Teufel, denn jede Theodizee ist zugleich eine Diabolodizee.
Indem bei diesem Verfahren nicht Gott über den Menschen zu Gericht sitzt, son-
dern der Philosoph über den höchsten Richter urteilt, so verrät das ein erkleckliches
Selbstvertrauen, wie es der Apostel Paulus jedenfalls nicht besaß. Denn er hielt es, so
wie Hiob, für eine Anmaßung, wenn das Geschöpf über seinen Schöpfer ein Urteil
fällt und dessen Werk einer Evaluation unterzieht.75 Die Neigung, den Göttern anzu-
lasten, was die Menschen einander sich antun, hat schon der homerische Zeus zurück-
gewiesen;76 und im 6. Jahrhundert v. Chr. schrieb Theognis von Megara, es stehe den
Sterblichen nicht zu, mit den Unsterblichen zu streiten oder über sie Recht zu spre-
chen.77 In diesem Sinne hatte Kant 1791 gezeigt, daß alle philosophischen Versuche
einer Theodizee mißlingen müßten,78 zumal sie keine Erkenntnis liefert, sondern nur
ein Bedürfnis befriedigt. Das aber vermochte Kant nicht zu stillen. So fragt man wei-
ter nach dem Ursprung des Bösen, als ob sich das Gute von selbst verstünde.
3y. Hegel huldigt der Lust der Vernunft. Er appelliert an die „religiöse Wahr-
heit“, daß die „Vorsehung die Welt regiere“, nicht nur gerecht, sondern auch ver-
nünftig. „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache
Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in
der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“79 In der Vorrede zur ›Rechtsphiloso-
phie‹ lesen wir: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig.“ Um keinen Zweifel zuzulassen, hat Hegel das auch noch fett gedruckt.
Damit modernisierte er Anaxagoras, bei dem der nous, die Vernunft des Geistes, die
Welt durchwaltet,80 und fand Zustimmung bei Croce, der repetierte: Alles, was
geschieht, ist rational und notwendig. So schrieb er 1909 in der italienischen und
1929 in der deutschen Ausgabe seiner ›Philosophie der Praxis‹.81
3z. Sah die Aufklärung ihre Pflicht darin, die subjektive Vernunft zu befördern,
so will Hegel die objektive Vernünftigkeit in der Welt nachweisen. Ein Vulkanaus-
bruch ist nach ihm ebenso vernünftig wie eine Seuche oder ein Autodafé. Unbeein-
druckt von Lissabon 1755, Paris 1793 und der Beresina 1812 erklärt Hegel jede
Katastrophe für „Hervorgehen neuen Lebens.“ Hegel braucht das Bild des Phönix.
Die Asche, aus der er aufsteigt, das sind die ehemals geschichtswürdigen Völker, die
ihre Pflicht als Träger des Fortschritts abgeleistet haben. Alle, die wie Schillers Mohr
ihre Arbeit getan haben, etwa die Griechen der Nachantike, sind historisch tot.82
Dasselbe gilt für Völker abseits vom Wege des Weltgeistes. Hatte Kant gemeint, daß
die europäische Idee von Freiheit und Gerechtigkeit auch die Naturvölker erreichen
werde, erklärte Hegel die Neger für unzivilisierbar.83
Gemäß Hegel ist die Geschichte „der Boden der Ehre Gottes.“ Das klingt
christlich. Aber noch bei Luther war „der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt“
der Teufel.84 Das Reich Gottes mit der Erlösung kommt erst noch, so will es die
zweite Bitte des Vaterunser. Bei Hegel aber ist der Heilsakt als evolutionäres und
säkulares Geschehen vollendet. Die Gegenwart ist Golgatha. Die Geschichte er
scheint ihm als die „Schädelstätte des absoluten Geistes.“85
diene, als sie diesen Prozeß gefördert haben. Sie werden gewissermaßen mediati-
siert, sind keine eigenwertigen Gegenstände der historischen Betrachtung. Das
hatte schon Herder anders gesehen, und dem schloß Humboldt sich an. Wilhelm
von Humboldt (1767 bis 1835), war preußischer Gesandter in Rom und bewog als
Kultusminister 1808 Friedrich Wilhelm III, die Berliner Universität zu gründen. Er
nahm teil am Wiener Kongreß und zog sich 1820 ins Privatleben zurück. Wilhelm
war befreundet mit Schiller und Goethe und entwickelte seine Geschichtsphiloso-
phie zunächst unter dem Einfluß von Kant, später unter dem von Schelling.
4b. Treitschke nannte Wilhelm 1861 den „Apostel deutscher Humanität“,86 und
ein ebensolcher war dessen Bruder Alexander. Er verdankt seinen Ruf seinen For-
schungen in Lateinamerika, die er unter dem Einsatz seiner Gesundheit und seines
Vermögens durchgeführt und publiziert hat. Alexander von Humboldt gehört wie
Herder zu den entschiedenen Gegnern der europäischen Geschäftemacherei in
Übersee und der Verachtung der sogenannten Primitiven. Er verwandte sich ent-
schieden für die von Hegel verworfene Gleichheit aller Völker vor dem Weltgeist.87
4c. Seine theoretischen Überlegungen zur Historie hat Wilhelm von Humboldt
in drei Schriften niedergelegt: in seinen ›Betrachtungen über die Weltgeschichte‹,
die er 1812 bis 1814 in Wien verfaßt hat, in den ›Betrachtungen über die bewegen-
den Ursachen in der Weltgeschichte‹ von 1818 aus London und in seinem Aufsatz
›Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers‹, den er 1821 der preußischen Akade-
mie in Berlin vorgetragen hat. Humboldt nimmt seinen Ausgang vom Interesse an
der Zukunft, die er im Spiegel der Vergangenheit zu erkennen sucht. „Das Interesse
des Einzelnen und der Gesellschaft ist endlich innigst an die Beantwortung der
Frage geknüpft, welcher künftige Zustand sich aus dem jetzigen, so wie dieser aus
dem zunächst vorhergegangenen, entwickeln wird.“ Humboldt hält am Ideal der
Aufklärung insoweit fest, als er eine „Veredlung des Menschengeschlechts“ erwartet
und diese zum Grund praktischen Handelns bestimmt.88 Dieser Praxisbezug wen-
det sich gegen Hegel.
4d. Die Menschheitsentwicklung geht indessen nicht von einem tierisch-rohen
Urzustand aus ständig aufwärts, sondern eher – zumindest zeitweise – von einer
anfangs göttlichen Naturnähe aus abwärts, wie das auch Schelling sah. Überreste
der idealen Frühzeit erblickte Humboldt in der griechischen Kultur.89 So wie
Winckelmann, Schelling und Goethe sah er im klassischen Altertum Reste eines
ursprünglich höheren Menschentums und ließ sich darin auch nicht durch jene
Züge irre machen, die er ablehnte und nur halbherzig rechtfertigte wie die Sklave-
rei, die Knabenliebe und die Zurücksetzung der Frau. Der „griechische Geist“ ver-
körpert Vollkommenheit in der Kunst (namentlich in der Plastik), in der Literatur
(insbesondere in der Dichtung), in der Religion (einschließlich der Mythen und der
Sitten), so gemäß Humboldts Schrift ›Latium und Hellas‹ von 1806.90 Ausgespart
bleiben Staatsordnung und Wissenschaft, die keiner Vollkommenheit fähig seien,
denn jede Staatsordnung entspricht einem momentanen gesellschaftlichen Kräfte-
verhältnis, das sich wandelt, und jeder Forschungsstand bleibt vorläufig. Aber auf
den genannten Gebieten des höheren Geisteslebens haben die Griechen in Hum-
boldts Augen das Individuelle als Ausdruck des Idealen verwirklicht und damit zeit-
los gültige Muster für Kunst und Literatur geschaffen. Die Idealisierung der Indivi-
dualität und die Individualisierung des Ideals sind bei Humboldt sinnstiftend so
wie in Schillers Briefen über ästhetische Erziehung von 1795. Bei Hölderlin im
›Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ heißt es: „Über Geschichte
kann man nicht geistreich räsonieren – ohne ästhetischen Sinn.“91
4e. Im Gegensatz zu Hegel greift Humboldt Herders Prinzip auf, dem Leben
aller Völker, selbst der kleinsten, einen Eigenwert zuzumessen. Keines wird in die
hegelsche „Nullität“ versenkt, weil der Weltgeist es bei seinem Gang zu sich selbst
links liegen gelassen habe. Gegen Hegel wandte sich in diesem Punkte sogar Croce
1910, der allen Völkern im Ablauf der Universalgeschichte die Erfüllung einer cha-
rakteristischen Aufgabe zuordnete. Damit kann kaum etwas anderes gemeint sein
als die Selbstentfaltung.92 Bei Humboldt vollzieht sie sich auf der Ebene der Spra-
che. Er hat sich intensiv mit den Sprachen der Basken und der Javaner befaßt. Die
Sprache ist ihm der reinste Ausdruck des jeweiligen Volksgeistes.
4f. Humboldt findet den Sinn der Geschichte in der „Mannigfaltigkeit“ der Völ-
ker, nicht in einem einheitlichen zielgerichteten Prozeß. Er betont den Defekt einer
teleologischen Sinngebung, weil diese alle Mühen vor der Erreichung des Endzu-
standes als bloße Mittel für diesen erklärt. „Die teleologische Geschichte erreicht
auch darum niemals die lebendige Wahrheit der Weltenschicksale, weil das Indivi-
duum seinen Gipfelpunkt innerhalb der Spanne seines flüchtigen Daseins finden
muß.“93 Auch Schiller hatte sich gegen eine endzeitbezogene Sinnstiftung gewandt.
Er meinte im 6. ästhetischen Brief, die reale, geschichtliche Menschheit könne sich
nicht im Dienste einer idealen, nachgeschichtlichen Menschheit aufreiben: „Wir
wären Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die
Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die beschämenden
Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt, damit das spätere Geschlecht in einem seli-
gen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs sei-
ner Menschheit entwickeln könnte!“ Ein Handeln im Dienste einer fremden Macht
weist Schiller ab, nichts rechtfertige es, wenn der Mensch sich über einen beliebigen
Zweck selbst versäume. Das geht gegen Kant, der diesen wunden Punkt bereits sel-
ber bemerkt hatte, aber kein Mittel dagegen wußte.94
4g. Humboldt gab dem Einzelnen den Vorrang vor dem Ganzen. So noch in
seinem vorletzten Brief an Goethe vom 6. Januar 1732: „Da es einmal in der Welt
zwei Richtungen gibt, die wie Aufzug und Einschlag das geschichtliche Gewebe
bilden, das immer abbrechende Leben der Individuen und ihre Entwicklung und
die Kette des durch ihre Hilfe vom Schicksal zusammenhängend Bewirkten, so
kann ich mir einmal nicht helfen, das Individuelle für die Hauptsache anzusehen,
von welcher der Weltgang eine gewissermaßen notwendige Folge ist.“ Wie bei Goe-
etwas Mechanisches ist“. Hölderlin schrieb 1801 an seinen Freund Christian Lan-
dauer: „Je weniger der Mensch vom Staat erfährt und weiß, die Form sei, wie sie
will, um desto freier ist er.“98 Dem hätte der junge Humboldt wohl zugestimmt.
Seine ›Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestim-
men‹ von 1792 gehen mit der Bürokratie hart ins Gericht, wurden von der Zensur
verboten und erschienen erst postum 1851.
4l. Die Weise, in der die Ideen in der Geschichte wirklich werden, zeigt Hum-
boldt in Bildern aus dem Pflanzenleben. „Jede menschliche Individualität ist eine in
der Erscheinung wurzelnde Idee“: die Phänomene bieten den notwendigen Boden,
die Idee benutzt ihn bloß – prinzipiell ist sie von ihm lösbar. Dies lehrt, daß Hum-
boldt den platonischen Ideenbegriff nicht zufällig aufgenommen hat: die Ideen sind
eigene, von ihren Erscheinungen unabhängige Potenzen: „Wie die zartere Pflanze
durch das organische Anschwellen ihrer Gefäße Gemäuer sprengt, das sonst den
Einwirkungen von Jahrhunderten trotzte“ – so schaffen die geistigen Prinzipien der
Individualität den ihnen innewohnenden Ideen Raum. Die Analogie zwischen der
Idee und einer Pflanze führt dann auch zu den Phasen einer Entwicklung: „Die
Idee kann sich nur einer geistig individuellen Kraft anvertrauen, aber daß der Keim,
welchen sie in dieselbe legt, sich auf seine Weise entwickelt, daß diese Weise die-
selbe bleibt, wo er in andere Individuen übergeht, daß die aus ihm aufsprießende
Pflanze durch sich selbst ihre Blüte und ihre Reife erlangt und nachher welkt und
verschwindet, ... dies zeigt, daß es die selbständige Natur der Idee ist, welche diesen
Lauf in der Erscheinung vollendet.“99
4m. In dem Aufsatz ›Über den Nationalcharakter der Sprachen‹, wo diese selbst
als Naturgegenstände Ausdrücke derartiger Ideen sind, heißt es: „Jede menschliche
Einrichtung hat einen Gipfelpunkt, über den es vergeblich sein würde, sie hinaus-
führen zu wollen, weil einmal in ihm das Ziel wirklich erreicht ist.“ Mit dieser
partiellen Teleologie erinnert Humboldt an die Wellentheorie von Velleius Patercu-
lus. Humboldt fährt aber fort: „Allein die Idee, welche einer solchen Einrichtung
zum Grunde liegt, kann bis ins Unendliche hin reiner, vollständiger, in mannigfal-
tigen Berührungen mit allen übrigen gedacht und empfunden werden.“100 Illu-
striert wird dies an der Abschaffung der Sklaverei: diese sei vollendbar, aber die Idee
der Freiheit, worauf dies beruhte, sei in ihrem „Wachstum“ unendlich.
4n. Die historische Individualität wird hier zweigeteilt in die vergängliche
Erscheinung und deren unvergängliche Idee. Erstere unterliegt nach Humboldt den
Gesetzen von Wachstum, Blüte und Zerfall. „Alle lebendigen Kräfte, der Mensch
wie die Pflanzen, die Nationen wie das Individuum, das Menschengeschlecht wie
die einzelnen Völker, ja selbst die Erzeugnisse des Geistes, so wie sie auf einem, in
einer gewissen Folge fortgesetzten Wirken beruhen, wie Literatur, Kunst, Sitten, die
äußere Form der bürgerlichen Gesellschaft, haben Beschaffenheiten, Entwicklun-
gen, Gesetze miteinander gemein.“101 Für das „Leben der Nationen“ und die
„Schicksale des Menschengeschlechts“ wird der Lebenszyklus in Anspruch genom-
men. Der Geist der Natur und der Geist der Menschheit werden in einen einzigen
Organismus zusammengedacht.102
4o. Wenn die Wahrheit des Geschehenen, „das Höchste, was gedacht werden
kann“, dem Historiker erkennbar wäre, „so läge in ihr enthüllt, was alles Wirkliche
als eine notwendige Kette bedingt.“ Diese Erkenntnis aber scheint Humboldt kaum
erreichbar, er bescheidet sich mit einer Teillösung. „Das Geschäft des Geschichts-
schreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens
einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen.“ Dabei soll sich der Historiker
davor hüten, den Erscheinungen seine eigenen Vorstellungen aufzuzwingen. Die
Erkenntnis der Ideen könne nur aus den Erscheinungen gewonnen werden. Hum-
boldt stellt sich die Wanderung der Ideen etwa so vor: aus dem Himmel der unrea-
lisierten Möglichkeiten steigen sie herab, verwirklichen sich in den Erscheinungen,
werden von Historikern beschrieben und leben fort im Gedächtnis der Nachwelt.
Hier hat der Historiker seine Funktion: er soll von den Ideen „durchdrungen“ wer-
den, sich so in ihre Geschichte versenken, „daß sich die Ansichten, Gefühle und
Ansprüche der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen.“103
4p. Es wäre falsch, hierin die Aufforderung zu sehen, der Historiker möge seine
Subjektivität aufgeben und in einer unio mystica mit der Geschichte verschmelzen.
Gemeint ist lediglich die unvoreingenommene Bereitschaft, die Ideen zur Kenntnis
zu nehmen. Wir sollen uns die Augen auswischen, sollen uns bilden. Als Vorausset-
zung nennt Humboldt dafür eine „vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung
zwischen dem Subjekt und Objekt“, die aber realisiert werden muß. Der Historiker
wird aufgefordert, „mit hellem Blick das Wahre in der jedesmal herrschenden
Ideenrichtung zu erkennen und sich mit festem Sinn daran anzuschließen.“104
Indem Humboldt den Sinn der Geschichte vom Ende der Zeiten in die mit Hilfe
der Historie zu erreichende Vollendung des Einzelnen zurückholt, antwortet er auf
die Enttäuschung, die eine Endzeiterwartung immer mitbringt, solange das gelobte
Land noch in der Zukunft liegt, wie bei Kant, oder unseren Erwartungen nicht
unbedingt entspricht, wie bei Hegel.
4q. In der Fortschrittsphilosophie finden sich am Ziel der Geschichte die letzten
Menschen, die im glücklichen Genuß des Welten-Sabbat leben und ihn stellvertretend
für die inzwischen verstorbene Menschheit auskosten. Bei Humboldt aber realisieren
die späten Phäaken der Endzeit bloß ihre eigene Idee, die nicht besser sein muß als
andere, ja kaum besser sein kann als die Idee der von Humboldt so hoch geachteten
frühen Griechen. Daher stehen die Menschen der Zukunft dem Ziel der Geschichte
nicht näher als die Menschen der Vergangenheit. Dieses Ziel besteht in der Vollendung
einer Ganzheit, deren sämtliche Teile gleichermaßen notwendig sind. Daher läßt ich
die Entfernung einer beliebigen Geschichtsperiode vom Ziel nicht in Zeiteinheiten
ausdrücken. Die Geschichte vollendet sich für den und in dem, der die Idee der Huma-
nität erkennt und an deren Realisierung mitwirkt – gleichgültig, wo er im Gesamtpro-
zeß steht. Dies ist mithin an innere, nicht an äußere Bedingungen geknüpft.
Bewußtsein, Philosophie und Geschichte, das Wahre und das Ganze, die Zeit und
der „daseiende Begriff“. Die Bedeutung der Wörter Geist, Logos, Totalität, Wirk-
lichkeit, Mensch-in-der-Welt geht ineinander über. Das erinnert an Ortegas „intel-
lektuelle Marmelade“ und an den Seufzer Kierkegards: „Aber Hegel – o, laß mich
griechisch denken! Wie haben sich die Götter vor Lachen geschüttelt!“
5e. Heinrich von Treitschke nannte 1861 den deutschen Idealismus das „köst-
lichste Kleinod unseres Volkes.“108 Zuviel des Guten! Eine Facette ist immerhin
ernst zu nehmen: ein Denken, das sich mit der vordergründigen, oberflächlichen
Feststellung von Einzelheiten und der puren Faktensammelei nicht begnügt, son-
dern die individuellen Phänomene als Ausdruck von generellen Prinzipien, von
dominanten Tendenzen und Potenzen zu verstehen sucht, ähnlich wie ein Isaak
Newton sich nicht darauf beschränkt, einen fallenden Apfel zu beobachten, son-
dern nach der Kraft fragt, die das bewirkt, ohne daß diese selbst wahrgenommen
werden kann. Schwerkraft ist unsichtbar. In diesem Sinne kann man auch die Idee
der Freiheit, den Geist der Humanität, das Streben nach Wissen nicht unmittelbar
wahrnehmen, sondern nur aus erkennbaren Vorgängen erschließen und zu deren
Erklärung verwenden.
5f. Fatal wird die idealistische Geschichtsanschauung durch einen Fatalismus,
der so, wie die Natur nicht zu tadeln ist, auch die Geschichte für unkritisierbar hält,
weil sie das Werk des Weltgeistes sei. Ist sie doch – zumindest nicht weniger – das
Werk von Menschen, die sehr wohl Kritik verdienen, und eben dies im Namen von
Ideen wie der Herderschen Humanität. Ein durch sie geprägter Mensch wird die
von Hegel gerechtfertigten Gewaltakte der Handlanger des Weltgeists und deren
ironisch verharmloste Opfer nicht gläubig hinnehmen, sondern sich innerlich für
die jeweils angegriffenen Schwächeren entscheiden. Diese spontane Solidarisie-
rung, die uns ergreift, ohne daß wir dies vielleicht wollen, das würde Humboldt als
Beispiel für die Kraft von Ideen anführen. Denn nicht wir ergreifen diese Ideen,
sondern sie ergreifen uns; und ihnen sollten wir uns offen halten, hinhören, verneh-
men – „Vernunft“ annehmen, die mitnichten allgegenwärtig ist. Selbst ein entschie-
dener Materialist hat einmal erklärt, daß Ideen deswegen so gefährlich seien, weil
man auf sie nicht mit Kanonen schießen könne. Ideen, die unsere Intelligenz
besiegt, unsere Gesinnung erobert hätten, seien „Ketten, denen man sich nicht ent-
reißt, ohne sein Herz zu zerreißen; das sind Dämonen, welche der Mensch nur
besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“ So Karl Marx in der Rheinischen
Zeitung am 16. Oktober 1842.109
ist. In der Nachtszene im Studierzimmer erscheint Wagner und gesteht, daß ihm
bei seinem „kritischen Bestreben“ bang werde, weil er nicht Zeit und Mittel habe,
„durch die man zu den Quellen steigt.“ Dagegen Faust: „Das Pergament, ist das der
heilge Bronnen, / woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt? / Erquickung hast du
nicht gewonnen, / wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.“ Das Glück könne
nicht in der Vergangenheit gefunden werden, und dies bestätigt Goethe später
gegenüber dem Kanzler von Müller.1 Schon in dem langen Gespräch mit dem
Jenenser Historiker Heinrich Luden 1806 identifizierte sich Goethe mit seinen
Thesen im Faust.2 Diesem erwidert Wagner: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, /
sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, / zu schauen wie vor uns ein weiser Mann
gedacht, / und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Dasselbe Bekennt-
nis macht Wagner auf dem Osterspaziergang: „Und ach! entrollst du gar ein würdig
Pergamen, / so steigt der ganze Himmel zu dir nieder.“ Wie treffend Goethe hier
den zünftigen Historiker zeichnet, ließe sich an Rankes Begeisterung für Akten und
Urkunden aufzeigen.
1b. Goethes schwerster Einwand gegenüber der Historie betrifft deren Unver-
mögen, die Vergangenheit zu erschließen. Er schreibt: „Die Pflicht des Historikers
ist zwiefach. Erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muß er
genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er
festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Kol-
legen ausmachen; das Publikum muß aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie
wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.“3
Anderenfalls bleibt nicht viel von ihr übrig. „Wenn man sich bei der Geschichte
nicht beruhigt wie bei einer Legende, so löst sich zuletzt alles in Zweifel auf.“4 Dra-
stischer bemerkt schon Faust zu Wagner: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangen-
heit / sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.“5 Unterstellt wird, daß diese Siegel,
anders als normale Siegel, nicht zu brechen seien. Das Motiv ist antik. Die Siegel
der sieben Zeugen, die ein römisches Testament rechtsgültig machten,6 wurden in
der Johannes-Apokalypse zur Metapher. Dort bezeichnete die sukzessive Lösung der
Siegel die dem Autor zuteil gewordene Offenbarung und zugleich die sieben
Abschnitte des Endzeitgeschehens.
1c. Herder wandte das Gleichnis 1774 auf die Profangeschichte an: „Das Buch
der Vorgeschichte liegt vor dir! mit sieben Siegeln verschlossen; ein Wunderbuch
voll Weissagung: auf dich ist das Ende der Tage kommen! lies!“7 Herder meinte
mithin, die Siegel seien ohne weiteres zu brechen. Damit stand er nicht allein.
Luden vertrat 1806 gegenüber Goethe die Auffassung, daß es gerade die Aufgabe
der Geschichtsforschung sei, die sieben Siegel zu lösen; aber der Dichter blieb skep-
tisch. Er meinte später zu Riemer, daß der größte Teil der Geschichtsüberlieferung
nichts weiter als „Klatsch“ sei.8 Wir denken an Voltaires Definition der Geschichte
als fable convenue. Niemand könne, trotz der sich überall gleichenden Einzelzüge,
die Menschenwirtschaft als ganze nicht übersehen.9
der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der deutschen Krone entsagt
hatte, notierte Goethe in sein Reisetagebuch: „Zwiespalt des Bedienten und des
Kutschers auf dem Bocke, welches uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spal-
tung des Römischen Reichs.“ Das erinnert an den Spott über die Sorge „fürs Römi-
sche Reich“ in Auerbachs Keller. „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ Der
Brand Moskaus berührte Goethe nicht.22 Napoleon wurde bewundert nicht als
Feldherr, nicht als Staatsmann, sondern als Charakter und als Leser des Werther.
1h. Goethe gab sich das „Gesetz“, sich „nicht in öffentliche Händel zu
mischen.“23 In der Idylle des aufgeklärten Absolutismus unter dem Weimarer Groß-
herzog ließ Goethe „hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“. Im
Gegensatz zu Freund Schiller, dem Dichter der Freiheit, demonstrierte Goethe in
politicis Gelassenheit. Für Fragen der Staatsordnung und für kriegerische Ereignisse,
ebenso für Wirtschaft und Gesellschaft, für Technik und Recht zeigte er wenig
Anteilnahme. Sein Desinteresse an der Pariser Julirevolution 1830 ist umstritten.
1i. Mitunter wehrte sich Goethe geradezu gegen historische Belehrung. Sie
belastete seine unbefangene Anschauung. In Venedig notierte er: „Die historische
Kenntnis fördert mich nicht, die Dinge standen nur eine Hand breit von mir ab;
aber durch eine undurchdringliche Mauer geschieden.“24 In Palermo beleidigte er
einen Cicerone, der die schönste Stimmung des Frühlings und des Friedens durch
die Erzählung von einer Schlacht „Hannibals“ – vermutlich Hamikars – zerstörte.
Von solchem „Nachgetümmel“ wollte der Dichter nichts hören.25 Goethe spricht
von den „düstern Regionen der Geschichte“, sie biete ein „Labyrinth von Sein und
Nicht-Sein“,26 ein „Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, und wenig aus ihr
zu lernen.“27 1828 bemerkte er: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die
profane Geschichte zu bekümmern, die „das Absurdeste ist, was es gibt“. Goethe
wird geradezu zynisch, indem er fortfährt: „Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder
jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern.“28
Zumal die Kirchengeschichte sei ein „Produkt des Irrtums und der Gewalt.“29
1j. Goethes Skepsis steht in krassem Gegensatz zu Hegels Vernunftglauben. War
für diesen die Geschichte die „Auslegung des Geistes in der Zeit“, so ist sie für den
jungen Goethe ein Trümmerhaufen. Faust zweifelt daran, daß man in der
Geschichte seine Erfüllung erleben könne: „Hier soll ich finden, was mir fehlt? /
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen, / daß überall die Menschen sich
gequält, / daß hier und da ein Glücklicher gewesen?“ 1806 heißt es: die große
Wahrheit sei längst entdeckt, „daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern misera-
bel gewesen ist.“30 Geschichte, meinte er, bleibe „das undankbarste und gefährlich-
ste Fach.“31
1k. Goethes Mißmut beschränkt sich nicht auf die Geschichte, sondern erstreckt
sich auf das Menschendasein überhaupt. „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; /
weh dir, daß du ein Enkel bist!“ heißt es im ›Faust‹, denn es „erben sich Gesetz’ und
Rechte / wie eine ewge Krankheit fort.“ Goethe meinte, weil die Zeit in ewigem
Wandel sei, könne eine „Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war,
schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen“ sein. Für jedes Volk aber sei nur das
seinem Charakter und seiner Altersstufe Gemäße gut, alle künstlichen Neuerungen,
insbesondere importierte Revolutionen blieben ohne Erfolg.32
1l. Der Fortschrittsglaube wird verspottet. Wagners Stolz darauf, „wie wirs dann
zuletzt so herrlich weit gebracht“, überbietet Faust: „O ja, bis an die Sterne weit!“
Wenn die Humanität siege, wie Herder und die Aufklärer meinten, schrieb er 1787,
dann würde „die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Kranken-
wärter.“33 Goethe geht davon aus, daß alle Menschen irgendwie schlecht, irgendwo
krank sind, aber es gibt für ihn wichtigere Themen als Gesundheit und Moral. Er
meinte „daß man aus dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben
kann.“ So sah das auch Hegel.34
2. Antiquarisches Interesse
2a. Wer sich den Musen weiht, muß auch deren Mutter sein Opfer bringen. Und
das ist Mnemosyne, die Erinnerung, die über Eindrücke in Sprache und über Spra-
che in Geschichte kristallisiert. Erinnerung füllt die Worthülsen mit Inhalt; sie klärt
zunächst im Kleinen, im Eigenen, was sodann im Großen, im Anderen gemeint
sein kann, was historische Ereignisse, was Entwicklungen, was Zusammenhänge
sind und sein können. So bemerkt Goethe:„Über Geschichte kann niemand urtei-
len, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat.“35 Dies heißt, daß man zunächst
einmal sich selber historisch begriffen haben muß, als Produkt aus inneren und
äußeren Faktoren, wandelbar und doch identisch. Seinen eigenen Bildungsgang hat
er reflektiert und dokumentiert. Goethes abfällige Äußerungen über Geschichte
überblenden sein historisches Interesse, das zwar nie dominant wurde, aber seine
gesamte intellektuelle Biographie begleitet.
2b. Goethe fordert, daß man irgendwann einmal „den spielenden Figuren
der Zeit in die Karten gesehen“ haben müsse, um das Gerangel der Mächte zu
begreifen.36 Dreimal ist er mit der großen Geschichte in Berührung gekommen.
Am 3. April 1764 erlebte er die Krönung Josephs II in Frankfurt,37 die ihm vergan-
gene Jahrhunderte lebendig machte. Das zweite große Ereignis, an dem er teil-
nahm, war der Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die französische Revo-
lutionsarmee 1792. Goethe berichtet über die verlustreiche Kanonade von Valmy
und über seinen angeblich damals geäußerten Trostspruch an die preußischen Offi-
ziere: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr
könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“38 Das dritte Erlebnis war dann die Begegnung
mit Napoleon 1808. Der Kaiser, beim Frühstück sitzend, erklärte dem vor ihm
stehenden Dichter, dessen ›Werther‹ sieben Mal gelesen zu haben. Napoleon entließ
ihn mit dem Wort voilà un homme! und übersandte ihm das Ritterkreuz der Ehren-
legion.39
2c. Schon früh haben persönliche Erlebnisse Goethes Interesse an der Geschichte
beflügelt. In der Freien Reichsstadt Frankfurt vertiefte er sich in ihre ehrwürdi-
gen Traditionen, indem er Siegel sammelte und sich mit der „Güldnen Bulle“ be
schäftigte.40 Heimatkundliches Interesse weckten ihm ebenso die römischen Über-
reste in Rheinhessen, mit denen er sich noch in hohem Alter befaßte.41 An seinem
60. Geburtstag wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde. Außerdem war er seit 1828 Ehrenmitglied im Verein für Nassau-
ische Altertumskunde, der noch heute existiert.42
2d. Landesgeschichte faszinierte Goethe sodann als Student im Elsaß: „Meine
Liebhaberei zu altertümlichen Resten war leidenschaftlich.“43 Er las Schöpflins
›Alsatia illustrata‹ (1751/61), frequentierte das Stadtmuseum Straßburgs, besuchte
die römischen Ruinen und konnte sich „gar manchen Traum der Vorzeit wachend
ausmalen“. Viel mehr als die Juristerei, sein Fach, begeisterte ihn das Mittelalter.
Epochal wurde ihm die Entdeckung der Gotik, das Erlebnis des Straßburger Mün-
sters 1770, für Goethe eine „Offenbarung“, und dann die Reise mit Lavater nach
Köln 1774. Dabei meditierte er über den unfertigen Dom: „Ein Gefühl aber, das
bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte,
war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in eins: eine Anschauung,
die etwas Gespenstisches in die Gegenwart brachte.“44
2e. Zum dritten ist das Italien-Erlebnis zu nennen.45 1786 bis 1788 bereiste er
das Land und bestaunte seine antiken Monumente. Sie faszinierten ihn, obschon er
den festen Vorsatz gefaßt hatte, sich ihnen gerade nicht auszuliefern. In Sizilien
legte er den Grundstein zu seiner Münzen- und Medaillensammlung, die ihm so
wie die Siegel zuvor einen sinnlichen Zugang zur Geschichte vermittelte. Über-
haupt sammelte Goethe ziemlich alles, was sich sammeln läßt: zuletzt besaß er über
26 000 Objekte. Alles interessierte ihn, woraus er etwas lernen konnte.
2f. Bemerkenswerter als die Belehrung, die Goethe durch historische Denkmä-
ler gewann, war die Stimmung, in die sie ihn versetzen konnten. Dies zeigt seine
Begegnung mit der Igeler Säule. Er sah bei Trier dieses 23m hohe Grabmal eines
römischen Tuchhändlers aus der Zeit um 240 n. Chr. während der Kampagne in
Frankreich. Man sollte meinen, daß jemand, der in Rom gelebt hat, für dieses pro-
vinzialrömische Monument nicht mehr als einen Blick übrig haben sollte. Aber
nein, Goethe war begeistert. Ihm vermittelten die Darstellungen aus dem Alltag
fleißiger Bürger den Eindruck „glücklicher, siegreicher Tage und eines dauernden
Wohlbefindens rühriger Menschen“, ein Sinnbild „fröhlich tätigen Daseins“ in der
heilen Welt der pax romana. Nicht die bescheidene ästhetische Qualität, sondern
der erzählerische Gehalt der lebensnahen Szenen beflügelte seine dichterische Phan-
tasie. Er spricht hier von einem Denkmal, das ihm „wie der Leuchtturm einem
nächtlichen Schiffenden entgegenglänzte.“46
2g. Wie sehr auch ganz unscheinbare, ja rätselhafte Artefakte Goethe beschäfti-
gen konnten, zeigt sein Umgang mit prähistorischen Altertümern.47 Über ihrer
Geschichte lag damals ein Schleier. 1823 entdeckte man im thüringischen Haß
leben die Reste eines Urstiers mit Scherben und Asche. Daraus schloß Goethe
auf eine Opferhandlung in „uralter Zeit einiger Cultur“ und hoffte auf weitere
Erfahrungen, „um in den düsteren Regionen der Geschichte einen schwachen
Schein leuchten zu lassen.“48 Das Suchen nach „altdeutschen Überbleibseln“ schien
Goethe höchst lobenswert. Mehrfach hat er sich als Gutachter zu urgeschichtlichen
Funden geäußert, zu Bronzeringen, Steinäxten und keltischen „Regenbogenschüs-
selchen“, die er als barbarische Münzen nach griechischen Mustern erkannte.
2h. Das lebhafteste Interesse nahm Goethe an fossilen Knochenfunden. Für
Menschenschädel setzte er hohe Prämien aus, namentlich an den Zähnen – die ihm
selber fehlten – war ihm gelegen. So wie sein Freund, der Anthropologe Blumen-
bach, glaubte er, von der Schädelform auf Gemüt und Anlage schließen zu können.
Enthusiastisch äußerte er sich über die „herrliche Gestalt“ der Knochen von Groß-
Romstedt. Er erkannte hier „ein Volk mit den glücklichsten Sinnen für die Außen-
welt begabt, nicht weniger mit allen Eigenschaften, worauf sich Dauer und Glück
der Familien und Stämme gründet.“ Noch fehlten die „garstigen egoistischen Aus-
wüchse...hinter den Ohren eines ausgearteten Menschengeschlechts.“49 Die Leute
hatten es eben noch nicht „faustdick hinter den Ohren“. Wie bei der Säule von Igel
evoziert das alte Objekt ein Panorama vergangenen Lebens.
2i. Schließlich war Goethe ein emsiger Leser, nicht zuletzt von Geschichtsbü-
chern. Über seine Lektüre sind wir gut informiert. Unter den einschlägigen Werken
finden wir solche von Herodot, Plutarch und Tacitus, von Machiavelli, Winckel-
mann, Voltaire und Herder, von Gibbon, Raumer, Niebuhr und Friedrich Chri-
stoph Schlosser. Letzterer, so Goethe, gehöre zu „denjenigen, die aus dem Dunkeln
in’s Helle streben, ein Geschlecht, zu dem wir uns auch bekennen.“50
3. Poetische Gestaltung
3a. Die Begegnung mit Monumenten und Dokumenten wurde von Goethe poe-
tisch verarbeitet. Zu literarischen Ergebnissen führte seine Beschäftigung mit Mei-
ster Erwin von Steinbach (gest. 1318), dem Leiter der Straßburger Münsterbau-
hütte. Goethes Schrift ›Von deutscher Baukunst‹ von 1773 förderte die
Neubewertung der zuvor als barbarisch verfemten Gotik.51 Aus demselben Jahr
stammt das Drama ›Götz von Berlichingen‹, das in die bewegte Geschichte des Bau-
ernkrieges um 1525 hineinführt. Mit dem 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert Fausts,
hat Goethe sich eingehend befaßt, nicht nur wegen dessen „Deutschheit.“52 Dies
zeigt sich in den Dramen über Egmont (gest. 1568) und Torquato Tasso (gest. 1595)
sowie in der Übersetzung der Autobiographie des heißblütigen Goldschmieds Ben-
venuto Cellini (gest. 1571) aus Florenz. Tasso und Cellini spiegeln Goethes Italie-
nerlebnis, und dies gilt ebenso für die Schrift über ›Winckelmann und sein Jahrhun-
dert‹ von 1805, die dem Begründer der Kunstarchäologie (gest. 1768) gewidmet ist.
3b. Für die poetische Behandlung historischer Stoffe fordert Goethe einen Blick
auf das Individuelle als Repräsentanten des Generellen. „Der Poet soll das Beson-
dere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemei-
nes darstellen. In jedem Falle nimmt sich Goethe dafür dichterische Freiheit.
Egmont muß auf der Bühne ein freiheitsbegeisterter jugendlicher Held und Lieb
haber sein, nicht der besorgte, verschuldete Familienvater von elf Kindern, der er
war. Aber Goethe meinte: „Wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die
Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen
und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben.“53 Damit unterschreibt
Goethe keinesfalls die These des Aristoteles,54 daß die Dichtung „philosophischer“
sei als die Historie, weil sie Grundsätzliches behandele und nicht bloße Einzelfälle
darstelle. Vielmehr fordert Goethe die Dichter zu einem edlen Wettbewerb mit den
Historikern auf, um sie „womöglich“ zu übertreffen.
3c. 1811 schickte Niebuhr dem Dichter seine ›Römische Geschichte‹, in der die
Heldentaten der frühen Zeit in die Sagenwelt verwiesen werden. Goethe stimmte
zu. Seine Antwort: „Die Sonderung von Dichtung und Geschichte ist unschätzbar,
indem keine von beiden dadurch zerstört, ja vielmehr jede erst recht in ihrem Wert
und ihrer Würde bestätigt wird.“55 Nur vordergründig zersetzt die historische Kritik
die historisierende Poesie, denn jene zeigt nur, wie aus dem „bekannten Geworde-
nen das unbekannte Werden“ erschlossen wird. Höchst reizend sei „der Punkt, wo
Geschichte und Sage zusammengrenzen.“56 Geschichtsschreibung, der es um Wahr-
heit geht, hat eine poetische Dimension, faßbar in ihren Darstellungsprinzipien.
Dichtung wiederum hat eine historische Komponente, denn sie ist Quelle für die
Kulturgeschichte. „Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf
gar nicht aufgeworfen werden... Jedem gebührt seine eigene Krone.“57
3d. Zum Verhältnis zwischen Poesie und Historie bemerkt Goethe: „Die eigent-
liche Kraft und Wirksamkeit der Poesie so wie der bildenden Kunst liegt darin, daß
sie Hauptfiguren schafft und alles, was diese umgibt, selbst das Würdigste, unterge-
ordnet darstellt. Hierdurch lockt sie den Blick auf eine Mitte, woher sich die Strah-
len über das Ganze verbreiten, und so bewährt sich Glück und Weisheit der Erfin-
dung so wie der Komposition einer wahren alleinigen Dichtung. Die Geschichte
dagegen handelt ganz anders. Von ihr erwartet man Gerechtigkeit, sie darf, ja sie
soll den Glanz des Vorfechters eher dämpfen als erhöhen. Deshalb verteilt sie Licht
und Schatten über alle, selbst den geringsten unter den Mitwirkenden zieht sie
hervor, damit auch ihm seine gebührende Portion des Ruhms zugemessen werde.
Fordert man aber, aus mißverstandener Wahrheitsliebe, auch von der Poesie, daß
sie gerecht sein solle, so zerstört man sie alsobald.“58 Der Dichter muß gestalten,
muß verdichten dürfen. Historische Kritik hingegen kann Überlieferung um ihre
poetische Wirkung bringen. Läßt sich das nicht verbieten, so muß man das doch
bedauern. Daß der Einfall der Mongolen nach Schlesien 1241 nicht heroisch durch
den Herzog von Liegnitz und den Grafen Sternberg, die „großen Retter der deut-
schen Nation“, abgewehrt wurde, sondern ganz banal durch den Tod des Groß
khans, weiß und beklagt Goethe. Bei dieser Erkenntnis „wird einem ganz abscheu-
lich zumute.“59
bemerken, daß der menschliche Geist sich in einem gewissen Kreise von Denk- und
Vorstellungsarten herumbewege“. Man komme immer wieder „in demselben Kreise
auf einen gewissen Punkt zurück.“ In den Wissenschaften sieht Goethe einen „ewigen
Kreislauf“, allerdings nicht der – durchaus wachsenden – Kenntnisse, sondern der –
immer wiederkehrenden – „Denkweisen.“64 Dies gilt für den Gang des menschlichen
Geistes generell. Er drehe sich „in einem gewissen Kreise herum, bis er ihn ausgelaufen
hat.“65 Kreisläufe entnahm Goethe antiken Autoren, so von Polybios den Verfassungs-
kreislauf66 und von Velleius Paterculus die Periodik in der Kunstgeschichte.67
4d. Das Kreislaufmodell wurde von Goethe erweitert. Von den „Alten“ heißt es,
sie hätten den abgeschlossenen Kreis menschlicher Vorstellungsarten völlig, wenn-
gleich oft nur flüchtig und genialisch durchlaufen, so daß Originalität im Grund-
sätzlichen kaum noch möglich ist.68 Wohl aber lassen sich die Erkenntnisse verfei-
nern, so daß sich die Fortschritte der Menschheit in Form einer Spirale darstellen.
In dieser Form erscheint der „Fortschritt der Wissenschaften.“69 Denn es wiederho-
len sich alle Einsichten und Irrtümer auf höherer Ebene.70 Es sei „lächerlich, wenn
die Philister sich der größern Verständigkeit und Aufklärung ihres Zeitalters rüh-
men und die frühern barbarisch nennen.“ Ehedem belebte die Phantasie die Welt
mit Göttergestalten, heute zerlegt man Phänomene durch Begriffe. Darin erkennt
Goethe eine destruktive Kraft.71 Die von ihm mehrfach zitierte „Spiraltendenz“
hatte er von dem Botaniker Martius übernommen72 und übertrug sie auf die
Geschichte. Er sprach von einer „Uhrfeder, die auseinandergeht und sich wieder
zusammenzieht“. Damit gewann die Spirale einen Zeitbezug. Goethe verdeutlichte
dies an der Wiederkehr der Barbarei bei allen Völkern: Wie „eine finstere Wolke
bedeckt das Mittelalter die Sonne des Altertums. Da haben sie meine Feder“.
Sobald die Sonne wieder scheint, wird aber klar, „welch ungeheure Fortschritte
auch während der Finsternis gemacht worden sind.“73
4e. Welt, Nationen und einzelne Menschen gehorchen demselben Gesetz der
Geistesepochen. Es führt vom fruchtbaren Chaos des Anfangs in eine „gesunde
Sinnlichkeit“ (gemeint sind die Griechen). Die Poesie erzeugt eine Welt von Göt-
tern und Dämonen, „die sodann sämtlich von Einem Gotte abhängig gedacht
werden“ (das war das Mittelalter). Diese zweite „heilige“ Epoche mündet drittens in
eine Aufklärung, die zugleich erleuchtet und zerstört (so im 18. Jahrhundert). Die
vierte Epoche (das 19. Jahrhundert) ist „prosaisch“, gemein und endet wieder im
Tohu wa Bohu des Anfangs, dessen Produktivität nun aber erloschen ist.74 „Tohu-
wabohu“ ist in der Genesis der Urzustand, als die Erde „wüst und leer“ war.
4f. Zuweilen aber rechnet Goethe optimistisch mit einer Verjüngung nach der
Katastrophe. 1828 bemerkte er zu Eckermann, er „sehe die Zeit kommen, wo Gott
keine Freude mehr an der Menschheit hat und er abermals alles zusammenschlagen
muß zu einer verjüngten Schöpfung.“ Im Jahre darauf äußerte er die Überzeugung,
„daß unser 19. Jahrhundert nicht einfach eine Fortsetzung der früheren sei, son-
dern zum Anfange einer neuen Ära bestimmt scheine.“75 Mit dieser Verjüngungs-
konzeption erinnert Goethe an den neuen Aion, die Apokatastasis des Petrus oder
an die antike Lehre der Weltperioden.76 Griechisches Gedankengut findet sich in
Goethes Weltbild mehrfach,77 denken wir an die Kette der goldenen Eimer der
Himmelskräfte im Prolog zum Faust nach Platon, an die Wendung der „Gottheit
lebendiges Kleid“ im gotischen Zimmer nach Pherekydes78 oder an die Bezeich-
nung von Natur und Geschichte als „Abglanz jenes Urlichts droben, das unsichtbar
alle Welt erleuchtet“, wiederum nach Platon.79
4g. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt eher kumulativen als progressiven
Charakter. Sie „ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach
zum Vorschein kommen.“ Ein Finale ist nicht absehbar, denn „jede Lösung eines
Problems ist ein neues Problem.“80 Je tiefer man in die Geschichte „eindringt, desto
schwierigere Probleme tun sich hervor.“ Goethe glaubt, daß man überhaupt keine
letzte Klarheit über die Menschheit gewinnen könne, denn in der Welt- und Men-
schengeschichte „enthüllt das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues
aufzulösendes.“81 Er verspottet die Redewendung, „die Bahn sei gebrochen“, indem
er an einen Eisbrecher erinnert, hinter dem das Wasser sofort wieder zufriert. So
schließe „sich auch der Irrtum, wenn vorzügliche Geister ihn beiseite gedrängt und
sich Platz gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemäß zusam-
men.“ Dies könnte man auf Goethe selbst anwenden, der seinerseits nichts von den
Einsichten Isaac Newtons wissen wollte.82
4h. Für die Verbindung an Zyklik und Linearität im Geschehen gebraucht Goe-
the neben der Spirale das altbeliebte biologische Lebensgesetz des Wachsens, Blü-
hens und Sterbens. Es sei Winckelmanns Verdienst, „die ganze Kunst als ein Leben-
diges (zōon) anzusehen, das einen unmerklichen Ursprung, einen langsamen
Wachstum (sic), einen glänzenden Augenblick seiner Vollendung, eine stufenfällige
Abnahme wie jedes andre organische Wesen, nur in mehreren Individuen notwen-
dig darstellen muß.“83 Diesem dreigestuften Rhythmus von Aufstieg, Höhepunkt
und Niedergang unterstünden, meint er, sowohl die Kultur überhaupt84 nebst ihren
Schaffensperioden in der Art der altdeutschen Baukunst als auch ganze Völker und
einzelne Individuen. „Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß
doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Welt-
kultur durchmachen.“85 Dies wird mitunter spezifiziert, wenn beispielsweise die
persönliche Entwicklung eines Cellini vom Handwerker zum Künstler den Gang
der Kunstgeschichte insgesamt rekapituliert. In diesem Denkmodell mikromegi-
scher Korrespondenz wird nicht wie sonst die Gesamtentwicklung aus dem Einzel-
leben begriffen, sondern umgekehrt. Ernst Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“,
d. h. die Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese, ist bei Goethe in der Gei-
stesentwicklung vorweggenommen.
4i. Spirale und Lebensgesetz vertragen sich mit dem Begriff der Steigerung, der
zu Goethes Ordnungsprinzipien gehört. Er bezeichnet eine immanente Teleologie
wie im Bereich der Natur so auf den Gebieten der Kunst und des Seelenlebens.86
Den universalen Fortschrittsgedanken verwarf er. Als er 1806 in Karlsbad mit dem
Landgrafen von Hessen über den „Gang der Menschheit“ sprach, war von einem
Fortschritt gewiß nicht die Rede. Goethe wagte nicht zu „hoffen, daß die Mensch-
heit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne.“87 1824 bemerkte er zu
Eckermann: „Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden: den Großen nicht,
daß kein Mißbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, daß sie in Erwar-
tung allmählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich begnüge.
Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener
Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine
Teil wird leiden, während der andere sich wohlbefindet; Egoismus und Neid wer-
den als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird
kein Ende haben.“88 Die Welt behalte immer eine Tag- und eine Nachtseite.89 Das
sah die Aufklärung anders.
4j. Zu seiner Gegenwart hatte Goethe ein gespaltenes Verhältnis. Seine mitunter
aufblühende Hoffnung auf ein großes Geistesleben im künftigen Deutschland
wurde getrübt durch Anwandlungen von Pessimismus. Dann hatte er das Gefühl,
in einer „rückschreitenden“ Zeit zu leben, ja am Ende einer Zeit zu stehen.90 Schon
am 30. August 1797 heißt es an Schiller: „Wir armen Künstler dieser letzten Zeiten.“
Ein Grund für diese Stimmung waren die neuartigen „Facilitäten der Commu
nikation“. Sie verwirrten ihn; das gesteigerte Lebenstempo habe eine allgemeine
Mittelmäßigkeit zur Folge. „Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten
sein einer Epoche“, heißt es, „die sobald nicht wiederkehrt“ – also irgendwann
doch?91 Im krassen Gegensatz zum zeitgleichen Optimismus Hegels erklärt Goethe:
„Die Gegenwart hat wirklich etwas Absurdes.“92 Er glaubt sich wieder mitten in
einer neuen Barbarei, da man das Vortreffliche nicht anerkenne.93 In einem Anflug
von Resignation verglich er sich mit Kaiser Diocletian in dessen Alterspalast Spa-
lato. „Es soll mir nunmehr höchst angenehm sein, als letzter Heide zu leben und zu
sterben.“94
4k. Die periodische Abfolge der Zustände in der Geschichte beschreibt Goethe
oft in Gegensätzen, wie sie seit Hesiod und Heraklit als Urform und Ursache der
Bewegung bekannt sind.95 Polarität gehört zu seinen zentralen Ordnungsbegrif-
fen.96 Sie ist, neben der Steigerung, eines der „zwei großen Triebräder der Natur.“97
Allenthalben findet sie sich, so im Wechsel von Tag und Nacht, Hell und Dunkel,
Sommer und Winter. Mehrfach kommt Goethe zurück auf den Rhythmus von
Ausdehnung und Zusammenziehung, von Einatmen und Ausatmen, von „Systole
und Diastole, aus der sich alle Erscheinungen entwickeln.“ Es ist die „ewige Formel
des Lebens.“98 Die Denkform von „Wirkungen und Gegenwirkungen“ entspricht
der Dialektik bei Hegel.99 Alles wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten
können so wenig als Sonne, Mond und Sterne.“100
4l. Überall sieht Goethe eine Wellenbewegung. In der Kunstgeschichte unter-
scheidet er zwischen „objektiven“, vorschreitenden und „subjektiven“, rückschrei-
tenden Epochen, zwischen Bewegungen zum Vollkommenen hin oder vom Voll-
kommenen weg.101 Das Staatsleben erscheint als ewiges Hin und Her: „Die
Menschen werfen sich im Politischen wie auf dem Krankenlager von einer Seite zur
andern in der Meinung, besser zu liegen;“ dies ist für Goethe keine Remedur. In
den Wissenschaften beschreibt er die Spannung zwischen Autorität und Genialität,
zwischen Überlieferung und Erfahrung.102 Als Gegenpositionen im Bereich des
Wissens erscheinen der Visionär Platon und der Empiriker Aristoteles, in deren
Verehrung sich die Jahrhunderte teilen.103
4m. Für die Geistesgeschichte trennt Goethe Zeiten des Glaubens von Zeiten
des Unglaubens, beider Konflikt scheint ihm das „eigentliche, einzige und tiefste
Thema der Welt- und Menschengeschichte.“ Merkwürdig ist, daß der Glaube hier
nicht, wie in der Aufklärung, der positiven Vernunft, sondern dem negativen
Unglauben, dem Zweifel entgegengestellt wird, dem sich Goethe selbst zurechnet.
Ähnlich universal angelegt ist der Pendelschlag zwischen „Epochen des Werdens“
und „Epochen des Benützens“, eine besonders fruchtbare Antithese, denn sie unter-
scheidet zwischen Entstehungs- und Lebensgeschichte, zwischen Zeit des Kom-
mens und Zeit des Daseins.104
4n. Die Polarität der Phänomene zeigt sich wie im Pendelschwung der Perioden
so in den „Wirkungen und Gegenwirkungen“ von Entdeckungen und Erfindun-
gen. Sie werden keineswegs begrüßt, so wie Schiller dies tat. Denn Goethe erkannte
ihre Kehrseite. Die Erweiterung des Verkehrs durch die christliche Seefahrt bewies
doch nur die Begrenztheit der Erde. Das Schießpulver verstärkte sowohl die Aktivi-
tät als auch den Fatalismus. Der Buchdruck förderte die Kultur, aber brachte uns
die Zensurbehörde. Kopernikus bereicherte unser Weltbild und nahm uns den
Glauben, Mittelpunkt des Alls zu sein.105 Schließlich hat alles in der Geschichte
janushaft zwei Seiten – mindestens.
4o. Dualistisch gedacht sind ebenso die treibenden und hemmenden Momente
der Geschichte. So verweist Goethe auf das unentwirrbare Zusammenwirken von
Gesetz und Zufall, was die Weltgeschichte inkalkulabel und inkommensurabel
mache, weiterhin auf den sich „immer wiederholenden Streit zwischen dem Alter
und der Jugend“ und endlich auf die ewigen Spannungen zwischen Volk und
Regierung.106 Im Faust erscheint diese Antithese als Gegensatz von Gut und Böse,
von Gott und Teufel. Entsprechend der biblischen Lehre befinden sich die beiden
Mächte nicht im Gleichgewicht. Das Böse unterliegt zuletzt, es muß dem Guten
dienen. Mephisto stellt sich selbst vor: als „Teil von jener Kraft, / die stets das Böse
will und stets das Gute schafft... Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit
Recht, denn alles, was entsteht, / ist wert, daß es zugrunde geht“. Der Teufel ist die
personifizierte „List der Vernunft.“
4p. Die Mächte, die unser Leben beherrschen, sind häufig selbstgeschaffen. „Am
Ende hängen wir doch ab / von Kreaturen, die wir machten“, heißt es im Faust,
und der ›Zauberlehrling‹ jammert: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.“ Konkret wird das in Wilhelm Meisters Wanderjahren:
„Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich: es wälzt sich
heran wie ein Gewitter.“107 Marx und Engels haben das Gleichnis des Zauberlehr-
lings im Sinne der unkontrollierten Produktionsverhältnisse verstanden, und in die-
sem Sinne hat Goethe es, in Anlehnung an den ›Lügenfreund‹ des Lukian von
Samosata konzipiert. Nur eine Hoffnung auf Pankrates, den „Meister“, den Marx
in sich selber sah, ist bei Goethe nicht erkennbar. Unsere Vergangenheit ist unser
Schicksal.
4q. Die begrenzten Möglichkeiten freien Handelns angesichts der übermächti-
gen Zeitläufte spricht am klarsten aus den Worten Egmonts zu seinem Sekretär:
„Kind, Kind....Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde
der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts als,
mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links vom Steine hier,
vom Sturze da die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich
doch kaum, woher er kam.“108
5. Paradigmatik
5a. Die historischen Phänomene stehen bei Goethe in einer Bedeutungshierarchie.
Sie werden als Beispiele betrachtet und nach ihrer Aussagekraft bewertet, nach
ihrem paradigmatischen Gehalt eingestuft.109 Der darin liegende Erkenntniswert
kann größer oder kleiner sein, ist aber immer vorhanden. Die als Beispiele dienen-
den Fälle einer Klasse unterstehen in größerer oder geringerer Ferne einem Archege-
ten, einem plotinischen hen kai pan.110 Er verkörpert den Musterfall, den Urtypus,
von dem alle anderen abgeleitet sind, der die Wesensmerkmale aller enthält. Wir
denken an das musikalische Verhältnis von Thema und Variationen.
5b. Diesen Ordnungsgedanken hat Goethe an der Vegetation durchgespielt. Er
hat 1787 im botanischen Garten von Palermo die Urpflanze gesucht, nach deren
Muster alle wirklichen Pflanzen gebildet seien, alle möglichen gebildet sein müß-
ten, und zwar auf dem Wege der Metamorphose. Diese besteht in einer Verände-
rung der Proportionen unter den Bestandteilen des Phänomens. „Mit diesem
Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche
erfinden, die ... existieren könnten ... Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige
Lebendige anwenden lassen“, mithin auch auf geschehene wie ungeschehene
Geschichte.111
5c. Das Postulat einer Strukturanalogie unter den Organismen führte Goethe
zur Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen.112 Dessen angebli-
ches Fehlen motivierte damals die Annahme eines fundamentalen Unterschieds
zwischen Affe und Mensch, denn dessen anatomische Eigenart wurde mit der
menschlichen Sprachfähigkeit verbunden und diente als Argument dafür, den Men-
schen als Gottesgeschöpf aus der Tierwelt auszugliedern. Dies erwies sich nun als
irrig. Der Mensch auf der „höchsten Stufe“ der Entwicklung steht im Kontinuum
der Evolution. 113
5d. Die Urpflanze gehört in den Kreis der Urphänomene. Auch dieser von Goe-
the geschaffene Begriff kennzeichnet die dualistische Form seiner Kosmosophie.
Goethe stellt das Grund- oder Urphänomen als eine Haupterscheinung über die
aus ihm abgeleiteten normalen Phänomene, wobei für Goethe die Ableitung eine
Sache der Anschauung ist. Das Urphänomen steht auf der Grenze zwischen Wis-
senschaft und Philosophie, zwischen Empirie und Theorie und öffnet den Zugang
zu beidem.114 Es sei „ein Urphänomen nicht einem Grundsatz gleichzuachten, aus
dem sich mannigfaltige Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine Grunderschei-
nung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist.“115 Zugrunde liegt der
Satz von Leibniz, daß die Natur einfach in ihren Prinzipien, aber unermeßlich reich
in deren Anwendung ist.
5e. Ein Urphänomen erlaubt es, „der einzelnen Erscheinungen Herr zu wer-
den.“ Es sei ein Fall, „der Tausende wert ist und sie alle in sich schließt.“116 Wir
denken an die Schülerrede Mephistos, wo „ein Schlag tausend Verbindungen
schlägt“, wo als wichtigstes Element das „geistige Band“ erscheint, das die Erschei-
nungen verknüpft. In den teils physischen, teils sittlichen Urphänomenen offenbare
sich die Gottheit.117 Sie weckten bei Goethe eine doppelte Empfindung. Einerseits
spürte er Scheu und Angst vor ihnen; andererseits beruhigte er sich bei ihnen, sie
erschienen nicht mehr hinterfragbar.118 Sie werden „mikromegisch“ als „Symbol für
alles übrige“ verstanden, als das „letzte Erkennbare... symbolisch, weil es alle Fälle
begreift.“119 Die Verknüpfung von isolierten Erscheinungen zu „Korrelaten“ ist eine
„Betrachtungsweise“, die Goethe an der Natur entwickelt hat, aber nicht weniger
„in Bezug auf die neueste um uns her bewegte Weltgeschichte“ als fruchtbar emp-
findet. In diesem Sinne bezeichnete er die „Spiraltendenz“, die er in der Natur wie
in der Geschichte wirksam sah, als „Urphänomen“.120 Ebenso wie Encheiresis natu-
rae, die „Behandlungsart der Natur“121 arbeitet die Encheiresis historiae.
5f. Am 13. April 1821 schrieb Goethe an Hegel und dankte ihm für seine
Zustimmung zum Konzept des Urphänomens. Keiner der beiden hat allerdings den
Terminus auf die Geschichte angewandt. Wir aber können dies tun, um Goethes
Geschichtsvorstellung zu beschreiben. Denn das Prinzip der abgestuften Bedeutung
findet er gemäß seinem Universalkonzept wie in der Natur so in der Geschichte.
Phänomenale Musterfälle gibt es im Reich der Kultur auf den verschiedensten
Gebieten. Die Bibel ist das „Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volkes
zum Symbol aller übrigen aufstellt.“122 Von Montesquieus Schrift über Größe
und Niedergang Roms heißt es: „Die ganze Geschichte unserer Zeit steht buchstäb-
lich in seinem Werke“, so wie alle Krankheiten bei Hippokrates nachzulesen
seien.123
5g. Die Form des Zusammenhangs ist für Goethe nicht die Chronologie, nicht
die Kausalität. Das Zurückführen der Wirkung auf die Ursache sei „bloß ein histo-
Strömungen ihrer Zeit bündeln. Im gleichen Sinne sah später Jacob Burckhardt in
den großen Individuen die Bewegungen ihrer Zeit kondensiert und konkretisiert.132
Goethe spricht davon, daß einzelne Menschen „Repräsentanten“ ihres Jahrhun-
derts seien. So steht Götz, steht Cellini, steht Egmont für seine Zeit.133 Andere
Persönlichkeiten stuft er noch höher ein, so den Homer, in dem sich „die Men-
schenwelt noch einmal reflektiert“, und Napoleon, den er ein „Kompendium der
Welt“ nannte. An der Völkerwanderung interessierten ihn Attila und Geiserich,134
an der Reformation fand er allein die Person Luthers bemerkenswert. „Alles übrige
ist ein verworrener Quark.“135 Friedrich der Große wurde von Goethe als Mensch
bewundert, aber „was ging ihn Preußen an?“ So erklärt sich, daß Goethe eine Bio-
graphie, in der sich das Jahrhundert spiegelt, für die höchste Form der Geschichts-
schreibung hielt.136
5j. Im Individuum verkörpert sich nicht nur der Geist der Zeit, sondern zeigt
sich mitunter auch eine unerklärliche Macht. Ein Schlüsselbegriff goetheschen
Geschichtsdenkens ist der Begriff des Dämonischen. In der Erläuterung zu seinen
›Urworten, orphisch‹ bezieht sich Goethe auf das von Platon beschriebene Daimo-
nion des Sokrates, jene innere Stimme, die ihn mit höherer Einsicht bewog, den
Giftbecher zu trinken.137 Das Dämonische ist hier der Charakter, die „eigentliche
Natur, der alte Adam“ des Menschen. Es erscheint als innere Dynamik, als eine „die
moralische Welt durchkreuzende Macht“ und verhält sich zu ihr wie der Schuß
zum Faden im Gewebe. Das Dämonische ist mithin eine mythische Chiffre für das,
was nicht beherrschbar, nicht erklärbar als „höhere Einwirkung“ ins Leben ein-
greift. Das Dämonische „wirft sich gerne an bedeutende Figuren, auch wählt es sich
gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt wie Berlin fände es
kaum Gelegenheit, sich zu manifestieren.“138
5k. „Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in einzelnen
Menschen überwiegend hervortritt“, denn „eine ungeheure Kraft geht von ihnen
aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe.“139 Als dämonisch
empfand Goethe Männer wie Napoleon und Friedrich den Großen, wie Egmont
und Peter den Großen. Bei Hegel waren dies die Prokuristen des Weltgeistes,
betraut mit Aufgaben für den Fortschritt.140 Für Goethe sind es geniale, charismati-
sche Kraftnaturen, Originalgenies ohne Auftrag, aber moralisch unfaßbar wie bei
Hegel. „Außerordentliche Menschen wie Napoleon treten aus der Moralität heraus.
Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser.“ Sie seien mit
einer Mischung aus Bewunderung und Schauer anzublicken. Überhaupt sei Größe
nicht an sich gegeben, sondern ein Reflex, ein Rezeptionsphänomen.141
5l. Goethesche Dämonie ist nicht unbedingt ein Vehikel des Fortschritts. Sie
trägt ein Doppelgesicht und manifestiert sich in Widersprüchen, einerseits als
„positive Tatkraft“, andererseits als „retardierende Macht.“ Die negative Kraft
besitzt eine höhere Faszination als die positive, da „die Menschen gewöhnlich mehr
sittliche Ungeheuer bewundern und anstaunen als wahrhaft sittliche“ Persönlich-
keiten. Die vollendete menschliche Größe habe als reines Licht nie jene Anzie-
hungskraft wie die „dämonische, ja diabolische Größe.“142 Die Zeit nach Goethe
hat einen Kommentar dazu geliefert: Albert Schweitzer hat keine Chance gegen
Adolf Hitler.
5m. Das Denken Goethes in Ordnungsmustern zeigt sich wieder darin, daß er
glaubt, das „Leben jedes bedeutenden Menschen, das nicht durch einen frühen Tod
abgebrochen wird“, lasse sich nach einem gleichbleibenden dialektischen Dreier-
schema darstellen: zum ersten durch den Bildungsgang, die Reife zur Meisterschaft,
zum zweiten durch die auftretenden Widerstände, die überwunden werden, und
zum dritten durch die Vollendung, die öffentliche Anerkennung. Dann aber treten
die „Nachbewerber“ auf, „und so schließt sich der Kreis, oder vielmehr so dreht sich
das Rad abermals.“ Dieses Schema diene dem Geschichtsschreiber als „Leitfaden“
durch die „labyrinthischen Schicksale manches Menschenlebens.“143
5n. Das Bedürfnis nach Ordnung erklärt auch die eigentümliche Anlage von
Goethes Winckelmann-Biographie,144 indem er anstelle der üblichen chronologi-
schen Ordnung eine Gliederung nach Sachgesichtspunkten wählte und damit in
der Art Suetons statt der Genese die Struktur, die Wesensmerkmale der Persönlich-
keit verdeutlichte. Goethe war auf den Einzelmenschen fixiert, während er gegen
den Begriff „Menschheit“ polemisierte, weil in ihm die einzelnen, wirklichen Men-
schen verschwänden. Das gilt für alle Bereiche, nicht zuletzt für die Wissenschaft.
„Zu allen Zeiten sind es nur Individuen, welche für die Wissenschaft gewirkt, nicht
das Zeitalter. Das Zeitalter war’s, das den Sokrates durch Gift hinrichtete, das Zeit-
alter, das Hussen verbrannte: die Zeitalter sind sich immer gleich geblieben.“ Was
„auffallende Zeiten“ ausmache, das sei ihr Gehalt an hervorragenden Individuen.145
5o. So liegt über der Geschichte ein Netz von Beziehungen, namentlich zwi-
schen geistig verwandten Menschen. Geistige Nähe überbrückt zeitliche Ferne.
Diese Wahlverwandtschaft sei es, was „die Geschichte noch ganz allein erfreulich
machen kann: daß die echten Menschen aller Zeiten einander voraus verkünden,
auf einander hinweisen, einander vorarbeiten.“ Der daraus entstehende Faden im
„breiten Gewebe des Wissens und der Wissenschaften durch alle Zeiten ... wird
durch Individuen durchgeführt.“146 Die Leistungen früherer Zeiten inspirieren die
Menschen der späteren Zeiten. Dadurch kommt, um mit Herder zu sprechen, jene
„Kette der Bildung“ zustande, das „geistige Band“, das Mephisto fordert.
5p. Den Individualitätsgedanken hat Goethe mitunter auch auf Völker und Zei-
ten, auf Jahrhunderte und Großepochen angewandt. So finden wir bei ihm zusam-
menfassende Urteile über viele Völker und – vorwiegend selbstkritisch – über die
Deutschen.147 Er meinte, man müsse absehen von der zivilisatorischen Politur, da
diese den Völkern ihre Eigenart nehme und sie einander angleiche. Alle gebildeten
Völker besäßen eine „zweite Natur“ durch ihre kulturellen Leistungen.148 Mit seiner
Hochschätzung der Antike vertritt Goethe die Ansichten seiner Zeit. Sein Bild des
Mittelalters jedoch schwankt zwischen Ablehnung mit den Aufklärern und Hoch-
achtung mit den Romantikern. Bei der Charakterisierung der Jahrhunderte war
sich Goethe der Künstlichkeit der Abgrenzung sehr bewußt, denn mit keinem Jahr-
hundertende „schneiden sich die Begebenheiten rein ab“. Dies aber gelte für alle
Einteilungen.149
6c. Ein drittes Bild für die Gesamtgeschichte liefert das Jahreszeitengleichnis.
Hatte Hegel das Mittelalter dialektisch mit dem Pendelschlag vom Tiefstpunkt der
päpstlichen Inquisition zum Höchstpunkt des protestantischen Preußen gerechtfer-
tigt, so bedient sich Goethe einer poetischen Naturmetapher. Die „stillen dunklen
Zeiten“ entsprechen dem Winter im Jahreslauf. „Diejenige Zeit, welche der Same
unter der Erde zubringt, gehört vorzüglich mit zum Pflanzenleben.“156 Mit dem
Jahreszeiten-Gleichnis erklärt Goethe, wie das erfreuliche Ganze seine unerquickli-
chen Teile rechtfertigt. Dabei geht es nicht um deren kausalen Endeffekt, sondern
um den ästhetischen Eigenwert. „Wollte man die Herrlichkeit des Frühlings und
seiner Blüten nach dem wenigen Obst berechnen, das zuletzt noch von den Bäu-
men genommen wird, so würde man eine sehr unvollkommene Vorstellung jener
lieblichen Jahreszeit haben.“157 Die Frucht hat kein Vorrecht vor der Blüte. Jedes
Bild hat seinen eigenen Wert. Es genießt ästhetische Autonomie. Logisch konse-
quent heißt es umgekehrt: Wer ein Kunstwerk aus seinen Quellen verstehen wolle,
der gleiche jenem, der einen „wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen,
Schweinen“ fragt, die er gegessen hat. Es geht um die Sache selbst: „Jeder Schritt
soll Ziel sein.“ Man reist auch nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.158
Hier denken wir an Ranke, für den jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ war. Aber
Goethe meint etwas anderes: jede Epoche kann unmittelbar zu uns, als den Betrach-
tern sein. Er empfindet ein Immediatverhältnis zu allem, was ihn inspiriert. Die
historische Bedeutung eines Phänomens beruht auf seiner Zündkraft, die sich unter
Umständen erst nach Jahrhunderten entfaltet.
6d. Goethes Geschichtsdenken entwickelte sich aus seiner „ästhetischen Ein-
samkeit“.159 Dennoch war seine Haltung keinesfalls – wie bei Heinrich Luden oder
Jacob Burckhardt160 – kontemplativ sondern produktiv. Sein Satz „Was fruchtbar
ist, allein ist wahr“161 expliziert den Sinn des „Wirklichen“ als „Wirkendes“. Da
auch Irrtümer wirken, handelt es bei der Wirksamkeit sich um eine notwendige,
nicht um eine hinreichende Bedingung für das „alte Wahre“, das wir anfassen sol-
len. „Nichts ist zarter als die Vergangenheit; / rühre sie an wie ein glühend Eisen: /
denn sie wird dir sogleich beweisen, / du lebest auch in heißer Zeit.“162 Die Wech-
selwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein „schaffender Spiegel“,163
er stiftet Sinn und Gewinn aus der Geschichte. Unser Blick auf sie prägt nicht ihren
Stoff, doch ihre Gestalt, ihre Wirkung auf uns beflügelt unser Handeln. „Man lerne
eigenes Tun und Vollbringen an das anzuschließen, was Andere getan und voll-
bracht haben: das Produktive mit dem Historischen zu verbinden.“. Historie soll,
wie wieder Nietzsche 1874 gefordert hat, dem Leben dienen. Ungeniert und ohne
Originalitätsanspruch gesteht Goethe: „Nur durch Aneignung fremder Schätze ent-
steht ein Großes.“164 Das ermöglicht die von ihm immer wieder geforderte „Stei
gerung.“165
6e. Steigerbare Elemente des Vergangenen findet Goethe namentlich in der
Antike. Gestalten aus Mythos und Geschichte der Griechen haben ihn vorzüglich
angezogen: Frauen wie Iphigenie, Nausikaa und Helena; Männer wie Prometheus,
Achill und Sokrates faszinierten ihn. Nach der Beschäftigung mit dem nordischen
„Teufels- und Hexenwesen“ suchte er Labsal an den „Tischen der Griechen.“ Er
meinte, daß dort „ganz allein für die höhere Menschheit und Menschlichkeit reine
Bildung zu hoffen und zu erwarten ist.“ Klassik war ihm kulturelle Gesundheit.
„Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort Basis der
höheren Bildung bleiben!“166 Wenn wir uns – er spricht von sich selbst – „dem
Altertum gegenüberstellen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung,
als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.“167 Von der teutonischen Germa-
nen-Romantik eines Klopstock, eines Kleist, eines Tischbein findet sich bei Goethe
keine Spur. Der „Befreier Germaniens“168 Arminius alias Hermann der Cherusker
kommt bei ihm nicht vor169.
6f. Die Rückwendung zu den Kulturleistungen der antiken Vergangenheit ist
kein romantisches Heimweh nach der Wiederkehr eines verklärten Zeitalters. „Es
gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues,
das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte
Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres schaffen.“ Diese Arbeit gilt
namentlich für Kunst und Wissenschaft. Denn „wir stehen mit der Überlieferung
beständig im Kampfe.“ Am Erfolg dieses Kampfes kommen gelegentlich Zweifel
auf. „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde.“170
6g. Trotzdem bleibt die Bewältigung des Überlieferten eine Aufgabe, und sie
schließt die Forderung ein, „daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben
werden müsse“,171 weil die Interessen und Fragestellungen sich wandeln. Zumal
heute sei das erforderlich, denn „wann war wohl eine Epoche, die dies so notwendig
machte, als die gegenwärtige?“172 Geschichte begreifen heißt: sie in den Griff bekom-
men, anderenfalls wird sie – wie schon Kant gefürchtet hatte173 – zur alles erdrüc-
kenden Last. Dies sei besonders bedenklich für die „strebende Jugend“, die mit sich
selbst eine „Urwelt-Epoche beginnen möchte.“ Das darf sie, das soll sie, denn
„Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“174
*
6h. Goethe strukturiert das uferlose Feld der Geschichte durch wenige Ordnungs-
begriffe: Kreislauf steht für die Wiederkehr des Gleichen, die Spirale verbildlicht die
Steigerung. Polare Gegensätze bedingen, bekämpfen und befruchten einander. Die
Konzepte des Urphänomens und des Dämonischen setzen Akzente, sie bezeichnen
Grenzpunkte der Empirie: Das Urphänomen ist nicht weiter erklärlich, dient aber
als Anschauungsmuster für die durch Metamorphose aus ihm abgeleiteten Erschei-
nungen. Das Dämonische ist nicht beeinflußbar, beherrscht aber seinerseits die
Kräfte in seinem Umfeld. Historisches Interesse genießen Individualitäten: Perso-
nen, Ereignisse, Kunstwerke, in denen sich ein Allgemeines ausdrückt und unsere
Welt und Menschenkenntnis erweitert.
6i. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte soll sich indessen nicht in Kon-
templation, nicht in Kompilation erschöpfen. Alles, was ihn bloß belehre, ohne ihn
zu beleben und seine Tätigkeit zu vermehren, schrieb Goethe an Schiller am 18.
Dezember 1798, sei ihm verhaßt. Es geht darum, die Geschichte geistig und den
Geist geschichtlich aufzufassen. Goethe empfiehlt die gezielte Auswahl des Bedeut-
samen, das wert ist, bewahrt und ausgestaltet zu werden. „Was du ererbt von deinen
Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen! / Was man nicht nützt, ist eine schwere
Last, / nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen“. Der ›Faust‹ ist eine
Wendung von der vita contemplativa zur vita activa, der Weg aus dem Kellerloch in
die Welt. Am Anfang war die Tat. Am Ende steht allerdings nicht der Erfolg, son-
dern die Erlösung.
6j. Dafür freilich müssen wir strebend uns bemühn. Der paradigmatische
Ansatz eines universalen Individualismus175 ist ein Zugriff auf die Vergangenheit
von der Gegenwart aus im Blick auf die Zukunft. Indem Goethe nur das aus der
Geschichte für bemerkenswert erklärt, was ihn animiert, so kann er seinerseits uns
animieren, seinem Beispiel zu folgen. Die Aneignung des Überlieferten kostet
Mühe, aber sie lohnt sich: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der
Enthusiasmus, den sie erregt.“ Die Geschichte bietet Anregung, sie liefert Licht:
jeweilige Wissenschaftsgeschichte, und daß dies nicht bloß Papier blieb, lehrt die
Kunsthistorie, die in der Vergangenheit ein Arsenal von Vorbildern entdeckte. Die
Frage von Heinrich Hübsch (1828): „In welchem Style sollen wir bauen?“, wurde
beantwortet durch die Neuromanik und Neugotik, durch die Neorenaissance und
Neobarock, durch den künstlerischen Historismus. Dieser Stil der Stillosigkeit
erschien in der Auffassung der Zeit als Fortschritt. Waren frühere Jahrhunderte an
einen einzigen Stil gebunden, so konnte man nun auswählen. So bezeichnet der
Begriff „Historismus“ seit dem späten 19. Jahrhundert ein besonders stark, ja über-
trieben historisch geprägtes Denken. Nietzsche verwendet in diesem Sinne den
Begriff „Historizismus“ und polemisiert gegen die Geschichtslastigkeit im Bil-
dungswesen.3
d. Die namhaften Vertreter des historiographischen Historismus waren Berufs-
historiker, deutsche Universitätsprofessoren. Das mag ein Grund dafür sein, daß
der Gehalt des Historismus an systematischer Geschichtsphilosophie nicht sonder-
lich reich ist. Dies monierte Benedetto Croce, indem er anstelle des „deutschen“
einen durch hegelianischen Panpsychismus angereicherten „absoluten“ Historismus
oder „Antihistorismus“ forderte, den er selbst aber nicht geliefert hat.4 Jedenfalls
empfiehlt sich eine Darstellung der Geschichtsphilosophie des Historismus nach
Themen und nicht nach Personen. Entscheidende Impulse lieferten drei Berliner
Gelehrte: Ranke, von dem Hegel bemerkte: „Das ist nur ein gewöhnlicher Histo
riker“,5 Droysen, der selbst ebensowenig wie Ranke den Begriff „Historismus“
benutzte, und Meinecke, der mit ihm das historische Denken in Deutschland im
19. Jahrhundert kennzeichnete.6
e. Leopold (von) Ranke (1795 bis 1886) entstammt einer Thüringer Pfarrersfa-
milie.7 Er gilt als der berühmteste deutsche Historiker und als der Begründer der
modernen quellenkritischen Geschichtswissenschaft, die er seit 1825 in seinen –
damals unüblichen – Seminaren an der Berliner Universität seinen Studenten wei-
tergab. Aus der deutschen Geschichte beschäftigte ihn namentlich die Umbruchs-
zeit der Reformation. Im übrigen schrieb Ranke in 70 Bänden europäische
Geschichte, ja auch die des Osmanenreiches. Ranke war ein großer Erzähler, seine
Darstellung ist reich im Detail und abgewogen im Urteil. Durch künstlerisch-bild-
hafte Anschauung sucht er die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Aus Rankes
Werk sind für uns aufschlußreich die Vorrede zu seinen ›Geschichten der romani-
schen und germanischen Völker von 1494 bis 1514‹ aus dem Jahre 1824, sein ›Poli-
tisches Gespräch‹ von 1836 sowie seine Vorträge ›über die Epochen der neueren
Geschichte‹ von 1854.
f. Johann Gustav Droysen (1808 bis 1884) war Sohn eines preußischen Militär-
pfarrers, studierte in Berlin unter anderem bei Hegel. 1840 wurde er Professor in
Kiel, vertrat die Rechtsliberalen 1848 in der Paulskirche und lehrte seit 1851 in
Jena und seit 1859 in Berlin.8 Droysen schrieb 1833 eine feurige Biographie über
Alexander den Großen, prägte in einem dreibändigen Werk den Begriff „Hellenis-
mus“ im heutigen Sinne und befaßte sich als Vorkämpfer der deutschen Einheit vor
allem mit der preußischen Geschichte. Droysen, mit „einem Tropfen historistischen
Öls gesalbt“,9 hat seine Konzeption in der ›Historik‹ niedergelegt, einer Vorlesung
über das Wesen der Geschichte und die historiographische Technik.10
g. Friedrich Meinecke (1862 bis 1954) lehrte in Straßburg,11 Freiburg und seit
1914 in Berlin. 1935 mußte er als 73jähriger die Herausgabe der ›Historischen
Zeitschrift‹ abgeben, die er seit 1893 innehatte. 1948 wurde Meinecke Gründungs-
rektor der Freien Universität Berlin. Seine wichtigsten Forschungen galten den
deutschen Freiheitskriegen gegen Napoleon, dem geistesgeschichtlichen Übergang
vom Weltbürgertum zum Nationalstaat. Der „Primat der Geistesgeschichte“ ver-
bindet ihn mit dem Deutschen Idealismus.12 Geschult an Ranke, beschrieb er die
handlungslenkenden Ideen, zumal die Spannungen zwischen Politik und Ethik,
und glaubte, der wichtigste deutsche Beitrag zur europäischen Geschichte nach der
Reformation liege in der „Überwindung“ der Aufklärung durch den „Historismus“,
dessen Ursprünge er 1936 dargestellt hat. „Das Erwachen dieses Sinnes für Indivi-
dualität und Entwicklung in der Geschichte ist eine der größten geistigen Revolu-
tionen, die das Abendland erlebt hat.“13 Der Historismus wurde von seinen Vertre-
tern als deutscher Beitrag zum Geschichtsdenken gewertet.14
h. Meineckes Emphase muß man nicht teilen. Doch sind die wissenschaftstheo-
retischen Leistungen des Historismus nicht zu bestreiten. Bleibende Gültigkeit
besitzen die historistischen Postulate, sowohl der Individualität als auch der Ent-
wicklung im Geschehen Rechnung zu tragen, die Ereignisse einerseits aus der Sicht
der Zeitgenossen und andererseits aus der Distanz der Nachwelt zu beschreiben.
Wenn wir etwa den Historismus selbst verstehen wollen, müssen wir historistische
Prinzipien anwenden, d. h. ihn in seiner Individualität aus seiner Entwicklung
begreifen.
1. Entwicklung
1a. Der Historismus übernahm aus der Aufklärung die Ansicht, daß alles histori-
sche Geschehen in Entwicklungsvorgängen ablaufe, sowohl im Kleinen als auch im
Großen. Jede Entwicklung erscheint als einmalig und zielgerichtet, eingebettet in
eine Gesamtentwicklung der Menschheit. Sowohl Ranke als auch Droysen – beide
waren gläubige Protestanten – bekannten sich mit Lessing und Herder zur Idee
einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts. Ranke äußerte sich behut-
sam, indem er zugab, daß diese Idee „etwas Wahres an sich habe“;15 Droysen war
entschiedener, er sprach von einer Erziehung des Menschengeschlechts auf Christus
hin und von Christus her; er forderte dazu auf, in diesem Sinne weiterzuarbeiten
und Gottes Gerechtigkeit in der Geschichte zu begreifen. „Die Geschichte hält fest
an dem Glauben an eine weise und gütige Weltordnung Gottes, die nicht bloß
einige Gläubige, nicht ein auserwähltes Volk, sondern das ganze Menschenge-
schlecht, alles Erschaffene umfaßt“. Droysen bekannte sich wieder, wie Hegel, zur
Theodizee und forderte eine „Theologie der Geschichte“.16
1b. Beide Autoren benutzen auch den Begriff des Fortschritts. Ranke sprach
vorsichtig von einem gewissen Fortschritt in der Art eines Stromes, bezog dies
jedoch nur auf die materielle Kultur, nicht auf Moral und Kunst. Gegen den Fort-
schrittsglauben der Aufklärer hatte er theologische Bedenken: Zum einen wider-
spräche es Gottes Gerechtigkeit, wenn die früheren Generationen sich abmühen
müßten, damit die späteren ein angenehmes Leben führen – so urteilte schon Schil-
ler – und zum anderen beschränke das Fortschrittsgesetz Gottes Möglichkeiten,
jederzeit in den Gang der Dinge einzugreifen. Im „entscheidenden Augenblick tritt
allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen und was Gottes Finger ist.“ Wenn
Ranke gleichwohl meinte, der menschliche Geist sei in einer unermeßlichen Fort-
entwicklung begriffen, so sieht dies eher nach einer Konzession an die Aufklärung
aus.17 Daran gemahnt auch sein Urteil über das Ende der Antike. Er findet dort
weniger Abschluß als Anschluß. In der Kaiserzeit habe Rom durch die Verbindung
von Bürokratie und Monarchie, von Kultur und Christentum seine „Weltbedeu-
tung“ erfüllt und überließ nun die „Propagation der welthistorischen Ideen“ den
von Rom zivilisierten romanischen und germanischen Nationen. So wird auch
diese tiefste Zäsur der europäischen Geschichte durch jene Kontinuität überbrückt,
die das Sinnganze der Menschheit ausmacht. Ranke war durch Thukydides zur
Historiographie gebracht worden, geht aber darin über ihn hinaus, daß er die
„Geschichte zur Einheit“ fassen will.18
1c. Nach 1848 beklagte Droysen die „Gegenwart; alles im Wanken, in uner-
meßlicher Zerrüttung, Gärung, Verwilderung. Alles Alte verbraucht, gefälscht,
wurmstichig, rettungslos.... Wir stehen in einer jener großen Krisen, welche von
einer Weltepoche zu einer neuen hinüberleiten.“19 Wenig später aber ist von einem
„unermeßlichen Drang des Fortschreitens“, von einem „ethischen Gang des Wer-
dens“ und einer „rastlos arbeitenden sittlichen Weltordnung“ die Rede.20 Zu Droy-
sens liebsten Formeln gehört die epidosis eis hauto, der „Zugewinn zu sich selbst“,
womit Aristoteles gleichbedeutend mit entelecheia die Teleologie in der Entwick-
lung organischer Lebewesen charakterisiert hatte.21 Diese epidosis nimmt Droysen
nun für die Menschheit als Gattung an, die im Verlaufe ihrer Tradition „immer
höhere Gestaltungen des geschichtlichen Lebens“ hervorbringe.22
1d. Wir erfahren nicht, worin Erziehung und Fortschritt bestehen und wohin
sie führen. Die Begriffe Humanität, Vernunft und Freiheit sind keine Ziele mehr,
sondern Begleiterscheinungen. Es scheint, als ob die Rede von Fortschritt und
Erziehung nur Zeugnis für das Gottvertrauen der Autoren darstellte. Die ursprüng-
lich zeitlich gemeinten Prozesse führen nicht vom Früheren zum Späteren, sondern
von der Idee zur Erscheinung. Die Geschichte ist keine Annäherung an ein benenn-
bares Endziel, vielmehr die permanente Selbstvollendung der allzeit unvollkomme-
nen Menschheit in den jeweils erreichten Gestaltungen. In diesem tautologischen
Sinne erläutert Ranke den Fortschrittsbegriff: der Fortschritt beruhe darauf, daß der
menschliche Geist zu jeder Zeit die ihm innewohnende Tendenz manifestiere. Das
ist Idealismus. Die herrschenden Denkbilder sind der Pflanzengarten und die
Gebirgslandschaft: jedes Phänomen entfaltet sich nach seinen eigenen Gesetzen,
jede Bewegung erreicht ihren Gipfel und sinkt wieder ab. Gleichwohl rechnen
Ranke und Droysen mit kultur- und geschichtslosen Völkern, analog zu Hegels
Negerlehre.23
2. Individualität
2a. Die Romantik hatte die Vielfalt der vergangenen Kulturen entdeckt, beispiel-
haft in Herders ›Stimmen der Völker in Liedern‹ von 1807. Demgemäß stand –
anders als in der Aufklärung – nicht mehr die Weltgeschichte im Mittelpunkt des
Interesses, sondern das einzelne historische Phänomen: große Persönlichkeiten,
Völkerkämpfe, Wendezeiten. Die mit der Verwissenschaftlichung verbundene Spe-
zialisierung findet ihre Legitimation im Humboldtschen Individualitätsprinzip. Die
Geschichte erscheint als ein Panorama einmaliger Erscheinungen, die alle ihre
unverwechselbare Eigenart entfalten und eben darin eine höhere Wirklichkeit
offenbaren. Die Phänomene stehen indes nicht einfach neben- und gegeneinander,
sondern bündeln sich zu allgemeinen Zeitströmungen, die bei Ranke im Sinne
Humboldts als bewegende Ideen und objektive Tendenzen überpersönliche Bedeu-
tung besitzen. Die Gesamtheit der Individualitäten fügt ein höherer Wille zu einem
harmonischen Universum zusammen, dem eine verbindende Idee jedoch mangelt.
Selbst der Begriff „Menschheit“ findet Widerspruch.24
2b. Jede Individualität wird als Ergebnis einer historischen Entwicklung
erkannt, indem einerseits die Individualitäten sich im Verlaufe der Geschichte selbst
entwickeln, und indem andererseits die Geschichte als Ganzheit sich entfaltet, und
dabei individuelle, einmalige Phasen durchläuft. Ranke hat diese Ambivalenz her-
vorgehoben. Er glaubte, daß die großen Völker einen doppelten Beruf haben, einen
nationalen und einen universalen. Beide Zwecke stehen im Zusammenhang; und
dieses zu erkennen und darzustellen scheint ihm die Aufgabe des Historikers. „über-
haupt befestigt sich in mir immer mehr die Meinung, daß zuletzt doch nichts wei-
ter geschrieben werden kann als Universalgeschichte.“25 Auch wer nur Teile
erforscht, liefert Stoff zum Ganzen, das eine Art prästabilierte Harmonie verkör-
pert. Meinecke erklärte, daß alle „individuellen Hergänge und Gebilde im
geschichtlichen Leben wieder unter sich zusammenhängen und stufenweise zu
immer größeren und umfassenderen Individualitäten führen.“ Wenn für deren Ent-
wicklung bisweilen ein „inneres“ Gesetz angenommen wird, so wird dies als ebenso
individuell angesehen wie das Phänomen selbst und besagt nicht mehr als den
Glauben an eine Notwendigkeit. Das erweist Meineckes Goethezitat: „Alles entwic-
kelt sich ‚nach dem Gesetz, wonach du angetreten‘. Und dies Gesetz ist kein allge-
Hinweis, der Historiker müsse über den Parteien schweben wie der Homerische
Zeus über den Kriegern vor Troja.31
2g. Rankes Gottvertrauen liegt auch dem Geschichtsdenken von Meinecke
zugrunde. „Dienst am Göttlichen, im weiteren Sinne genommen, ist nun einmal
die Historie“. Meinecke spricht wieder von innergeschichtlicher „Offenbarung“,
von der Suche nach Gott in der Geschichte. Er fordert einen wertenden Stand-
punkt, der auch die „Ideale der Gegner mit umfaßt“, sich damit aber selbst entwer-
tet. Meinecke ist von einem kategorischen Optimismus, wenn er alle Ideale für
ideal hält, beschränkt indes die „historischen Individualitäten“ auf solche Erschei-
nungen, die „irgendeine Tendenz zum Guten, Schönen oder Wahren in sich
haben.“ Der oft gemeine oder unsaubere Ursprung der „großen und segensreichen
Kulturwerte“ zeigt, wie Gott sich des Teufels bediene, „um sich zu realisieren.“ Mei-
necke glaubt wie Hegel an die „List der Vernunft“, geht aber über die Kosten des
Fortschritts nicht hinweg mit dem Spott über Sentimentalitäten, sondern zeigt
Trauer über die „Tragik der Geschichte“. Das „letzte Wort“ für den Betrachtenden
laute: „Gott ringt sich aus der Natur empor mit Ächzen und Stöhnen und mit
Sünde beladen und darum in jedem Augenblick in Gefahr, in die Natur zurückzu-
sinken.“ Ist hier nicht vielmehr der Mensch gemeint? Dieses Geschöpf Gottes ist
bei Meinecke, gut hegelianisch, das Gehäuse der Selbstverwirklichung Gottes. Mei-
necke zitiert Ernst Troeltsch: „Die wesenhafte und individuelle Identität der endli-
chen Geister mit dem unendlichen Geiste“ löse das Problem, wie der geschichtliche
Wandel mit dauerhaften Werten zu verquicken sei.32 Das klingt wiederum nach
Schellings idealistischer Mystik.
2h. Die individualisierende Geschichtsbetrachtung des Historismus wurde in
Frage gestellt durch einen kollektivistischen Ansatz, der sich ins Gefolge der Aufklä-
rung stellte. Nachdem bereits Auguste Comte mit Hilfe der Statistik eine Physik
der Geschichte begründen und so die Historie aus einer Erzählkunst zu einer stren-
gen Wissenschaft erheben wollte, hat Henry Thomas Buckle (1821 bis 1862) dies
in seiner ›History of Civilisation in England‹ (1857) realisieren wollen. Buckle
konstatiert, daß die Naturwissenschaften den Geisteswissenschaften den Rang ab
gelaufen hätten. The most celebrated historians are manifestly inferior to the most suc-
cessful cultivators of physical science. Verglichen mit dem Studium der Natur stecke
das Studium des Menschen noch in den Kinderschuhen. History is still miserably
deficient.33
2i. Diesen Befund leitet Buckle aus zwei methodischen Vorurteilen der Histori-
ker ab. Sie huldigten dem metaphysischen Irrtum des freien Willens und dem theo-
logischen Dogma der göttlichen Prädestination. Beide Prämissen ersetzt Buckle
durch zwei andere Postulate, durch eine strikte Determination des Späteren durch
das Frühere und durch eine statistische Gesetzmäßigkeit in allen menschlichen
Handlungen. Der Glaube an den Zufall sei ebenso abwegig wie der an die Vorse-
hung. Sobald die Historiker das Geschehen nicht mehr individuell betrachten, son-
dern typisieren und klassifizieren, erreichen sie, so meinte er, ähnliche Resultate wie
die Naturforscher. Die Zahl der Verbrecher und der Selbstmörder unterliege eben-
solchen general laws wie die Zahl der Heiraten, ja die der Briefschreiber, die verges-
sen, die Briefmarken aufzukleben. All dies erkläre sich mitnichten aus den Absich-
ten und Gefühlen der einzelnen Handelnden, sondern aus den allgemeinen
Umständen, wie Klima und Nahrung, wie Bildung und Wohlstand.34 Wir denken
an Ludwig Feuerbach 1850: „Der Mensch ist, was er ißt“. Zwar würden diese deter-
minierenden Rahmenbedingungen bisweilen durch individuelle Momente gestört,
doch lasse sich auch dieses physikalisch berechnen durch ein Parallelogramm der
Kräfte, so wie in der Natur gleichfalls stärkere und schwächere Strömungen aufein-
anderstoßen und Turbulenzen erzeugen. Als wichtigsten Faktor der Geschichte
bestimmt Buckle mental laws, wie die wachsende Herrschaft des europäischen Gei-
stes über die Natur. Hier liege die Kraft des Fortschritts.35
2j. Droysen rezensierte Buckles Werk 186336 und räumte ein, daß die Historie
„ihre Theorie und ihr System noch nicht festgestellt“ habe, bestritt aber, daß es eine
einzige Methode für alle Disziplinen gäbe. So wie auch Theologie und Philosophie
ihre Methode zuzeiten anderen Wissenschaften zu Unrecht aufgenötigt hätten, so
dürfe jetzt die Physik nicht in denselben Fehler verfallen. Droysen verteidigte in der
historischen Hermeneutik die methodologische Autonomie der Geschichtswissen-
schaft, die schon Vico damit begründet hatte, daß wir die Geschichte durch die
Sprache der Handelnden sozusagen von innen, die sprachlose Natur aber nur von
außen betrachten können.37 Droysen leitete die Besonderheit des historischen
Erkennens daraus ab, daß unsere eigene Vergangenheit ein Stück unserer selbst sei,
daß die „sittliche Welt“, die der Historiker erforsche, nicht bloßes Tatsachenmate-
rial, sondern handlungsrelevante Selbsterkenntnis darstelle. Die Geschichte wolle
weniger erklärt als verstanden werden, indem jedes Ereignis aus seiner individuellen
Vorgeschichte begriffen wird. Mit statistischen Gesetzen erfasse man keine der gro-
ßen Kulturleistungen, ja nicht einmal eine beliebige Kindsmörderin. Droysen
betont, daß die Statistik bloß Resultate des Verhaltens katalogisiere, das Verhalten
aber selbst daraus resultiere, wie der Einzelne sich in seiner sozialen Lage, in seiner
staatlichen Gemeinschaft selbst bestimmt, wie er sittlich handelt. Der Mensch sei
kein berechenbarer Massenpartikel, sondern individuelles Subjekt in einer indivi-
duellen Umwelt. „Die Freiheit ist die Idee, ist der Zweckbegriff des Menschen und
der Menschheit. Ihr Dasein ist, diese Idee in rastlosem Fortschreiten zu erarbeiten
und arbeitend zu erkennen und erkennend zu vertiefen.“38
3. Staat
3a. Der vornehmste Gegenstand der Geschichtswissenschaft war für den Historis-
mus des 19. Jahrhunderts der Staat. Hier hat sich Hegel gegen Hölderlin und
Humboldt durchgesetzt.39 Ranke entfaltete seine Staatsauffassung in seinem ›Politi-
schen Gespräch‹ von 1836. Darin wollte er nachweisen, daß die Ideale des westeu-
ropäischen Konstitutionalismus auf Preußen nicht übertragbar seien. Zu diesem
Zweck verglich er den Staat mit einem Organismus. Jeder Staat sei nicht nur „eine
Abteilung des Allgemeinen“, sondern „Leben“, sei er „Staatskörper“ im biologi-
schen Sinne, der seinen individuellen Charakter in der Geschichte gewonnen habe.
Damit wendet sich Ranke gegen die Vorstellung vom Vertragsstaat, der nicht
geworden, sondern gemacht sei und deshalb auch beliebig verändert werden könne.
Seiner Meinung nach gehören die Staatsbürger von Natur, nicht durch Vertrag
zusammen. Humboldts Auffassung der Staaten als Sicherheitsinstitute zum Schutze
des Privateigentums40 findet er lächerlich. Anstelle jener „flüchtigen Konglomerate“
sieht er „geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes – man
darf sagen, Gedanken Gottes.“41 Hier spricht Hegel aus Ranke, und ihn hören wir
auch hinter dem weiteren.
3b. In jedem Staat sucht Ranke eine „oberste Idee“ , ein „lebendiges Prinzip“
oder auch „geistige Substanzen, welche alle Modalitäten der Verfassung und der
Gesellschaft erst beleben.“ Ranke illustriert dies am Inbegriff der „moralischen
Energie“, dem Militärwesen, das in allen Staaten so organsiert sei, wie es dem inne-
wohnenden Grundsatz desselben entspreche, und dieser komme auch in den übri-
gen Erscheinungsformen des betreffenden Staates zum Ausdruck. Im gleichen
Sinne hatte Hegel gefordert, daß die Verfassung vom Geiste eines Volkes bestimmt
werden müsse, weil nur so ein Staat als „organisches Ganzes“ bestünde und fremde
Vorbilder daher nicht nachgeahmt werden können. Der Gedanke des Volksgeistes
gelangt somit von Herder und Hegel in den Historismus und dessen Ideal des
Nationalstaates. Er muß sich nach außen abschließen, um seine Eigenart nicht zu
gefährden, wie es bei Treitschke 1861 heißt. Der „kosmopolitische Urbrei“ ist für
beide ein Unding.42
3c. Das Mittel, nationale Lebensprinzipien ausfindig zu machen, ist für Ranke
die Geschichtswissenschaft. Erst durch umfassende historische Untersuchungen
wird man sich zu „ahnender Erkenntnis der in der Tiefe waltenden, alles beherr-
schenden geistigen Gesetze erheben.“ Auf diesem Wege sucht Ranke die „Regel des
Werdens“, die das „innere Leben“ der Staaten steuert. Auch hierin folgt Ranke
Hegel, der behauptet hatte, „daß eine bestimmte Besonderheit in der Tat das eigen-
tümliche Prinzip eines Volkes ausmacht; dies ist die Seite, welche empirisch aufge-
nommen und auf geschichtliche Weise erwiesen werden muß“. Die Erkenntnis die-
ses geschichtsmächtigen Prinzips macht deutlich, was wir sowieso nicht ändern
können und daher tätig unterstützen sollen: „Deutschland lebt in uns ... in jedem
Lande, dahin wir uns verfügen.“ Wir „können uns nicht emanzipieren.“43
3d. Die konservative Absicht der Metapher muß sich den Einwand gefallen las-
sen, daß dann, wenn alle Staaten lebendige Individuen seien, auch alle „gleich vor-
trefflich“ sein müßten. Dem begegnet Ranke mit der Unterscheidung von Gesund-
heit und Krankheit. Ein gesundes politisches Dasein zeige Ordnung im Innern und
Stärke nach außen, ein krankes das Gegenteil. Mäßige Unruhe sei förderlich, all-
zugroße schädlich. Ranke schätzt die aristotelische Mitte und wehrt den Extremen.
Insbesondere fürchtete Ranke den Kommunismus; er meinte, dieser löse Persön-
lichkeit und Freiheit auf.44
3e. Als nächsten Angriff auf sein Konzept behandelt Ranke den Vorwurf, daß
ein organischer Staat über seine Gesundheit hinaus nicht verbessert werden könne.
Demgegenüber heißt es: „Der Staat ist ein lebendiges Dasein, das seiner Natur nach
in unauflöslicher Entwicklung, unaufhaltsamem Fortschritt begriffen ist.“ Damit
ist der grundsätzliche Einwand abgewehrt; die Forderung nach Verbesserung des
Bestehenden ist in die Sprache des Lebensgleichnisses übersetzt: „Alles Leben trägt
sein Ideal in sich: der innerste Trieb des geistigen Lebens ist die Bewegung nach der
Idee, nach einer größeren Vortrefflichkeit. Dieser Trieb ist ihm angeboren.“45 Auch
diesen Verweis auf den Wachstums- und Lernprozeß kennen wir von Hegel und
Humboldt. Ähnlich meinte das Droysen. Wenn er 1843 schrieb „Es kann die Mei-
nung nicht sein, die Dürre und Fadheit der Aufklärung wieder auf den Schild zu
heben“, so ging er von dem Gegensatz zwischen einer kosmopolitischen Idee unbe-
grenzten Fortschreitens bei den Aufklärern und einer konservativen Ängstlichkeit
bei den Reaktionären aus. Droysen suchte die Mitte zwischen dem historischen
Recht des Beharrens und dem Recht der Geschichte auf Veränderung und unter-
stützte unausgesprochen Rankes Forderung: „Die echte Politik muß eine histori-
sche Grundlage haben.“46 Diese Warnung ist gut gemeint, aber nichtssagend. Denn
jede wirkliche Politik hat eine solche, das weisen ihr die Historiker schon nach,
wenn die Politiker es selbst nicht wissen. Wofern die Politiker aber dies zu Unrecht
meinen, zeigt es sich sowieso erst hinterher, ob die Politik „echt“ oder „unecht“ war.
Auch die Historiker sind da nicht klüger; schon gar nicht, indem sie politische
Situationen in organische Bilder bringen.
3f. Ausdrücklich auf Ranke zurückgegriffen hat dann Friedrich Meinecke. In
seiner Einleitung zum ›Politischen Gespräch‹ rühmt er Rankes angebliche Ent
deckung, „daß jeder Staat sein eigentümliches unnachahmliches Leben in sich hat,
daß er ... ein Individuum bildet mit eigenen Daseins- und Wachstumsbedin
gungen.“ Meinecke wiederholt Rankes Formulierung, Staaten seien „Gedanken
Gottes“, wobei er dessen behutsam vorgeschaltetes „man darf sagen“ freilich gestri-
chen hat; er spricht selbst vom „eigenartigen Lebensprinzip aller Staaten“ und führt
aus: „Jeder Staat sucht sein eigentümliches, ihm innewohnendes Ideal zu verwirkli-
chen. Er kann dabei erkranken, altern und zugrunde gehen, aber er wird zunächst
nichts anderes tun können, als seine Individualität ausbilden zum Maximum ihrer
Möglichkeiten.“ Wo aber liegt das, wenn nicht in der jeweiligen Wirklichkeit? Wie-
der lesen wir eine dieser idealistischen Blindformeln. Eine derartige eigengesetzliche
Bewegung aller Staatsindividuen gehorcht nach Meinecke dem Grundsatz der
Entelechie. Das stammt von Droysen. Innerhalb der historischen Faktoren verleiht
Meinecke dem Staat den Vorrang, weil er in ihm den „kausal wirksamsten Faktor
des geschichtlichen Lebens erkennt, weil der nach Vollendung strebende Mensch
nur in einem nach Vollendung strebenden Staate frei atmen kann“.47
3g. Meinecke nannte Rankes Theorie „eine Lehre von ungeheurer Bedeutung
und Tragweite“ – ohne indessen zu sehen, daß Ranke sie Hegel entlehnt hatte. Mei-
necke selbst beweist ihre Wirkung, wenn er glaubt, Ranke habe ein „Naturgesetz
des Staatenlebens“ darin aufgefunden, daß sich Staaten vor allem darauf einrichten
müßten, sich nach außen möglichst gut zu behaupten. Rankes Lehre vom Primat
der Außenpolitik war konservativ, das heißt defensiv motiviert, weist aber schon bei
Meinecke in Richtung auf den Sozialdarwinismus, der keine Frage nach der Ver-
tretbarkeit der im Behauptungskampf der Staaten eingesetzten Mittel stellt. Mei-
necke glaubt, daß „die scheinbare Unmoral des staatlichen Machtegoismus sittlich
gerechtfertigt werden kann. Denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten
individuellen Natur eines Wesens stammt.“ Die „Natürlichkeit“ garantiert ihm die
Sittlichkeit.48
4. Politik
4a.Rankes quietistische, konservative Haltung fand scharfe Kritik, sowohl von links
als auch von rechts. Heinrich Heine interpretierte 1832 das Individualitätsprinzip
als Variante der Zyklik, die er als trostlos empfand. Die „Weltweisen der histori-
schen Schule“ pflegten damit einen „sentimentalen Indifferentismus gegen alle poli-
tischen Angelegenheiten des Vaterlandes allersüßlichst zu beschönigen. Eine zur
Genüge wohlbekannte Regierung in Norddeutschland weiß ganz besonders diese
Ansicht zu schätzen, sie läßt ordentlich Menschen darauf reisen, die unter den ele-
gischen Ruinen Italiens die gemütlich beschwichtigenden Fatalitätsgedanken in
sich ausbilden sollen, um nachher, in Gemeinschaft mit vermittelnden Predigern
christlicher Unterwürfigkeit, durch kühle Journalaufschläge das dreitägige Frei-
heitsfieber des Volkes zu dämpfen. Immerhin, wer nicht durch freie Geisteskraft
emporsprießen kann, der mag am Boden ranken; jener Regierung aber wird die
Zukunft lehren, wie weit man kommt mit Ranken und Ränken.“ Heine polemi-
siert gegen „die kleinen Windungen niedriger Ranken; wenn wir sie einst bekämp-
fen, so geschehe es mit dem kostbarsten Ehrenschwerte, während wir einen ranken-
den Knecht nur mit der wahlverwandten Knute abfertigen werden.“49
4b. Als Alternative begrüßt Heine den revolutionären Fortschrittsgedanken,
dessen illusionäre Visionen ihm bewußt sind, ohne ihn abzuschrecken. Heine sieht
das Dilemma einer universalen Entwicklungstheorie, die nur Stufen auf der Leiter
zum Goldenen Zeitalter der Zukunft kennt und damit der Geschichte ihren Eigen-
wert nimmt. Sein Ausweg ist die Erklärung, daß die Zweck-Mittel-Beziehung vom
Menschen in die Geschichte „hineingegrübelt“ werde, wovon „aber der Schöpfer
nichts wußte“. Das Leben sei weder Zweck noch Mittel, sondern ein Recht, dessen
Kraft durch den „elegischen Indifferentismus“ der Historiker gelähmt werde.50
4c. Ein gleicher Protest wie von links erhob sich von rechts bei Droysen, der
einen ähnlichen Haß auf Ranke verspürte. Am 17. November 1855 heißt es:
„Ranke gehört mit seiner feigen Intelligenz recht eigentlich in die derzeitige Berli-
nerei; vom sittlichen Zorn, von Erhabenheit der Gesinnung ist bei ihm keine Spur;
und daher geschieht es einem, daß, wenn man ein Buch von ihm hinausgelesen,
man viel klüger, aber nicht besser geworden zu sein fühlt; man schließt nicht mit
einem guten Vorsatz oder mit fröhlicher Emporrichtung des Blickes oder Nackens.“
Im selben Tenor schreibt er am 8. März 1884: Wer im Sinne Rankes bloß Fakten
referiert, „der hat auf das sapere aude verzichtet und deckt sich mit der faulen Rich-
tigkeit der Quisquilien, die ihm sein Kehricht bietet.“51
4d. Droysen will Geschichte nicht nur von außen begreifen, sondern von innen
gestalten. Dazu bedarf es über die Belehrung hinaus der bei linken wie rechten
Aktivisten erforderlichen Begeisterung. So definiert Droysen die Geschichte als
Bewegung der sittlichen Welt und erläuterte dies daran, daß die Kontinuität der
Tradition aus den Verpflichtungen erwachse, die „Familiengeist, Gemeingeist,
Volksgeist“ mit sich bringen. Droysen stellt der Historie die Aufgabe, den Men-
schen in die natürlichen Gemeinsamkeiten hineinwachsen zu lassen. Er entwirft das
Bild, wie der einzelne Mensch, zunächst bloß „kreatürliches Ich“, allmählich ler-
nend „mit dem geschichtlich Gewordenen um ihn her verschmilzt“ und sich mit
einer Stufenfolge von Kollektiven identifiziert. Familie, Armee, Berufsstand, Glau-
bensgemeinschaft, Staat und Volk sind die am häufigsten genannten „höheren
Ichs.“ Indem der Einzelne sich die Geschichte dieser seiner Gruppen aneignet, soll
er zugleich deren „Standpunkte“, „Interessen“ ja „Vorurteile“ übernehmen. Dann
handelt er pflichtgemäß und sittlich, wenn er im Ganzen aufgeht. Zur „geschichtli-
chen Persönlichkeit“ wird der Einzelne nur – übertragen gesprochen – als „Soldat
im Dienste der höheren Gemeinsamkeiten von Volk, Staat, Religion usw.“52
4e. Droysen erläutert dies mit Hilfe der Metaphorik der organischen Staatslehre:
„Diese Idee“, gemeint ist der Volksgeist, „ist ein geschichtliches Ergebnis, und sie
organisiert sich ihre Daseinsform, baut sich den nationalen Körper aus den Men-
schen“ – jeder ist ein „lebendiges Stück und Glied an diesem Körper, und man
kann nicht sagen, daß er nur Stoff und unfrei wäre.“ Gewiß nicht nur, wenn auch
vorwiegend; wobei zu bedenken ist, was für Droysen dieser zugestandene Rest an
Freiheit bedeutet: es ist die Pflicht, in der Gemeinsamkeit aufzugehen. „In jedem
einzelnen Fall empfindet jeder, daß er an seiner Volksart sein Heiligstes, seine natür-
liche Sittlichkeit hat, und er hat das Recht und die Pflicht, diese mit aller Stärke
festzuhalten und für sie einzustehen.“ Mit diesen Sätzen schwer zu vereinen ist
dann das Bekenntnis, daß „die Persönlichkeit mit ihrer Freiheit, ihrer Verantwort-
lichkeit, ihrem Gewissen“ hoch über Staat, Kirche und Volk, über Recht, Eigentum
und Familie stehe.53 In jedem Falle ist das „forschende Verstehen“, das über Droy-
sens ›Historik‹ schwebt, kein passiv-kontemplatives Zur-Kenntnis-Nehmen, son-
dern ein produktives, auf Aktion zielendes Sich-Aneignen.
wie das Empfängnis in der Begattung.“ Der Tenor geht fort: „In dem Verstehen ist
die ganze geistigsinnliche Natur des Menschen völlig mittätig, zugleich gebend und
nehmend, zugleich zeugend und empfangend.“ Wenn wir dieses Symplegma auf
lösen, erscheint der Geschichtslehrer als der zukünftige Vater, der Schüler als die
zukünftige Mutter, die Historie als der Samen, und die Begeisterung für Volk und
Vaterland ist das, was dabei herauskommt. Auf dieser Linie liegt dann auch Hitlers
Forderung an den Geschichtsunterricht. „Man erziehe das deutsche Volk schon von
Jugend an mit jener ausschließlichen Anerkennung der Rechte des eigenen Volks-
tums und verpeste nicht schon die Kinderherzen mit dem Fluche unserer Objek
tivität auch in Dingen der Erhaltung des eigenen Ichs.“. Hitler meint dasselbe
Über-Ich, das auch Droysen, unter einer freilich größeren Auswahl das liebste war.60
4j Eine klare politische Position finden wir in allen hegelianischen Lagern,
sowohl im Historismus als auch im Materialismus. Strittig ist bloß, welches denn
die richtige Partei wäre. Hegel würde sagen: die richtige Partei ist die, welche den
Erfolg davonträgt. Aber das wissen wir vorher ja nicht. Für Hegel und Ranke war
das ebenso unklar, deswegen zogen sie es vor, nichts zu tun. Unter hegelianischen
Prämissen gibt es nur die Wahl zwischen sehendem Nichtstun und blindem Han-
deln.
1819 und deren Motto Sanctus amor patriae dat animum. Die Liebe zum Vaterland
belebte das Interesse an seiner Geschichte, und dieses wiederum beflügelte den
Patriotismus, ohne den der Erste Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre. Hat dabei
der Historismus mitgewirkt?
5c. Mit dem Ende der deutschen Weltgeltung 1918 geriet der Historismus in
die Krise. Weder Rankes abgeklärte Staatstreue noch Droysens aufgeregter Patriotis-
mus schienen weiterhin vertretbare Positionen. Man erwartete vom Historismus
vergeblich eine Antwort auf die Frage „Was tun?“ Meinecke prägte das Wort von
der „Pandorabüchse“ und sprach vom „müden Skeptizismus“, vom „korrosiven
Gift des relativierenden Historismus.“62. Die Auflösung der Geschichte in Geschich-
ten, die sämtlich unmittelbar von und zu Gott sind, gibt jedem Erfolgreichen
dasselbe Recht. Zunächst sah Meinecke darin einen Fortschritt. Es sei Herders und
Mösers Verdienst gewesen, „das abstrakte Vernunftideal in die Ecke zu stellen, die
Werte, die in der Welt des Irrationalen steckten, mit Liebe zu umfassen und inner-
lich zu sanktionieren.“ Die Aufklärung habe die Menschen naturrechtlich-intellek-
tualistisch moralisierend gewissermaßen über einen Kamm geschoren,63 anstatt sie
als Individuen zu würdigen. Die gegenläufige Historisierung der Werte aber führte,
so Meinecke, in die Orientierungslosigkeit. Der Historismus bemühte sich, alle
Weltanschauungen zu verstehen, besitze aber selber keine – so die Kritik.64
5d. In zwei großen Arbeiten 1922 und 1924 bemühte sich der Theologe Ernst
Troeltsch um eine „Überwindung“ des Historismus. Um aus dem Strom des Wer-
dens das feste Ufer zu erreichen, müsse man einen Kierkegaardschen „Sprung“,
einen „Salto mortale“ wagen. Gemeint ist der Verzicht auf die Annahme ewiger
allgemeingültiger Werte zugunsten von „subjektiven Wertgefühlen“ für die imma-
nenten Ideale einzelner Zeiten und Völker. Troeltsch grenzte die Werte der abend-
ländischen Tradition scharf ab gegen die Ideale in anderen, namentlich östlichen
Kulturen. Der damit eingestandene Relativismus wird durch einen religiösen Über-
bau sanktioniert. „Das ist das allgemeine Gesetz der Geschichte, daß die göttliche
Vernunft sich in immer neuen und immer eigenartigen Individualisationen offen-
bart und ... nicht auf Einheit und Allgemeinheit, sondern auf Steigerung jedes indi-
viduellen Lebenskreises“ abzielt.65 Könnte das nicht auch bei Ranke stehen? Über
ihn hinaus geht Troeltsch mit der aus seinem Geschichtsbild abgeleiteten Forderung
nach tätiger Bereitschaft zu „ethischem Kulturwollen.“66 Max Weber hatte 1917
jedes Bekenntnis zu „Kulturidealen oder sonst weltanschauungsmäßig begründe-
ten praktischen Wertungen“ aus dem akademischen Bereich verbannen wollen, weil
sonst die Universität zu einem „Priesterseminar“ würde.67 Bei dem Theologen
Troeltsch aber dominierte der Wunsch nach einer ganzheitlichen Weltanschauung,
in der das philosophische Geschichtsbild und die politische Einstellung eine har-
monische Einheit bilden.
5e. Soweit die Vertreter des Historismus diesen als Weltanschauung verstanden,
ihm eine politisch-pädagogische Funktion zuschrieben und Handlungsanweisun-
gen aus ihm ableiten wollten, bekannten sie sich zur religiösen Ausgangsbasis des
Historismus. Sie läßt sich, wie zu zeigen war – vielfach in der Sprache der Autoren
nachweisen. Ähnlich wie Ranke und Droysen sprach Meinecke von der „schöpferi-
schen Gottesnatur“ in der Geschichte, suchte über sie einen „Zugang zu Gott“ und
sah im Ringen um den Historismus ein „Lebensproblem im höchsten Sinne.“68 Die
von ihm dargestellte preußische Reformzeit hatte für ihn „etwas von dem Charakter
eines Altarbildes.“69 Das Dilemma des Historismus entspringt somit aus der ihm
zugemuteten ethischen Autorität, seiner Deutung als Religionsersatz.70 Croce
nannte den Historismus die „letzte Religion der Gebildeten.“71
5f. Damit war der Historismus überfordert. Denn „untrennbar verbunden mit
dem Historismus“, schreibt Meinecke, „ist der Relativismus.“72 Er aber ist nicht
verallgemeinerungsfähig, denn er relativiert sich selbst. Wenn alles zeitbedingt ist,
dann ist es auch dieser Satz. Er rechtfertigt zwar die gegenwärtige Ansicht, besagt
aber nichts über die Geltung vergangener Einsichten, die durchaus zeitübergreifend
sein können. Historismus ist ethisch nichtssagend. Er führt zu Rankes konserva
tiver Passivität, die nur den lieben Gott läßt walten, zu Droysens nationalem Akti-
vismus, der sich seiner Scheuklappen nicht schämt, oder zu Meineckes Ratlosig-
keit – je nachdem. Am Ende sieht Meinecke die „Anarchie der Überzeugungen“,
das „Inferno der Wertanarchie.“
5g. Nach 1945 verschärfte sich das Problem. „Mit der Vernunft in der Weltge-
schichte soll mir niemand mehr kommen“, schrieb Eduard Spranger 1947 an Mei-
necke,73 und das war schon lange dessen Credo. Während Herbert Marcuse 1964
versuchte, „das Gespenst des Historismus“ im Namen von Marx zu bannen,74 setzte
1972 Ernst Engelberg dem Historismus der „imperialistischen Geschichtsschrei-
bung“ den „marxistisch-leninistischen Historismus“ entgegen, einen neuen Namen
für den Historischen Materialismus. Für ihn gab es das Problem als Werterelativis-
mus nicht, hier galt die „Pflicht zur Parteilichkeit“.75 Demgegenüber waren für
Meinecke und seinesgleichen der radikalsozialistische Internationalismus des
Ostens und der dollardemokratische Kapitalismus des Westens gleicherweise unan-
nehmbar. Diese doppelte Frontstellung gegen den (westlichen) Liberalismus wie
gegen den (östlichen) Sozialismus findet sich bei Ranke 1836, bei Max Weber
1916, bei Otto Hintze 192776 und hat zu dem dritten Weg von 1933 geführt,
den – nicht nur – Meinecke als „Irrweg“ kennzeichnete. Er rechnete das „Werk
Hitlers zu den Durchbrüchen eines satanischen Prinzips in der Weltgeschichte“ und
zog sich auf die persönliche Gewissensentscheidung zurück.77
5h. Zur geistigen Bewältigung der „deutschen Katastrophe“ 1945 plante Fried-
rich Meinecke im Geiste des Historismus die Gründung von „Goethegemeinden“.
In allen größeren Orten sollten sich gleichgesinnte Kulturfreunde zusammentun
und sich jeweils am Sonntagnachmittag zu einer Feierstunde in einer Kirche ver-
sammeln, um sich die „edelste deutsche Musik und Poesie“, das „Deutscheste vom
Deutschen“ zu Herzen gehen zu lassen. Ein ›Handbuch für Goethegemeinden‹
hätte die Funktion der Bibel, des Gesangbuchs oder das Katechismus zu überneh-
men.78 Dazu kam es ebensowenig wie zur Bestimmung von Goethes Geburtstag am
28. August als deutscher Nationalfeiertag, wie Meinecke am 13. September 1949
Theodor Heuß vorschlug. Der Bundespräsident verwies auf die Ferienzeit.79
5i. An einen Erfolg seiner Ideen hat Meinecke nicht geglaubt, sah aber eben
darin sein Weltbild bestätigt. Die preußisch-deutsche Geschichte erwies sich 1949
für ihn als „Tragödie“. Sein rankeanisches Gottvertrauen sicherte ihm gleichwohl
den Eigenwert der im und am „Exzelsiordrang“ der einzelnen Menschen, der Völker
und Staaten Gescheiterten, „und sei es selbst ein Untergehen mit wehender Flagge.“
Freilich erfordert diese heroische Szene einen Augenzeugen, einen Historiker, der
vom sicheren Gestade, d. h. vom Schreibtisch aus, den Untergang beobachtet. So
hatte Lucrez die Position des Philosophen beschrieben, der die allgemeine Ratlosig-
keit beobachtet wie jemand, der vom festen Ufer aus einem Schiffbruch auf hoher
See zusieht.80 Schon 1942 zweifelte Meinecke: „Unsere alte Geschichtsphilosophie
reicht nicht mehr aus für heute.“81 Neue Maßstäbe für eine neue Epoche? Ranke ist
zu ergänzen: Jede Epoche ist nicht nur unmittelbar zu Gott, sondern auch unmit-
telbar zum Teufel. Mittelbar ist sie allein zur Druckerschwärze, denn auf dem Wege
dahin muß sie durch das Hirn der Historiker.82
a. In der ›Deutschen Ideologie‹ von 1845/46 schreibt Marx: „Wir kennen nur
eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“1 Dieser Satz wird
in den meisten Arbeiten über die Geschichte bei Marx zitiert. In den wenigsten
wird indessen dazugesagt, daß Marx diesen Satz in der Handschrift wieder
gestrichen hat. Das eine wie das andere erklärt sich aus der Genese von Marxens
Geschichtsbild.
b. Karl Heinrich Marx (1818 bis 1883), war Sohn eines Trierer Rechtsanwalts
jüdischer Herkunft, wurde evangelisch erzogen, humanistisch gebildet und in Phi-
losophiegeschichte promoviert. Er arbeitete als Schriftleiter der radikalen Rheini-
schen Zeitung und lebte seit 1849 in London. 1864 gründete er die Internationale
Arbeiterorganisation. Sekretär wurde sein Freund und Mitarbeiter Friedrich Engels
(1820 bis 1895). Dieser war Textilfabrikant in Manchester und stärker als Marx
historisch interessiert.
c. Marxens politische Ansichten wurden bestimmt durch die Französische Revo-
lution und den Frühsozialismus, u. a. durch Graf Claude Henri Saint-Simon (1760
bis 1825). Sein philosophisches Denken hingegen ist durch Hegel geprägt, mit des-
sen Werk sich Marx als Berliner Student seit 1837 auseinandergesetzt hat. Marxens
Verhältnis zu Hegel kennzeichnet der Satz von Engels,2 Marx habe Hegels Philoso-
phie vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Denkrichtung geht nicht mehr von oben
nach unten, sondern von unten nach oben, das Denksystem bleibt aber strukturell
monistisch: es baut auf der Annahme eines einzigen Urprinzips auf. Bei Hegel war
dies der Geist, der stofflich in Erscheinung tritt; bei Marx und Engels ist es der
Stoff, der geistige Qualitäten hervorbringt.
d. Mit dem Begriff Materialismus wird eine Lehre bezeichnet, die in der Materie
den Schlüssel zum Verständnis der Welt sieht und das Bewußtsein als Folge und
Reflex physischer Vorgänge auffaßt.3 Der Terminus „Materie“ geht zurück auf latei-
nisch materia, materies und stammt von mater. Die Lateiner bezeichneten den abge-
hackten Baumstumpf, aus dem neue Triebe emporschießen, als mater, indem sie die
„Mutter“ als Ursprung des Nachwuchses aus dem tierischen in den pflanzlichen
Bereich übertrugen. Das grüne, nachgewachsene Holz nannten sie materia, und da
sie daraus Häuser bauten, gewann der Begriff materia die Bedeutung „Baumaterial“
oder schließlich einfach „Material; Mutterstoff“.4 In der philosophischen Spekula-
tion ist dann die Materie das, woraus die Dinge hervorgehen, so wie die Kinder aus
der Mutter entspringen. Auch im Griechischen ist der Begriff für Materie, hylé, mit
dem Begriff für Holz verbunden, er ist mit phyo (wachsen lassen) verwandt. In bei-
den alten Sprachen ist Materie der Vorstellung nach somit ursprünglich organisch,
belebt. Ein Gegensatz von Masse und Leben, Stoff und Geist daher nicht vorhan-
den. Entsprechendes gilt für den Naturbegriff: Natur kommt von nascor (geboren
werden), Physik von phyo (zeugen) – beide Male liegt die Vorstellung des Lebendig-
seins zugrunde.
e. Die materialistische Auffassung finden wir unter den Vorsokratikern bei Leu-
kippos (um 450) und Demokritos (um 400), in der hellenistischen Philosophie bei
Epikur und Lucrez. Gemeinsam vertraten die antiken Materialisten die Ansicht,
daß die Welt aus Atomen bestehe, deren Bewegungen allen Vorgängen zugrundelie-
gen.5 Das Bewußtsein werde durch die physische Einwirkung der Materie auf das
Gehirn erzeugt, so daß alle Vorstellungen nur Ableitungen einer vorgegebenen
stofflichen Realität seien. Die antiken Materialisten lehnten – ähnlich wie die
neueren – Mythos und Religion ab, bestritten die Unsterblichkeitslehre und ver-
fochten eine Nützlichkeitsethik.
f. Dieser Materialismus steht im Altertum dem Idealismus Platons gegenüber,
und an diesen knüpfte das Christentum an. Im Judentum sind idealistische Vorstel-
lungen tief verwurzelt, wenn es in der Genesis heißt: „Gott sprach, es werde Licht
und es ward Licht“ oder wenn im Johannes-Evangelium steht: „Im Anfang war das
Wort“. Jeweils geht der Begriff der mit ihm gemeinten Sache voraus. Der Materia-
lismus wurde in der christlichen Tradition bekämpft, und erst in der französischen
Aufklärung gewann er wieder Einfluß, etwa bei Lamettrie, Diderot und Helvétius.
In Deutschland konnte sich der Materialismus zunächst nicht gegen Kant und
Hegel durchsetzen, er erhielt erst durch Marx Bedeutung. Dieser knüpfte an die
beiden wichtigsten älteren materialistischen Schulen an, an Demokrit und Epikur,
über deren Naturphilosophie er 1841 seine Doktorarbeit schrieb. Bereits damals
dachte er anders als in seinem Abituraufsatz, dem auch unser Motto entstammt:
„Also leiht die Vereinigung mit Christo eine Freudigkeit, die der Epikuräer verge-
bens in seiner leichtfertigen Philosophie...zu erhaschen strebt.“
1. Der Grundtext
1a. „Der moderne Materialismus“, schreibt Engels, „sieht in der Geschichte den
Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine
Aufgabe ist.“6 Sie werden gefunden in der politischen Ökonomie. Wir besitzen von
Marx eine Reihe von einschlägigen Äußerungen, unter denen ein Passus aus dem
Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 am einflußreichsten
wurde.7 Trotzki berief sich auf ihn 1921 und Stalin sprach 1947 von einer „genialen
Formulierung des Wesens des historischen Materialismus.“8
1b. Marxens Text besteht aus vier Abschnitten. Der erste gilt dem Verhältnis von
Basis und Überbau. Er beginnt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens
gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Ver-
hältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe
ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktions-
verhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, wor-
auf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte
gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des mate-
riellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß über-
haupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt
ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“
1c. Daran schließt sich als zweiter Abschnitt die Lehre von den periodischen
Revolutionen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produk
tionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigen-
tumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus den Entwick-
lungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln dersel-
ben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung
der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer
oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unter-
scheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden
Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen
Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn aus-
fechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich
selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem
Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider
sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell-
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesell-
schaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für
die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die
Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten
Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit im-
mer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets
finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen
ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen
sind.“
1d. Der dritte Abschnitt besteht nur aus einem einzigen Satz. Er aber enthält die
gesamte Weltgeschichte, gegliedert in vier Teile: „In großen Umrissen können asia-
tische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive
Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“
1e. Der vierte Abschnitt enthält die Eschatologie. Marx fährt fort: „Die bürger-
lichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaft-
lichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem
Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der
Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen
Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materielle
Bedingung zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation
schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Über das, was
dann kommt, hat sich Marx bereits im ›Kommunistischen Manifest‹ von 1847 aus-
gesprochen: es ist die proletarische (Welt)revolution, die Diktatur des Proletariats
und nachfolgend die klassenlose Gesellschaft.
2c. Älteren Theorien ist Marx auch darin verpflichtet, daß er mit der Entwick-
lung von Produktion und Kommunikation zugleich einen Aufstieg der Zivilisation
verband, der „einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge“ auch durch
barbarische Invasionen nicht aufgehalten werden könne. Dies hatte Gibbon ange-
sichts des Untergangs Roms betont.16 Ebenso wie Hegel spricht Marx von Stufen
des Geschichtsprozesses, und zwar von solchen der Produktivkräfte, will sagen: der
Industrie, der Gesellschaft und der Kultur.17 Insofern Marx gerade zu seiner Zeit die
höchste Stufe der Technik und der Kommunikation, den Weltmarkt, erreicht
glaubt, folgert er, daß die einheitstiftenden Prinzipien der Geschichte selbst als
deren Produkt anzusehen sind. So wird die Geschichte für ihn zur Vorgeschichte
der Geschichte. Um diese zum Selbstverständnis unabdingbare Erkenntnis zu
gewinnen, braucht Marx die Geschichte. Darum konnte er schreiben: „Wir kennen
nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“ Nachdem er fest-
gestellt hatte, daß die wahre Geschichte nicht hinter, sondern vor uns liegt, mußte
er den Satz wieder streichen.
*
2d. Gehen wir nun die vier Abschnitte aus dem Vorwort zur ›Politischen Ökono-
mie‹ nochmals durch, so stand am Anfang das Verhältnis von Basis und Überbau.18
Es führt nicht zu eindeutigen Ergebnissen, wenn wir versuchen wollen, alle Hand-
lungen auf diese beiden Stockwerke zu verteilen. Immerhin ist klar: Ganz unten
finden wir die Reproduktion des physischen Lebens: Arbeit, Essen, Wohnen usw.
Darüber liegt die Schicht der gesellschaftlichen Ordnung mit Klassenstruktur und
Eigentumsverteilung. Darüber wiederum erhebt sich die Kultur im engeren Sinne
und ganz oben, schon ein wenig in den Wolken, die von den Beteiligten geleistete
Reflexion dieser Verhältnisse in Wissenschaft und Philosophie, die Ideologie im
weiteren, leninschen Sinne. Engels spricht von der Widerspiegelung der materiellen
Verhältnisse im Medium der in diesem Sinne nichtmateriellen Erscheinungen. Kul-
tur und Religion sind „Ausdruck“ einer bestimmten sozialökonomischen Situation
und ihrer Interessenkonflikte. Die Metapher „Ausdruck“ erinnert weniger an das
Verhältnis zwischen Inhalt und Druckform eines Textes als an das zwischen Seelen-
stimmung und Gesicht oder einfach zwischen Sinn und Wort.19 Grundsätzlich pro-
gressiv und ideologiefrei sind bloß die Technik und die Naturwissenschaften. Sie
gehören zu den Produktivkräften und damit zum aktiven Unterbau, nicht zum
reaktiven Überbau.
2e. Zwischen diesen einzelnen Niveaus findet wiederum eine Wechselwirkung
statt, indem die Rechtsordnung beispielshalber in die Produktionsverhältnisse ein-
greift und diese umgekehrt auf die Rechtsordnung einwirken. Dieses Pendeln wird
in der marxistischen Literatur als Dialektik bezeichnet, wobei das Ergebnis einer
solchen Wechselwirkung als Auflösung eines Widerspruchs gedacht ist. Marx ver-
tritt wie Hegel die Einheit des Logischen und des Historischen und kann daher in
beiden Bereichen dieselbe Form der Bewegung behaupten. Hegel hatte die Anwend-
barkeit des dialektischen Dreischritts auf die Geschichte mit dem idealen Charakter
der Realität begründet. Marx leitet umgekehrt die Anwendbarkeit der Dialektik auf
die Geschichte aus dem realen Substrat der Intellektualität ab. Engels sprach dann
auch von einer Dialektik der Natur nach dem Muster: Männlich plus Weiblich
ergibt Nachwuchs.
2f. Die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Schichten erfolgt nun aber
nicht gleichmäßig, sondern stets hat die untere größere Bedeutung als die obere.
Daher kann man bei Marx vom Prinzip der aufsteigenden Kausalität sprechen.
Marx gebraucht gerne das Sprachbild der „letzten Instanz“, und diese ist bei ihm
der unterste, deswegen auch als „Basis“ bezeichnete Sektor, die materielle Produk-
tion. Lapidar formulierte das Engels am 21. September 1890 gegenüber J. Bloch:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende
Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen
Lebens.“20 Das ist die Generalthese der marxisitischen Anthropologie. Die Ökono-
mie ist nicht der einzige, aber der wichtigste Faktor im Geschehen, allen anderen
kommt eine bloß delegierte Kausalität zu.21 Wenn das Untere das Obere bestimmt,
ist das materialistisch. Wenn das Obere das Untere bestimmt, ist das dialektisch.
2g. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, das Allgemeine bestimmt das Beson-
dere, die Umstände bestimmen den Menschen.22 Von daher wird auch die ›Rolle
der Persönlichkeit in der Geschichte‹ gesehen. Darüber schrieb Georgi Plechanow,
der Begründer der marxistischen Gruppe in Rußland, 1898 seinen klassischen
Essay, in dem er an ein Wort Bismarcks anknüpfend die Handlungsmöglichkeit auf
die Erkenntnis des Notwendigen einschränkte.23 Gegen den Geniebegriff der Auf-
klärung wandte Plechanow den Gedanken Hegels von den Geschäftsführern der
Geschichte, nur daß diese ihren Auftrag nicht mehr von oben, vom Weltgeist erhal-
ten, sondern von unten, von der Gesellschaft in ihrer jeweiligen sozialökonomi-
schen Situation. Plechanow geht so weit, daß er die Ersetzbarkeit auch der größten
Männer annimmt. Wäre Napoleon 1796 bei Arcole gefallen, so hätte einer seiner
Generale seinen Platz eingenommen. Die handelnden Figuren sind bloß Ausdruck
der objektiven Lage, sie können der Geschichte ihr individuelles Gepräge verleihen,
nicht aber deren allgemeine Richtung ändern. Die Menschen sind Resultate der
gesellschaftlichen Beziehungen. Mit einer solchen kollektivistischen Geschichtsauf-
fassung ist jeglicher Heroenkult unvereinbar, ausgenommen natürlich der für die
Begründer dieser Geschichtsauffassung, Marx und Engels selbst.
2h. Die Lehre von Basis und Überbau verweist darauf, daß jede Kultur ihr
ökonomisches Fundament besitzt und benötigt. Der Spruch von Bertolt Brecht
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ erinnert an die Volksweisheit
„Not kennt kein Gebot“. Anwendbar ist er aber eben nur in der Not, und sie ist
nicht das Normale. Sobald die Reproduktion des Lebens gesichert ist, ergeben sich
ethische und kulturelle Spielräume, die sehr unterschiedlich genutzt werden kön-
nen. Auf denselben Grundmauern lassen sich durchaus verschiedene Bauten errich-
ten. So wenig der Aufriß eines Gebäudes dessen Grundriß widerspiegelt, so wenig
ist der Parthenon oder die H-moll-Messe eine bloße Widerspiegelung der jeweili-
gen Produktionsverhältnisse. Marx24 hat das selber betont, als er die „unerreichba-
ren Muster“ der griechischen Kunst und Literatur einräumte, die „in der geschicht-
lichen Kindheit der Menschheit“ auf einer inzwischen veralteten Produktionsbasis
Werke von ewiger Schönheit geschaffen haben. Marx wußte wohl, daß Kunst und
Literatur mehr sind als ein Reflex der Produktionsverhältnisse, darum hat er sie mit
Kapital I seit 1867 ausgeblendet.25 Vulgärmarxistisch weitergedacht aber ist Kultur
entweder Produkt einer untergehenden oder aufstrebenden Gesellschaftsformation.
Darin liegt der Klassenkampfcharakter der Kultur, die dementsprechend progressiv
oder reaktionär sein kann. Dies wird durch „Entlarvung“ festgestellt.26 Die Erklä-
rungskraft der aufsteigenden Kausalität wird desto schwächer, je höher wir kom-
men. Kantianisch gesprochen bildet die Basis für den Überbau eine notwendige,
nicht aber eine hinreichende Voraussetzung. Auch Marx und Engels lassen sich aus
den Produktionsverhältnissen des 19. Jahrhunderts nicht vollständig erklären,
darum war der Heroenkult für sie durchaus berechtigt.
ihren Privilegien kleben, auch wenn deren Berechtigung längst dahin ist. In dieser
Phase beweisen die herrschenden Klassen ein falsches Bewußtsein, eine rückschritt-
liche Ideologie. Daher müssen die Nutznießer der alten Gesellschaft von Zeit zu
Zeit entmachtet werden. Die Gewalt fungiert als „Geburtshelfer“ des jeweiligen
neuen sozialen Systems.28
3c. Marx ordnet die Funktionen des Unterbaus und des Überbaus zwei sozialen
Klassen zu, er sieht, ähnlich wie Hegel, in der gesamten Geschichte eine grundsätz-
liche Zweiteilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte, in Ausbeuter
und Ausgebeutete und kommt so zu dem Satz, daß alle bisherige Geschichte eine
Geschichte von Klassenkämpfen gewesen sei. Im Eingang zum ›Kommunistischen
Manifest‹ wird das beschrieben29. Diese Klassengegensätze sind nach einer Revolu-
tion, d. h. am Beginn jeder Gesellschaftsformation einen Moment lang verschwun-
den, aber verschärfen sich im Laufe der Periode bis zur nächsten Revolution.
3d. Marxens Revolutionstheorie findet sich in der Grundstruktur bereits bei
Saint-Simon.30 Auch er sieht in der Geschichte einen durchgehenden Antagonis-
mus zwischen Herren und Knechten. Dieser aber pulsiert zwischen Zeiten geringe-
rer und solchen stärkerer Spannung, die dann jeweils in eine Revolution mündet.
So vollziehe sich das Gesetz des Fortschritts zugunsten der Arbeiterklasse. Trotzki
hat das Modell differenziert, indem er darauf hinwies, daß nicht jede überlebte
Gesellschaftsordnung durch eine revolutionäre Klasse abgelöst wurde, wie in Asien
zu zeigen. Es habe zwischendurch immer „Perioden der Stagnation, Rückfälle in die
Barbarei“ gegeben.31
3e. Kritik am Revolutionsmodell von Marx gilt der Übertragbarkeit der Fran
zösischen Revolution auf alle anderen epochalen Umstürze. Die älteren „Revolu
tionen“, die Marx kannte, entsprechen dem Schema nur im Prokrustesbett der
Stalinschen Interpretation, als „Sklavenrevolution“ der Spätantike und die „früh-
bürgerliche Revolution“ der Reformationszeit. Die jüngeren Revolutionen, die
Marx noch nicht kannte, so die Russische und die Chinesische Revolution, zeigen
hingegen Parallelen zur Französischen. Ein Widerspruch zu Marxens Revolutions-
theorie liegt hier darin, daß beide Male eine Feudalgesellschaft unter Übersprin-
gung des bürgerlichen Kapitalismus direkt in die „Diktatur des Proletariats“ über-
führt wurde. Marx hatte 1881 geschrieben, der „Stützpunkt der sozialen
Wiedergeburt Rußlands“ sei nicht die Abschaffung, sondern die Herstellung des
Privateigentums am Boden, die Aufteilung des Gemeineigentums.32 Für vorindu-
strielle Gesellschaften ist Marxens Revolutionsmodell unbrauchbar. Die Produktiv-
kräfte haben sich viel zu langsam entwickelt, um soziale Sprengkraft zu entfalten. Es
liegt eine gewisse Ironie darin, daß man auch die Deutsche Wende 1989 als Revo-
lution im Sinne von Marx deuten kann. Das bestehende System des bürokratischen
Sozialismus war zu einer Fessel für die wirtschaftliche Entwicklung geworden und
wurde von jenen gesprengt, die an der Entfaltung ihrer Produktivkraft gehindert
wurden. Auch die Freiheit läßt sich als Produktionsbedingung verstehen.
3f. Die Revolutionen gliedern bei Marx die Weltgeschichte nach Sozialsyste-
men.33 Sein Phasenschema ist, wenn auch anders begründet, das von Hegel, die
Dreiteilung der Geschichte. Waren es bei Hegel die Fortschrittsstufen im Freiheits-
bewußtsein des Geistes, so sind es bei Marx „progressive Epochen der ökonomi-
schen Gesellschaftsformation“. Am Anfang stand bei Hegel die staaten- und
geschichtslose Vorzeit, bei Marx erscheint dafür die klassenlose Urgesellschaft. Der
orientalischen Periode Hegels, in der Einer frei war, entspricht bei Marx die asiati-
sche Produktionsweise; sie steht neben der eigentlichen, durch die Entwicklung der
Produktivkräfte bestimmten Geschichte. Diese gliedert sich dreifach. Der grie-
chisch-römischen Periode Hegels, in der Einige frei waren, korrespondiert bei Marx
die antike Produktionsweise, die Engels dann in Anlehnung an Mommsen34 die
„Sklavenhaltergesellschaft“ getauft hat. Der christlich-germanischen Periode Hegels,
in der das Bewußtsein von der Freiheit Aller hervorgetreten sei, stellt Marx die
feudale Produktionsweise des Mittelalters zur Seite; und der Neuzeit Hegels, in
welcher der Protestantismus den Staat vollendet hat, die modern bürgerliche Pro-
duktionsweise, den marktwirtschaftlichen Kapitalismus.
3g. Eine ähnliche Periodisierung bot Saint-Simon. Er unterschied progressive
„organische“ Phasen, die religiös ausgerichtet und vergleichsweise harmonisch
gestimmt sind, von „kritischen“ Phasen, die sich irreligiös, individualistisch und
disharmonisch zeigen. Die griechische Frühzeit, vom Polytheismus geprägt,
erschien ihm „organisch, bis sie in die philosophisch bestimmte Spätzeit, in eine
kritische Übergangsepoche umschlug. Mit dem Christentum gab es wieder eine
„organische“ Periode, die mit Luther endete. Mit ihm begann die kritische Gegen-
wart, in der die Weltrevolution heranreift.35
3h. Saint-Simon beschränkt seine Betrachtungen auf den „bekannten Abschnitt“
der Weltgeschichte, wo „die Zivilisation am weitesten fortgeschritten ist“, mithin
auf Europa, und dies tut auch Marx. Die von jenem skizzierte sozialökonomische
Entwicklung kann er nicht überall feststellen. Die erste Phase in seinem Perioden-
schema, die asiatische Produktionsweise, wurde nicht durch eine Revolution in die
antike Sklavereigesellschaft verwandelt. Marx teilt Hegels Auffassung von der
wesenhaften Geschichtslosigkeit des Orients und beendet diese Phase in Indien erst
mit dem Einmarsch der Engländer. Die asiatische Produktionsweise führt nicht in
die Zukunft, sie ist ein totes Nebengleis und damit überhaupt kein welthistorisches
Entwicklungsstadium. Erst mit dem durch die Kolonialherren gekommenen Kapi-
talismus besteht Aussicht auf einen Fortschritt der Produktivkräfte und damit auf
Revolution. Daher formuliert Marx: „Weltgeschichte existierte nicht immer;
Geschichte als Weltgeschichte (ist ein) Resultat.“36
3i. Die antike Gesellschaft tritt wie die asiatische direkt aus der Urgesellschaft
hervor. Sie findet ihr Ende nur bei Stalin und den Stalinisten in einer Revolution.37
Wer das halbe Jahrtausend zwischen Spartakus und Chlodwig dem Schema zuliebe
als „Epoche sozialer Revolution“ bezeichnet, schließt die ruhigste Zeit ein, die der
Menschheit bisher überhaupt beschert war, die Pax Romana. Die Feudalgesellschaft
sodann endete in den meisten Ländern Europas schleichend; das ist besonders
bemerkenswert für England, wo die Industrialisierung am raschesten vorangeschrit-
ten war. Der Versuch der Marxisten, die deutsche Reformation und den Bauern-
krieg zu einer „frühbürgerlichen Revolution“ umzustempeln, dient offenbar nur
dem Zweck, das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit an den historischen
Materialismus anzupassen. Neuer Wein in alte Schläuche.
3j. So wie Hegel wähnte auch Marx, das Ende der Geschichte vorauszusehen.
Während aber Hegel nach der Enttäuschung durch Napoleon schon mit Friedrich
dem Großen das letzte Stadium des Weltprozesses beginnen ließ, meinte Marx, daß
er erst am Vorabend zur großen Umwälzung stünde. Die demokratische Republik
bilde nicht, wie „vulgäre“ Demokraten träumen, selbst bereits das „Tausendjährige
Reich“, sondern sei die „letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft“, in welcher
der „Klassenkampf definitiv auszufechten“ sei.38 Marx betrachtete es als seine wich-
tigste Aufgabe, den bevorstehenden Umschwung zu fördern; und in dieser Funktio-
nalisierung der Geschichtsphilosophie schließt sich Marx eher an die Aufklärer an
als an Hegel. Dreimal glaubte Marx, daß eine Umwälzung unmittelbar bevorstehe:
während der Märzrevolution 1848, nach dem Staatsstreich Napoleons III 1852 und
in den Tagen der Commune 1871.
3k. Im Kommunistischen Manifest von 1847 lesen wir, daß der Umschwung
mit einer bürgerlichen Revolution in Deutschland beginne und in eine allgemeine
proletarische Revolution „der herrschenden Völker“ übergehe39. Das Proletariat
erhebe sich und sprenge den ganzen Überbau in die Luft. Diese Etappe scheint von
anderer Qualität als die bisherigen. So wie die kommende Revolution nicht mehr
lokal und stellvertretend, sondern universal sein würde, so würde ihr Resultat nicht
aus den Gegensätzen der gegenwärtigen Periode allein, sondern vielmehr aus denen
der ganzen Geschichte hervorgehen. Im April 1856 schrieb Marx: „Heute gibt es
Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichte-
ten Schrecken in den Schatten stellen.“ Die bürgerliche Gesellschaft sei am Ende.
„Die Geschichte ist ihr Richter, ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier“.40 Bei Trotzki
heißt es, die Bourgeoisie sei „von der Geschichte zum Tode verurteilt“, doch sei ihr
Spruch nicht leicht zu vollstrecken, da sie zum Zeitpunkt ihrer höchsten Gefahr die
stärksten Abwehrkräfte bereithalte. Das aber entspreche dem dialektischen Pendel-
schlag und dürfe die Proletarier nicht entmutigen.41
3l. Der Träger der kommenden Umwälzung ist das Proletariat. Der aus dem
Latein ins Französische übernommene Begriff des Proletariers stammt aus der römi-
schen Republik und bezeichnet die Angehörigen der fünften und niedersten Klasse
der Zenturiatskomitien, der nach Besitz gestaffelten Klassen der Volksversamm-
lung. Proletarii hießen jene Bürger, die zu arm waren, um sich auszurüsten, darum
keinen Kriegsdienst leisten mußten, keine Steuern zahlen konnten und dem Staat
nur durch ihre proles, ihre Nachkommen nützlich waren.42 Marx meint mit dem
Begriff die große Zahl der Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um
leben zu können. Er selbst gehörte nicht zu dieser Klasse, er lebte von den Zuwen-
dungen seines Freundes Friedrich Engels.
3m. Das Proletariat, schreiben sie, sei von revolutionären Klassen früherer
Umwälzungen in mehrfacher Weise verschieden: So heißt es im ›Manifest‹: „Alle
bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten. ... Die proletarische
Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der
ungeheuren Mehrzahl.“43 Inzwischen habe die Entwürdigung und Entfremdung,
die mit dem Dienst für andere stets verbunden sei, zum ersten Male den Arbeiter
auf die nackte Existenz heruntergebracht. Das war für Marx unter kapitalistischen
Produktionsbedingungen unvermeidlich. Denn um im Konkurrenzkampf zu über-
leben, müsse der Unternehmer die Arbeiter bis auf das Existenzminimum auspres-
sen. Das führe gemäß dem „ehernen Lohngesetz“ zu deren Verelendung.44 Engels
drückte das 1884 so aus, daß bisher jeder Fortschritt der Produktion gleichzeitig ein
Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse gewesen sei, und nun wäre die
Grenze des physischen Überlebens erreicht. Schuld sind nicht die Kapitalisten per-
sönlich – zu denen Engels gehörte –, da sie ja so handeln müssen, Grund ist der
Kapitalismus als System.45 Er lasse eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte
nicht zu46 und verstricke durch den Fetisch-Charakter der Ware die Arbeiter in
einen Verwendungs- und einen Verblendungszusammenhang, der erst jetzt durch-
schaubar und überwindbar werde.
3n. Endlich habe dieses Extrem den Unterdrückten zum Bewußtsein ihrer Lage
und deren Ursache verholfen, zum ersten Male werde nun ein Umsturz ohne Bei-
mischung naturwüchsig-emotionaler Momente geplant. Durch den Besitz dieser
Einsicht unterscheide sich die kommunistische Partei vom übrigen Proletariat, zu
dessen Führung sie daher berufen sei. Der dialektische Umschlag von tiefster
Erniedrigung zu höchster Daseinsstufe steht bevor. Marx illustriert das am ›Zauber-
lehrling‹. Der Mensch schafft sich Werkzeuge und wird von diesen abhängig. Je
weiter sich die Werkzeuge entwickeln, desto größer wird die Abhängigkeit von
ihnen. Am Ende heißt es: „Ach da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die
ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los.“ Der Hexenmeister, der die Mensch-
heit erlöst, ist niemand anders als Marx selber. Seine erlösende Zauberformel, der
Schlußsatz im ›Kommunistischen Manifest‹, lautet: „Proletarier aller Länder, ver
einigt euch!“47
3o. Als Ziel der Weltrevolution betrachtet Marx den Kommunismus. Der 1840
in Frankreich aufgekommene Begriff spielt auf die Einführung des Gemeineigen-
tums (communis) an, das im Zusammenhang mit der Französischen Revolution
1793 von Babeuf als Programm verkündet worden war. Nach der Schaffung der
Gütergemeinschaft und der Beseitigung des Privateigentums an den Produktions-
mitteln erwartete Marx die klassenlose Gesellschaft, worin der Staat abgestorben ist,
Ehe und Familie aufgehoben sind, in der es keinen Antagonismus und keine
nicht nur bei Engels. Noch 1927 fand Kurt Breysig bei den Irokesen „Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit“.55 Engels erwartete die Erneuerung der Gentilgesell-
schaft allerdings in höherer Form. Der Unterschied bestünde einerseits in der
errungenen Zivilisation auf der Basis voll entwickelter Produktivkräfte und anderer-
seits in der Vermeidbarkeit eines erneuten Sündenfalls von Klassen- und Arbeits
teilung, der den Prozeß wieder von vorne beginnen ließe. Dazu wäre es nötig, das
Bewußtsein des Durchgemachten zu pflegen, und deshalb müßte die wichtigste
Wissenschaft in der kommunistischen Gesellschaft die Historie sein. Marxens
Strich durch die Geschichtswissenschaft wäre nun doch wieder zu tilgen.
3q. Der mit der klassenlosen Gesellschaft erreichte Zustand wird von Engels
nicht als Ruhe, sondern als neue Entwicklungsphase gewertet. „Ebensowenig wie
die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendenden Abschluß finden in einem
vollkommenen Idealzustand der Menschheit; eine vollkommene Gesellschaft, ein
vollkommener ‚Staat‘ sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehen können.“ Der
Prozeß des „Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern“ gehe solange wei-
ter, als die natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit erhalten blieben. Diese
seien freilich begrenzt. Irgendwann erreicht die Menschheit den „absteigenden
Ast“, doch befinden wir uns noch „ziemlich weit von dem Wendepunkt, von wo an
es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärts geht“.56 Jürgen Kuczynski veran-
schlagte die Dauer der klassenlosen Gesellschaft noch im Jahre 1989 auf „Millionen
und Milliarden und noch mehr Jahre des Kommunismus“, in denen „alle Men-
schen nach ein, zwei Jahren notwendigen Dienstes in der Produktion“ ein Leben in
Freizeit mit Kunst und Wissenschaft führen werden, so wie Jürgen Kuczynski
selbst.57
4f. Luther hatte den Begriff apēllotriōmenos-abalienatus bei Paulus mit „entfrem-
det“ übersetzt; dieser bezeichnete damit das Leben im Zustande der Gottferne, die
Trennung des Menschen von seinem paradiesischen Urdasein.69 Ob die Aufhebung
der Entfremdung durch den Glauben zeitnah und individuell oder durch das Welt-
gericht zeitfern und kollektiv gemeint ist, bleibt hier unwichtig, weil im Christen-
tum stets jene doppelte Dimension vorliegt, die in den Teleologien bei Hegel und
Marx fehlt. Aus dem biblischen Gedanken der Entfremdung hat Augustinus dann
seine Geschichtsvorstellung von der Pilgerschaft des Gottesvolkes entwickelt, die
am Ende der Zeiten in die himmlische Heimat zurückführt. Die Geschichte als
Weg durch das Tal der Tränen des 84. Psalms finden wir in Anlehnung an Brecht
wieder bei Benjamin, der im jüdischen Sinne die künftige klassenlose Gesellschaft
das geräuschlose „Kommen des messianischen Reiches“ nannte.70
4g. Augustinus hatte in der Geschichte eine permanente Spannung zwischen der
Civitas Dei und der Civitas Terrena erblickt. Marx sah in der Geschichte einen dau-
ernden Klassenkampf. Der christliche wie der marxistische Dualismus ist letztlich
der zwischen Gut und Böse. Wenn Marx erklärt, allein die Kommunisten verfügten
über die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs, fühlen wir uns
an das auserwählte Volk erinnert.71 Die Polarisierung hat auch ihre taktische Seite.
Indem alle Differenzen der nicht-marxistischen Lehren unter dem Schlagwort „bür-
gerlich“ zusammengefaßt sind, wird die Fiktion eines ideologischen Einfrontenkrie-
ges aufgebaut, ein Rezept, das auch Hitler empfahl.72 Bei ihm hießen alle Gegner
„Juden“, bei den Christen „Heiden“, bei den Orthodoxen „Ketzer“, bei den Mos-
lems „Giauren“, bei den Juden „Goyim“ und bei den Marxisten „Bürgerliche“ oder
„Kapitalisten“.
4h. Wie der Gedanke der Entfremdung und der des auserwählten Volkes, so ist
auch der geschichtsphilosophische Begriff der Emanzipation christlichen Ursprungs.
Marx entwickelte seine Idee einer „allgemein menschlichen Emanzipation“ mit
Hilfe einer „radikalen Revolution“ in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie von 1844. Dort steht der Satz: „Die Emanzipation des Deut-
schen ist die Emanzipation des Menschen“,73 nämlich wegen der bekannten deut-
schen Gründlichkeit. Die Forderung des Mündigwerdens bei Paulus gelangte über
die Aufklärung74 zu Marx. Auf Paulus und Nietzsche basiert die Wunschidee vom
Neuen Menschen,75 nun für den Sozialismus. 1924 träumte Trotzki davon, einen
„höheren gesellschaftlich-biologischen Typus über dem Niveau von Aristoteles,
Goethe und Marx, und – wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.“76
4i. Biblisch läßt sich Marxens Gedanke des Endkampfes, sein proletarisches
Harmagedon deuten. Die säkularen Fortschrittslehren der Aufklärung waren in der
Theorie evolutionär, obwohl sie in der Praxis die Französische Revolution vorbe
reitet haben. Die kommunistische Geschichtsvorstellung ist wieder revolutionär,
wie schon die christliche. So wie bei Daniel der Steinschlag des Messias nicht nur
die aus Ton und Eisen gemischten Füße der Statue, sondern diese als ganze zer-
trümmert, mithin kein weiteres Weltreich den vier älteren hinzugefügt, so gleicht
die gegenwärtige Krise nicht den früheren Übergangszeiten zwischen den Gesell-
schaftsformationen, sondern revolutioniert die gesamte bisherige Geschichte.77
4j. Die bevorstehende Endgesellschaft wird als Resultat eines Geburtsvorganges
mit den dazugehörigen Geburtsschmerzen veranschaulicht,78 so wie die Bibel den
Übergang zum neuen Aion durch eine schreckliche Zwischenzeit der „Wehen“ cha-
rakterisiert hatte.79 Der „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen
schwanger geht“, ist die Gewalt.80 Die allein bei Marx dreimalige Erwartung der
Niederkunft wiederholte sich 1919 bis 1923 bei den deutschen Kommunisten und
erneuerte sich bei den radikalen Achtundsechzigern. Doch war „die Zeit für eine
Schlußbilanz einfach noch nicht gekommen.“81 Sie ist noch immer nicht da, und
das wäre für Marx kein Rätsel. Denn er meinte, eine Gesellschaftsformation könne
nicht untergehen, „bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug
ist.“ Die Produktivkraftsteigerung im Kapitalismus ist einstweilen ungebrochen.
4k. Sowohl die christliche als auch die marxistische Missionsidee beansprucht
Universalität. Zu den Glaubenssätzen der Heilsgeschichte gehörte, daß die Endzeit
erst hereinbricht, wenn die Frohe Botschaft alle Völker erreicht haben wird.82 Marx
betonte, die „proletarische Revolution“ müsse auf der ganzen Erde zugleich stattfin-
den, mithin eine Weltrevolution sein.83 Wer will, kann auch das in der Apokalypse
dem Endreich Gottes vorgeschaltete Tausendjährige Reich Christi mit der Diktatur
des Proletariats parallelisieren.84
4l. Der entscheidende Unterschied zwischen der christlichen und der marxisti-
schen Geschichtsauffassung ist deren Atheismus. Dennoch gibt es auch bei Marx
und Engels die „letzte Instanz“ als ein funktionales Äquivalent für Gott, das die
„Notwendigkeit“ im Geschichtsprozeß erläutert.85 Kant hatte an die Stelle des drei-
faltigen Gottesbegriffs einen trinitarischen Naturbegriff gesetzt. Diesen finden wir
auch bei Marx. Seine Geschichte beginnt mit dem urtümlichen Naturzustand des
Menschen, der allmählich die Naturkräfte bändigt und in Dienst nimmt, dann aber
doch kraft „Naturgesetz“ demnächst in der klassenlosen Gesellschaft die vollendete
Natürlichkeit, seine höhere Natur erreicht.86
4m. Grund der Notwendigkeit ist in der Heilsgeschichte Gott, im Historischen
Materialismus die Natur oder auch die energetisch aufgeladene „Geschichte“. Für
die (vor)geschichtliche Phase wird die Natur bei Marx von der „grobmateriellen
Produktion“ vertreten. Sie produziert sich selbst als Subjekt und Objekt, nebst
allem, was sie braucht, um zu sein, was sie ist.87 Hier überträgt Marx – wieder nach
Münchhausen – auf die „Produktion“, was Hegel vom „Geist“ sagte, daß dieser sich
selbst denkend verwirkliche. „Gott“ alias „Geist“ alias „Produktion“ sind Ursprung,
Ziel und treibende Kraft der Geschichte.
4n. Mit der Annahme einer höheren Letztinstanzlichkeit importiert Marx das
logische Dilemma aus dem Christentum in den Materialismus, wie denn das Ver-
hältnis der menschlichen Freiheit zu jener alles bestimmenden Macht zu denken
5. Eine Wissenschaftsreligion
5a. Die Geschichtsphilosophie des Idealismus bei Schelling und Hegel trug reli
giöse Züge, soweit der „Geist“ als göttlich erachtet wurde. Sie blieb aber eine rein
akademische Denkform. Die Lehre von Marx und Engels hingegen entfaltete eine
politische Massenwirksamkeit, die sich unter anderem in der Verbreitung von Sta-
lins Katechismus ›Über dialektischen und historischen Materialismus‹ dokumen-
tiert. Der Text wurde in 66 Sprachen übersetzt und bis 1950 in über 200 Millionen
Exemplaren verbreitet,89 ein Erfolg, der diese Geschichtsphilosophie –ähnlich dem
Positivismus von Comte – als Wissenschaftsreligion ausweist. Die Wissenschaftlich-
keit entspricht dem Selbstverständnis, die Religiosität – oder der Religionsersatz –
zeigte sich der Sicht von außen in dem missionarischen Drang und der Glaubens-
gewißheit der Vertreter.
5b. Gemäß seiner eigenen Lesart ist der Historische Materialismus eine Wider-
spieglung der sozialökonomischen Verhältnisse im Spätkapitalismus. Die Verbin-
dung sozialrevolutionär-kommunistischer Bewegungen mit christlich-eschatolo
gischer Naherwartung findet sich jedoch schon lange vor Marx. Bereits die
Urgemeinde hat in bewußter Ablehnung der herrschenden Ideale ein Leben in brü-
derlicher Gemeinschaft auf der Basis eines anspruchslosen Kommunismus geführt.
Das lehrt die Apostelgeschichte mit der grausamen Erzählung von Ananias und
Saphira.90
5c. Nach der Bildung der konstantinischen Reichskirche wurden jene urchristli-
chen Gemeinschaftsformen einerseits in die monastische Askese, andererseits in die
heterodoxen Sonderkirchen abgedrängt. Im Mittelalter finden wir sie bei den Wal-
densern, Begharden und Lollharden, später bei John Ball, Jan Hus und dann 1525
bei Thomas Münzer, der auf biblischer Basis Endzeit predigend, sozialrevolutionäre
Aktivitäten entfaltete. Sie wurden in der marxistischen Geschichtsforschung mit
besonderem Interesse behandelt. Luther wird von Marx vor allem als Vorkämpfer
gegen den Wucher zitiert; ohne Luthers Gedanken vom iustum pretium, d. h. vom
marktunabhängig feststellbaren Gegenwert, ist nicht bestimmbar, wo die „Ausbeu-
tung“ anfängt.
5d. Im Jahre 1611 hat Thomas Campanella, ein italienischer Dominikaner, die
bevorstehende Wiederkehr des Goldenen Zeitalters gepredigt und eine revolu
tionäre Bewegung in Gang gesetzt, die ihn als Aufrührer und Ketzer für fünfund-
zwanzig Jahre in den Kerker brachte. Dort hat er einen utopischen „Sonnenstaat“
entworfen, in den christliche und humanistische Elemente eingegangen sind.
ampanella galt in der Sowjetunion als Vertreter eines „etwas rohen Kommunis-
C
mus“. Im 17. Jahrhundert verfocht Amos Comenius in Böhmen mit seiner ›Via
Lucis‹ ähnliche Gedanken, in Amerika wurde der Traum vom Tausendjährigen
Reich 1697 von Samuel Sewall geträumt.
5e. Endzeiterwartungen teils antiker, teils christlicher Provenienz aus den
Schreckensjahren des Dreißigjährigen Krieges liefert Grimmelshausen im 3. Kapitel
des 3. Buches seines unsterblichen Romans. Wie zuvor entfesselt die Not die Phan-
tasie. Als Simplicius Simplicissimus von Soest aus „auf Partei ging“, erwischte er
einen Narren, der sich „überstudiert“ hatte und erklärte, er sei Juppiter. Die Götter
hätten ein Strafgericht über die Menschheit beschlossen. Dazu werde ein teutscher
Held erweckt, der alle Mörder, Wucherer, Diebe, Schelme, Ehebrecher, Huren und
Buben beseitigen, alle Zölle, Zinsen und Steuern ebenso aufheben werde wie die
Fürstenmacht, die Leibeigenschaft und den Krieg. Er werde an einem einzigen Tage
Konstantinopel erobern, das römische Kaisertum erneuern, mitten in Teutschland
eine Hauptstadt errichten, die Jerusalem in den Schatten stelle. Teutsch werde
Weltsprache, die Teutschen würden die Welt beherrschen und ihr ewigen Frieden
schenken, „wie zu Augusti Zeiten“. Der neue Held regiert sodann mit einem „Par-
lament“ aus je zwei Gelehrten aller Städte, verpflanzt den Musenberg Helikon nach
Teutschland und lehrt alle Töpfer das Goldmachen. Das wird ein Leben „wie im
Schlaraffenland, wo es lauter Muskateller regnet und die Creutzer-Pastetlein über
Nacht wie Pfifferlinge wachsen“. Zuvor aber werden alle christlichen Religionen der
Welt miteinander vereinigt, und ein Jubelfest sondergleichen eröffnet die neue Zeit.
5f. Auffällig stark sind biblische Motive im Frühsozialismus des Vormärz, bei
Männern wie Fourier, Abbé Constant, Proudhon und Saint-Simon, der als neuer
Messias begrüßt wurde. In Deutschland wurden sozialistisch-christliche Mischpro-
gramme verfochten durch Moses Heß, Heinrich Heine, Georg Büchner und Wil-
helm Weitling, der 1843 sein sozialrevolutionäres Programm mit Bibelstellen unter-
mauerte.91 Irdisches Glück wird in christlicher Verheißung präsentiert, wir hören
vom nahen Weltgericht, vom neuen Evangelium der Freiheit, von Märtyrern, Pro-
pheten und Aposteln des Fortschritts.
5g. Die christlichen Endzeiterwartungen sind gewöhnlich in Krisenzeiten aktuali-
siert worden, und in diesem Sinne könnte man den historischen Materialismus als
ein Krisenprodukt des 19. Jahrhunderts werten. Das biblische Erbe im europäischen
Geschichtsdenken ist ja nicht durch die Renaissance abgelegt worden, sondern wurde
von der Aufklärung erneut verarbeitet. So auch von Marx. 1844 lieferte er nicht nur
seine Kritik der christlichen Heilserwartung, sondern auch deren Deutung. Er
erklärte, die Not in diesem Jammertal habe die Menschen bewogen, im Jenseits eine
Erfüllung zu erhoffen, die allein im Diesseits gesucht und gefunden werden müsse.
„Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde“.92
5h. Engels93 zog die Parallele zwischen den beiden progressiven Massenbewe-
gungen, zwischen dem Christentum und dem Sozialismus, der die wahre Erlösung
der Menschheit bringe, nachdem angeblich die römischen Christen als die Soziali-
sten des Altertums immerhin unreife Ahnungen von dem besaßen, was nun bevor-
stehe. Ihnen fehlte ein Marx. Die christlich-sozialistischen Bewegungen zwischen
Jesus und Marx werden als Übergangsstufen gewertet. Marx und Engels säkularisie-
ren mithin die Jenseitshoffnung ganz bewußt, indem sie in ihr eine Verdrängung
und eine Projektion erblicken, deren Motiv schon damals unbewußt das des späte-
ren Sozialismus war, nämlich der Wunsch nach einer friedlichen, gerechten, freien
Weltordnung.
5i. Die Deutung, die Marx und Engels der christlichen Jenseitshoffnung gaben,
führt zurück auf Goethe. Er bemerkt: „Die christliche Religion ist eine intentio-
nierte politische Revolution, die, verfehlt, nachher moralisch geworden ist“.94 Die
Messiashoffnung trägt tatsächlich anfangs politische Züge; was wir an ihr als tran-
szendent empfinden, ist nur das Noch-Nicht und das Doch-Gewiß am neuen Aion.
Das real erfahrene Elend ist die Situation, das real erfahrbare Glück ist die Erwar-
tung. So wie der Zukunftsglaube der Aufklärer ist der Historische Materialismus
säkularisierte Heilsgeschichte, die ihrerseits ursprünglich diesseitige Wünsche ver-
jenseitigt hat. Aus diesem Grund müßte man eher von einer Resäkularisierung spre-
chen: von Wiederherstellung eines historisch-politischen Gehaltes nach Jahrhun-
derten einer religiös-metaphysischen Sublimierung.
5j. Der Historische Materialismus schwankt zwischen Mechanismus und Mes-
sianismus. Man kann wie der christlichen so der marxistischen Eschatologie vor-
werfen, eine gigantische Illusion aufzubauen, wobei die letztere bescheidener aus-
fällt. Denn dem Gottesvolk verheißt der HErr „einen neuen Himmel und eine neue
Erde“,95 während der Historische Materialismus sich auf die Erde beschränkt. Man
kann beide Prophezeiungen aber auch auffassen als zeitbedingten Ausdruck einer
grundsätzlich immerwährenden Situation, als Reaktion auf das Unbehagen an der
eigenen Gegenwart und als Bekenntnis zu einer Hoffnung, die dem eigenen Han-
deln auch dann Sinn verleiht, wenn es scheitert.
5k. Den quasireligiösen Charakter des Marxismus bestätigt ein Blick auf sein
Schicksal. Wir finden dort die kanonisierten heiligen Schriften, die für den Marxi-
sten ewige, durch keine Wissenschaft überholbare Wahrheiten enthalten – wer ihn
kritisiert, hat ihn mißverstanden, denn wenn Marx schreibt, zweimal zwei sei fünf,
dann meint er mit „fünf“ in Wirklichkeit „vier“. Das wäre die „authentische Inter-
pretation“.96 Der Streit um die Frage, ob Marxens Prophezeiungen eingetreten seien
oder nicht, hatte nur Sinn, solange Einigkeit darüber bestand, daß er ein Prophet
war. Ob er einer sein wollte, bleibt demgegenüber ebenso zweitrangig wie die Frage,
ob Jesus sich als der Messias verstand.
5l. So wie im Christentum zwischen kanonischen und apokryphen Texten unter-
schieden wird, stehen im Marxismus den Klassikern – die freilich unterschiedlich
abgegrenzt werden – die Epigonen wie Mehring, Kautsky, Bebel, Plechanow und
Lafargue gegenüber. Und wie in der christlichen Tradition mit der Bibel gegen die
gewöhnlich beide Streitenden irgendwie recht, jeder auf seine Weise, und es kommt
darauf an, diese jeweils zu ermitteln.
1. Burckhardts Kulturkonstanten
1a. Jacob Burckhardt (1818 bis1897), Sohn eines Geistlichen in Basel, ist unter den
Vertretern einer paradigmatischen Geschichtsanschauung der einzige Berufshistori-
ker.5 Dennoch blieb er Außenseiter. Er behandelte Geschichte von Homer bis
Napoleon, betrieb Kultur-, insbesondere Kunstgeschichte. Sein geschichtstheoreti-
sches Hauptwerk sind die erst 1905 von seinem Neffen Jakob Oeri herausgegebe-
nen ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹. Es sind Vorlesungen, die Burckhardt
1868 in Konstanz entworfen und in drei Wintersemestern unter dem Titel ݆ber
das Studium der Geschichte‹ in Basel gehalten hat.6 Die letzten Ergänzungen stam-
men von 1873. Als Hörer dieser Vorlesung hat Nietzsche, Burckhardts jüngerer
Kollege, enthusiastisch darüber berichtet.7
1b. Wer Jacob Burckhardt unter die Geschichtsphilosophen einreiht, wird
zunächst dessen eigene Ablehnung bedenken müssen. Burckhardt hat nicht nur
erklärt, keine Geschichtsphilosophie geben zu wollen, sondern hat sie selbst für ein
Unding befunden. Die philosophische Methode sei das Subordinieren, die histori-
sche Methode das Koordinieren, und daher wäre die Geschichtsphilosophie ein
Fabelwesen, ein Kentaur, den man allenfalls hier und da am Wald- und Wegesrand
der geschichtlichen Studien antreffen möge.8 Burckhardts Ablehnung der
Geschichtsphilosophie beruht vor allem darauf, daß diese zu seiner Zeit mit dem
Namen Hegels verbunden war. Und von dessen „Programm einer Weltentwick-
lung“ setzt sich Burckhardt in Anlehnung an Schopenhauer bewußt ab. Dieser
hatte der Historie sogar den Charakter als Wissenschaft abgesprochen, weil sie nur
koordiniere und nicht subordiniere. Gleichwohl bestimmte er die „wahre Philoso-
phie der Geschichte“ in der Einsicht, daß man stets das „unwandelbare Wesen“ des
Menschen vor sich habe.9 Eben darum ging es auch Burckhardt.
1c. Jede Form der Theodizee und der Teleologie dagegen weist Burckhardt von
sich, Fortschritt und Perfektibilität der Menschheit hält10 er für Traumprodukte.
„Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie
nicht.“ Wer den Weltplan zu antizipieren suche, der projiziere seine eigenen
Wunschbilder in die Geschichte hinein und setze Ideen um, „welche die Philoso-
phen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben“. Hier nimmt er
Freud vorweg. Ein moralischer Fortschritt wird von Burckhardt nicht zugegeben.
Die Ansicht, „alles Dagewesene sei als auf uns gerichtet zu betrachten“, hält er für
einen perspektivischen Irrtum. Mit Ranke erklärt er, jedes Phänomen sei für sich
selbst und für alle anderen da.11
1d. In seinem Urteil über die eigene Zeit ist Burckhardt gespalten. Auf der einen
Seite sieht er die Fortschritte im Bereich der materiellen Zivilisation. Burckhardt
findet sie bloß unerheblich angesichts dessen, was die Menschen damit machen.
Ohne moralische Besserung unterstützen sie eher die tierische Seite im Menschen.
Kapitalisten wie Sozialisten hätten nichts anderes als Lebensstandard im Kopf, und
so drohe die Kultur zum Opfer des Molochs Wohlstand zu werden. „Einmal wer-
den der entsetzliche Kapitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten
wie zwei Schnellzüge auf denselben Gleisen gegeneinander prallen.“12
1e. Ohne Einschränkung erkennt und begrüßt Burckhardt den Fortschritt in
der Wissenschaft. Er bescheinigt seiner Zeit eine besondere Befähigung zum histo-
rischen Urteil,13 denn die Möglichkeiten zum Forschen und zum Publizieren seien
noch nie so gut gewesen und der Staat gewähre Geistesfreiheit wie nie zuvor. Das
dürfe aber nicht zur Selbstüberschätzung führen. So bestreitet Burckhardt, daß
begründete Aussagen über Geschichte als universaler Prozeß gemacht werden könn-
ten und leugnet entsprechend, daß man über das Ende oder über den Anfang
irgend etwas wisse. Eine Lehre vom Ende sei notwendig spekulativ, eine Theorie des
Anfangs allemal hypothetisch. Beides wären „bloße Reflexe von uns selbst“.
1f. Burckhardt vertritt wieder das Objektivitätsideal Rankes, das sich aus den
Verstrickungen individueller Interessen lösen soll und kann. Goethe hatte das
bestritten; sein Subjektivismus hängt mit der Funktionalisierung der historischen
Paradigmen für die individuelle, insbesondere künstlerische Verarbeitung zusam-
men. Burckhardts Objektivismus hingegen ist mit absichtsloser Anschauung ver-
bunden, mit wissenschaftlicher Theoria. Die Möglichkeit reiner Erkenntnis erfor-
dere das Absehen von Absichten: „Sobald die Geschichte sich unserem Jahrhundert
und unserer werten Person nähert, finden wir alles viel ‚interessanter‘, während
eigentlich nur wir ‚interessierter‘ sind“, und diese Interessenbindung ist für Burck-
hardt philiströse Borniertheit. Wie bei Homer14 heißt es: „Was einst Jubel und Jam-
mer war, muß nun Erkenntnis werden“, aber nicht im Sinne einer instrumentalen
Vernunft, sondern im Sinne einer reflektierenden Einsicht: Phänomene finden ihre
Bedeutung durch die Kette der Bildung, durch das Fortleben im Bewußtsein der
Nachwelt, und diese erweist sich der Geschichte würdig, sofern sie die Phänomene
bewußt hält. Burckhardt bezeichnet dies geradezu als Verpflichtung gegen die Ver-
gangenheit – ohne weitergehende Absicht, als durch Betrachtung reich zu werden.
„Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für
immer) werden.“15 Klug ist, wer das Mögliche meistert; weise ist, wer dessen Gren-
zen bedenkt. Weisheit schließt Klugheit nicht aus, aber Klugheit schließt Weisheit
nicht ein. Sein Wunsch nach Weisheit macht Burckhardt wider Willen zum Philo-
sophen.
1g. Burckhardt sieht in der Geschichte ein Arsenal von Ereignistypen. „Die
Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu
uns als Entwickelten; – wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typi-
sche als ein in uns Anklingendes und Verständliches.“ Damit steht Burckhardt zwi-
schen Goethe mit seinen Urphänomenen und Max Weber mit seinen Idealtypen.
nung. Man will Rache üben, Gewalt weckt Gewalt, und am Ende steht der Terror.
Als Ausrede für die Brutalität im Inneren brauche man die Bedrohung von außen,
man werfe den Gegnern vor, mit fremden Mächten zu konspirieren, um sie im
Inneren zu erledigen. Burckhardt nennt als Beispiele den Bürgerkrieg in Kerkyra
von 427, den Thukydides geschildert hat, die sogenannte Pathologie, und die Fran-
zösische Revolution. Aber auch gegenseitig vernichten sich Revolutionäre; die Radi-
kalität überschlägt sich, bis der starke Mann erscheint, ein Caesar oder Konstantin,
ein Napoleon oder – so können wir fortfahren – Hitler, Stalin oder Mao und mit
eiserner Hand dem Treiben ein Ende setzt. Die ältere Routine kehre zurück, Polizei
und Militär übernehmen wieder das Regiment. Ein gewisses Resultat bleibt, aber es
steht, nach Burckhardt, in keinem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten der
Krise.30 Hier reicht die Kompensation nicht ganz hin.
1r. Die Kompensationstheorie ist eine Lehre des Trosts, und Burckhardt zeigt
ein gewisses Unbehagen darüber, weil dies doch eine „verkappte Lehre von der
Wünschbarkeit“ sei. Die Nahtstelle fassen wir da, wo behauptet wird, das eingetre-
tene Übel sei das kleinere Übel gewesen. Damit läßt sich bei etwas Phantasie alles
Unglück bagatellisieren, drum empfiehlt Burckhardt, sparsam mit der Kompensa-
tion zu verfahren. Burckhardts Skepsis gegenüber dieser Entlastungstheorie beruht
auf ihrem möglichen Mißbrauch in der Zukunft. Dazu hat Hegel Anlaß gegeben.
Er hatte alle Gewalttaten aus dem höheren Recht des Weltgeistes abgeleitet und
damit ungewollt einen Freibrief für alle künftigen Eroberer ausgestellt.31 Wir sollten
aus den Fällen, in denen das Böse etwas Gutes erzeugt hat, keine Rechtfertigung des
künftigen Bösen ableiten. Entsprechend fürchtet Burckhardt vor allem das zur
Nachahmung verführende Beispiel gelungener Gewaltsamkeit.32 Diese findet ihre
Legitimation dann, wenn die faktisch üblen Begleiterscheinungen als notwendig
hingestellt werden. Die Rede von der historischen Notwendigkeit ist ja immer ein
Zeichen einer armen Phantasie und oft eine Beschönigung unlauterer Absichten.
Aus der Tatsache, daß die Pyramiden mit erpreßter Arbeit, der Parthenon mit ver-
untreuten Beiträgen, der Petersdom mit erschwindelten Ablaßgeldern erbaut wor-
den ist, folgt noch lange nicht, daß es für die Kultur unabdingbar war, Menschen
und Mittel zu mißbrauchen. Es war nur faktisch so, und daran können wir nichts
mehr ändern, allenfalls versuchen, in ähnlichen Fällen besser zu handeln.
1s. Wie schon Thukydides rechnet Burckhardt mit einer gleichbleibenden Natur
des Menschen und gestattet sich daher, wie alle Geschichtsphilosophen, Mutma-
ßungen über die Zukunft. Er glaubt, daß der Rhythmus der Krisen weitergehen
werde. Dem 20. Jahrhundert hat er große innere und äußere Kriege prophezeit.
„Am Ende liegt ein Drang zu periodischer großer Veränderung in dem Menschen,
und welchen Grad von durchschnittlicher Glückseligkeit man ihm auch gäbe, er
würde (ja gerade dann erst recht!) eines Tages mit Lamartine ausrufen: La France
s‘ennuie! “.33 Man wird Burckhardt schwerlich widersprechen können, aber wird ihn
fragen müssen, was denn angesichts dessen zu tun sei. Darauf gibt Burckhardt keine
Antwort. Ähnlich wie Hegel und Ranke zieht er sich auf die Position des Be-
trachters zurück, teilt jedoch nicht deren Vertrauen in ein göttliches Weltregiment.
Hoffnungsbilder wie Kants Programm eines allgemeinen Völkerbundes und Mar-
xens Vision einer klassenlosen Gesellschaft zählt er zum „brillanten Narrenspiel der
Hoffnung.“34 Mithin ist weder von der Vorsehung noch von der Menschheit eine
Besserung zu erwarten. Der einzig mögliche und begrüßenswerte Fortschritt ist für
Burckhardt eine Vertiefung und Erweiterung in der Erkenntnis.
1t. Das letzte Kapitel der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ handelt über
Glück und Unglück in der Weltgeschichte und liefert den Schlüssel zu Burckhardts
Geschichtspathologie. Er weist hier nach, daß die Rede vom Glück immer partei
gebundene, egoistische Identifizierungen voraussetzt, wogegen die Rede vom
Unglück aufgrund eines kreatürlichen Mitleids sinnvoll ist und daher Anspruch auf
Allgemeingültigkeit erheben darf. Die „Leiden der Unzähligen“ sind ihm ein Fak-
tum, das Glück der Wenigen scheint ihm Produkt eines Wunschdenkens. „Unsere
tiefe und höchst lächerliche Selbstsucht hält zunächst diejenigen Zeiten für glück-
lich, welche irgendeine Ähnlichkeit mit unserem Wesen haben; sie hält ferner dieje-
nigen vergangenen Kräfte und Menschen für löblich, auf deren Tun unser jetziges
Dasein und relatives Wohlbefinden gegründet scheint.“ Eine solche Stellungnahme
erscheint Burckhardt verächtlich, weil hier das zur materiellen Interessiertheit ver-
krüppelte Urteilsvermögen der modernen Wohlstandsideologie Maßstab für die
Weltgeschichte sein soll. Auch Urteile nach der „politischen Sympathie“, meint
Burckhardt, sind wertlos und heben einander auf. Diese Position hat später Max
Weber aufgegriffen. „Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere geschichtlichen Per-
spektiven ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten.“35 Burck-
hardts Konzeption der Geschichte als Pathologie, als Leidensgeschichte der Mensch-
heit beruht auf dem kolossalen Postulat einer außergeschichtlichen Gesundheit, die
als ideale Alternative zur gesamten Geschichte, wie sie ist, einen kühnen Denker
erkennen läßt.
uns umgibt, einschließlich der bürgerlichen Existenz, aus der wir kommen. Man
zögert, in sie zurückzukehren, sei es, daß man einer momentanen Verführung, sei
es, daß man einer dauernden Verwandlung erliegt.
2b. Aber nicht nur unsere bürgerliche Existenz, sondern auch unser philosophi-
sches Bemühen wird Gegenstand seines Zweifels. „Welchen Sinn hätte unser ganzes
Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem
zum Bewußtsein gekommen wäre?“37 Der Wille zur Wahrheit, den wir bei der Frage
nach dem Sinn doch immer voraussetzen, wird hier selbst problematisiert. Nietz-
sche fordert ein Problembewußtsein, das nicht allein die Wahrheit von Sinn und
Unsinn, sondern auch den Sinn und Unsinn von Wahrheit einschließt. Wer aber
die Wahrheit als solche in Frage stellt, der läßt die Illusion als Alternative gelten,
und das tut Nietzsche. Seine Philosophie wird gelegentlich als irrational bezeichnet,
und diese Bezeichnung könnte Nietzsches Zustimmung gefunden haben. Für ihn
ist nur das Problembewußtsein als solches wahr, die Vernunft ist ihm keine Instanz
eigenen Rechts, sie ist ihm, wie für Schopenhauer, ein Werkzeug des Lebens.
2c. Kant und Marx sahen die Geschichte aus der Perspektive einer antizipierten
Idealgesellschaft, die Nietzsche verwarf. Goethe und Burckhardt wählten den
künstlerischen und wissenschaftlichen Blickwinkel, den Nietzsche problematisierte.
Für die genannten Geschichtsdenker läßt sich ein innergeschichtlicher Ausgangs-
punkt nachweisen, für Nietzsche ist der schwer zu finden. Mit dem Pathos der
Distanz warnt er den Leser vor seiner eigenen, ästhetischen Perspektive: „Und wer
kein Vogel ist, soll sich nicht über Abgründen lagern“. 38
2d. Nietzsches Stellung zur Geschichte zeigt sich weniger in seinem Kultbuch
›Zarathustra‹ als in der zweiten ›Unzeitgemäßen Betrachtung‹, verfaßt 1873, vom
›Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹. Wie der Titel verspricht, geht es
hierin eigentlich um eine Philosophie der Historie, nicht um eine Philosophie der
Geschichte. Aber beides hängt stets miteinander zusammen, und wo die Frage nach
dem Sinn der Historie der Frage nach dem Sinn der Geschichte vorgeschaltet wird,
da erfordert erstere selbst eine geschichtsphilosophische Antwort, nämlich die, daß
Geschichte nicht an sich, sondern nur für uns von Bedeutung sei.
2e. Nietzsche schließt sich in seiner Herausstellung von Willen und Leben
Schopenhauer an, in seiner selektiv-distanzierten Art gegenüber der Geschichte
aber greift er zurück auf Goethe. Mit dessen Äußerung vom 19. Dezember 1798
gegenüber Schiller, ihm sei alles verhaßt, was ihn bloß belehre, ohne seine Tätigkeit
zu vermehren oder ihn unmittelbar zu beleben, eröffnet Nietzsche seine Streit-
schrift. Ihr Grundgedanke ist: „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen
wir ihr dienen“, und damit macht Nietzsche gegen den historisch-historistischen
Betrieb seiner Zeit Front. Ein durch und durch historisch empfindender Mensch
gleiche einem „Tiere, das nur vom Wiederkäuen ... fortleben sollte“. Es gebe „einen
Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das
Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch
oder ein Volk oder eine Kultur“. Die Geschichte, „souverän geworden, wäre eine
Art von Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit“, so wie Hegel das
vorgeführt hatte. Dagegen erhebt Nietzsche die Forderung, das Wissen von
Geschichte zu instrumentalisieren. Denn „erst durch die Kraft, das Vergangene zum
Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen,
wird der Mensch zum Menschen“.39 Hier ist zweierlei angesprochen: das Mensch-
sein liegt darin, Traditionen aufzunehmen und umzubilden. Der Zusammenhang
mit der Geschichte muß gewahrt bleiben, aber darf nicht zu Abhängigkeit und
Untätigkeit führen.
2f. Im folgenden unterscheidet Nietzsche drei Arten von Historie. Sie alle schei-
nen ihm unentbehrlich, indessen nur in abgewogener Dosis. Nietzsche unterschei-
det „eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie“.
Die monumentalische Historie befaßt sich mit den großen Ereignissen. Der
Gedanke, daß die Geschichtsschreibung ein Denkmal für die überragenden Taten
der Menschen sein solle, lag ja bereits Herodot und Thukydides am Herzen. Daher
zeichneten sie die Vorgänge für die Nachwelt auf. In diesem Sinne sind dann auch
Goethe und Burckhardt an die Geschichte herangegangen, sie haben die für die
Gegenwart bemerkenswerten Erscheinungen der Vergangenheit ans Licht gezogen.
Den so entstehenden Brückenschlag vergleicht Nietzsche mit der Weitergabe einer
Stafette in Anlehnung den nächtlichen Fackellauf zu Pferde bei Platon.40 Dadurch
lebe das Große weiter; und dies sei nötig, um das Bewußtsein dafür wachzuhalten,
daß Großes möglich ist.
Diesen Vorzügen stehen drei Nachteile der monumentalischen Historie gegen-
über. Zum ersten werde das Geschehen leicht „ins Schönere umgedeutet und damit
der freien Erdichtung angenähert“. Dieser Gefahr hatte sich namentlich Goethe
ausgesetzt, indem er wenig Interesse daran zeigte, ob seine Stoffe historischen oder
poetischen Ursprungs seien. Zum zweiten ist die Wirkung der monumentalischen
Historie nicht notwendig begrüßenswert. Das idealisierte Vorbild reize zum Fana-
tismus. Gerate diese Historie in die Hände begabter Egoisten und schwärmerischer
Bösewichter, so würden „Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutio-
nen angestiftet“. Zum dritten schließlich könne die monumentalische Historie
auch erstickend wirken: Man verweise auf das vergangene Große als unerreichbar
und lasse die „Toten die Lebendigen begraben“.41
2g. Die Vorzüge der antiquarischen Historie sodann sieht Nietzsche im „Wohl-
gefühl des Baumes an seinen Wurzeln“ und findet den Sinn dieser Geschichtsbe-
trachtung darin, daß sie den „minder begünstigten Geschlechtern“ sage, woher sie
kommen und wohin sie gehören. Die Schattenseite erblickt Nietzsche jedoch darin,
daß sie allein „Leben zu bewahren, nicht zu zeugen“ verstehe, daß sie konserviere
und mumifiziere und allem Neuen abhold sei. Der Mensch beschränke sein
Gesichtsfeld auf die eigene Vorgeschichte und „hülle sich in Moderduft“.42 Eine
Kritik der Denkmalpflege?
2h. Dagegen sei nun die dritte Form, die kritische Historie nötig. Sie bestehe
darin, das Überlieferte zu prüfen, denn „jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt
zu werden“. Wir hören Mephisto43. Die kritische Historie befreit uns von den alten
Götzen, aber es ist nötig, „eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden“.
Wir sind selbst Resultate früherer Verirrungen und Verbrechen und ändern daran
nichts, indem wir dies verdrängen. Und zur Selbsterkenntnis ist für Nietzsche
Geschichte unabdingbar, „wir brauchen die Geschichte, denn die Vergangenheit
strömt in hundert Wellen in uns fort – wir selber sind ja nichts als das, was wir in
jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden“.44
2i. Nietzsche räumt ein, daß die Historie dem Leben grundsätzlich nottue, aber
kritisiert den Bildungsbetrieb seiner Zeit „Der moderne Mensch schleppt zuletzt
eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die
dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen
heißt“.45 Die Menschen verstünden es nicht mehr, „sich der Vergangenheit wie
einer kräftigen Nahrung zu bedienen“, sie fräßen alles unterschiedslos in sich hin-
ein. Der Geschichtsstudent ist „jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen ver-
schluckt und sich dann still gefaßt in die Sonne legt und alle Bewegungen außer
den notwendigsten vermeidet“. Am Ende stehen statt Menschen „wandelnde Enzy-
klopädien“ vor uns, nur „Denk-, Schreib- und Redemaschinen“; die Philosophie
sinkt ab in ein „ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und
Kindern“.46
2j. Tadel trifft den bestehenden Geschichtsunterricht, der sich bemühe, die
Schüler zu den Zwecken der Zeit abzurichten. „Der junge Mensch wird durch alle
Jahrtausende gepeitscht“, und hat man ihn so weit, „endlich alles sich gefallen zu
lassen – das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung“.
Die Menschen sollen „in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten ... bevor sie reif
sind“. Der neue „Schlacht- und Opferruf ‚Teilung der Arbeit! In Reih und Glied!‘“
ruiniere die Menschen, wie die Henne zu Grunde geht, die man künstlich zum
allzu schnellen Eierlegen zwingt. „Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehn-
ten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch nun auch die Gelehrten,
die erschöpften Hennen, an. Es sind wahrhaftig keine ‚harmonischen‘ Naturen, nur
gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier
immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden“. Für die Geschichts-
studenten braucht Nietzsche das Bild von den Vögeln, die man blendet, damit sie
schöner singen47.
2k. Nietzsche greift einen Begriff von Wissenschaft an, der die Frage ausklam-
mert, wozu denn diese gut sei, er widersetzt sich einer selbstgenügsamen Objektivi-
tät, die unfruchtbar sei. „Es gibt sehr viele gleichgültige Wahrheiten“, die zum
Leben nichts beitragen. Das meinte auch Goethe. In seinem Unglauben an die
historische Wahrheit verschwand die Geschichte als Gegenstand; in Rankes Glau-
ben an die historische Wahrheit verschwand der Historiker als Betrachter; bei
Nietzsche sind beide da, beide nötig. „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur
ein perspektivisches Erkennen; und je mehr Affekte wir über die Sache zu Worte
kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache
einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsere
Objektivität sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, die Affekte samt und
sonders aushängen, gesetzt, daß wir dies vermöchten: wie? hieße das nicht den
Intellekt kastrieren?“ Nietzsche nennt die Wissenschaft ein Verfahren zur
Anmenschlichung der Dinge. „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr
das Vergangene deuten.“ Die Historie dürfe nicht bloß der Zerstreuung von nervö-
sen Zeitgenossen und der geschäftigen Betriebsamkeit von Professionellen dienen.
„Ein großer Gelehrter und ein großer Flachkopf“, das gehe leicht unter einen Hut48.
2l. So wie den Glauben an Objektivität greift Nietzsche auch das Ideal der
Gerechtigkeit als Urteilskanon an. Er fragt, woher denn die Historiker das Recht
nähmen, über frühere Generationen den Stab zu brechen. Den Historiker in der
Pose des Weltenrichters trifft Nietzsches Spott, stattdessen fordert er ein strenges
Sortieren zwischen dem Brauchbaren und dem Unbrauchbaren. Er betont, „daß
nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht hat, die Vergangenheit zu richten“.49
Nur ein „Baumeister der Zukunft“ werde die Geschichte verstehen. Hegel sah die
Geschichte als fertiges Bauwerk, für Nietzsche wird sie zum Steinbruch für ein
künftiges Bauwerk.
2m. Die Rede vom Weltprozeß findet Nietzsches Hohn. Er empfiehlt, sich aller
Konstruktionen eines „Weltprozesses oder auch der Menschheitsgeschichte“ zu ent-
halten. „Soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und
ist die Geschichte nichts wert“. Nietzsche attackiert Hegels „Götzendienst des Tat-
sächlichen“. Was er als Vorbild hinstellt, sind jene Zeiten, in denen die Menschen
unbekümmert um die Vergangenheit die Gegenwart gestaltet haben. Das taten in
der vorsokratischen Aufklärung die „großen Kämpfer gegen die Geschichte, das
heißt gegen die blinde Macht des Wirklichen“. Nietzsche „weiß keinen besseren
Lebenszweck, als am Großen und Unmöglichen (animae magnae prodigus) zugrunde
zu gehen“.50
2n. Damit ist Nietzsche von seinen Bemerkungen über den Zweck der Historie
auf den Sinn der Geschichte gekommen. Er polemisiert gegen alle Teleologie: „Das
Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten
Exemplaren“. Die Einzelnen seien es, auf die es zu blicken lohne, nicht auf die Mas-
sen. Diese scheinen ihm bloß in dreierlei Hinsicht relevant: „als verschwimmende
Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten
hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen und endlich als Werkzeug der
Großen; im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!“51 Zu den Großen rechnet
Nietzsche Cesare Borgia und Napoleon, Shakespeare und Goethe. Wen er weiter-
hin dazuzählt, das verrät seine Lektüre-Empfehlung an die Jugend: „Sättigt eure
Seelen an Plutarch!“. Nietzsches These hat 1879 Heinrich von Treitschke52 auf die
Formel gebracht: „Männer machen die Geschichte.“ Nietzsche müßte mit dem
Protest der Marxisten rechnen, nach denen umgekehrt Geschichte die Männer
macht, aber er selbst würde diese protestierenden Marxisten als Kopien von Marx
auf holzhaltigem Papier identifizieren und bestätigt finden, daß man, auch um die
„sozialistischen Erdbeben“ zu begreifen, lieber Rousseau und Marx studieren als
Einkommensstatistiken nachrechnen sollte. Nietzsche nennt die Sozialisten die ehr-
lichste, aber kurzsichtigste Art Menschen, weil für ihre ideale Gesellschaft die ide-
alen Menschen fehlten53.
2o. Hier zeigt sich eine ähnliche Vorstellung wie bei Burckhardt, der die bedeut-
same Persönlichkeit als Verkörperung des Allgemeinen sah. Freilich trifft Nietzsche
eine Unterscheidung. Er gebraucht den Begriff „Volk“ als Ideal, den man „nie edel
und hoch genug denken“ könne, aber verwendet den Begriff „Masse“ abschätzig.
„Die Menschen scheinen nahe daran, zu entdecken, daß der Egoismus des Einzel-
nen, der Gruppen oder der Massen zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen
Bewegungen war“. Nützlichkeitsdenken und Gottesverehrung widersprechen sich
nicht. Im Gegenteil: „denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder“.54
2p. Nietzsche hatte wohl Grund zum Pessimismus, aber er denkt an die Jugend
und ruft mit Kolumbus „Land! Land!“ Er glaubt, die Jugend werde sich auf die
Dauer nicht abrichten lassen. Burckhardt betrachtete die Geschichte als Pathologie,
Nietzsche hingegen sah die Historie als Krankheit, wenngleich als nützliche Krank-
heit, wogegen die Jugend als heilkräftige Instinkte der Natur das Unhistorische und
das Überhistorische entdecken werde. Nietzsche glaubt, dies müsse nur wiederge-
funden werden, die Griechen hätten es schon besessen. Wie jene, so müßten auch
wir lernen, uns gegen die Bildungs- und Verbildungsmächte zur Wehr zu setzen.
Die Griechen seien durch die Lösung von der orientalischen Erbschaft zu dem
geworden, was sie sind; wir müßten dieselbe Freiheit gegenüber der christlich-
hegelianischen Tradition gewinnen und durch die Rückbesinnung auf das, was wir
denn wirklich wollen, das Chaos in uns selbst organisieren. Freilich, „man muß
noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage
euch: ihr habt noch Chaos in euch“.55
2q. Was ist das Außerhistorische? Vom Historismus geprägt, sehen wir über-
haupt nichts als Geschichte in der Welt. Uns fehlt das dritte Auge für die Unge-
schichte. Die Historie im Sinne Nietzsches hört da auf, wo die Gleichgültigkeit
gegen die Geschichte anfängt. Nietzsche erhebt die paradoxe Forderung, die
Geschichtslosigkeit aus der Geschichte zu lernen, nämlich von den Griechen. Diese
Paradoxie ist lösbar, denn wer sehen lernen kann, der kann auch absehen lernen.
Hinter jeder Sicht steht eine Absicht, und wer sie sehen oder von ihr absehen kann,
ist Herr über die Dinge und Herr über sich selbst. Und dies will Nietzsche sein, er
will zeigen, daß man das sein kann.
2r. Nietzsches Geschichtsbild lehnt sich an das der Renaissance. Das legen schon
seine Bekenntnisse zu Thukydides und Machiavelli nahe, an denen Nietzsche den
„unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen“, schätzt. Damit ist ein konstantes
Menschenbild angenommen, das aus Trieb und Vernunft gemischt ist, aus Emotio-
nalität und Rationalität – Nietzsche sagt: aus Dionysischem und Apollinischem.56
2s. So wie die Humanisten der Renaissance, die auch als Epoche Nietzsches wie
Burckhardts Hochschätzung genießt, sieht Nietzsche die vollkommene Entfaltung
des Menschen verwirklicht im Altertum, bei Griechen und Römern, und diese Blüte
wird durch die Mächte des Mittelalters, das ihm bis zur eigenen Zeit reicht, geknickt.
In der Renaissance dachte man vorab an die Germanen als Zerstörer der antiken
Kultur, Nietzsche denkt zunächst an die Christen. „Das, was aere perennius dastand,
das Imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen
Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, im Vergleich zu der alles Vorher, alles
Nachher Stückwerk, Stümperei, Dilettantismus ist – jene heiligen Anarchisten haben
sich eine Frömmigkeit daraus gemacht, die Welt, das heißt das Imperium Romanum
zu zerstören, bis kein Stein auf dem anderen blieb – bis selbst Germanen und andere
Rüpel darüber Herr werden konnten ... Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst,
ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt“.57
Im Jahre 1888 verfaßte Nietzsche, der „alte Pulverkopf“ (E. Jünger), seinen
›Antichrist‹, worin dem Christentum die Schuld am Untergang Roms zugeschrie-
ben wird. Er glaubte, das Christentum als Religion der Schlechtweggekommenen
habe das Bewußtsein der Unterwürfigkeit verbreitet, habe den Menschen das
Gefühl der Erbsünde, das schlechte Gewissen anerzogen und sie damit als freie
Wesen korrumpiert58. Ähnlich wie Heinrich Heine59 sieht er darin die Rache des
kleinen Mannes: Die soziale Unterordnung der Juden und frühen Christen habe
sich in der christlichen Lehre von der Minderwertigkeit des Menschen vor Gott
niedergeschlagen und damit den Stolz, das Selbstbewußtsein ruiniert, das in Nietz-
sches Menschenbild den höchsten Wert darstellt.
2t. So wird ihm die Geschichte des Christentums zum Prozeß der Domestika-
tion des Menschen, seiner Verwandlung in ein Haustier, ein Herdentier, wie es das
Lamm Gottes sinnbildlich vorwegnimmt. Hier steht Nietzsche in schärfster Anti-
these zu Hegel: Während dieser Christentum und Germanentum als Wurzeln der
Freiheit verstand, sah Nietzsche im Christentum die zum System erhobene Neurose,
die in Massenbewegungen wie den Kreuzzügen, im Flagellantentum der Geißler, in
Endzeitpsychosen, Veitstänzen und Hexenverfolgungen periodisch zum Ausbruch
kam. Des Übels Wurzel sitzt aber nicht in der jüdischen Herkunft des Christen-
tums – Nietzsche hat höchsten Respekt vor dem Alten Testament und findet böse
Worte gegen den Antisemitismus seiner Zeit60, sondern in der Verbindung von
Christentum und Germanentum. Die zeitgenössische Germanenbegeisterung von
Hegel über Engels, Gobineau und Felix Dahn bis zu Wagner und Chamberlain quit-
tiert Nietzsche im Stolz auf seine polnischen Ahnen mit dem Wort von der „blonden
Bestie“, und seine Definition des Germanen lautet: „Gehorsam und lange Beine“.
Die Germanen sind ihm die „Alkohol-Vergiftung Europas“.61
2u. Unter allen historischen Phänomenen befaßt sich Nietzsche mit nichts
intensiver als mit der Moral. Er versteht sie als Ausdruck des Selbstbewußtseins von
Individuen und Gruppen, die in dem, was sie für Werte erachten, kundgeben, wer
sie sind. Durchgehend in der Geschichte findet er zwei Moraltypen: eine Herren-
moral und eine Sklavenmoral. Die heroische Herrenmoral hat als Ziel die Selbstver-
herrlichung durch Ruhm und ist bereit, das Leben zu opfern. Die Sklavenmoral
dagegen dient ängstlich der Selbsterhaltung, sie fragt nach der Nützlichkeit und will
das Leben verlängern. Mit dieser Antithese findet sich Nietzsche einmal auf Seiten
von Hegel.62 Die Herrenmoral unterscheidet zwischen Edel und Schlecht, im Sinne
von vornehm und verächtlich; die Sklavenmoral differenziert zwischen Gut und
Böse, im Sinne von angenehm (oder nützlich) und bedrohlich (oder schädlich). Ein
Zeichen von Herrenmoral ist es, sich nicht zu unterwerfen, gefährlich zu leben; ein
Zeichen von Sklavenmoral ist es, sich anzupassen, Sekurität zu suchen, wie Burck-
hardt dies nannte.
Nietzsche verkündet die „Umwertung aller Werte“, indem er den Kyniker Dio-
genes kopiert, dem das delphische Orakel befohlen hatte, paracharattein to politikon
nomisma, worauf er sich in seine Tonne zurückzog und die bürgerlichen Wert
vorstellungen verhöhnte. Das tut Nietzsche nun auf seine Weise. Sein „Zukunfts-
Evangelium“ verheißt für die Zeit nach dem Nihilismus der kommenden zweihun-
dert Jahre den Sieg der Raubtierethik über den Herdentrieb63. Nietzsche bezog
einen Standpunkt „jenseits von Gut und Böse“ und nannte sich stolz einen Immo-
ralisten. „Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre
Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es gibt noch eine
andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“64
2v. Die von den Christen den Germanen aufgenötigte Moral der Demut ist für
Nietzsche ein Grund und ein Zeichen für die Dekadenz seiner Zeit. Diesen Begriff
übernahm er aus dem Französischen und führte ihn in die deutsche Philosophie
ein. Mit dem Dekadenzproblem habe er sich am tiefsten beschäftigt, er habe es
vorwärts und rückwärts buchstabiert und nennt sich auch selbst einen décadent,
ja „in Fragen der décadence die höchste Instanz, die es jetzt auf Erden gibt“, so am
18. Oktober 1888 aus Turin an seine mütterliche Freundin Malwida von Meisen-
bug65. Dekadenz ist für Nietzsche eine periodisch auftretende Begleiterscheinung
der Zivilisation, eine Krankheit der Kultur, eine „Gesamtabirrung der Menschheit
von ihren Grundinstinkten“.66 Sie äußert sich in einer Nerven- und Willensschwä-
che, in Reizbarkeit und Sentimentalität, in Pessimismus und Nihilismus, im „Auf-
reißen alter Wunden“, im „Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung“.67
Musterbeispiele für Dekadenz sind bei Nietzsche Sokrates, der mit seiner bohren-
den Fragerei seine Zeitgenossen zu verunsichern pflegte, und der anfangs hochge-
schätzte Richard Wagner, der mit seiner morbiden Modernität ein musikalisches
„Opiat“ geliefert habe68. Was bei Nietzsche fehlt, ist die ästhetische Nuance der
Décadence im fin de siècle, die in hochgezüchteter Raffinesse verfeinerter Formge-
bung bestand und dies in der Zeitschrift Le Décadent (1886 bis 1889) zum Pro-
gramm erhob. Nietzsche sieht sich in einer Zeit unabwendbaren Niedergangs.
„Schritt für Schritt weiter in der décadence – dies meine Definition des modernen
Fortschritts“. Zarathustra weiß es: „Wir haben das Glück erfunden, sagen die letz-
ten Menschen und blinzeln.“ Dekadenz ist verächtlich, aber erforderlich als Basis
der erträumten Geistesaristokratie. Dekadenz ist „lebensnotwendig“ als Folie für
Größe, Stärke und Gesundheit, für jene Werte, die eine „Rechtfertigung der
Geschichte“ möglich machen69. So wie vor ihm Hegel und nach ihm Popper70
besteigt Nietzsche das Tribunal des Weltenrichters und exkulpiert die Geschichte, ja
den Kosmos als Kunstwerk: „Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die
Welt ewig gerechtfertigt.“71
2w. Den „Fortschritts-Aberglauben“, die Idee einer Entwicklung der Mensch-
heit „zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren“ weist Nietzsche weit von sich.
Wohl aber sei „an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschieden-
sten Kulturen heraus“ ein „höherer Typ“ erschienen, einzelne Menschen, die es
geschafft hätten, sich den Zwängen ihrer Zeit zu entziehen. Die Fähigkeit hierzu ist
das Kriterium für Nietzsches Übermenschen. Er ist „hungernd, gewalttätig, einsam,
gottlos“. Er will nur er selbst sein, ist anders, will anders sein als alle andern. Er ist
Asket und Einsiedler. Man sieht, was Nietzsche dem Christentum verdankt, aber
sein Zarathustra glaubt nur an sich. Seine Maxime: „Nichts ist wahr, alles ist
erlaubt“. Mit dem Übermenschen, der bisher unter uns Überaffen nur sporadisch
auftrat, hinfort aber erzogen und gezüchtet werden solle, ließe sich „jener schauer-
lichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hieß“, ein Ende
machen.72 Ist der Übermensch die „Kristallform des Gedankens, daß der Mensch
sich über sein Gegenwartsstadium hinausentwickeln kann und also soll“,73 so gibt
es doch einen progressiven Zug im Hintergrund von Nietzsches Geschichtsbild.
Das Wort „Übermensch“ geht zurück auf Lukian von Samosata, bei dem der
hyperanthrōpos anēr ein Großtyrann ist, der als Toter in der Unterwelt dann ein klägli-
ches Bild abgibt74. Im Deutschen erscheint die Bezeichnung „Übermensch“ im
16. Jahrhundert bei Katholiken spöttisch für glaubensstolze Lutheraner, dann bei die-
sen auch positiv für geisterfüllte Christen. Im Munde des Erdgeists gegenüber Faust
klingt das Wort wieder ironisch, aber Herder braucht es 1794 im Sinne von Genie,
mithin bereits ähnlich wie Nietzsche75. Die Idee, d. h. die alle Erfahrung übersteigende
Vorstellung vom Übermenschen gemahnt an den Neuen Menschen Augustins76 und
erscheint auf der Bühne 1905 in Shaws ›Man and Superman‹. Letzterer soll alle politi-
schen und sozialen Probleme der Menschheit lösen und muß gezüchtet werden. Hier
spielt Darwins Selektionstheorie herein, die auch bei Nietzsche anklingt.
2x. Darwins „Kampf ums Dasein“ steht hinter Nietzsches Bild der Geschichte
als einer Folge von Überwältigungsprozessen, getrieben vom „Willen zur Macht“ als
dem „Urfaktum aller Geschichte“. Das gelte ebenso für die Natur: „Diese Welt ist
der Wille zur Macht – und nichts außerdem.“77 Leben sei notwendig Aneignung,
Unterdrückung, Ausbeutung. Kants und Marxens Lehre von der friedlichen Gesell-
schaftsordnung der Zukunft scheint Nietzsche ein Traumgebilde. Burckhardts Mei-
nung, Macht sei an sich böse, teilt der Immoralist ebensowenig. „Der Wille zur
Macht“ sollte den Titel für Nietzsches unvollendetes Spätwerk abgeben. Diese For-
mel bezeichnet für Nietzsche die Triebkraft aller bisherigen Geschichte und ist
zugleich der höchste Wert seiner eigenen Ethik. „Was ist gut? – Alles, was das
Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? – Alles was aus der Schwäche stammt“.78 Ausgeschlossen ist dann
die Schwäche Mussolinis für Nietzsche. Hitler ließ eine Nietzsche-Ausgabe in Per-
gament für den Duce herstellen, der aber bereits am 25. Juli 1943 dem Willen zur
Macht des Gran Consiglio verfallen war, ehe die Bücher Rom erreichten79.
Die politische Resonanz auf Nietzsches Weltformel erklärt sich aus deren Ver-
wendung als Imperativ, doch ist deren Wert als Erklärung dürftig. Wenn alles in der
Welt in Bewegung ist, dann ist überall Energie, überall Kraft wirksam. Postulieren
hinter dieser einen Willen und hinter diesem ein anonymes Subjekt, das ehedem
Gott hieß, dann wird aus dem universalen Willen zu Macht eine – immerhin faszi-
nierende – metaphysische Seifenblase.
2y. Seine eigene Stellung in der Geschichte umschrieb Nietzsche durch Meta-
phern des Tageslaufs, die wir aus der Renaissance kennen. Spätabendliche ›Götzen-
Dämmerung‹ und frühe ›Morgenröte‹ sind zwei seiner Buchtitel. Daß „Gott tot ist,
daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“, beschreibt er
als Tageswechsel. Mit dieser „zweitausendjährigen Lüge“ sei nun auch die ganze
„europäische Moral“ am Ende. So wie die Renaissance begriff Nietzsche die ihm vor-
ausgegangene, dem Altertum folgende Zeit als Einheit, als finstere Etappe eines Mit-
telalters, das erst jetzt der nächsten Geschichtsepoche Platz mache. Diese werde eine
„lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung“, Untergang und Umsturz herbei-
führen, „derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat.“ Nietz-
sche prophezeite: „Die europäische Tatkraft wird zum Massenselbstmord treiben.“80
Wie Burckhardt zählt auch Nietzsche zu den Propheten der Katastrophen des
20. Jahrhunderts, aber während Burckhardt um die alteuropäische Kultur fürch-
tete, hoffte Nietzsche auf einen neuen Anfang. Für den alten Menschen kommt der
Sonnenuntergang, für den neuen Menschen der Sonnenaufgang, für den Philoso-
phen ist es der Mittag, die höchste Zeit: „da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn
steht zwischen Tier und Übermensch“. Nietzsche verkündet, „daß der Mensch eine
Brücke sei und kein Zweck“; was er an ihm liebe, sei, „daß er ein Übergang ist und
ein Untergang“, ein Weg zu neuen Morgenröten in der Stunde des großen Mittags.
Die sei jetzt: „Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums;
Höhepunkt der Menschheit; Incipit Zarathustra“.81
2z. Zarathustra ist der Lehrer der ewigen Wiederkehr, und Nietzsche ist Zara-
thustra82. Im Sinne der Stoa erkennt Nietzsche in der Geschichte planlosen Wech-
sel. Es geht bergab und bergauf, voran und zurück; Altes und Neues, Werden und
Philosoph und als von Mommsen beeindruckter Historiker mit einem universal
historischen Ansatz.
3b. Im Gegensatz zu Hegel und den von diesem abhängigen Denkern betrachtet
Weber die Weltgeschichte nicht als umfassenden, geschlossenen Prozeß oder als
geordnete Struktur. Mehrfach spricht er von der „sinnlosen Unendlichkeit des
Weltgeschehens“, das sich als chaotischer Strom durch die Zeiten dahinwälzt, von
einer unübersehbaren, unerschöpflichen Fülle von Ereignissen und Gebilden.94
Dennoch findet er in diesem Tohuwabohu einzelne hervorragende Phänomene, die
zu erhellen ihm eine sinnvolle Aufgabe erscheint, weil sie menschliches Handeln
und soziale Beziehungen zu verstehen erlauben und damit das historische Selbst
verständnis erleichtern. Indem diese Phänomene über sich selbst hinausweisen und
darum von allgemeiner Bedeutung sind, ist Webers Ansatz geschichtsphiloso-
phisch.95 Paradigmatisch ist Webers Erkenntnisinteresse, wenn er selbst einer Dar-
stellung der Staatsbildung bei den Irokesen Aufschluß über den ja häufig erfolgten
Übergang vom Stamm zum Staat entnimmt.96
3c. Im Unterschied zu nahezu allen Geschichtsphilosophen bemüht sich Weber
um eine methodische Absicherung seiner Aussagen. Er bietet keine Wesensschau
von hoher Warte, keine genialen Visionen, sondern reflektiert sein Verfahren,
indem er die Gedankenschritte, die zu seinen Ergebnissen führen, aufzeigt und
rechtfertigt. Dabei ist ihm sehr bewußt, daß auf diese streng argumentierende
Weise kein Gesamtbild der Weltgeschichte zu gewinnen ist, sondern nur einzelne
Aspekte und Phänomene in den Blick kommen, die allerdings höchste Aufmerk-
samkeit verdienen. Ihren Zusammenhang stiftet nicht eine übergeordnete Idee oder
eine zielgerichtete Tendenz, sondern eine kausale Verkettung, die nach dem Prinzip
der „adäquaten Verursachung“ aufzuschlüsseln ist. Die Geschichte erscheint als
Folge von Entscheidungen, die auch anders ausfallen und den Geschichtsverlauf
anders lenken konnten. So verwirklicht die jeweilige Realität nur eine einzige von
mehreren „objektiven Möglichkeiten“, die sich als kontrafaktische Geschichte kon-
struieren lassen. Diese Position, die dem Gang der Geschichte die innere Notwen-
digkeit abspricht, hat heftigen Widerspruch ausgelöst, so bei Croce und Meinecke,97
aber auch Verteidiger gefunden98.
3d. Zentrales Thema von Webers Geschichtstheorie ist neben der Kausalität die
Wiederholung von Rankes Forderung nach Wertfreiheit.99 Während die Ermittlung
und Darstellung historischer Gegebenheiten durch Quellenbelege und vorurteils-
freie, methodisch saubere Interpretation allgemeine Anerkennung fordern dürfen
und in der Regel auch erreichen, bleiben die Bewertung der Befunde und die dar-
aus für die Praxis gefolgerten Lehren der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen.
Weber besteht auf der strikten Trennung von objektiver Erkenntnis der Fakten und
subjektiver Auswertung, zumal für die Politik im weitesten Sinne. Politik ist nicht
wie bei Platon Sache von Fachleuten, sondern wie bei Aristoteles Angelegenheit
aller Bürger. Ihnen kann der Wissenschaftler im günstigsten Fall die erforderlichen
Kapitalanlage zur Vermehrung des Gewinns. Irdischer Erfolg sei als Ausweis göttli-
chen Segens aufgefaßt, als Verheißung des ewigen Lebens erstrebt worden.
3i. Natürlich wußte Calvin, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als
daß ein Reicher in den Himmel kommt, aber das galt vermutlich nicht für gläu-
bige, bescheiden lebende Kapitalisten. Ihre Schätze wurden nicht vom Rost und
den Motten zerfressen, sondern mehrten sich wie im Gleichnis der anvertrauten
Pfunde, wo Jesus dem erfolgreichen Wucherer das Himmelreich verheißt.107 Das
mit der Jenseitshoffnung motivierte Arbeitsethos der Calvinisten habe sich dann
von der irrationalen Erwartung des Gotteslohns gelöst, sozusagen entzaubert und
auf geheimnisvolle Weise in das säkulare Gewinnstreben der Kapitalisten verwan-
delt, deren bürgerliches Berufsethos ohne Glauben an die Gnadenwahl auskam.108
Indem Weber somit eine religiöse Überzeugung als ökonomische Produktivkraft
deutet, unterscheidet er sich scharf von Marx.
3j. Webers These fand wie auf psychologischer so auf historischer Ebene Wider-
spruch, indem auf die präkapitalistische Wirtschaft bei den Fuggern und Welsern,
in den oberitalienischen Städten und im katholischen Flandern hingewiesen wurde.
Gegen solche Einwände hätte Weber sich auf die von ihm seit 1904 so genannte
idealtypische Methode berufen können.109 Sie besteht darin, daß unter einem
geschichtsrelevanten Begriff ein Themenkomplex aus historischen Daten so kon-
struiert wird, daß ein sinnvolles, verständliches Ganzes entsteht, in dem die wesent-
lichen Elemente bestimmt und hervorgehoben, die unwesentlichen teilweise oder
völlig vernachlässigt werden. Auswahl und Betonung beruhen gemäß Weber auf der
Wertsetzung des jeweiligen Forschers, die allerdings nicht, anders als er meint, völ-
lig beliebig sein kann, da der allgemeine Sprachgebrauch mit dem Leitbegriff ent-
sprechende inhaltliche Erwartungen verbindet. Diese begrenzen den subjektiven
Spielraum des Forschers bei der Konstruktion des Idealtypus, der anderenfalls kei-
nen intersubjektiven Erkenntniswert besitzt. Bei völliger Willkür der Wertsetzung
würde die Anarchie der Phänomene durch die Anarchie der Begriffe potenziert,
und das kann kein Ziel von Wissenschaft sein. Legitim ist die Vereinfachung. Eine
idealtypische Behandlung, sagen wir: der Stadtwirtschaft im nordalpinen Mittelal-
ter, der kapitalistischen Gewerbeverfassung oder auch des Bordellwesens,110 erzielt
zwar kein punktgenaues und vollständiges, immer und überall gültiges Abbild des
jeweiligen Gegenstandes, aber eine intelligible Vorstellung von ihm.
3k. Der Idealtypus ist der meistdiskutierte, höchst unterschiedlich aufgefaßte
Zentralbegriff im Geschichtsdenken Webers. Er wird nämlich seinerseits idealty-
pisch gedeutet, indem jeder Interpret jene Züge an ihm hervorhebt, die ihm wich-
tig erscheinen. Da Weber seinem Lieblingsbegriff viele Facetten leiht und dieser
keine vorgängigen Erwartungen weckt, entstehen sehr unterschiedliche Auffassun-
gen darüber, was Weber mit ihm eigentlich gemeint hat. Im Kern bezeichnet er
vermutlich nichts anderes, als das, was Historiker zu allen Zeiten getan haben,
wenn sie einerseits generelle Begriffe und Schemata gebrauchten, deren Bestim-
mungsstücke immer nur teilweise, aber doch im großen ganzen mit dem je gemein-
ten Gegenstand übereinstimmten,111 und wenn sie andererseits individuelle Kom-
plexe durch Vereinfachung klären wollten. Als Aristoteles den Staat der Athener, als
Tacitus das Wesen der Germanen, als Michelet die Französische Revolution auf
beschränktem Raum darstellte, dann konnte das gar nicht anders als idealtypisch
geschehen. Insofern war und ist der Idealtypus – ob explizit oder unbewußt – ein
unentbehrliches heuristisches Instrument, um kleinere oder größere Themen nicht
nur aus der Kulturgeschichte, sondern aus den empirischen Disziplinen überhaupt
darstellbar zu machen. Max Weber hat das auf den Begriff gebracht. Er bestätigt,
was Marie von Ebner-Eschenbach 1879 schrieb: „Sag etwas, das sich von selbst
versteht, zum ersten Mal, und du bist unsterblich.“
3l. Bezeichnend für Webers Geschichtsbild ist die Auswahl der von ihm ideal
typisch behandelten, stets kulturbedeutsamen Themen. Diese mehr oder weniger
isolierten Ausschnitte aus der Menschheitsgeschichte gehören ganz überwiegend in
die Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, Religion und Herrschaft. Dabei
kehrt gewissermaßen als „geistiges Band“ eine Fragestellung immer wieder: die nach
dem Verhältnis des jeweils betrachteten Sektors aus der Vergangenheit zur moder-
nen Rationalität. Weber fragt nach Unterschieden zu ihr, nach Übereinstimmungen
mit ihr und nach Vorformen oder Vorstufen für sie.112 Immer wieder wird dieser
Vergleich gezogen, diese Verbindung hergestellt. Das offenbart Webers Erkenntnis
interesse. Er sieht in dem gegenwärtigen, welthistorisch einmaligen Stand der
ökonomischen und technischen Entwicklung des Okzidents einen End- und Höhe-
punkt der durch einen universalen, dreitausendjährigen Vormarsch der praktischen
Vernunft erreicht wurde und an dem die Standards früherer Epochen und fremder
Kulturen gemessen werden.
3m. Webers heimliche Teleologie unterscheidet sich indessen grundlegend von
den gängigen Fortschritts- oder Dekadenztheorien durch ihren ambivalenten Cha-
rakter. Weber übersieht die guten Seiten der erreichten Zivilisation keineswegs,
doch bangt er um die Zukunft. Sein Alptraum ist die mit der Rationalisierung ver-
bundene „Grundtatsache des unaufhaltsamen Vormarsches der Bürokratisierung.“
Sie entwickelte sich eigendynamisch als Begleiterscheinung des Kapitalismus von
einer dienenden zu einer herrschenden Funktion und werde wie in der Römerzeit
so auch bei uns durch das enger und enger werdende Korsett von Bestimmungen,
Verordnungen und technokratischen Regelungen die freie Arbeit drosseln, die öko-
nomische und politische Initiative abtöten. Diese Zwangsjacke könne, so fürchtet
er, für die „letzten Menschen dieser Kulturentwicklung“ in den westlichen Ländern
zu einer „Versteinerung“, einer Lähmung jeglicher Vitalität, Individualität und
Spontaneität führen, zu einer Erstickung der Freiheit im Namen der Ordnung.113
Schon Tocqueville hatte 1835 den „Verwaltungs-Despotismus“ der Demokratie
angeprangert,114 und seither hat eine parasitäre Bürokratie Webers Befürchtungen
mehr als bestätigt. Zehntausende von Vorschriften auf allen Lebensgebieten verrin-
gern die Selbstverantwortung des Bürgers von Quartal zu Quartal. Inzwischen sind
selbst der akademischen Freiheit durch penible Studienordnungen Grenzen gesetzt.
3n. Ähnlich wie Jacob Burckhardt sieht Weber die Schattenseiten der Modernität
sehr deutlich, und so wie jener denkt er bei ihnen an den Untergang Roms. Damit
glaubt auch Weber sich in einer Art zweiter Spätantike befindlich.115 1896 sprach er
in wörtlicher Anlehnung an einen Vortrag von Eduard Meyer aus dem Jahr zuvor116
vom „Kreislauf der ökonomischen Entwicklung des Altertums“, ja vom „Kreislauf
der antiken Kulturentwicklung“ überhaupt, der in eine „lange Nacht“ geführt habe.
1908 prophezeite er dem kapitalistischem Okzident ein gleichartiges Ende.117
4. Paradigmatik
4a. Ebenso wie die durch Fortschritt, Niedergang oder Zyklik gekennzeichneten
Verlaufskonzeptionen, so hat auch das paradigmatische Geschichtsdenken eine
lange Vorgeschichte. Einen von jeder Entwicklung absehenden Filter für das histo-
risch Relevante finden wir mehrfach in der Antike: unter den griechischen Autoren
bei Plutarch mit seinen undatierten Parallelbiographien, in der römischen Literatur
bei Valerius Maximus mit seiner Exempla-Sammlung und in der christlichen Tra
dition in den Heiligenviten und in der figuralen Geschichtsdeutung. Unter den
Humanisten verwendete Machiavelli die Geschichte als Beispielsammlung für
politische Verhaltenslehre. Stets geht es um zeitlose Musterfälle. Gegenstand ist
zunächst die interessante Tat, dann der interessante Mensch, und erst spät werden
bestimmte Zeiten für interessant erklärt.
4b. Letzteres finden wir im 18. Jahrhundert bei Voltaire in der Einleitung zum
›Siècle de Louis XIV‹.118 Dem Philosophen erschienen nur vier Zeitalter erinne-
rungswürdig: die Zeit des Perikles, die des Augustus, die der italienischen Renais-
sance und die des Sonnenkönigs. Während die Antike aber einseitig die Moralität,
die Christen allein die Frömmigkeit und die Renaissance die virtù als Relevanzkri-
terium anerkannte, ließ Voltaire lediglich die kulturellen Talente gelten. In gewisser
Weise fand er Nachfolge bei Jacob Burckhardt, der nach Paradigmen suchte; bei
Nietzsche, dem es um die „höchsten Exemplare“ ging; und bei Max Weber, der
„Idealtypen“ entwarf, um die Realität zu verstehen. Stets versucht man, wie Voltaire
in der Einleitung zu seinem ›Essai‹ bemerkt, aus dem Schutt der Jahrhunderte das
Beste auszugraben, oder wie Goethe befand, mit Hilfe einer „exakten sinnlichen
Phantasie“119 historische Phänomene durch das Auge des Geistes zu erfassen und,
durch das Medium der Sprache sichtbar gemacht, zur Wirkung zu bringen.
4c. Wer die Beweislast für eine lineare Deutung der Weltgeschichte scheut oder
den Fortschrittsglauben nicht zu teilen vermag, muß dennoch nicht auf eine philo-
sophische Auswertung der Geschichte verzichten. Er findet so wie die behandelten
Denker über ein selektives Raster einen vergleichenden Zugang zu jenen Erkennt-
nisquellen, die das Leben bereichern. Er verwandelt Paradigmatik in Pragmatik.
1. Das Lebensalter-Gleichnis
1a. Zu allen Zeiten sind Geschichtsmodelle von Metaphern inspiriert worden. Um
die unüberschaubare Masse historischer Fakten zu gliedern, bediente man sich der
Analogie und der Allegorie, indem man Erfahrungen aus dem Alltag auf die Vor-
stellung von Geschichte übertrug. Wendungen wie „die Quelle unseres Wissens“
oder „das Netz von Ursachen“ oder „die Kette von Ereignissen“ bringen Anschau-
lichkeit in unsere Vorstellungen.
1b. Von besonderer Wichtigkeit sind Geschichtsmetaphern aus der belebten
Natur. Ihre Verwendung liegt nahe, denn auch der Mensch ist ein organisches
Wesen. So hat man früh die biologischen Gesetze, namentlich das funktionale
Gefüge und die individuelle Entwicklung, von der Natur auf die Kultur übertragen.
Das zeigt der Vergleich zwischen der Generationenfolge und den Blättern der
Bäume, die im Frühjahr hervortreiben und im Herbst wieder abfallen, in der Ilias,
ebenso die Fabel des Menenius Agrippa vom Magen und den Gliedern bei Livius:
Um die aus Protest gegen den Senat ausgewanderte plebs Romana zurückzuholen,
verglich der Redner die Funktion des Volkes mit den arbeitenden Gliedmaßen, die
Tätigkeit des leitenden Senats mit der Aufgabe des Magens. Nur im Zusammen
wirken gedeihe das Ganze.2
1c. Die einflußreichste Naturmetapher für das Geschichtsdenken ist der Ver-
gleich der Völker, Staaten und Kulturen mit den Lebensaltern eines Organismus. So
wie jedes Lebewesen wächst, blüht und vergeht, schrieb Platon, so geschieht es auch
mit dem Menschen und mit seinen Werken. Dieselbe Ansicht von der naturgemä-
ßen Entwicklung und Vergänglichkeit haben Polybios und Sallust ausgesprochen:
omnia orta occidunt et aucta senescunt.3
1d. Durchgeführt wurde die Parallele zwischen dem Leben eines einzelnen
Menschen und der Geschichte eines Volkes zuerst von Seneca für den populus
Romanus. Seneca formulierte den Lebensrhythmus als allgemeines Weltgesetz:
„Alles hat seine Zeit, es muß geboren werden, wachsen und erlöschen.“ Das spielte
er an Rom durch.4 Roms Säuglingsalter (infantia – die Zeit vor der Sprache) setzte
er in die Zeit des Königs Romulus, der Rom gleichsam gezeugt und erzogen habe.
Das Knabenalter (pueritia) entspreche der folgenden Königszeit, in der die Stadt
gewachsen sei. Unter dem letzten König Tarquinius Superbus sei Rom mündig
geworden (adulta), habe die Herrschaft abgeschüttelt und sich Gesetze gegeben.
Erwachsen geworden (iuvenescere), habe Roma alle Länder und Meere unterworfen,
bis es keinen äußeren Gegner mehr gab und sich die Kräfte gegen die eigenen Ein-
geweide kehrten. Das ist die Zeit der Bürgerkriege in der späten Republik. Roms
Greisenalter begann für Seneca, als Rom unter die Herrschaft eines Einzelnen, eines
Kaisers, zurückkehrte. Das schien ihm eine zweite Unmündigkeit (infantia). Der
nahe Tod Roms wird nicht ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Logik des Bildes
und aus dem Glauben des Philosophen an den Weltuntergang.5
1e. Das Bild von Kindheit, Erwachsenwerden und Greisentum eines Volkes
kannte ebenso die jüdisch-christliche Literatur, es wurde aufgegriffen in der Aufklä-
rung. In der Bibel war es die paidagogia theou, die Erziehung des auserwählten Vol-
kes durch Strafen für Sünden zur ewigen Herrlichkeit Gottes;6 bei den Aufklärern
war es die Entwicklung der Menschheit zur Vernunft nach dem Gesetz des Fort-
schritts. Namentlich Herder, Hegel und Saint-Simon haben von dieser Parallele
Gebrauch gemacht.7 Mit dem historischen Idealismus und der deutschen Romantik
wurde das Lebensalter-Gleichnis in seiner römischen Form, erneuert. Als Ver-
gleichsgegenstand wählte man wieder Einzelvölker, entsprechend der Vorstellung
von der Individualität der Volksgeister.
1f. Hatte das 18. Jahrhundert durch Bilder aus der Mechanik den Glauben an
die Machbarkeit der Geschichte ausgesprochen, so bevorzugte die Romantik im
19. Jahrhundert Metaphern aus der Natur, um die Unverfügbarkeit des Staats- und
Kulturlebens auszudrücken. Der Staat erscheint in diesem Sinne bei Ranke als
„lebendiges Prinzip“, das seiner eigenen „Regel des Werdens“ gehorche und nicht
durch abstrakte Reformideen französischer oder englischer Herkunft umgemodelt
werden könne.8 Die organische Staatsmetaphorik ist demgemäß konservativ, am
deutlichsten vielleicht bei dem Staatsrechtler Heinrich Leo, einem der letzten Für-
sprecher der amerikanischen Negersklaverei: „Die Natur eines Staates hat ebenso
bestimmt und gleichmäßig ihren Organismus und ihren organischen Entwick-
lungsgang wie die Natur irgendeines Gewächses.“ 9
2. Vorreiter
2a. Der Kreislauf des Lebens bietet die Anschauungsform für zyklische Geschichts-
prozesse, wie sie seit Vico bei neuzeitlichen Denkern mehrfach vorkommen.10 In
seltener Vollständigkeit wurde das Modell ausgestaltet durch den Marburger Staats-
wissenschaftler Karl Vollgraff. Er erhob in seinem Werk ›Die Systeme der prakti-
schen Politik im Abendlande‹ feierlich Protest gegen die Aufklärung.11 Vollgraff
entwickelte eine Kulturanthropologie, die sich gegen die Vorstellung einer ganzheit-
lichen Weltgeschichte wandte. Vollgraff glaubte, jedes Volk entfalte seinen indivi-
duellen Charakter in drei Stadien nach dem Muster des organischen Lebens. Auf
Entwicklung, Blüte und Ableben folge die Fäulnis (Zersetzung) oder die Mumifi-
zierung (Erstarrung), die historisch gleichgültig sei. Jeder Untergang ist mithin wie
bei Hegel notwendig und innenbedingt.12
2b. Vico und Vollgraff scheinen Spengler unbekannt geblieben zu sein. Dagegen
schätzte er den Frankfurter Völkerkundler Leo Frobenius und den Berliner Alt
historiker Eduard Meyer. Frobenius (1873 bis 1938) hat seine räumlich gedachte
›Kulturkreislehre‹ seit 1896 entwickelt, ihre Grundzüge bietet er 1921 in seiner
kleinen Schrift ›Paideuma, Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre‹. Sein Material
waren im wesentlichen die Kulturen Zentralafrikas, das er zwölfmal bereist hat.
Gefördert wurde er insbesondere durch Kaiser Wilhelm II, dem er auch nach der
Abdankung im Doorner Arbeitskreis verbunden blieb. Frobenius gliederte die
empirische Welt in drei übereinanderliegende Sphären: die anorganische Natur, die
organische Natur und die menschliche Kultur. Letztere umfaßte bei ihm ausdrück-
lich die prähistorischen und ethnologischen Völker. Die Kulturen sind für Frobe-
nius „selbständige organische Wesen“, die als überpersönliche Subjekte dem Men-
schen als Objekt gegenübertreten. „Nicht der Wille des Menschen bringt die
Kulturen hervor, sondern die Kultur lebt auf‘ den Menschen ... durchlebt den Men-
schen.“
2c. Jede Kultur verwirklicht nach Frobenius etwas „Seelenhaftes“, und diese
Kulturseele nennt er „Paideuma“. Dieser griechische Ausdruck bezeichnet ursprüng-
lich den Stoff des Unterrichts, der Bildung (paideusis).13 Kulturen entfalten sich in
den Schritten der Lebensalter. Frobenius meint, daß jede Kultur „eine Geburt, ein
Kindes-, ein Mannes- und ein Greisenalter“ erlebte. Die Kulturformen sind eigenen
Wachstumsprozessen unterworfen, die dem natürlichen Entwicklungsgang des
menschlichen Individuums entsprechen. „Plump und unbeholfen gebärden sie sich
in ihrer Jugend, energisch und zielbewußt im Mannesalter, kindisch sind die Grei-
senkulturen.“ Mit diesen Analogien will Frobenius keine Tatsachen behaupten, son-
dern bloß Verständnishilfen für Tatsachen anbieten. Als Methode des Verstehens
von Kulturen sei die rationale Analyse ungeeignet, dazu bedürfe es nicht der Zerle-
gung in die Bestandteile, sondern – echt goetheanisch – der Anschauung des Gan-
zen durch „lebendige Intuition.“14
2d. Spengler zitiert Frobenius mehrfach, und noch häufiger beruft er sich auf
den universalhistorisch arbeitenden Eduard Meyer (1855 bis 1930), mit dem er
befreundet war.15 Meyer benutzte die griechisch-römische Antike als zyklische Ein-
heit, die von einer primitiven Frühzeit über eine fortschreitende Modernisierung zu
einer dekadenten Spätphase führte und abermals in der Primitivität endete.
2e. Als Leitfaden wählte Meyer die Wirtschaft. Den Grund für diese Wahl bot
die damals verbreitete These von Karl Bücher, der die Wirtschaftsgeschichte nach
dem hegelianischen Fortschrittsprinzip in drei Stufen von der Haus- zur Volks- und
zur Weltwirtschaft dargestellt hatte.16 Weil dabei aber der „unermeßliche Rück-
schritt, der in der Zeit von Hadrian bis auf Karl den Großen sich vollzogen hat“,17
nicht in Erscheinung trat, übertrug Meyer den Dreischritt von der Menschheit
allein auf die Antike. Die Zeit von Homer und Hesiod sah er geprägt einerseits
durch einen ritterlichen Adel, der mit seinem höfischen Leben und den epischen
Sängern, mit seinem Gefolgschaftswesen und seinen Fehden so sehr an das europä-
ische „Mittelalter“ erinnert, daß Meyer diesen Begriff auf die frühgriechische Zeit
übertrug. Durch aufkommendes Städtewesen, durch fortschreitende Arbeitsteilung
und vor allem durch die beginnende Geldwirtschaft gewannen Handwerk und
Handel an Bedeutung. Ohne Export und Import konnten die Städte gar nicht
mehr leben. Das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entsprächen dem
14. und 15. Jahrhundert, das 5. dem 16. und die Folgezeit dem Hellenismus.
2f. Den Höhepunkt der antiken Kultur erblickte Meyer im klassischen Athen,
namentlich in der Person des Sokrates.18 Gegenüber der Aufgabe einer nationalen
Einigung hätten die Griechen allerdings versagt. Die letzte Chance verspielten die
Tyrannen von Syrakus, so daß die Randmacht im Norden Makedonien die Füh-
rung übernahm und die Polisautonomie beendete. In den Großreichen des Helle-
nismus mit seiner Weltkultur erreichte die griechische Geschichte ihren Abschluß.
Schon Droysen hatte den Hellenismus als die „moderne Zeit des Altertums“
bezeichnet, und dem folgte nach Ranke und Marx auch Meyer.19
2g. Als dauernde Errungenschaft des freien Griechentums betrachtete Meyer die
Entwicklung des Individualismus. Sie war für ihn schon in den autobiographischen
Äußerungen Hesiods zu greifen und führte über Sokrates zum Gottkönigtum Alex-
anders, der wiederum die griechische „Vollfreiheit“ beendete. So erscheint der Weg
von Askra über Athen nach Alexandria als Modernisierungs- und Erschöpfungspro-
zeß. Die Kultur wurde breiter, flacher, anfälliger. Der als Heilmittel gegen den
Bürgerzwist gedachte Absolutismus erwies sich als Gift.20 Die Kriege zwischen den
hellenistischen Mächten ermöglichten es der Randmacht im Westen Rom, erst ihre
Vorherrschaft, dann ihr Universalreich aufzurichten.
2h. Das antike Rom hat laut Meyer, wenn auch verspätet, eine ganz ähnliche
Entwicklung wie Griechenland durchgemacht: von einer bäuerlichen, kleinräumigen
Gesellschaft zum kapitalistischen Universalsystem. Den mit dem Abzug des Pyrrhos
275 v. Chr. erreichten Idealzustand eines geeinten Italiens habe man leichtfertig
zugunsten immer weiterer Expansion geopfert. Das Imperium Romanum der Kaiser-
zeit habe Frieden und Wohlstand gebracht, wie es das nie zuvor, nie hernach gegeben
habe. Dennoch war das eine „Friedhofsruhe“. Mit dem Verlust der politischen Selb-
ständigkeit hätten die Völker ihre Schaffenskraft, ihren Patriotismus und ihre kultu-
rellen Eigenarten eingebüßt. Hier spricht Meyer als Nationalist. Seit Augustus
herrschten Standesdünkel und Lebensgenuß bei den Oberschichten, bestimmten
Vergnügungssucht und Erlösungsbedürfnis das Leben der Unterschichten.
2i. Es ist für uns heute schwer begreiflich, aber die Idee des Friedens, zumal die
Pax Romana ist durch namhafte Autoren entschieden abgelehnt worden. Schon
Heraklit tadelte Homer für den Vers: „Möchte der Streit doch aus Himmel und
Erde verschwinden!“ weil ohne Gegensatz kein Leben, keine Harmonie möglich
sei.21 Scipio Nasica wandte sich gegen die Zerstörung Karthagos, weil der äußere
Feind die innere Erschlaffung verhindere.22 Horaz prägte für das Weltgeschehen die
Formel rerum concordia discors, die Manilius umkehrte in discordia concors – zerstrit-
tene Eintracht oder einträchtiger Streit.23 In diesem Sinne betrachteten Darwin und
die Darwinisten den Kampf als Normalität und Movens des Fortschritts, und sinn-
gleich verkündete Mommsen am 24. Februar 1881: „Der ewige Friede ist unter
allen Umständen nicht bloß ein Traum, den heute auch Kant nicht träumen würde,
sondern nicht einmal zu wünschen.“24 Am 11. Oktober 1916 kritisierte Eduard
Schwartz den „entnationalisierten Schematismus“ und den „rein animalischen
Lebensgenuß“ im Weltreich des Augustus: „So etwa sah der einzige Weltfrieden aus,
der einmal Wirklichkeit geworden ist, die Pazifisten haben schwerlich Ursache, mit
diesem Paradigma besonders zufrieden zu sein.“25
2j. Mit Augustus begann für Mommsen der Abend, für Schwartz der Herbst,
für Meyer das Greisenalter Roms.26 Endlich sei das Imperium aufgrund innerer
Fäulnis unter dem Ansturm der Germanen auseinandergebrochen. Die Kultur sank
zurück in die Barbarei. Die Hauptschuld maß Meyer, ganz wie Mommsen, poli-
tisch dem Imperialismus, ökonomisch dem Kapitalismus, sozial dem Großstadt
leben zu. Letztlich scheiterte die antike Kultur an moralischem Versagen. Man
widerstand den Verlockungen der Macht und des Wohlstandes nicht. Den gemäß
dem klassischen Dekadenzmodell verlaufenden Zyklus – die Figur übernahm Max
Weber 189627 – erachtete Meyer als ein allgemeines Muster der Kulturentwicklung,
das schon der arabische Historiker Ibn Khaldun erkannt habe.28 Meyer gewann die
Überzeugung, daß die von Hegel und den Hegelianern vertretene Annahme eines
steten Fortschreitens der menschlichen Kultur „ein Postulat des Gemütslebens,
nicht eine Lehre der Geschichte“ sei.29
2k. Wie schon Gibbon und Mommsen betonte Meyer, „daß die Geschichtsbe-
trachtung immer von der Gegenwart ausgeht.“ Geschichte und Gegenwart stehen
durch Kausalität und Analogie in Verbindung.30 So wird erst in wechselseitiger
Beleuchtung die Geschichte für die Gegenwart bedeutsam und die Gegenwart
durch die Geschichte verständlich. Dieser Zusammenhang wurde blitzartig klar mit
dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er bedeutete für die Geschichtsphilosophie
eine Kehre. Zahlreiche, nicht nur deutsche Denker gewannen jetzt die Überzeu-
gung, daß der Niedergang der antiken Kulturen sich an uns wiederhole. Zu diesen
Autoren gehörte Spengler.
3. Spenglers Hochkulturen
3a. Wie die meisten Geschichtsphilosophen war Oswald Spengler (1880 bis 1936)
kein Berufshistoriker. Er wurde 1904 mit einer Arbeit über Heraklit promoviert,
war dann Oberlehrer für Mathematik und Physik und lebte nach dem Ersten Welt-
krieg von Erbschaften und Honoraren als Privatier in München. Lehrstuhlangebote
lehnte er ebenso ab wie die Übernahme des Kulturhistorischen Instituts, das Karl
Lamprecht (1856 bis 1915) in Leipzig begründet hatte. Lamprecht vertrat ebenfalls
eine Kulturphilosophie, die biologischen Denkmustern verpflichtet war und nach
dem „biogenetischen Prinzip“ und dem „Gesetz der psychischen Relationen“ den
„Gesamtverlauf des geschichtlichen Lebens“ erkennen wollte.31
3b. Spenglers Interesse für Geschichte und Geographie hat sich früh in phanta-
stischen Konstruktionen geäußert. Vierzehnjährig entwarf er das Projekt „Afrika-
sien“ – eine Zukunftsvision.32 Ein neuer Napoleon erobert West-Afrika und grün-
det eine Stadt mit Namen Berlin. Gestützt auf europäische Söldner baut er in
Afrika und Asien ein gigantisches Imperium auf, das nach strengster Staatsraison
regiert wird und nun die alten Kolonialmächte vernichtet. England, Frankreich und
vor allem Rußland werden in ihre ethnischen Bestandteile aufgelöst: Moskau,
Weißrußland und die Ukraine werden selbständig, Sibirien gehört sowieso zu Afri-
kasien. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika zerfallen. In Afrikasien wird ein
bloß noch nicht theoretisch begründet. Diese, wie er meint, aus einem richtigen
Instinkt, aber ohne zureichende Methode gezogenen Parallelen will er durch eine
Technik des Vergleichs auf eine gesicherte Grundlage stellen, die der Strenge des
Mathematikers nichts nachgeben soll.41 Dem dienten Analogien zwischen der anti-
ken und der westeuropäischen Kultur; jene große Parallele, die auch Vico und
Droysen, Karl Marx und Eduard Meyer schon gesehen hatten, und die tatsächlich
zur Annahme eines normalen Kulturverlaufs einladen.
3f. In beiden Kulturen finden wir am Anfang einen ritterlich-feudalen Lebens-
stil. Die Welt Homers und die des Nibelungenliedes sind ähnlich: Eine mythische
Heldenzeit wird in epischer Form gestaltet und als Lebensideal einer ritterlichen
Welt empfunden. Der Kampf und die Jagd sind die Beschäftigungen einer adligen
Schicht, die von ihren arbeitenden Hintersassen ernährt und von Sängern unterhal-
ten wird. Die Grundeinheit der Gesellschaft ist eine patriarchalische familia unter
Einschluß des Gesindes. Man kann noch weiter zurückgehen: Auch zwischen Aga-
memnon und Karl dem Großen zeigen sich Parallelen: eine ländliche Stammes-
struktur von prekärer Staatlichkeit, die durch Personenverband und Gefolgschafts-
wesen geprägt ist.
3g. Spengler verweist sodann auf dieselben Auflösungserscheinungen der patri-
archalisch-ritterlichen Frühzeit. In Griechenland nach 800 v. Chr., in Europa nach
1200 n. Chr. zerfallen die locker gefügten, durch Stämme getragenen Großraum-
ordnungen in kleinere, aber intensiv strukturierte Einheiten. In Griechenland sind
das die Poleis; in Europa, namentlich in Deutschland, die Territorien. Die Staatlich-
keit entwickelt sich im räumlich engeren Rahmen durch Geldwirtschaft, Gesetzge-
bung und Bürokratie. Der Staat konzentriert immer mehr Rechte auf sich: so die
Gerichtshoheit, die Finanzhoheit und die Wehrhoheit. Am Ende steht jeweils der
voll entwickelte Staat: Der Polis eines Perikles stellt Spengler den Absolutismus von
Ludwig XIV und Friedrich dem Großen zur Seite.
3h. Eine Parallelität zeigt auch die soziale Entwicklung. Wie der frühgriechi-
sche, so hat auch der europäische Adel seine Vorrechte allmählich eingebüßt zugun-
sten eines Bürgertums, das in Griechenland wie in Europa in den Städten heran-
wuchs und dem Landbesitz des Adels den Geldbesitz von Handel und Gewerbe
entgegenstellen konnte. Beide Male geht der Prozeß vom Gefolgschaftsverband
zum Ständestaat, von monarchischer zu demokratischer Verfassung, von traditio-
neller zu institutioneller Regelung des gemeinsamen Lebens.
3i. Innerhalb der Kunst dominieren anfangs sakrale Zwecke. Der ideelle Mittel-
punkt der griechischen Polis ist der Tempel der Stadtgottheit, das Herz der mittel-
alterlichen Stadt ist die Kathedrale des Schutzheiligen. Der griechische Künstler
stellt die allseits bekannten Mythen, der europäische die biblische Geschichte oder
Heiligenlegenden dar. Beide Male verläuft die Kunstentwicklung von strengeren zu
gelösteren Formen: in Griechenland von der dorischen zur korinthischen Ordnung,
von archaischer Statik zu hellenistischem Pathos, in Europa von der formstrengen
Romanik zum prunkvollen Barock. Pathetische und verspielte Formen finden wir
beiderseits am Ende. Der Begriff Barock wurde von Heinrich Wölfflin ja auf den
Pergamon-Stil übertragen. Inhaltlich zeigt die antike Kunst eine Erweiterung der
Themen: neben die mythologischen Stoffe treten später profane und historische,
ähnlich wie das in der europäischen Malerei zu sehen ist. Die Darstellung der nack-
ten Frau ist in der archaischen Zeit verpönt und wird danach dort wie hier statthaft.
3j. In der Literatur kommt es wie bei den Griechen so bei den europäischen
Völkern nach den Epen der Frühzeit zu einer Klassik. In Athen ist sie stärker gebün-
delt zwischen Aischylos und Aristophanes, in Europa verteilt sie sich auf einen grö-
ßeren Zeitraum zwischen Shakespeare und Goethe. Die Lektüre der städtischen
Spätzeit ist jeweils der Roman, dort Petron, hier Cervantes.
3k. Das Geistesleben ist bei Griechen wie Europäern zunächst ganz von der
Religion geprägt: Im Verlaufe der Zeit kommt es jedoch zu volkstümlichen Protest-
bewegungen, die auf eine stärker persönliche, emotionale Bindung abzielen und
sich gegen die Formalisierung wenden. Spengler parallelisiert das Verhältnis zwi-
schen der olympisch-apollinischen Religion und den orphisch-dionysischen Myste-
rienkulten mit dem Verhältnis zwischen katholischer Anstaltskirche und den religi-
ösen Neuerungsbewegungen der Reformation.
3l. Daneben hebt Spengler die Analogie in der philosophischen Aufklärung her-
aus. Bei den Griechen wird sie getragen von den Vorsokratikern und den Sophisten,
in Europa von den Philosophen und Naturforschern der Zeit zwischen Kepler und
Kant. Beide Male findet Spengler am Ende die großen abschließenden Systeme:
Platon und Aristoteles auf der einen; Goethe, Kant und Hegel auf der anderen
Seite. Er hätte auch Marx nennen können. Die zentrale Phase wird in Griechenland
um die Mitte des 4. Jahrhunderts, in Europa um 1800 abgeschlossen. Die Denk
systeme vollenden sich gleichzeitig mit dem Staatswesen.
3m. Die nun folgende Abwärtsentwicklung der Spätzeit beider Kulturen wird
eingeleitet durch Erschütterungen: in Griechenland durch soziale Unruhen, die
zweite Tyrannis und Alexander, in Europa durch die Französische Revolution und
Napoleon. Es kommen die starken Männer als Anführer der Massen, die radikalen
Volksführer, die ein unzufriedenes, verführbares Großstadtpublikum vorfinden. Die
intensive Phase wird durch eine extensive abgelöst. Eine kosmopolitische Weltstadt-
Zivilisation entsteht auf der Basis von Geldwirtschaft, Fernhandel und Technik.
Archimedes und Euklid dort, Kepler und Newton hier rücken die mathematisch-
naturwissenschaftlichen Studien in den Vordergrund. Der Weg vom Nürnberg der
Meistersinger nach New York und Moskau ähnelt dem vom Athen des Sokrates nach
Alexandria und Rom. In der modernen Weltstadt herrscht das Geld, und es macht
für Spengler keinen grundsätzlichen Unterschied, ob die Form dieser Herrschaft ein
ptolemäischer Staatssozialismus, eine spätrepublikanische Plutokratie oder aber eine
kapitalistische Massendemokratie ist. Die bloße Existenz der voll entwickelten Geld-
wirtschaft wirft dem, der das Geld verwaltet, auch die Macht in den Schoß.42
3q. Die Religion der Spätzeit wirkt nicht mehr politisch einheitstiftend wie
zuvor. Ein Pluralismus entsteht; exotische und esoterische Kulte werden schick, die
Anhänger in jeder Weltstadt haben. Ursprung ist der Orient. Das Festwesen wird
säkularisiert, Sport- und Kulturveranstaltungen lösen sich aus ihren alten sakralen
Bindungen. Auch in spätgriechischer Zeit wurden noch Tempel gebaut, so wie
heute noch Kirchen entstehen, aber der Anteil der Kultbauten am gesamten Bau
volumen sinkt dort wie hier. Erst ganz zum Schluß kommt es zu einer neuen reli
giösen Inbrunst, einer „Zweiten Religiosität“, einem Fundamentalismus.
3r. Spengler glaubte, daß die Herrschaft des Geldes dem Cäsarismus unterliegen
werde, dem straff organisierten Militarismus der starken Männer. Was diese von der
alten Kultur übrig ließen, hinge von Zufällen ab. Jedenfalls sei die Kultur kein ech-
tes Anliegen mehr, sondern bloß noch Freizeitprogramm. Mit der Römerzeit,
genau: seit Actium 31 v. Chr., sei die antike Kulturentwicklung abgeschlossen. Was
dann komme, seien bloß noch „negerhafte“ Machtkämpfe zwischen einzelnen Cae-
saren, bei denen es völlig belanglos sei, wer gewinne.45 Für die Gegenwart gelte
Entsprechendes: die Welt sei zur Beute geworden. Die Mischung von Zivilisation
und Barbarei könne so oder anders dosiert sein, eine kulturelle Weiterentwicklung
sei ebensowenig möglich wie in der römischen Kaiserzeit. 1921 beendete Spengler
seinen Aufsatz ›Pessimismus?‹ mit dem Satz: „Zu einem Goethe werden wir Deut-
schen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar“. Und 1933 beschloß er seine
›Jahre der Entscheidung‹ mit der Aufforderung, die Würfel des großen Spiels zu
ergreifen. Der Zweite Weltkrieg stehe bevor.46
Am Untergang des Abendlandes ändert das nichts mehr, er bestand im Übergang
von der Kultur zur Zivilisation. Das Ende hat daher eigentlich schon unter Napo-
leon stattgefunden. Es war bloß ein scholastischer Untergang, doch könnte dem
noch ein politischer folgen. Spengler erwartete die „farbige Weltrevolution“, eine
„Revolution von außen“, den Einbruch der Dritten Welt aufgrund des Bevölke-
rungsdrucks.47 Sowohl das späte Griechentum als auch das späte Rom litten an
Oliganthropie, an Nachwuchsmangel. Es gab immer weniger Kinder. Das Familien-
förderungsprogramm der Kaiser von Augustus bis Marc Aurel scheiterte. Dagegen
vermehrten sich die Barbaren, insbesondere die Germanen, die zunehmend ins
Reich eindrangen und Funktionen übernahmen, die sie unentbehrlich machten.
Gleichzeitig begünstigte die Frauenemanzipation die Kinderlosigkeit.48 1927 schrieb
der selbst ehe- und kinderlose Spengler das Vorwort zu einem Aufsatz des Statistikers
Richard Korherr zu dem bedrohlichen Geburtenrückgang in Deutschland.49
3s. Die strukturelle Parallelität zwischen der antiken und der abendländischen
Kultur motiviert Spenglers Prognose: „Das Römertum ... wird uns immer den
Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten.“50 Die Entwicklung der
Antike erhebt Spengler zum Interpretationsmuster auch für die anderen Hochkultu-
ren.51 Er unterscheidet insgesamt deren acht: die babylonische, ägyptische, chinesi-
sche, indische, antike, arabische, mexikanische und die abendländische Kultur. Jede,
die nicht wie die mexikanische „geköpft“ werde,52 durchlaufe einen Lebenszyklus
von ungefähr tausend Jahren. In dieser Zeit entfalte sie ihr immanentes Prinzip.53
Eine mögliche nacheuropäische Hochkultur erwartete Spengler zeitweise – ähnlich
wie vor ihm Hegel, Lasaulx und Tocqueville – in Rußland. „Das Russentum ist das
Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem
Westen länger und länger werden.“54 Den Marxismus hielt Spengler für eine europä-
ische Überfremdung Rußlands, einen vorübergehenden Irrtum. Jeder Sozialismus
ersticke an der Bürokratie. Rußland werde zum Privateigentum zurückkehren.55
3t. Spengler sah die einzelnen Kulturen nicht nur in ihrer formalen Analogie,
sondern verstand sie zugleich als Individualitäten. Er spricht von „Kulturseelen“.
Sie entstehen zufällig im „zwecklosen Spiel der lebendigen Natur“56 und sind
geprägt durch die jeweilige Landschaft, ähnlich der Kulturkreislehre von Frobenius.
So gibt es bei Spengler die apollinische Seele der antiken Kultur, die magische der
arabischen, die faustische der abendländischen Kultur. Als Seele bezeichnete er das
„innere Wesen des lebendigen Seins, etwas, das dem Denken und Forschen unzu-
gänglich bleibt“ und nur erschaut werden kann. „Seele“ ist ihm ein „Wort für
Unbegreifliches.“57 Wir denken an die Volksgeister des Idealismus. Jede einzelne
kulturelle Erscheinung erklärt Spengler einerseits aus dem Entwicklungsstadium
der betroffenen Kultur, andererseits aus ihrem besonderen seelischen Prinzip. Eine
Kausalität zwischen den einzelnen Phänomenen bestreitet er, alle sind gleichsam
verschiedene Blätter, Blüten und Früchte auf demselben Baum. Spengler deutet alle
kulturellen Phänomene als ästhetische Symbole, als Ausdrucksformen der jeweili-
gen Kulturseele gemäß ihrer momentanen Altersstufe. Er vergleicht die Geschichte
mit dem Text einer bisher unverständlichen Sprache, für die seine Theorie die Deu-
tung liefern soll.58
3u. Seine Idee der Kulturseele veranschaulicht Spengler wiederum durch eine
Gegenüberstellung von antikem und abendländischem Denken. Im Altertum fin-
det er eine körperhaft-statische, im Abendland eine raumhaft-dynamische Idee hin-
ter den verschiedenen Erscheinungen. Er stellt der griechischen Statue das gotische
Tafelbild gegenüber, dem Tempel als Baukörper die Kirche als umbauten Raum. In
der Wirtschaft vergleicht er die antike Münze als Wertobjekt mit dem modernen
Wechsel als abstraktem Guthaben, in der Mathematik die anschauliche Geometrie
Euklids mit der neuzeitlichen Integral- und Differentialrechnung. Jede Kultur habe
ihre eigene Mathematik, das jeweils gepflegte Zahlenspiel entspreche dem kultur
eigenen Formideal.59 Aus dieser „Physiognomik“ ergibt sich die These von der inne-
ren Einheit aller Kulturerzeugnisse einer Zeit und eines Raumes. Die Idee einer
allumfassenden Stileinheit, einer Formenverwandtschaft, war in Anlehnung an
Nietzsche60 für die materielle Kultur von den Kunsthistorikern der Wiener Schule
von Wickhoff, Riegl und Dvorak entwickelt worden und wurde von Spengler auf
alle Kulturprodukte ausgeweitet.61 Spengler findet verblüffende Zusammenhänge,
etwa dem zwischen Atelierbraun, Protestantismus und Infinitesimalrechnung als
Abkehr vom Gegebenen oder seine Rückführung von Feuerwaffen, Buchdruck und
Entdeckungsfahrten auf das Prinzip der Fernwirkung.
3v. Ein Schwachpunkt in Spenglers System ist seine – später aufgegebene –
Ansicht, daß einerseits die Kulturen einflußlos nebeneinander blühen, sich unter-
einander nicht befruchten und nur durch Mißverständnisse kommunizieren, an
dererseits aber als ganze bisweilen nicht ihre eigene, sondern eine fremde Idee
verwirklichen. Sein Musterbeispiel ist das von ihm als „magische Kultur“ bezeich-
nete Millennium nach Christus im Mittelmeerraum. Damals habe die ostmedi
terrane, von Spengler „arabisch“ genannte Bevölkerung ihr wesensfremde grie-
chisch-römische Kulturformen benutzt, so wie Rußland seit Peter dem Großen in
unpassenden europäischen Stiefeln einherzustolzieren versuchte.
Um die Idee der kulturellen Einheit zu retten, bedient sich Spengler der aus der
Mineralogie entlehnten Metapher der Pseudomorphose. „In einer Gesteinsschicht
sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser
sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform
übrigbleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen;
glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es
steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhande-
nen ausfüllen, und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur
dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer
fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. Historische
Pseudomorphose nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig
über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt
und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht
einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der
Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden
Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichauf-
reckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die fremde Gewalt
zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur.“62
3w. Die Idee der kulturellen Pseudomorphose täuscht eine Möglichkeit vor,
Spenglers System vor Gegenbeispielen zu schützen.63 Die Geologen sind imstande,
arteigene und artfremde Formung von Lava zu unterscheiden, der Historiker indes-
sen vermag Kultur, separat von der Form, in der sie sich ausprägt, nicht zu greifen.
Form ist der Kultur nichts Äußerliches. Anders als Lava präsentiert sich Kultur
immer erst, nachdem sie Gestalt gewonnen hat. Wer behauptet, eine Kulturseele
habe nicht den ihr gemäßen Ausdruck gefunden, der spielt „richtige“ gegen ver-
fälschte, ungemäße Formen aus und setzt damit eine postulierte gegen die reali-
sierte Formgebung. Die Metaphorik der Pseudomorphose soll beglaubigen, daß die
Unstimmigkeit nicht Schuld des Schemas, sondern Zufall, Schuld der Geschichte
sei. Indes: ungeschehene Geschichte ist plausibel denkbar, ungeschaffene Kultur
jedoch nicht. Da Spengler die Historie nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst
begriff,64 sind seine Resultate im einzelnen künstlich. Die magische Kultur ent-
springt einer Pseudomorphose in anderem Sinne: Der knetbare Stoff der Geschichte
paßt sich den Hohlformen des Philosophengehirns an. Spenglers zwieschichtiges
Interpretationsmodell, das äußere und innere Form, Kulturerscheinung und Kul-
turseele, Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl unterscheidet,65 entspricht dem
Denkansatz des deutschen Idealismus. Es ist die Vorstellung, daß sich in den Kul-
turphänomenen höhere Potenzen oder tiefere Kräfte spiegeln. Jeweils untersteht
alles gleichzeitige Geschehen einer Kultur einem bestimmten Chronokrator, dem
Weltgeist oder – so hier – seinen Abkömmlingen.
3x. Spengler erklärt: „Geschichte ist ein Ganzes von organischer Logik“ und
schreibt: „Kultur ist ein Gewächs.“66 Dennoch ist seine Kulturmorphologie kein
Biologismus. Darwin mit seinem „Kampf der Regenwürmer“ trifft Spenglers
Spott.67 Er verortet die „Welt als Geschichte“ als eigenen Kosmos über der „Welt als
Natur“, so wie Frobenius.68 Die Natur liefert nur die Anschauungsformen. So
betrachtet Spengler seine Hochkulturen als „höhere“ Organismen, die in „erhabe-
ner Zwecklosigkeit“ das Gesetz erfüllen, nach dem sie angetreten.69 Sie besitzen
kein System, sondern eine Physiognomie, lassen sich nicht ausrechnen, sondern
bloß intuitiv erfassen. Das „idiotische Rassegeschwätz“ der Biologisten verachtete
er; „Rassereinheit ist ein groteskes Wort.“70 Auch Spengler spricht von Rassen, aber
für ihn sind diese nicht die biologische Grundlage, sondern die Folge von Kulturen.
In polemischer Antithese zur herrschenden Rassenlehre erklärte Spengler, ein
altägyptischer Isispriester und ein moderner Bankdirektor hätten mehr rassische
Gemeinsamkeit als beide mit gleichzeitigen Tagelöhnern. „Zuletzt hat jeder ein-
zelne Mensch und jeder Augenblick seine eigene Rasse.“71
3y. Biologistische Züge sieht Spengler in der Geschichte unter- und außerhalb der
Hochkulturen, vorher und nachher. In der Zivilisation herrscht „Zoologie“.72 Sie ist
nicht das Ergebnis einer biologischen Degeneration oder einer moralischen Deka-
denz, sondern der gesetzmäßig eingetretene Zustand, der aus Altersgründen erlosche-
nen, erstarrten, vollendeten Kultur. Sie kann im Zustand der Geschichtslosigkeit
noch Jahrtausende dastehen wie ein toter Baumriese.73 In der Zivilisation geht es nur
noch um Geld (als Macht über Sachen), um Technik (als Macht über die Natur) und
um Politik (als Macht über Menschen). Dies gilt für die ägyptische Kultur nach der
Ramses-Zeit, für die antike Kultur nach Augustus und für die abendländische Kultur
in der heutigen Zeit. Hier entscheidet der „Wille zur Macht“, und das klingt nach
Darwins struggle for life. Kulturkritik, die ja allenfalls bei Ludwig Klages, Theodor
Lessing oder Emil Cioran die eigentliche Kultur meint, sonst aber die Zivilisation
trifft, ist in Spenglers System sinnlos. Er predigt nicht: Zurück zur Natur! Zurück zur
Tradition! Zurück zur Kultur! Vielmehr forciert er den Marsch vorwärts in die Zivi-
lisation, denn sie ist unser Schicksal. Gleich eingangs zum ›Untergang‹ steht seine
Liebeserklärung für die Perfektion der Maschinentechnik und die Aufforderung an
die Jugend, lieber Brücken zu bauen statt Gedichte zu schreiben.74
3z. Wie die meisten Geschichtsphilosophen wünschte sich auch Spengler eine
praktische Wirkung. Innenpolitisch verband er 1919 ›Preußentum und Sozialis-
mus‹. Er verwarf die parteigebundenen Interessenpolitik der Demokratie, huldigte
einem rigoristischen Pflichtgedanken und forderte, ähnlich wie Friedrich der
Große, den Dienst am Staate. Außenpolitisch müsse dieser sich militärisch behaup-
ten. Das deutsche Volk habe noch seine „historische Sendung“ zu erfüllen, sei es
doch das „unverbrauchteste der weißen Rasse“, allen anderen in seiner „rassemäßi-
gen Gesundheit“ voraus. 1924 erinnerte Spengler die deutsche Jugend an ihre poli-
tischen Pflichten.75 Alles Leben sei Kampf um die Macht. Krieg sei unvermeidlich,
der Glaube an den ewigen Frieden Altersschwäche. Er selbst war wegen seiner
Kopfschmerzen wehrunfähig. Seine anfängliche Sympathie zum Nationalsozialis-
mus führte zu einer Begegnung mit Hitler im Juli 1933 in Bayreuth, bei der Speng-
ler in die hoffnungslose Rolle Platons bei Dionys dem Tyrannen geriet. Er kam
nicht zu Wort. Spengler wandte sich von Hitler ab, weil dieser ihm die plebejische
Variante des Caesarismus verkörperte; und die Nationalsozialisten lehnten Spengler
ab, weil sie vom „Untergang des Abendlandes“ nichts hören wollten.76 Ihr Biologis-
mus hatte andere Wurzeln und trieb andere Blüten als Spenglers Morphologie.
4c. Ebenso wie der späte Spengler83 mit seinen a-, b-, c-Kulturen unterscheidet
Toynbee mehrere Kulturtypen. Von seiner ursprünglichen Dreigliederung hat er die
zweite Form, die „steckengebliebene“ Kultur (Arrested Civlilization), aufgegeben –
dazu rechnete er Spartaner, Osmanen und Eskimos – und nur noch die erste, die
„ausgewachsene“ Kultur (Full-blown Civilization), und die dritte, die „totgebo-
rene“ Kultur (Abortive Civilization), beibehalten. Die „ausgewachsenen“ Kulturen
unterteilt er abermals in selbständige und abhängige Kulturen (Satellitenkulturen).
Als Sonderformen erscheinen das chinesische Universalstaatsmodell, das – heilsge-
schichtlich privilegierte – jüdische Diasporamodell (Syriac Civilization) und die
Hochreligionen. Mit dieser differenzierten Typologie gefährdet Toynbee den Typen-
begriff, der ja in gewisser Weise Gleichartiges zusammenfaßt, und nähert ihn dem
Individualitätsbegriff des Historismus.
4d. Dennoch bietet Toynbee das Normalschema eines Kulturverlaufes. Aufge-
baut wird eine Kultur durch eine schöpferische Minderheit, die auf eine äußere
Herausforderung positiv reagiert. Alle großen Leistungen sind das Verdienst einzel-
ner Menschen. Irgendwann kommt es indessen zu einem „Sündenfall“ der Gesell-
schaft, der bald als moralisches Versagen, bald als biologisch erlahmende Schöpfer-
kraft, bald psychologisch als Seelenschisma, als kulturelle Schizophrenie gedeutet
wird. Sie äußert sich meist in machtbesessener Hybris, in kritik- und phantasieloser
Selbstgefälligkeit. Toynbee spricht von blasphemischer Selbstvergötzung. Die Folge
ist unwiderruflicher Verfall.
4e. Nach der Hybris kommt die Nemesis. Aus der schöpferischen Minderheit
wird eine herrschende Minderheit, die aus vergangenen Leistungen gegenwärtige
Vorrechte ableitet und damit künftige Leistungen blockiert. Die denkende Elite zieht
sich in die Philosophie zurück, Philosophie aber ist für Toynbee ein Dekadenzpro-
dukt des Glaubens. Es entsteht das innere Proletariat und verbündet sich mit dem
äußeren Proletariat. Toynbee hat wieder die Antike vor Augen: die Sklaven paktieren
mit den Barbaren, wie dies die Marxisten behaupten haben.84 Es folgen hoffnungslose
Restaurationsversuche nach dem Muster: Fliehen – Sammeln – Fliehen – Sammeln.85
4f. Der Verfall ist gewöhnlich schuldhaft. Er kann sehr früh beginnen und sehr
lange dauern. Im Alten Ägypten läßt Toynbee ihn bereits mit dem Ende der „men-
schenverachtenden“ Erbauer der Pyramiden um 2000 v. Chr. einsetzen, in der
Antike beginnt er mit dem griechischen Bruderkrieg unter Perikles, in Deutschland
mit der und durch die Reformation und dem Einmarsch Friedrichs des Großen in
Schlesien. Europa insgesamt verfällt allerdings erst seit 1914. Die Dekadenz dauert
in Ägypten zweitausend Jahre, in der Antike tausend, in Deutschland bisher fünf-
hundert. Am Ende einer Kulturentwicklung steht eine Erstarrung, oft in der Form
eines Universalstaates. So entstehen „fossile“ Kulturen wie in Ägypten und China.
4g. Die organologischen Metaphern, mit denen Spengler die Entwicklung der
Kulturen beschreibt, begegnen ebenso bei Toynbee. Die Gesellschaftskörper, d. h.
die Träger der Kulturen, werden geboren, lassen ihre Kindheit hinter sich, wachsen
und reifen, machen Krankheiten durch, gegen die sie Heilmittel anwenden, die
bisweilen schlimmer als das Leiden sind. Kulturen werden alt und gebrechlich, sie
sterben und werden von den Trägern der Folgekulturen begraben. Nichtsdestotrotz
kennt Toynbee auch kulturellen Selbstmord, so die drei genannten Fälle. Daneben
rechnet Toynbee mit der Wiedergeburt einer Kultur, bisweilen Jahrhunderte nach
dem ersten Kulturtod. Das ergibt dann ein progressives Mutter-Tochterverhältnis
wie zwischen dem heidnischen Hellas und dem christlichen Byzanz.
4h. Trotz seiner naturalistischen Sprache will Toynbee, anders als Spengler, kein
Determinist sein. Zwar unterstehe auch die Geschichte den Naturgesetzen, doch
könne der Mensch diese überlisten, wenn er sich – wie Toynbee das empfiehlt –
unter das christliche Gottesgesetz stelle.86 Er glaubt, daß eine Kultur durch die
Beschlußfassung in freier Entscheidung ihrer Träger zustande komme. Das ist des-
wegen schwer annehmbar, weil dieses Volk eine Vorstellung von seiner Kultur
haben müßte, bevor diese ans Tageslicht tritt. Toynbee erklärt dies mit der darwini-
stischen Dialektik von Umwelt und Anpassung in der Sprache des Duells als calum-
nia und responsio, englisch challenge and response. Auf die (beleidigende) Herausfor-
derung durch (irgendeine) innere oder äußere Gegebenheit, die „Ansprache
Gottes“, folgt die (angemessene oder verkehrte) Reaktion der Menschen. Toynbee
schulmeistert die Geschichte so wie Spengler, der richtige und falsche Sieger unter-
schieden hatte,87 ohne freilich die Menschen moralisch zu bewerten, wie Toynbee
das durchgängig tut. Wenn man Spengler vorwerfen muß, daß die Kulturseele, aus
der er das Verhalten ableitete, nicht greifbar ist, dann muß man Toynbee entgegen-
halten, daß sein triviales Schema von challenge and response nichts erklärt – denn
immer sind wir in irgendeiner Lage, auf die wir irgendwie reagieren.
4i. Ein entscheidender Unterschied zu Spengler ist Toynbees Glaube an einen
universalen heilsgeschichtlichen Fortschritt. Er führt vom Untermenschen zum
Übermenschen, vom Pithecanthropus des Pleistozäns mit unaufhaltsam zunehmen-
der Gottähnlichkeit des Homo sapiens zu der in der Bibel verheißenen Gemein-
schaft der Heiligen am Ende der Zeiten. Die mit der Kulturmorphologie verbun-
dene Zyklik wird durch das Bild des Wagenrades zu einer Vorwärtsbewegung
erweitert. Der Kreislauf der Kulturen bringt die Religion, so wie Räder den „Trium-
phwagen“ der Menschheit, dem Himmel näher.88 Toynbee benutzt Hegels Denk
figur einer progressiven Sequenz von Untergängen. Die Religionsgeschichte sei die
„einzig ununterbrochene Aufwärtsbewegung“, ein universalhistorischer Prozeß der
Erleuchtung,89 und deren Endziel gemäß dem „göttlichen Heilsplan“ eine humani-
tär-christliche Weltreligion, bereichert um buddhistisches und chinesisches Gedan-
kengut, wie es der Jesuit Matteo Ricci um 1600 in Peking angestrebt habe. Toynbee
hofft auf ein „neues Römisches Reich“. Dies sei der „historische Zweck“ der abend-
ländischen Kultur: eine soziale Weltordnung, getragen von der universalen katholi-
schen Kirche. So steht sie vor uns: „bewaffnet mit dem Speer der Messe, dem Schild
der Hierarchie und dem Helm des Papsttums.“90
4j. Toynbee vertrat mit seiner „Theologia Historici“ eine säkulare Eschatologie.
Nationalismus und Militarismus müßten im Zuge seelischer Gesundung überwun-
den werden, um dem bevorstehenden Kingdom of God Raum zu schaffen.91 Gott
werde siegen, entweder mit der alten oder mit einer neuen Schöpfung. Durch Reue
und Gebete „mit gebrochenem Herzen“ könnte den Europäern von Gott noch eine
Gnadenfrist gewährt werden, so daß deren Errungenschaften in das künftige ewige
Reich der himmlischen Gnade Eingang fänden. Toynbees Menschenwelt ist eine
„Provinz im Reich Gottes“, und „nicht einmal die wichtigste.“ Die anderen, ver-
mutlich von Engeln bevölkerten Provinzen fallen nicht mehr in die Zuständigkeit
des Geschichtsphilosophen.92 Toynbee orientiert sich an Bossuet.93 War jener der
vorletzte, ist Toynbee – neben Berdjajew – der vorläufig der letzte Kirchenvater.
mik“ und die Vorliebe für das Präfix „Ur-“; von Nietzsche borgt er die Perspektivität
historischer Sicht und den „Willen zur Macht“ als Gütesiegel des faustischen Men-
schen. Mit dem deutschen Idealismus versteht er das Geschehen als Ausdruck höhe-
rer Potenzen, zwar nicht des Weltgeists oder der Volksgeister, aber der jeweiligen
Kulturseele. Historistisch ist Spenglers kulturimmanenter Entwicklungsgedanke und
sein relativierendes Individualitätsprinzip, biologistisch immerhin seine Vorstellung
von „höheren Organismen“, darwinistisch seine Idee vom bevorstehenden Kampf
um die Weltmacht, apokalyptisch sein Untergangsthema, formuliert nach Otto
Seecks ›Geschichte des Untergangs der antiken Welt‹ von 1895. Nicht jedermanns
Sache ist Spenglers heroisch gemeinter Kommandoton, der ebenso gewöhnungs
bedürftig ist wie der Predigerstil Toynbees.
5e. Offener als andere Geschichtsphilosophen bekennt sich Spengler zum Fata-
lismus. Sein Schlußspruch – übernommen von Kant oder Schopenhauer99 –ist ein
von Cicero latinisierter Vers des Stoikers Kleanthes, den ein Brief Senecas überlie-
fert: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Frei übersetzt: „Willigen wir ein, so
führt uns das Schicksal an der Hand, willigen wir nicht ein, so reißt es uns an der
Kette.“ Schicksal ist das, was wir nicht ändern können, also das Vergangene. Ändern
können wir Gegenwärtiges. Was möglich ist, erfahren wir durch den Versuch, nicht
durch die Lektüre prophetischer Bücher. Daher empfiehlt sich eher eine andere
Maxime aus demselben Seneca-Brief. Optimum est pati, quod emendare non possis.100
„Den Zustand, den du nicht verbessern kannst, den ertrage am besten in Geduld.“
Aber nur den.
XIV. Geschichtsbiologismus
den Menschen aber bloß auf Mitgift und Morgengabe geschielt und damit die Bür-
gerschaft verdorben werde. Platon forderte Zuchtwahl. Es sei lächerlich, wenn die
Menschen sich Mühe gäben, leistungsfähige Jagdhunde und Kampfhähne heran
zuzüchten, ihren eigenen Nachwuchs aber dem Zufall überließen. Daher soll-
ten Elternpaare mit Überlegung zusammengestellt und von den Kindern nur die
kräftigeren aufgezogen werden, ähnlich wie das in Sparta geschah.6 Beides, meinte
Platon, müsse wegen der weitreichenden Folgen in die Hände des Staates gelegt
werden.
e. Der Gedanke einer biologischen Ungleichheit der Menschen hat seinen
bedeutsamsten Ausdruck im antiken Barbarenbild gefunden. Der Terminus barba-
ros ist gemäß Strabon lautmalend, er bezeichnet in der Ilias einen Menschen, der
eine unverständliche Sprache spricht.7 Später ist er auf eine urtümliche Lebensweise
bezogen worden, von der Herodot und die Fortschrittstheoretiker meinten, daß
man sie ablegen könne zugunsten einer zivilisierten griechischen Lebensart. Muster
ist der Skythe Anacharsis, der sogar unter die Sieben Weisen gerechnet wurde.8
„Barbar“ ist hier eine historische und kulturelle Kategorie, keine biologische. Platon
und Aristoteles behaupteten jedoch, das Barbarentum sei natürlich begründet; sie
sprachen von geborenen Barbaren, die Sklavenseelen besäßen. Seitdem finden wir
in der Antike zwei gegensätzliche Menschenbilder: das stoisch-christliche Konzept
von der Einheit und Gleichheit aller Menschen und die Zweiteilung in Kulturmen-
schen und Barbaren.9
f. Der Barbarentopos ist in der Spätantike jedoch von christlichen Autoren auf-
gegriffen worden, indem Prudentius den Unterschied zwischen Römern und Barba-
ren, Gregor von Nazianz den zwischen Orthodoxen und Häretikern dem Unter-
schied zwischen Menschen und Vierfüßlern gleichsetzte. Das aber blieb Ausnahme.
Augustin betonte, daß die Tiere mit den Menschen nicht durch die Vernunft (ratio)
verbunden seien. Gott habe sie zum Nutzen der Menschen geschaffen. Die Tiere
besitzen nach christlicher Auffassung nicht nur keine Vernunft, sondern auch keine
Seele. Sie sind nicht der Erbsünde verfallen, werden nicht erlöst und kommen nicht
ins Reich Gottes. Sie sind ja auch nie aus dem Paradiese vertrieben worden. Inso-
fern wurde in der christlichen Denktradition das Distanzgefühl des Menschen zum
Tier vertieft.10
g. Sah die archaische Frühzeit den Menschen im Tier, so entdeckte die moderne
Wissenschaft das Tier im Menschen. Der Unterschied verschwand 1748 in dem
Buch ›L‘homme machine‹ von Lamettrie. Er beschrieb den menschlichen wie den
tierischen Organismus als mechanisches Getriebe. Damit liegt die Grundvorausset-
zung des Biologismus und der Sozialanthropologie vor: die Annahme, daß der
Mensch, sein Verhalten, seine Geschichte begriffen werden müsse und hergeleitet
werden könne aus seiner körperlichen Verfassung, aus seiner Zugehörigkeit zum
Tierreich. Der Geist wird zur Funktion der Keimzellen, die Geschichte zum Appen-
dix der Phylogenese, die Historie zu einem Kapitel der Verhaltensforschung.
geschoben hätten, und sei erloschen, als sich die edle Herrenrasse mit den min
derwertigen Sklaven vermischte. Schließlich seien die biologisch degenerierten
Römer den rassereinen Germanen unterlegen, doch drohe heute auch diesen der
unweigerliche Marsch in den Abgrund. Die Rassereinheit lasse sich nicht aufrecht-
erhalten.
1e. Nach den optimistischen Geschichtsphilosophien der Aufklärung, des Idea-
lismus und des Materialismus wird hier zum ersten Mal eine kompromißlos pessi-
mistische Theorie vertreten. Der einzige Lichtblick schien Gobineau die Ausbrei-
tung des Christentums, es bringe den Völkern das Seelenheil, nicht aber die Kultur.
Das Christentum schien kulturell indifferent, der Buddhismus eine Perversität, der
Patriotismus eine kanaanäische Monstrosität, Gerechtigkeit ein Hirngespinst,
Kunst eine Hure und Verführerin, Nächstenliebe eine sentimentale Illusion14.
Gobineau endet in der Erwartung eines – hoffentlich heroischen – Untergangs. Das
Ende der Geschichte sei mit der Vollendung der Rassenmischung erreicht, wenn
eine allgemeine mittelmäßige Gleichheit herrsche. Die Untergangsvision gefiel
Richard Wagner. Sein „Herzenswunsch“ war, das „Racenbuch verdeutscht und in
unserem Lande eingebürgert zu sehen“. Dieser Wunsch wurde 1898 bis 1901 von
Ludwig Schemann unter dem Titel ›Versuch über die Ungleichheit der Menschen-
rassen‹ erfüllt. Im ›Ring des Nibelungen‹ hatte Wagner die Idee Gobineaus auf die
Bühne gebracht,15 die ›Götterdämmerung‹ ist der gelungene grandiose Untergang.
2c. Diese Scheu hatte Jean de Lamarck 1809 in seiner ›Philosophie zoologique‹
nicht. Er ging davon aus, daß, so wie nach der Bibel alle Menschen von Adam und
Eva abstammen, in der Natur alle Lebewesen Nachkommen eines gemeinsamen
Urahns seien. Lamarck erkannte, daß die gegenwärtige Artenvielfalt nach und nach
entstanden ist, so wie in der Bibel zuerst die Pflanzen, danach die Tiere und zuletzt
der Mensch geschaffen wurden. Darwin hat diese Erkenntnis popularisiert. Er
ersetzte die Schöpfungswoche durch die Stammesgeschichte, die Phylogenese.
2d. Die Vervielfältigung erklärte Darwin mit der Änderung im Erbgut einzelner
Exemplare einer Art durch erworbene Eigenschaften. „Änderungen der Gewohn-
heiten bringen eine erbliche Wirkung hervor“,21 wie schon Lamarck erkannte.
Deren Vermehrung führt zum struggle for life, zum „Kampf ums Dasein“. Diesen
schon von Leibniz und Herder vertretenen Gedanken entnahm Darwin dem ›Essay
on the Principles of Population‹ von Thomas Robert Malthus (1798). Dessen These
vom struggle for existence unter den sich vermehrenden Menschen auf begrenztem
Raum, den britischen Inselkomplex, übertrug Darwin auf die Tiere und die Pflan-
zen. Sah die Romantik in der Natur ein harmonisches Miteinander der Geschöpfe,
ein Bild des Friedens, erkannte Darwin dort einen permanenten Kriegszustand
sowohl zwischen den Angehörigen der gleichen Art im Interesse der je eigenen
Reproduktion als auch zwischen Arten mit gleichem Ressourcenbedarf zum Zwecke
der Ausbreitung. Der Daseinskampf führe zur natural selection, der natürlichen
Auslese, und – nach der Formel von Herbert Spencer – zum survival oft the fittest.
Die ausgestorbenen Arten, heißt es, hätten sich dem Konkurrenzkampf nicht
gewachsen gezeigt, waren demzufolge biologisch minderwertig. Das „amüsierte“
Marx. Am 18. Juni 1862 schrieb er an Engels, Darwin erinnere ihn „an Hegel in
der ›Phänomenologie‹, wo die bürgerliche Gesellschaft als geistiges Tierreich“
erscheint, „während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figu-
riert.“22 Marx stand dem Gedanken nicht fern.
2e. Da bei Darwin die Arten nicht seit dem Paradies vorhanden sind – so noch
Linné 1735 –, sondern in langen Zeiträumen durch Erbfolge entstanden, wird die
Geschichte der lebendigen Natur als Evolution gedeutet.23 Das Wort e-volutio liegt
der Lehnübersetzung Ent-wicklung zugrunde und bezeichnet ursprünglich die Aus-
wicklung eines volumen, einer Buchrolle, ähnlich dem Begriff explicatio.24 Dessen
bewußt, verwendete Kant „Auswicklung“ anstelle von „Entwicklung“. Bei der evo-
lutio im Ursinne haben wir es mit einem Schreiber, einem Medium und einem
Leser zu tun. Diese drei Größen verschmelzen in der Evolution. Die Natur wird
nicht entwickelt, sondern sie entwickelt sich selbst kraft einer eingebauten Motorik,
sie erfordert weder einen Gott (als Schreiber) noch einen Biologen (als Leser), beide
werden sozusagen vom Medium absorbiert, ihre Funktion verschwindet. Der Text
einer Buchrolle steht fest, bevor sie ausgewickelt wird und gibt sich nur im Vorgang
des Lesens nach und nach zu erkennen. Das Evolutionsgeschehen hingegen ist
inhaltlich nicht im Voraus festgelegt. Eine Buchrolle ist irgendwann ganz ausgewic-
kelt, und nur was irgendwann entwickelt ist, entwickelt sich. Ein Abschluß der
Evolution aber ist nicht erkennbar.
2f. Der Inhalt eines Buches muß keine folgerichtige Erzählung sein. Dagegen
rechnet die Evolutionstheorie mit einer gerichteten Bewegung. Sie zeigt die Entste-
hung immer neuer, darunter immer komplexerer Lebewesen. Deren Vermehrung
wird jedoch gemäß der Selektion durch eine gleichzeitige Verminderung konterka-
riert. Nach neueren Schätzungen stehen den etwa 3 Millionen lebenden Arten 600
Millionen ausgestorbene gegenüber, das sind 99,5%25. Unsicherheit besteht hin-
sichtlich des Artenbegriffs und bezüglich der Tatsache, daß nicht alle lebenden und
erst recht nicht alle fossilen Organismen bekannt sind. Die Vermehrung der Arten
erfolgt mithin nur sukzessiv auf dem Papier, nicht parallel in der Natur. Der
Stammbaum der Artenentwicklung ist ein Baum mit ganz überwiegend toten
Ästen. Darwin selbst hat ihn gezeichnet.26
2g. Die Komplexität im Bau von Organismen hat in der Ahnenreihe vom Ein-
zeller zu Einstein zugenommen. Sie wird als „Höherentwicklung“ oder Anagenese
verallgemeinert und positioniert den Menschen auf der höchsten Stufe der
Leibniz’schen scala naturae. Die höchste Stufe aber ist nicht die letzte. Das lehren
die nach dem Menschen entstandenen, weniger komplexen Arten, etwa unter den
Insekten. Höhere Komplexität garantiert zudem nicht eine gesteigerte Überlebens-
fähigkeit. Je schneller sich die Menschheit vermehrt und modernisiert, desto eher
sind ihre Subsistenzmittel verbraucht. Ob die Lebensdauer des Menschen als Spe-
zies je die über 200 Millionen Jahre des Süßwasserkrebses (Triops cancriformis)27
erreichen wird, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich aber überleben uns die Ratten
oder Ameisen, auf die dann die Krone der Schöpfung übergeht.
2h. Sehen wir ab von der Selbsterhöhung des Menschen zum Non plus ultra der
Evolution, findet sich in der Stammesgeschichte kein telos, wie es der Entwicklungs-
begriff sprachgeschichtlich voraussetzt. Denn er wurde zunächst von der Buchrolle
auf das einzelne Lebewesen übertragen, dessen Entwicklung ein zielgerichteter Vor-
gang ist und in der Phase der Fruchtbarkeit ihren Höhepunkt, ihr telos findet. Das
ist die aristotelische entelecheia. Dagegen führt die „Evolution“ ins Blaue, ist plan-
lose Veränderung, immer neue Anpassung an immer neue Umstände, ist perma-
nente Metamorphose. In der Lebenswelt vervollkommnet sich nichts, alle biologi-
schen Arten tragen, wie schon Nietzsche bemerkte, ihr Entwicklungsziel in sich, in
ihrer eigenen Lebensfähigkeit.28 Die Natur ist zu jedem Zeitpunkt komplett, immer
perfekt; Ranke würde sagen: jedes Stadium der Evolution ist unmittelbar zu Gott.
2i. Darwin aber sah das anders. Er verstand die Stammesgeschichte als Fort-
schrittsprozeß, denn er glaubte, der Daseinskampf „verbessere“ die „Rasse“, da die
siegbringenden Eigenschaften sich vererbten. Als unbewußter Hegelianer vertrat er
eine Theodizee der Natur, eine Biodizee. Denn 1859, am Ende seines Buches,
schreibt er: as natural selection works solely by and for the good of each being, all corpo-
ral and mental endowments will tend to progress towards perfection. Darwin überträgt
mit der Optimierung wieder einen Gedanken aus der Kulturgeschichte auf die Bio-
logie. Progressive Perfektion ist naturhistorisch sinnlos, alle Organismen sind ihrer
Umwelt bereits hinreichend angepaßt. Anders der Mensch, dessen geistige Bega-
bungen allerdings einer Vervollkommnung – vielleicht fähig, sicher aber bedürftig
sind. Mit seinem hier gezeigten Optimismus vollzog Darwin eine metabasis eis allo
genos, den Übergang zur Teleologie, zur Geschichtsphilosophie. Darin folgt er Kant.
Dieser hatte 1784 mit Blick auf den Menschen erklärt: „Alle Naturanlagen eines
Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“,
d. h. im Laufe der Geschichte gemäß der „teleologischen Naturlehre“, ohne welche
es nur das „trostlose Ungefähr“ einer „zwecklos spielenden Natur“ gebe.29 Darwin
vertrat eine Teleologie in Richtung einer ästhetischen „Vollkommenheit“, während
die moderne Biologie von „Teleonomie“ spricht, die Änderung zum Nutzen der
Arterhaltung annimmt.30 Sie endet jeweils kurz vor dem Aussterben der Art. Dies
ist ihr telos.
2j. Im Jahre 1871 erschien Darwins Buch über die Abstammung des Menschen.
Darin heißt es: „Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch auf seine jetzige Höhe
durch einen Kampf um seine Existenz gelangt ... und wenn er sich noch höher ent-
wickeln soll, muß er einem harten Kampf unterworfen bleiben. Sonst würde er in
Indolenz versinken.“ Friede schwächt die Rasse. Der Kampf geht um Lebensraum
und Lebensmittel, geht gegen die Unbilden der Natur und gegen andere Rassen, so
daß Darwin im Kapitel 5 von Teil I unfreiwillig die biologische Rechtfertigung für
Gobineau lieferte. Auch Darwin betonte die Ungleichheit der Menschenrassen und
bescheinigte der kaukasischen, d. h. der weißen Rasse, kulminierend in den Europä-
ern der victorianischen Ära, die höchste Stellung. Die „Wilden“ in Feuerland und
sonstwo, denen Monotheismus, Monogamie und höhere Moral fehlten, erscheinen
bei Darwin als Halbaffen. Innerhalb der weißen Rasse differenziert er nochmals
zwischen den sittlich hochstehenden, durchgeistigten „Sachsen“ (den Briten) und
den „sorglosen, schmutzigen Kelten“ (den Iren).
2k. Diese Differenz bestand nicht immer. Alle Zivilisierten waren einst Barba-
ren. Der Fortschritt beruht laut Darwin primär biogenetisch auf der Vererbung von
körperlichen, geistigen und moralischen Eigenschaften und Gewohnheiten und
basiert sekundär tradigenetisch31 auf Überlieferung durch die anregende Eindrucks-
kraft von Glanzleistungen eventuell kinderloser Genies. Das führe zum Sieg der
höheren Rassen über die niederen, so wie „noch heute“ die zivilisierten Völker auf-
grund ihrer geistigen Überlegenheit überall die „Wilden“ zurückdrängen. Diese
sozialdarwinistische Szenerie, praktiziert im britischen Kolonialismus, sei der Nor-
malzustand der Menschenwelt seit Urzeiten und führe weltweit zu einer Zunahme
der Sittlichkeit. Innerhalb der bereits zivilisierten Völker werde der Fortschritt
durch „Weiterzüchtung“ der Begabten und Gesunden und durch „Ausscheiden“
der Minderbemittelten gefördert, indem Verbrecher hingerichtet oder eingesperrt,
Schwermütige und Geisteskranke ausgegrenzt werden.32
2l. Die weitere Entwicklung zur Vollkommenheit sei jedoch durch zwei Hinder-
nisse bedroht. Das eine liege darin, daß die „Hochwertigen“ weniger Kinder haben
als die „Minderwertigen“ und die primitiven Völker sich rascher vermehrten als die
zivilisierten, so die Iren „wie die Kaninchen“; und das andere Problem erwachse
daraus, daß die zivilisierten Völker im Wohlstand verkümmerten. Darwin verwen-
det das klassische Dekadenzmodell.33 Sein Beispiel sind die alten Griechen, die
unterlagen, nachdem sie, wie er meint, in der Pax Romana entnervt und verderbt
waren. Werden die Lebensbedingungen immer günstiger, führt das zwar bei Pflan-
zen und Tieren zu einer Vermehrung, bei Menschen aber zu Indolenz und Deka-
denz, da die lebenserhaltende Kampfkraft schrumpft.
2m. Diese Degeneration verbindet Darwin mit der Aufhebung der natürlichen
Selektion durch die Medizin und die Moral. Man kann sich das klar machen: In
jeder Art gibt es Exemplare mit Geburtsfehlern. Das ist nicht schlimm, denn ein
dreibeiniger Wolf oder ein blinder Kuckuck hinterläßt keine Nachkommen. Der
Mensch hingegen kompensiert seine Defekte durch Prothesen, schädigt durch Fort-
pflanzung von Behinderten die rassische Erbgesundheit und verhindert die natural
selection, das survival of the fittest. Kranken, meinte Darwin, solle man helfen, das
Impfen aber unterlassen und „Minderwertigen“ das Kinderkriegen verwehren.
2n. Humanität, auch Tierliebe, ist für Darwin die höchste Tugend. Durch Ver-
erbung wird die Menschheit immer tugendhafter, doch das führt zur Degeneration
der höherstehenden Rassen. Darwin demonstriert das an den Haustieren, die vom
Menschen durch Auslese aufwärts gezüchtet werden (zu Gunsten des Nutzens),
während er sich selbst durch Nächstenliebe abwärts züchtet (auf Kosten der Wider-
standskraft). Das Mitleid durchkreuzt die stärkende Wirkung der Selektion, wie
Nietzsche unterstrich34. Darwin zitiert zustimmend Theognis, der die Haustier-
zucht als Muster für Rassenpflege empfahl.35 Darwins Glaube an die bevorstehende
Vervollkommnung wird durch die von ihm klar gesehenen tragischen Konsequen-
zen seines rassebiologischen Konzeptes erstaunlicherweise nicht erschüttert. Sein
Trost ist, daß bisher die Fortschritte der Menschheit ihre Rückschritte bei weitem
übertroffen hätten.36
2o. Eine Lösung für Darwins Dilemma bot sein Vetter Francis Galton (1822 bis
1911), der Begründer der Eugenik und Erfinder dieses Begriffs. Um die sich
vermehrenden Erbschäden auszuschalten, dürften nur highly endowed parents zur
Fortpflanzung zugelassen werden. So ließe sich die Rasse im Sinne von Darwins
Fortschrittstheorie verbessern, indem der Staat zum Gestüt wird. Galton wurde
Ehrenpräsident der bis heute bestehenden Gesellschaft für Menschenzüchtung, der
Eugenics Society, die er 1908 in London gegründet hatte. 1909 wurde Galton
geadelt,37 sein Problem aber blieb ungelöst. Ja, es verschärfte sich, seit klar ist, daß
anders als im Tierreich bei den Menschen die fähigeren weniger Nachkommen
haben als die Menschen mit geringem Intelligenzquotient. Noch Jacques Monod
fürchtete daher die „genetische Entartung der modernen Gesellschaft.“38
2p. Der Darwinismus war in Deutschland so populär, daß er sogar Thema von
Debatten im Berliner Abgeordnetenhaus war, wie Dilthey im Februar 1883 an Graf
Yorck schrieb. Darwins German bulldog39 war Ernst Haeckel (1834 bis 1914). Er
erklärte die Anthropologie zu einem Teil der Zoologie und die Weltgeschichte zu
einem „Teil der organischen Entwicklungsgeschichte“, die „stufenweise zu höherer
Cultur“ emporführe. Während Darwin – schon im Hinblick auf seine fromme Frau
Emma geb. Wedgwood – stets auf dem Boden der christlichen Tradition verblieb,
erhob Haeckel den Biologismus zu einer vehement antikirchlichen Fortschrittsreli-
gion, die er „Monismus“ nannte, nach griechisch monos – „einzig“. 1892 veröffent-
lichte er sein „naturwissenschaftliches Glaubensbekenntnis“ unter dem Begriff
„Monismus“, in dem er – wie schon Seneca und Plinius – Gott und Natur gleich-
setzte.40 Der von ihm 1906 gegründete pantheistisch-theophysikalische Deutsche
Monistenbund mit seinen sonntäglichen Morgenandachten erhielt Zulauf aus dem
progressiven, naturgläubigen Bildungsbürgertum. Haeckel erklärte: „Die Völkerge-
schichte ... muß ... größtenteils durch ‚natürliche Züchtung‘ erklärbar sein, muß
ein physikalisch-chemischer Process sein, der auf der Wechselwirkung der Anpas-
sung und Vererbung in dem Kampf der Menschen um’s Dasein beruht“. Mit sei-
nem Pandarwinismus hoffte Haeckel auf die Erfolge künstlicher Züchtung, deren
Vorbild ihm Sparta war. Er fürchtete die Folgen der unbiologischen Sozialfürsorge,
die den Kulturverfall bewirke, so wie die christliche Nächstenliebe durch Schwä-
chung der Rasse den Untergang Roms zu verantworten habe.41
2q. Darwins Leistung für die Biologie liegt in der Bestätigung und Verbreitung
von Lamarcks These der Abstammungsgemeinschaft aller Lebewesen. Die von bei-
den Forschern gebotene Erklärung für die Differenzierung der Arten, die Vererbung
umweltbedingt erworbener Eigenschaften, wurde durch die Entdeckung der Zufäl-
ligkeit genetischer Mutationen widerlegt.42 Darwins Universalformeln, die aus der
Menschengeschichte stammen, sind teils anfechtbar, teils nichtssagend. Kampf ums
Dasein ist in der Natur die Ausnahme, die Regel ist das Miteinander der Arten. In
der Geschichte herrscht nicht struggle for life, sondern struggle for luxury. Politik ist
Kampf ums Sosein. Selektion ist weder in der Natur noch in der Geschichte pro-
duktiv, sondern bewirkt Verarmung. Perfektion durch gesteigerte Leistungsfähig-
keit findet sich im Sport und in der Technik, nicht aber bei Tieren und Pflanzen.
Vermehrung der Individuen verkürzt die Lebensdauer der Art. Nach der Formel
survival oft he fittest müßten sämtliche Lebewesen seit Beginn des Kampfes an fitness
gewonnen haben. Das gilt nicht für Pflanzen und Tiere, wohl aber für die Europäer,
das zeigen die Kolonialkriege. Nicht zufällig hatte der Darwinismus im Zeitalter des
Imperialismus bei den Historikern Konjunktur.43 Daß da, wo es zum Kampf
kommt, der Stärkere, besser den äußeren Erfordernissen Angepaßte sich behauptet
und der Schwächere, weniger Anpassungsfähige unterliegt und verschwindet –
welch eine Erkenntnis!
kraftstrotzender Hand ergreift“. Das Erwachen der lange recht schläfrigen Germa-
nen vollzog sich langsam, erst die Zeit um 1200 habe das vollendet. Diese Epoche
deutet Chamberlain als Angelpunkt der Geschichte. Den Kulturen außerhalb der
europäischen Tradition billigte Chamberlain keine Geschichte und kein histori-
sches Interesse zu. Ihnen fehle „das Moment der moralischen Größe.“ Das erinnert
an Hegel.47
3d. Chamberlain verbindet mit dem Eintritt der Germanen in die Geschichte
den Beginn eines neuen Tages, weil er die griechisch-römische Antike als eine nicht
entwicklungsfähige Phase der Weltgeschichte betrachtet. Engels hatte die Alte
Geschichte in einer „Sackgasse“ enden lassen, und eben dieser Meinung war auch
Chamberlain, nur begründete er sie anders. Bei aller Bewunderung für die Grie-
chen, die in den Persern die orientalische Gefahr überwunden hätten; bei allem
Respekt vor den Römern, die in den Karthagern den semitischen Erbfeind aller
Kultur abgewehrt hätten, meint Chamberlain doch im Völkerchaos, der cloaca gen-
tium des „pseudo-römischen Imperiums“ einen unabwendbaren Grund für die
Dekadenz der antiken Kultur gefunden zu haben.48 So wie vor ihm Herder ist
Chamberlain entschiedener Gegner jedes Imperialismus, der über die Grenzen
eines Volkstums, einer Rasse hinausgreift. Mit Caesar, meint Chamberlain, habe
das Rassenchaos begonnen. Caracalla habe durch die Verleihung des römischen
Bürgerrechts an alle Provinzialen in der ›Constitutio Antoniniana‹ 212 das Chaos
„zum offiziellen Prinzip des römischen Reiches“ erklärt, und damit war das Impe-
rium dem Untergang geweiht. Nur die Germanen konnten hier Abhilfe schaffen,
darin ist Chamberlain mit Engels einer Meinung, bloß daß dieser sie sozialökono-
misch, jener rassenbiologisch begründete. Die Germanen hätten mit der „Seelen-
barbarei der zivilisierten Mestizen“ aufgeräumt.49
3e. Als Voraussetzung für den Erfolg der Germanen betrachtet Chamberlain das
Christentum. „Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der gesamten
Geschichte der Menschheit“. Allerdings versteht Chamberlain das Christentum
nicht in erster Linie als Religion der Liebe, sondern als Lehre vom Wert der Einzel-
persönlichkeit, denn nur deswegen sei Liebe sinnvoll. Die christliche Eschatologie
deutet Chamberlain als zeitbedingten Mythos. Mit der Feindesliebe und dem Kreu-
zestod habe Jesus ein Ideal von Willensstärke und Heldentum aufgerichtet, das
andere historische Erscheinungen in den Schatten stelle. Die Kirchengeschichte
erscheint ihm die Kinderkrankheit des Christentums, dessen Tiefe erst in einer
künftigen christgermanischen Weltanschauung ausgelotet werde.50
3f. Chamberlains überaus positives Bild von Jesus paßt nun aber durchaus nicht
zu seiner Vorstellung vom kaiserzeitlichen Judentum. Er legt Wert auf Jesu galilä-
ische Herkunft und gibt sich große Mühe mit dem Nachweis, daß die Galiläer ins-
gesamt und Jesus im besonderen nicht der jüdisch-semitischen Rasse zugerechnet
werden dürfen. Jesu rassische Zugehörigkeit läßt er offen, er geht nicht so weit wie
andere,51 die Jesus als Arier in Anspruch nahmen. Chamberlains Haltung gegenüber
den Juden insgesamt entspricht dem, was von einem Schwiegersohn Wagners zu
erwarten ist. Vor den frühen Propheten empfindet Chamberlain Achtung, der Ras-
senstolz der Juden erfüllt ihn mit Neid. Eine persönliche Verunglimpfung der Juden
lehnt er ab, denn sie handelten wesentlich rassebewußter als die Germanen. Wenn
diese nicht aufpaßten, gäbe es bald „in Europa nur noch ein einziges rassenreines
Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen.“52
3g. Der Antisemitismus hat mit der Rassenlehre ursprünglich nichts zu tun. Die
Juden gehören zur weißen Rasse und haben ihre Kulturfähigkeit wahrlich bewiesen.
Die Abneigung gegen sie richtete sich sowohl in der Antike als auch im Mittelalter
gegen ihre exklusive Religiosität, bei den Christen traf sie der Vorwurf des Gottes-
mordes.53 Gobineau brachte ihnen wenig Sympathie entgegen, wiewohl er sie not-
gedrungen zu den Weißen zählte, doch war es Eugen Dühring, der 1880 mit seiner
Schrift ›Die Judenfrage als Frage des Rassencharakters und seiner Schädlichkeit für
Existenz und Kultur der Völker‹ beanspruchte, die Juden als Rasse entdeckt zu
haben. Seitdem wurden Tagrassen und Nachtrassen unterschieden. Dühring for-
derte schon damals die – wie auch immer gedachte – Beseitigung des Judenvolkes.
3h. Chamberlain begnügte sich mit der Abwehr. Dies aber schien ihm nötig,
denn die Vermischung mit Juden bedrohe die Eigenart der germanischen Kultur.
Das was Rassen auszeichnet, ist letztlich nichts anderes als Eigenart, Charakter,
Individualität. Eine Kulturrasse ist Träger einer Idee. Der Rassenbiologismus wäre
demnach lediglich eine Form der Herausbildung von Individualitäten, und Cham-
berlain nennt als notwendige Voraussetzung edler Rassen die „fortgesetzte Inzucht“,
ja die geplante „Zuchtwahl“ im Hinblick auf die erwünschten Merkmale. Im
menschlichen Bereich gälten dieselben Gesetze wie bei der Züchtung von Bull-
doggen. Jeder Rassenbildung gehe eine Rassenmischung voraus, die zwar in Spät-
zeiten – so heute – destruktiv ist, aber in Frühzeiten produktiv war. Das freilich
entwertet das von Chamberlain geschätzte Wort Darwins crossing obliterates charac-
ters, „Kreuzung verwischt die Gepräge“. Es kommt immer darauf an, was man
unter Charakter versteht.54
3i. Aus Chamberlains biologistischer Geschichtskonzeption erklärt sich auch
seine Wertung des Instinkts, da der Geist überhaupt bei ihm als bloße Ausdrucks-
form biologischer Gegebenheiten erscheint, so wie für Marx der Geist nur Aus-
drucksform ökonomischer Situationen war. Mit Marx stimmt Chamberlain auch
darin überein, daß er Staat und Kirche nicht als mögliche Gegenstände von
Geschichte akzeptiert. Beides sind ihm lediglich abgeleitete Größen, die Marx
sozialökonomisch, Chamberlain rassenbiologisch bestimmte.55
*
3j. Der Biologismus steht dem Materialismus nahe, da dieser die Geschichte als
„naturwüchsigen“ Vorgang verstand. Schon Marx und Engels haben Darwin
geschätzt, und zwar nicht nur als Biologen. Vielmehr glaubten sie, das Prinzip der
Konkurrenz von ihm auch in der Natur vorgefunden zu haben und daher universal
bestätigt zu sehen. Beide Autoren spielen gleichsam eine darwinistische Melodie auf
ihrem sozialistischen Klavier. Bei Engels wird das deutlich in seiner Polemik gegen
den demokratischen Panslawismus von 1849. Dort rechtfertigte er die Eroberungen
zivilisatorisch fortgeschrittener Völker mit der zivilisierenden Wirkung ihrer Herr-
schaft auf die Unterworfenen: der USA gegen Mexiko, der Englaänder gegen die
Inder, der Deutschen gegen die Slawen. Die kleineren slawischen Völker erklärt
Engels als nicht lebensfähig – insbesondere die Tschechen. Er sprach von slawischen
„Sauvölkern“. Konsequent urteilte Marx 1853: „Unterliegen müssen jene Klassen
und Rassen, die zu schwach sind, die neuen Lebensbedingungen zu meistern“. Hier
wird der darwinistische Lebenskampf als Geschichtsgesetz betrachtet.56
3k. Eine Parallele zwischen Historischem Materialismus, patriotischem Histo-
rismus und rassistischem Biologismus finden wir in der Objektivitätsfrage. So wie
der Historische Materialismus eine Parteilichkeit zugunsten der progressiven Partei
fordert, der patriotische Historismus zugunsten von Volk und Vaterland, so erklärte
Chamberlain: „nicht aus dem Wolkenkuckucksheim einer übermenschlichen
Objektivität habe ich meine Urteile gefaßt, sondern vom Standpunkt eines bewuß-
ten Germanen.“ Da die Allgemeinverbindlichkeit ein Kriterium von Rationalität ist
und weil Vernunft die Freiheit von ökonomischen oder biologischen Determinan-
ten fordert, sind Parteilichkeit und Determinismus irrationale Haltungen. Cham-
berlain hätte dies auch nicht als Einwand empfunden, denn Rationalität gehört
zum Feindbild, gefordert wird Glaube. Er klagt: „An dem Mangel einer wahren
Religion krankt unsere ganze germanische Kultur ... daran wird sie noch, wenn
nicht beizeiten Hilfe kommt, zu Grunde gehen.“57 Wie Comte, Marx und Haeckel
erweist sich Chamberlain als Karikatur eines Religionsstifters.
3l. Der Wunsch nach praktischen Folgerungen aus der biologischen Einsicht
wurde laut und lauter. Um 1900 war der Biologismus eine starke Strömungen im
Geistesleben Europas und Nordamerikas58. Mehrere Zeitschriften widmeten sich
der Eugenik. Den Vorsitz in der Rassenhygienischen Gesellschaft Großbritanniens
übernahm ein Sohn Darwins. Sterilisation von Untauglichen war in England ange-
wandte Politik, im Staat Idaho in den USA betraf das sogar „sittlich Entartete“ und
„sexuell Perverse“.59 Im Jahre 1900 stiftete Friedrich Krupp eine beträchtliche
Summe für die Jenenser Preisaufgabe: „Was lernen wir aus den Prinzipien der
Deszendenztheorie für die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der
Staaten?“ Der Preisträger, Wilhelm Schallmayer, demonstrierte in seinem Werk
›Vererbung und Auslese‹ von 1903 am Untergang Roms die rassenverderbende Wir-
kung von Knabenliebe und Prostitution, von Lebensgier und Luxus, aber auch von
Wehrdienst und Kriegführung. Europa degeneriere im Gefolge der Vereinigten
Staaten von Amerika, wenn es sich nicht auf seine alten Werte besinne und die
Vereinigten Staaten von Europa gründe. Die Preiszuteilung entfachte Entrüstung,
weil Schallmayer moralische Verhaltensweisen für wichtiger erklärte als biologische
grund der Rassenmischung nicht die Leistungshöhe gehalten habe, wie sie im Nor-
den zu beobachten sei. Gegen die „eiserne Logik der Natur“ könne keiner versto-
ßen, ohne die Quittung zu bekommen, d. h. die Dekadenz. Darwins Gedanke, daß
der Mensch einer höheren Natur verpflichtet sei, war für Hitler ein Indiz entarteter
Rasse. Pazifismus sei erst dann angezeigt, wenn die edelste, nämlich die arische
Rasse sich durchgesetzt habe. „Alle großen Kulturen der Vergangenheit gingen nur
zugrunde, weil die ursprünglich schöpferische Rasse an Blutsvergiftung starb.“ Die
heutige Kultur aber sei „nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers“,
auch die Japaner verdankten ihre Entwicklung dem arischen Geiste, dessen Errun-
genschaften sie lediglich fortsetzten.63
3p. So wie Proudhon gemäß Marx die nordamerikanische und Engels die antike
Sklaverei als unabdingbar für den Fortschritt erklärt hatte64, so sah das auch Hitler:
Der Arier errichtete die Kultur auf der Versklavung der niederen Rassen, bevor er
Maschinen besaß. „Der Fortschritt der Menschheit gleicht dem Aufstiege auf einer
endlosen Leiter. ... Alles weltgeschichtliche Geschehen ist aber nur die Äußerung
des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.“65
3q. Als den polaren Gegensatz zum Arier betrachtet Hitler den Juden. Er bilde
eine außerordentlich zähe Rasse, gehe aus jedem Unglück gestärkt hervor, setze sich
in jedem Volk an die Spitze, führe aber eine kulturell und ökonomisch parasitäre
Existenz, weil er keine eigenen Leistungen hervorbringe, sondern bloß Fremdes sich
aneigne und weiterentwickle. Die Verbindung von Intellektualität und Selbstbe-
wußtsein mache die Juden gefährlich, dabei spiele deren Religion eine Nebenrolle,
entscheidend sei ihre Rasse. Die gefährlichsten Ausprägungen des Judentums sah
Hitler einerseits im Bolschewismus, andererseits im Wallstreet-Kapitalismus.66
3r. Über seinen Völkermord hat er 1941 auch im engeren Kreise seiner ›Tisch-
gespräche‹ nur dunkle Andeutungen gemacht. Er hielt das Gemüt der Durch-
schnittsdeutschen für zu sentimental, um seinen Dienst an der Menschheit durch
ein solches Opfer zu akzeptieren. Aber es gehe nicht an, daß die deutschen Soldaten
an der Front verbluteten, während die Juden daheim sich fröhlich vermehrten. Der
Rassenkampf erscheint ihm ein Gesetz der Natur: „Man kann es schrecklich finden,
wie in der Natur eines das andere verzehrt. Die Fliege wird von der Libelle, diese
von einem Vogel, der wieder von einem größeren getötet. Das Größte ist, wenn es
alt wird, die Beute von Bakterien ... So viel ist sicher: ändern kann man das nicht!
... Wenn ich an ein göttliches Gebot glauben will, so kann es nur das sein: die Art
zu erhalten!“ In diesem Geiste hat er den Zweiten Weltkrieg eröffnet und die Juden
vernichtet. „Wer hat die Schuld, wenn die Katze die Maus frißt?“67 Hitler entlastete
die Alliierten.
3s. Hitler hat angesichts des Untergangs seine Philosophie nicht aufgegeben,
sondern sie bloß anders angewendet. Am 19. März 1945 zog er gegenüber Albert
Speer die Konsequenz: Wenn der Krieg verloren gehe, habe sich das deutsche Volk
als das schwächere erwiesen „und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die
Zukunft“. Hitler wiederholte damit nur, was er bereits in seinem ›Kampf‹ geschrie-
ben hatte: „Unterliegt aber ein Volk..., dann wurde es eben auf der Schicksalswaage
zu leicht befunden“, die „ewig gerechte Vorsehung“ mache keine Fehler.68 Hitler
spielt an auf das Menetekel im Buch Daniel, verwendet in grausamer Ironie selbst
ein biblisches, ein jüdisches Denkbild.
4. Freuds Pessismismus
4a. Das Geschichtsbild des Wiener Arztes und Psychologen Sigmund Freud (1856
bis 1939) findet sich vornehmlich in den drei Schriften ›Die Zukunft einer Illusion‹
von 1927, gemeint ist die Religion; ›Das Unbehagen in der Kultur‹ von 1930 und
›Der Mann Moses‹ von 1939, ursprünglich mit dem Untertitel „Ein historischer
Roman“.69 Freuds Geschichtsphilosophie fällt nicht im engeren Sinne unter den
Begriff Biologismus, zeigt aber klare Bezüge zu ihm. Das ergibt sich aus Freuds
1933 getroffener Feststellung, die Kulturentwicklung der Menschheit sei ein „orga-
nischer Prozeß“ entsprechend der Haustierzüchtung, und aus Freuds 1938 nieder-
geschriebenem Bekenntnis zur Darwinschen Evolutionslehre. Die Entwicklung der
Kultur erschien Freud als ein unpersönlicher, gleichsam naturhafter „eigenartiger
Prozeß, der über die Menschheit abläuft.“70 Bestimmt wird er von einem biologi-
schen Faktor, dem Sexualtrieb, und zusammengehalten von der angeblichen phylo-
genetischen Erbschaft eines Schuldgefühls.
4b. Die Psychoanalyse führte Freud zu der Einsicht, daß die Menschheitsge-
schichte auf der Ebene des Seelenlebens im Prinzip ebenso abläuft, wie sich der ihm
wohlbekannte psychisch geschädigte Österreicher im fin de siècle von Kind auf ent-
wickelt. Der „kleine Hans“ erlaubte es dem Seelenarzt, die „Völker zu behandeln
wie den einzelnen Neurotiker“.71 Das alte Lebensaltergleichnis, das auf die Über-
windung infantiler Unmündigkeit hoffen läßt, erhält ein biopsychologisches Kor-
sett und dient dazu, die Geschichte als einen Reifeprozeß zu verstehen. Alter und
Tod aber bleiben, wie gewöhnlich, ausgeblendet.
4c. Am Anfang der Geschichte findet Freud die von Darwin angenommene
Urhorde.72 Entsprechend dem naiven Egoismus des Kleinkinds kannte sie noch
keine Konvention, konnte ihren animalischen Trieben freien Lauf lassen, unge-
hemmter Mordlust und Promiskuität frönen.73 Die Horde unterstand der Führung
eines starken Mannes,74 eines „Übermenschen“, der aber von seinen heranwachsen-
den Söhnen ob seiner Allmacht gehaßt und um seinen Harem beneidet wurde.
Dieser Sexualneid, der Ödipuskomplex, führte „eines Tages“75 zum Vatermord der
Brüder. Sie stürzten den Alten, schlachteten ihn und fraßen ihn „nach der Sitte der
Zeit“ gemeinsam roh auf. Das hat sich – ebenso wie das folgende – in Jahrtausen-
den „ungezählt oft wiederholt.“76
4d. Mit dem Mord am Übervater beginnt bei Freud die Kulturgeschichte. Er
unterscheidet zwei Großperioden, die ältere Zeit des Mutterrechts und die jüngere
des Vaterrechts. Diese Zweiteilung geht – nach älteren Vorbildern – zurück auf den
Basler Altertumsforscher und Religionshistoriker Johann Jakob Bachofen (1815 bis
1887). In seinem Werk ›Das Mutterrecht‹ von 1861 sammelte er die Zeugnisse für
die Dominanz der Verwandtschaft über die mütterliche Linie und schloß daraus auf
eine universalhistorische Entwicklungsstufe der Gynaikokratie. In ihr erblickte er
die zweite Phase der Weltgeschichte. Einer ersten Zeit des Hetärismus, in der das
Weib Beute des Mannes war, folgte als zweite das Matriarchat, das drittens durch
das Patriarchat abgelöst wurde. Trotz einer romantischen Verklärung der feministi-
schen Gesellschaftsformation deutete Bachofen den Übergang als Fortschritt, als
Sieg es Lichts über das Dunkel, als Befreiung des Geistes vom Stoff. Dem schloß
Freud sich an, indem er die Mutterschaft auf bloß sinnliche Erfahrung zurück-
führte, während zum Nachweis der Vaterschaft Geist gehöre.77 Die einflußreiche
Theorie Bachofens, der persönlich einer extremen Mutterbindung unterlag, ist von
der späteren Völkerkunde nicht bestätigt worden.78
4e. Der Ödipuskomplex der Urvatersöhne ist bei Freud der Ursprung von „Reli-
gion, Sittlichkeit und Kunst“. Denn die Brüder schlossen eine „Art von Gesell-
schaftsvertrag“, sie begründeten Gleichberechtigung, Moral und Recht und ver-
hängten Triebverzicht, sowie insbesondere – um den Sexualneid zu mindern – ein
Inzesttabu, die „einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben
im Laufe der Zeiten erfahren hat“. Aus schlechtem Gewissen überließen sie ihrer
Mutter die Herrschaft. Damit lieferte Freud die bei Bachofen fehlende Erklärung
für den Ursprung der Gynaikokratie. Nach und nach aber gewannen die Männer
die Herrschaft zurück und erneuerten das Patriarchat. Die Frauen wurden mit der
Einsetzung von Muttergottheiten vertröstet.79
4f. Die Frauen aber blieben zweitrangig. Denn aus drückendem Schuldbewußt-
sein, mithin aus angeborenem Moralgefühl, beförderten die Mordbrüder den toten
Ahnherrn im Sinne einer Wiedergutmachung auf dem Umweg über den Totemis-
mus zum Allgott und Weltenschöpfer.80 Dieser wurde als Symbol der ägyptischen
Weltherrschaftsidee vom Pharao Echnaton in der Gestalt der Sonne verehrt. Dessen
Monotheismus vermittelte „Moses, der Ägypter“ an die Juden, und auch deren
Bereitschaft zum Gottesglauben beruhte auf der latenten Erinnerung an den
sühneheischenden Vatermord. Das christliche Abendmahl als sublimierter Sakral-
kannibalismus und der Opfertod des Gottessohnes am Kreuz als Sühne für den
Urvatermord dienten Freud als Bestätigung seiner Erkenntnis.81
4g. Die monotheistische Religion beruht demgemäß auf der psychoanalytisch
begriffenen Erbsünde, sozusagen auf der kryptomotorischen Erblast des urtümli-
chen, unterschwellig durch die Jahrtausende mitgeschleppten kulturstiftenden
Schuldkomplexes, der doch Freuds Lehre vom kulturbedingten Gewissen wider-
spricht.82 Indem Freud die psychoanalytische Genesis Gottvaters aufdeckt, will er
dessen religiöse Geltung aushebeln, so wie einst die Kirchenväter mit dem Argu-
ment des Euhemerismus die Olympier zu entthronen suchten. Freud als Psychopa-
thologe findet es beschämend, daß die Masse der Menschen noch immer der infan-
tilen Illusion der Gotteskindschaft anhängt. Religion ist für ihn „Eiapopeia vom
Himmel“, ein aus dem Sexualneid erwachsener Massenwahn, eine Zwangsneurose
der erbgutgeschädigten Menschheit.83
4h. Das Bild von Gott Vater in seiner Allmacht und seinem Allwissen deutete
Freud als Projektion, als Ausdruck von dem, was die Menschen selber gern wären.
Indes: durch die Mehrung ihres Könnens und ihrer Kenntnisse gewannen sie mehr
und mehr an Gottähnlichkeit, und sie werden diese durch „unvorstellbare große
Fortschritte“ auf dem Gebiete der Kultur „noch weiter steigern“.84 Zugleich hoffte
der im Ersten Weltkrieg Pazifist gewordene Gelehrte, daß die Kriegsgefahr gebannt
würde, indem die angeborene Aggressivität des Destruktions- und Todestriebs sich
auf unschädliche Gebiete ablenken ließe, so 1932 in seinem Brief an Einstein, der
sich diesem verhaltenen Optimismus anschloß.85
4i. Freuds Optimismus ruht auf tief pessimistischer Grundlage. „Bei allen Men-
schen“ – Freud kennt sie alle – sind „destruktive, also antisoziale und antikulturelle
Tendenzen vorhanden“, sie neigen zu Inzest, Kannibalismus, Aggression, Destruk-
tion, Sadismus, Mord und Selbstvernichtung. Daran gehindert, ist der zivilisierte
Mensch freudlos, unfähig zum Glück. Die lustvollen Neigungen werden uns ausge-
trieben, die „edlen“ Eigenschaften eingebläut und dann törichterweise von uns in
inneren Zwang verwandelt.86 Da die Massen triebhaft und unselbständig, „träge
und einsichtslos“ sind, müssen sie von der Elite zum Gehorsam, zur Arbeit, zur
Kultur genötigt werden.87 All das führte 1930 bei Freud und seinesgleichen zum
›Unbehagen in der Kultur‹.
4j. Die Entwicklung des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen erscheint wie
bei Darwin so bei Freud mit janushaftigem Doppelgesicht, als ein höchst ambiva-
lenter Vorgang. Der Fortschritt in der Geistigkeit erfordert die Unterdrückung
naturwüchsiger Sinnlichkeit und benötigt einen permanenten schmerzhaften Trieb-
verzicht. Der kulturkritische Gegensatz zwischen heilsamer Natur und verderbli-
chem Menschenwerk, seit Hippias von Elis hundertfach durchdekliniert,88 erscheint
bei Freud in weiterer Variante. Die kulturelle Kreativität, erzwungen durch eine
herrschende Minderheit, geht auf Kosten genitaler Energie und sexueller Lust.89
Weil der Mensch unter den Zwängen der Konvention sein allein wirklich glück-
bringendes Geschlechtsleben drosseln muß, sucht er „illusionäre Ersatzbefriedi-
gung“ in der narkotisch wirkenden Kunst, in der Literatur, der Technik, der Wis-
senschaft90 und der Zivilisation überhaupt.91 Schon Herder hatte erklärt, „Unter
den Trieben, die sich auf andere beziehen, ist der Geschlechtstrieb der mächtigste“, –
aber nicht der einzige.92 Eine natürliche Neugier, einen angeborenen Ehrgeiz, eine
allgemein menschliche Abenteuerlust, eine primäre Neigung zum Gestalten und
Experimentieren oder den Spieltrieb, wie ihn 1795 Schiller und 1938 Huizinga als
Quelle der Kultur annahmen93 – derartiges zieht Freud nicht in Betracht. Spiel ist
für ihn auch nur ein Surrogat für „von Wünschen verzehrte Menschen.“94 Kultur ist
Geschichte, und endlich die gewisse Hoffnung auf Erlösung der Menschheit, aller-
dings nicht durch die Religion, sondern durch die Psychoanalyse, von der leibfeind-
lichen jüdisch-christlichen Religion.101
unabhängig von einander, polyphyletisch.“ Jede Kultur bilde eine Welt für sich,
genau so wie die „Mannigfaltigkeit der phylogenetisch entstandenen Lebensfor-
men.“112 Das erinnert an Herder: „Jedes Geschöpf hat seine eigene, eine neue
Welt“113 und an Spenglers Kulturinseln in der Vergangenheit des Menschen.
5c. So wie Spengler konzentriert sich Lorenz auf „jene komplexen Systeme, die
wir mit den Geschichtsforschern Hochkulturen nennen.“ Für ihre Entstehung ver-
wandte Lorenz das Wort „Fulguration“. Diese versteht er analog zu „jenen Evoluti-
onsschritten, denen Tierarten ihre Entstehung verdanken“. Fulguration ist mithin
in der Kulturgeschichte das, was in der Naturgeschichte die Mutation ist, unbere-
chenbar und wundersam. Fulguratio bezeichnet bei Seneca Wetterleuchten,114 bei
Lorenz eine Art Geistesblitz der Gottnatur. „Evolution“ und „Schöpfung“ sind für
Lorenz dasselbe.115 Im Unterschied zu dem Agnostiker Darwin und dem Atheisten
Spengler hält Lorenz am Gottesgedanken fest, vermeidet aber den Namen unter
Berufung auf das zweite Gebot im jüdischen Sinn.116
5d. Die Einzelkulturen unterliegen den Gesetzen des organischen Geschehens
und besitzen, wie bei Spengler, ein von ihren jeweiligen Trägern unabhängiges Eigen-
leben.117 Ihre Verwandtschaft mit biologischen Arten ist bei Lorenz nicht metapho-
risch, sondern konstitutiv. Er wundert sich beispielsweise „über die erstaunlichen
Analogien zwischen der phylogenetischen und der kulturellen Entstehung von Sym-
bolen“ und sucht am Anfang menschlicher Kultur jene „traditionsgemäße Ritenbil-
dung“, die er von den Dohlen und Graugänsen her kennt118. Lorenz betrachtet einer-
seits Kulturen als biologische, auf natürlichem Wege entstandene „lebende Systeme“
und andererseits biologische Arten als kommerzielle „Unternehmen mit gekoppeltem
Macht- und Wissensgewinn“ wie die „Badische Anilin & Soda-Fabrik“119.
5e. Zu ihrer Entwicklung bedürfen Kulturen sodann der Isolation120. Genau wie
biologische Arten ihre eigene Umwelt benötigen und sich nicht kreuzen dürfen, um
ihre artgemäßen Besonderheiten zu bewahren und nicht zu „verbastarden“, so müs-
sen auch Kulturen sich vor der Vermischung hüten. Hier klingt Darwin nach. Den
Stolz auf die eigene Gruppe betrachtet Lorenz als instinkthafte Abwehr artfremder
Einflüsse. Differenzierung wertet er als Charakterbildung, als Höherentwicklung,
vermischende „Entdifferenzierung“ dagegen als Niedergangserscheinung. 1940
fürchtete er die Verunreinigung des Blutes durch Heiraten „vollwertiger“ Men-
schen, die dem „Soll-Typ“ der Rasse entsprechen, mit Rassefremden und Asozialen.
Noch 1973 unterschied er zwischen „vollwertigen“ und „minderwertigen“ Men-
schen, die an ihrer Häßlichkeit zu erkennen seien. Nun forderte er statt der rassi-
schen die kulturelle Reinheit. Für sie schien Lorenz insbesondere die Amerikanisie-
rung verderblich.121 Er spricht von dem „drohenden moralischen und kulturellen
Zusammenbruch der Vereinigten Staaten, der höchst wahrscheinlich die ganze
westliche Welt mit in seinen Strudel reißen wird.“122
5f. Die Ausbildung der Eigenart und die „Höherentwicklung“ in den einzelnen
Kulturen vollziehen sich im Wettbewerb mit Nachbarkulturen. Das entspricht der
5j. Der dritte und gefährlichste Dekadenzfaktor ist der Übergang des Sittenver-
falls ins Erbgut. So wie Darwin rechnet Lorenz bei Tieren137 und bei Menschen mit
der Vererbung erworbener Eigenschaften. Er denkt jedoch an den juristischen
Ursinn des Wortes „Erbe“, der nicht die Zwangsläufigkeit der biologischen Bedeu-
tung des Wortes besitzt, da man das väterliche „Erbe“ ja ausschlagen kann. Diese
individuelle Freiheit besteht laut Lorenz auf kultureller Ebene jedoch nicht. Da für
ihn Kulturen „lebende Systeme“ sind und die Eigenschaften biologischer Arten auf-
weisen, werden kulturelle Gewinne oder eben auch Verluste unabhängig von der
Entscheidung Einzelner im Kulturkollektiv tradiert, und zwar mit derselben hohen
Wahrscheinlichkeit wie genetisch fixiertes Erbgut über die Zeugungskette.138 Das
Medium des kulturellen Erbgangs ist die Sprache, und sie erlaubt eine ungeheure
Beschleunigung der zivilisatorischen Entwicklung.139
5k. Die Folge ist die Selbstdomestikation des Menschen. Domestikation,
deutsch: Häuslichmachung, begann mit der Seßhaftigkeit und der cultura, der
„pflegenden“ Veredelung der wilden Natur. In diesem Sinne hatten Theognis, Dar-
win und Chamberlain die Tierzüchtung als Höherentwicklung gedeutet und als
Muster für die Gestaltbarkeit der Menschheitsgeschichte betrachtet. Umgekehrt
aber verband Nietzsche Domestikation mit „Degenereszenz“140 und danach veran-
schaulichte Sigmund Freud 1933 mit der „Domestikation gewisser Tierarten“ den
„organischen Prozeß“ der Dekadenz.141 So auch Lorenz. Die Kulturentwicklung
führte zur „Verhaustierung“, ja zur „Verhausschweinung“ des Menschen.142 Er
ermittelte, daß reinrassige Menschen den Wildformen, mischrassige den Hausfor-
men der Tiere nahekämen. Beidemal entstünden ähnliche Resultate. Äußerlich:
Mopsgesicht, Hängebauch und verkürzte Extremitäten. Innerlich: Gefühlsschwä-
che, überentwickelter Intellekt, unterentwickelter Instinkt, Verlust des ästhetischen
und moralischen Urteilsvermögens und soziale Verhaltensgestörtheit. Die wölfi-
schen Eigenschaften werden durch hündische Qualitäten verdrängt. In seinen
Nachkriegsschriften hält Lorenz am warnenden Lehrbeispiel der angeblich degene-
rierten Haustiere fest. Ihr Aussehen sei häßlich, ihr Verhalten pervers. Die „Ver-
mehrung des Freß- und Begattungsverhaltens“ sei typisch für Großstädter wie für
Haustiere. Lorenz tadelt so wie Darwin die „Verweichlichung“ im Frieden, an der
schon manche Kultur zerbrochen sei143. Sein paläontologisches Exempel ist der eis-
zeitliche Höhlenbär. Er war so stark, daß er keine Feinde mehr besaß, verfiel der
Selbstdomestikation und starb aus.144 Dieser angeblich lebensuntüchtige Ursus spe-
laeus brachte es allerdings auf eine halbe Million Jahre, die der Mensch in der
Hochzivilisation kaum erreichen wird.
5l. Den positiven Folgen der interkulturellen, sozusagen extraspezifischen Selek-
tion (zwischen den Arten oder den Nationalkulturen), den „Vorteilen“ für die
Art,145 stellt Lorenz geradezu „satanische Wirkungen“ der intraspezifischen Auslese
(innerhalb der Arten und der Weltkultur) gegenüber.146 Das demonstriert er an
jenen übertrieben entwickelten Organen, die nur dem Balzgeschäft dienen: das im
Grunde überflüssige Geweih des Hirschen, das er nur zum Brunftkampf gegen sei-
nesgleichen verwende, und die unpraktisch langen Schwingen des Argusfasans, die
bloß dem Weibchen imponieren sollen. Lorenz erklärt dies für unvernünftig.147 Es
sind die schon von Darwin bemängelten Konstruktionsfehler der technisch gedach-
ten Natur, die sie nach Ansicht der Gelehrten hätte vermeiden sollen. 1940 suchte
Lorenz die entsprechenden Beispiele in der Menschenwelt, indem er den amerika-
nisch übersteigerten Sex-Appeal von Filmschauspielerinnen, wie Lippenstift und
Dauerwelle, anprangerte. Sowohl ihr Auftreten als auch ihren Erfolg bei Männern
wertete Lorenz als „Dekadenz“. Die Abneigung gegen die „Sex-Welle“, die auch
Spengler zeigte, behielt Lorenz bei148. 1963 waren seine Anwendungsfälle der ver-
derblichen innerartlichen Konkurrenz die kommerzielle Werbung und das industri-
elle Arbeitstempo. Der „wahrhaft teuflische Einfluß des zwischenmenschlichen
Wettbewerbs“ führe zu einer negativen Zuchtwahl.149
5m. Lorenz attackiert die moderne Industrie. Sie bewirke eine allgemeine „Vulga-
risation“, eine weltweite „Verhäßlichung“ und „Entdifferenzierung“, seitdem in der
One World der vorherige positive extraspezifische Wettbewerb in einen negativen
intraspezifischen umgeschlagen sei. Die „abbauende Evolution“150 sei die Folge der
durch die Sprache ermöglichten außergewöhnlichen Lernfähigkeit des Menschen. Sie
führe zu einer ungeheuren Beschleunigung der zivilisatorischen „Involution“. Lorenz
beklagt die „Gleichmachung aller Völker“. Dadurch verliere „die interkulturelle
Selektion ihre schöpferische Wirkung“, und daraus folge „regelmäßig“ ein „Rückgän-
gigwerden der Menschheitsentwicklung.“151 Lorenz bekundet: „Oswald Spengler war
der erste, der erkannte, daß Kulturen immer dann verfallen und zugrunde gehen,
wenn sie das Entwicklungsstadium der Hochkultur erreicht haben.“152
5n. Spenglers Entdeckung des regelhaften Kulturverfalls erklärt Lorenz aus
einem zivilisationsbedingten Normenkonflikt. Spezifisch für den Homo sapiens ist
nach Lorenz sein doppeltes Normensystem. Als Kulturwesen untersteht er selbstge-
schaffenen Traditionen, die sich rasch wandeln. Als Naturwesen hingegen ist er
durch sein dauerhaftes Erbgut, seine gesunden Instinkte programmiert. Sie sind der
eigentliche Forschungsgegenstand der Ethologen. Immer neue menschliche Verhal-
tensformen erweisen sich als Erbschaft aus dem Tierreich: Begrüßung und Bedro-
hung; Demutsgebärden und Gastgeschenke, Imponiergehabe und Triumphge-
schrei. Bei Tieren wie bei Menschen gibt es gruppenspezifische und rangbildende
Rituale. Eine Affenherde, die unter Führung eines Alphamännchens ihr Revier ver-
teidigt oder gar eine Nachbarhorde überfällt und tötet, benimmt sich schon sehr
menschenähnlich153. Im Zuge der Zivilisation aber werden unsere Naturtriebe
ungebührlich weit durch die Kulturgebote zurückgedrängt. Die moderne Kultur
habe ein derart umfassendes Ritual- und Gesetzeswesen entwickelt, daß entweder
in dieser „Zwangsjacke“ unser spontan-kreatürliches Verhalten erstickt werde oder
aber im Aufbäumen gegen die neuen Normen die Kultur insgesamt zugrunde gehe.
Die biopsychische Spannung zwischen dem durch die Natur Gebotenen und dem
durch die Zivilisation Geforderten sei der eigentliche Grund für die heutige Deka-
denz. Unsere Zivilisation befinde sich auf einem „Irrweg“ in eine „Sackgasse der
Evolution“, uns drohe eine „Apokalypse“, und zwar in einer „besonders gräßlichen
Form“154. Indoktrinierung und Verweichlichung haben ja angeblich schon die
byzantinisierte antike Kultur den Germanen ausgeliefert.155
5o. Zwischen der spätantiken und der modernen Dekadenz gibt es jedoch einen
wesentlichen Unterschied. Damals entstand aus dem Zerfall der antiken Kultur
eine Mehrzahl von konkurrierenden Völkern, die ihre Eigenart entfalten konnten.
Unsere heutige uniforme, charakterlose Universalkultur bietet keinen ebensolchen
Mutterboden für künftige Kulturen. Wir müssen die unsere daher zu erhalten
suchen. Der „Volksarzt“ bietet die Diagnose. Er versteht die Gesellschaft als
erkrankten Organismus, der zu seiner Gesundung die „ausfallbehafteten Sozialpara-
siten“ ausmerzen156 und die › acht Todsünden der zivilisierten Menschheit‹ meiden
müsse. Sie lauten: Übervölkerung, Umweltzerstörung, Streß, Gefühlskälte, Dege-
neration, Traditionsfeindlichkeit, Indoktrinierbarkeit und Atombombe. Dem
modernen Menschen gibt Lorenz noch eine Chance, wenn er nämlich biologisch
denken und naturkonform leben lerne. Wir stehen an einer „Wende der Zeiten“,
die „zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit“ führen kann. Unsere Kul-
tur könne als erste und zugleich letzte den baldigen Untergang vermeiden, sobald
sie ihr Verhalten den Erkenntnissen der Verhaltensforscher anpasse157.
5p. Sollten die überzivilisierten Zeitgenossen die Mahnungen des Biosophen
mißachten, so wird die Evolution weiter verfälscht. Sie hat zwei tellurisch bedingte
Biokatastrophen überstanden, ein erstes Massensterben vor ungefähr 250 Millionen
Jahren, als neun Zehntel aller Arten untergingen, und ein zweites vor etwa 65 Mil-
lionen Jahren, als nicht nur die Dinosaurier ihr Ende fanden. Eine dritte Todeswelle,
nun durch den Menschen verursacht, ist im Gang, seit die Technikfolgen einen
bedrohlichen Artenschwund herbeigeführt haben.158 Das ist destruktive Selektion.
Die zugrunde liegende spätkapitalistische Profitmaximierung läßt sich moralisch
allerdings nicht greifen, da die Kläger zugleich Sünder sind, die von den Maschinen,
mit denen die Umwelt ruiniert wird, gewollt oder ungewollt profitieren.
5q. Wenn diese Entwicklung zugleich auf ein Ende unserer westlichen Zivilisa-
tion oder gar auf den Untergang unserer Spezies zusteuern sollte, gibt es dennoch
einen Silberstreif am Horizont. Die Evolution geht schließlich weiter. Die Deka-
denz fördert die Selektion,159 sie schafft Raum für neue, „wertvollere“ Arten. Der
Jetztmensch ist, biologisch betrachtet, ein vorläufiges Produkt der Evolution, leider
noch nicht ganz das „endgültige Ebenbild Gottes“.160 So wie die scholastische
Anthropologie den Menschen zwischen Tier und Engel stellte, so deutet Lorenz ihn
und sich im Sinne Nietzsches als vorübergehende Zwischenstufe zwischen Men-
schentier und Übermensch. Ihn schafft dereinst die „Weltvernunft des Logos“, die
bereits den „Mystikern des Mittelalters“ vertraut gewesen sei. So endet auch der
Biologismus in einem hegelianischen Glauben an den Weltgeist. Lorenz prophezeit
Individuen austauschbar und nur soweit bedeutsam sind, als sie die jeweilige Art
repräsentieren. Der Historiker hingegen behandelt Individualitäten innerhalb der-
selben Art: einzelne Personen, bestimmte Gruppen und deren Werke. Geschichte
besteht aus Prozessen der „Systemindividualisierung.“169 Menschenwerk wird – wie
schon Vico betonte170 – auf andere Weise erschlossen als Naturgeschehen. Wissen
über dieses liefern uns Befunde, die wir ebenso wie die ihnen zugrunde liegenden
Naturgesetze lediglich registrieren können. Kulturerscheinungen hingegen können
wir verstehen, indem wir ihren Sinn ermitteln. Sie beruhen auf Handlungen, und
diese entspringen Überlegungen, Vorstellungen und Absichten, über die wir uns
grundsätzlich mit den Handelnden verständigen können. Das beginnt mit dem
Jagdzauber der Höhlenmalerei von Altamira und den Blumenspenden für die
Bestattungen der Neandertaler. Hier ist Gedankenaustausch oder ersatzweise Her-
meneutik erfordert, indem wir uns nicht erfolglos in die Denkwelt der Betroffenen
versetzen.
6c. Die von Lorenz behaupteten Analogien zwischen Natur- und Kultur
geschichte171 wird der Historiker kaum gelten lassen. Die zur Artenbildung erfor-
derliche Isolation nützt der Kultur nur in eingeschränktem Sinne. Regionalstil
ergibt sich aus gruppeneigener Kommunikation, aber vollzieht sich unter Anregun-
gen von außen. Die Aufnahme von fremden Gütern und Menschen kann man nur
unter der Anerkennung eines völkischen Reinheitsgebotes als Verbastardung abwer-
ten172. Anders als biologische Arten sind Kulturen Konglomerate und deswegen
ebensowenig charakterlos wie Granit. Die griechische Kultur hat vom Orient
gezehrt, die römische Gesellschaft von den Griechen, die germanische Welt von den
Römern. Kultur diffundiert.
6d. Während Lorenz als Biologe das kontinuierliche Artensterben durch „krea-
tive Selektion“ generell für schöpferisch erklärt, würde ein Historiker die Vernich-
tung der Karthager durch Rom, die Zerstörung der Inkakultur durch die Spanier,
den Völkermord im 20. Jahrhundert nicht für sonderlich kreativ erachten. Selek-
tion ist Destruktion. Die Rede von „kreativer Selektion“ ist ein Hysteron Proteron,
denn Auslese ist Wirkung, nicht Ursache im Naturgeschehen. Die Formel ist
zynisch. Es sei denn, wir dächten an den Gärtner, der schöpferisch tätig ist, wenn er
Unkraut jätet, um die von ihm „kreierten“ Beete zu verschönern.
6e. Nutzen und Nachteil der Konkurrenz sind in der Geschichte nicht durch die
Kulturgrenzen und den Artbegriff, sondern nach Mitteln und Folgen zu bestimmen.
Das hat Hesiod schon gesehen, als er zwischen der guten und der schlechten Eris
unterschied.173 Wettbewerb steigere im friedlichen Ringen die Kräfte, Krieg aber zer-
störe die Werke der Menschen. Und ebendies ist der Grund, weswegen wir die Begei-
sterung Hegels für das Schießpulver nicht auf die Atomwaffen übertragen. Anders als
Lorenz müßte ein gläubiger Sozialdarwinist dies tun. Denn entweder beseitigen diese
Superwaffen den im Kampf ums Dasein Unterliegenden, oder sie vernichten die
Spezies Mensch, weil sie sich insgesamt des Überlebens unfähig gezeigt hat.
arterhaltenden Instinkt der Tiere vom artgestaltenden Geist der Menschen, vom
logismos bei Platon oder dem hēgemonikon bei Zenon. Die Vernunft gebietet uns,
unsere naturwüchsigen Triebe zu bändigen und erlaubt uns, unser Wissen über das
lebensnotwendige Maß hinaus beliebig zu erweitern.181 Dazu zählt auch die „evolu-
tionäre Erkenntnistheorie“, die zur Arterhaltung nichts beiträgt und daher evolu-
tionär überflüssig ist.
6j. Wäre unsere Entscheidungsfreiheit ein Geschenk der Natur allein, um unsere
Art zu erhalten,182 bliebe unerklärlich, wie wir sie – abgesehen von allem kulturellen
Glasperlenspiel – zum Martyrium für einen Glauben, zum Selbstmord aus Scham
oder gar zum Overkill aus Torheit nutzen können. Die einst rudimentäre Vernunft des
Steinzeitmenschen hat diesem eine Existenz von vier Millionen Jahren ermöglicht.
Die dank der Evolution hoch entwickelte Intelligenz des Jetztmenschen läßt eine
erheblich kürzere Lebensdauer erwarten. Um darin die „kreative Selektion“ zu erken-
nen, müßte man mit Lorenz uns Heutige als Trittbrett für die nächste Stufe der evolu-
tionären Höherentwicklung deuten und an den künftigen „wahrhaft humanen“ Neu-
menschen glauben. Damit würde auch der Mensch ein Opfer der Evolution.
6k. Die Evolutionstheorie beschreibt, wie unsere geistigen Fähigkeiten entstan-
den sind. Sie erklärt aber nicht, welchen Gebrauch wir von ihnen machen. Unser
Denk- und Handlungsvermögen ist ein Mechanismus im Ursinn des Wortes. Grie-
chisch mēchanē bezeichnet ein „sinnreich ersonnenes Hilfsmittel“, bei dem, so wie
bei jeder Maschine, ein Erbauer, ein Zweck und ein Benutzer begriffsnotwendig
mitgedacht sind. Wir nennen das Gehirn treffend ein Organ, von griechisch orga-
non – Werkzeug, das gleichfalls den Arbeiter voraussetzt, für den es gemacht ist, der
es verwendet. In unserem Fall ist das der Forscher, für den sein „Weltbildapparat“
eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung seiner Arbeit ist. Ob und
wie er seine Intelligenz anwendet, das steht ihm frei.
6l. Dies aber wäre ein Irrtum, wenn unser Denken und damit auch unser Handeln
eine bloße Funktion naturgesetzlicher Stoffwechselprozesse in unseren Köpfen wäre.
Als nach Kants Tod am 12. Februar 1804 dessen Schädel vom akademischen Prosek-
tor Kelch „nach der Gallschen Methode“ anatomisch untersucht wurde,183 ergab sich
daraus nichts für das Verständnis des Kategorischen Imperativs. Aus den neuronalen
Engrammen unserer grauen Zellen läßt sich die dort gespeicherte Erinnerung selbst
durch noch so genaue Untersuchung nicht herauslesen. Darum hat Lorenz keine Aus-
sicht, wie er 1973 hoffte, die Geisteswissenschaft in die Biologie zu integrieren.184
Damit würde der Mensch zur Überlebensmaschine seiner Gene. Die Theorie der Evo-
lution ist kein Produkt der Evolution. Kulturelle Phänomene lassen sich aus der Des-
oxyribonukleinsäure unserer Gene ebensowenig herleiten wie der ›Faust‹ aus dem
Alphabet, die ›Kunst der Fuge‹ aus der Akustik oder die ›Nachtwache‹ aus der chemi-
schen Farbenlehre. Das jeweils gestaltende Element nennen wir Geist.
6m. Wer die Theorie der Evolution nicht als Selbstoffenbarung der Natur und
damit als Glaubenswahrheit auffaßt, sondern als gut begründete Arbeitshypothese in
einem offenen Forschungsprozeß, der kann sich seinerseits nicht einfach für ein
Erzeugnis der Evolution erklären. Denn deren Erkenntnis ist ein Resultat seines
Nachdenkens. Wäre so wie der animalische auch der geistige Mensch, der Forscher
ein Produkt der Evolution, würde diese sich selbst erforschen, und der Forscher wäre
bloß die Mattscheibe, auf der die Natur sich selbst bespiegelt. Das Bild, das Lorenz
von der Rückseite des Spiegels zeigt, ist selbst wiederum ein Bild im Spiegel. Die
evolutionäre Erkenntnistheorie bietet uns die Natur als ein Bild, das sich selbst malt.
Wer da meint, eine Natur, die sich selber schafft, könne auch sich selber malen, ver-
gißt, daß auch die sich selbst schaffende Natur ein Bild ist, das wir uns von ihr
machen. Dieses Bild ist kein mechanischer Reflex von Gegebenheiten, sondern in
mühsamer Arbeit gewonnene Einsicht. Unser Bild von der Natur ist perspektivisch
und setzt, wie schon der Begriff Reflex, eine Blickdistanz zum Gegenstand voraus.
Eine Natur, die ihrerseits den Begriff von sich produziert, erinnert an den Lügen
baron, der sich samt seinem Pferd am eigenen Zopf selbst aus dem Sumpf zieht.185
Derartiges vermochte nur der Weltgeist in Jena 1806, als er sich in Hegels Gehirn
zum Bewußtsein seiner selbst emporschwang.186 Der Gedanke der selbstgenügsamen
Geistnatur führt von Lorenz über Haeckel und Darwin zurück zu Hegel.
6n. Das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Natur fand Ausdruck in
Verwandtschaftsmetaphern. Bion von Borysthenes im 3. Jahrhundert v. Chr.
nannte die Natur die Mutter der Tiere, aber die Stiefmutter des Menschen.187 Kant
hingegen sprach von der „Entlassung des Menschen aus dem Mutterschoße der
Natur.“188 Die Möglichkeit, dieses zu wissen, verdankt er der Natur; doch muß er
dazu von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, salopp gesagt: sein naturgegebenes
Gehirn einschalten. Erkenntnis begreift und erfaßt eine Sache, Erkenntnis ist kein
Teil der erkannten Sache. Anderenfalls wäre diese ohne ihr Erkanntsein unvollstän-
dig und würde erst durch ihr Erkanntwerden zu dem, was sie ist, und nicht nur zu
dem, als was sie erscheint. Damit entfiele das Gegenüber von Objekt und Subjekt,
von Gegenstand und Vorstellung und damit die Möglichkeit, durch Bemühung um
den Gegenstand die Richtigkeit unserer Vorstellungen von ihm zu prüfen.
6o. Eine – diesmal innere Distanz – zwischen Objekt und Subjekt ist erforder-
lich auch für die Selbsterkenntnis und für die Selbstbeherrschung, ja für die Selbst-
darstellung. Das zeigt sich bereits in der jüngeren Altsteinzeit, als der Mensch sich
selbst zum Objekt machte, indem er sich selbst bemalte und seinesgleichen auf
Felsbildern darstellte. Diese Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit ist es, die uns
Selbstkritik erlaubt. Sie ist durchaus sinnvoll, da man sich mit seiner Selbsterkennt-
nis irren kann.
6p. Die Naturgeschichte geht der Wissenschaft zeitlich, die Wissenschaft geht der
Naturgeschichte methodisch voraus. Die Methodologie hat auch ihre Geschichte. Sie
fällt in die Wissenschaftsgeschichte, die unsere Kenntnis enorm vermehrt hat, darüber
hinaus aber alte, noch immer relevante Deutungsansätze enthält, deren Kenntnis wir
benutzen und benötigen, um die Leistungsfähigkeit unserer Methodologie zu beurtei-
len. Insofern ist das Gipfelgespräch in der Geistesgeschichte seit Anaximander ein
Instrument der Methodologie. Zwischen Chronologie und Methodologie, zwischen
Objekt und Subjekt gibt es keine Priorität – es sind zwei Seiten einer Medaille. Wer so
wie die Naturgeschichte auch die Wissenschaftsgeschichte darwinistisch interpretiert,
der dogmatisiert den Darwinismus, denn auch dessen Widerlegung würde ihn bestä-
tigen, hätte der Antidarwinismus sich doch im Kampf ums Dasein gegen den Darwi-
nismus durchgesetzt! Der Biologismus ist, wie Hitlers Bemerkung zu Speer zeigt,
durch Ereignisse nicht widerlegbar, er ist, anders als die Biologie, immun gegen Kritik.
6q. Der Darwinismus zeigt Züge einer Wissenschaftsreligion, die Ernst Haeckel
mit seiner Altenburger Rede über den Monismus am 9. Oktober 1892 höchst
erfolgreich in Szene setzte. Kennzeichen dafür ist die Annahme von ewigen Wahr-
heiten, eine sakrale Aura, die Verkündung von Verhaltensregeln und eine universale
Anwendbarkeit. Der Pandarwinismus ist eine mechanische Patentformel für alles
und jedes. Man hat sie ernsthaft angewandt auf die Rechtsgeschichte, auf die Spra-
chentwicklung, auf die Musikästhetik, auf die Kunstrichtungen, auf die Psycholo-
gie, auf die Astronomie, ja sogar auf die Chemie und Experimentalphysik, wo die
Teilchen einander den Raum streitig machen. Warum nicht auf die Meteorologie,
wenn die Sonne mit dem Nebel kämpft, oder auf die Hutmode, als der Zylinder
sich gegen den Dreispitz durchsetzte?
6r. Lorenz braucht einmal das ganz unbiologische Bild von der „phylogeneti-
schen Erbmasse“, auf der sich der „hohe Bau“ der Kultur erhebt.189 Das besagt, daß
die Natur eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Geschichte
darstellt. Bauen ist kein Naturvorgang. Der konsequente Geschichtsbiologismus
hingegen, der den Menschen als Marionette der Natur betrachtet, ist eine intellek-
tuelle Selbstentmündigung, um nicht zu sagen Selbstkastration, wie solches aus der
Religionsgeschichte wohlbekannt ist.190 Seitdem der Mensch um sein Selbstver-
ständnis ringt und an sich arbeitet, unterscheidet er sich vom Tier. Wenn uns die
Verhaltensforschung mehr und mehr über die natürlichen Weisen unseres Han-
delns belehrt, bringt sie uns dem Tier nicht näher, sondern erweitert den Abstand.
Denn unser wachsendes Wissen über den Affen-in-uns macht uns dem Affen-
außer-uns immer unähnlicher, dessen Selbsterkenntnis ja gerade nicht fortschreitet.
Das sah Wilhelm Busch in Wiedensahl freilich anders:
a. Omnis natura vult esse conservatrix sui. „Stets ist die Natur bemüht, sich selbst zu
erhalten“. So könnte man das Wort Ciceros wiedergeben. Dem widersprach Seneca:
Nihil difficile naturae est, utique ubi in finem sui properat – „Nichts ist schwierig für
die Natur, jedenfalls wenn sie ihrem Ende zueilt.“1 Welcher der beiden Sätze gilt für
die Geschichte? Könnte es auch heißen: omnis historia est conservatrix sui? Sorgt
auch sie dafür, daß es immer mit ihr weitergeht: mit dem Kampf um die Macht,
mit der Steigerung des Wissens und des Wohlstands, mit dem Aufstieg und Nie
dergang der Kulturen? Oder steuert die Geschichte ihrem Ende zu, einer Über
windung der Geschichtlichkeit in einem Rückgang des Ereignistempos bis zum
Stillstand. einer zeitlosen Pax oecumenica oder einer Selbstauslöschung des Men-
schengeschlechts?
b. Die Frage nach dem Gang der Geschichte war und ist immer auch eine nach
ihrem Fortgang und ihrem Ausgang. Man glaubt aus dem Vergangenen das Kom-
mende erschließen zu können: einerseits eine Wiederholung des Bisherigen, ande-
rerseits eine Fortsetzung im bisherigen Sinn. So resultiert entweder aus dem Abstieg
der Untergang oder aus dem Fortschritt ein glücklicher Weltensabbat, sei es im
Diesseits oder im Jenseits. Letzteres erscheint als ein Tag ohne Abend, ohne Ende –
sabbatum non habens vesperam, wie Augustinus die Ewigkeit beschrieb.2 Sie ent-
spricht dem siebten Schöpfungstag, an dem Gott ruhte. Im Weltensabbat kommt
die Geschichte zum Stillstand.3
c. Die Vorstellung einer begrenzten Dauer der Menschheitsgeschichte ist alt.
Wie das Leben des Einzelnen, so findet auch das Dasein der Gattung irgendwann
ihren Abschluß. Die historische Apokalyptik, die im 20. Jahrhundert Konjunktur
hatte, durchzieht die Geistesgeschichte seit ihren Anfängen. Berdjajew meinte 1923
gar, die ganze Weltgeschichte sei nichts als die innere Enthüllung der Apokalypse.4
Die Furcht vor dem Untergang und die Hoffnung auf die Erlösung waren Wurzeln
der christlichen Religion. In der Gegenwart haben philosophische Aufklärung und
technischer Fortschritt die beiden entgegengesetzten Erwartungen als Formen einer
säkularen, irdischen Zukunft möglich gemacht: sowohl die Selbstverwirklichung in
demokratischer Wohlfahrt als auch die Selbstvernichtung der Zivilisation im ato-
maren Inferno.5 Was man früher von Gott als dem Weltenrichter erwartete, hat die
Menschheit in die eigenen Hände genommen. Unklar ist, wer den „Prozeß“ der
Geschichte gewinnt. Führt der Versuch einer Rechtfertigung zum Freispruch mit
Vorbehalt oder zum Todesurteil auf Raten?
d. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion scheint die Gefahr eines Drit-
ten Weltkriegs mit nuklearem dies irae gebannt. Das Ende der Furcht hat Raum
geschaffen für die Hoffnung auf ein friedliches Ende, vielleicht in Form eines allen-
falls von Nachwehen begleiteten schleichenden Übergangs in eine geschichtslose
Endzeit, sozusagen eine innergeschichtliche Außergeschichtlichkeit, frei von ernsten
Grundsatzkonflikten, eine prosperierende Weltgesellschaft, die ihre Probleme
schiedlich-friedlich löst.
e. Das Gefühl eines Abschieds ist verbreitet.6 Es spiegelt sich in einer wachsen-
den Zahl von negativen Selbstbezeichnungen wie postindustrielle Produktion, post-
fossiler Kapitalismus, postkapitalistische Wirtschaft, postdialektisches Denken,
postmoderne Kunst, postmediale Wirklichkeiten, postalphabetisches Fernsehpubli-
kum, postzivilisatorischer Kannibalismus, postimperiales Europa, postpoetische
Dichtung, postutopische oder posttotalitäre Ideologie, postheroische, postsäkulare
oder postbürgerliche Gesellschaft, postkulturelle Kulkur, poststrukturalistische,
postkopernikanische oder postmetaphysische Philosophie, postrevolutionäre, post-
demokratische, postkoloniale oder gar postpolitische Politik, kurz: posthistorische
Zeit, die posthistoire. Dahinter steht der Eindruck von einer Andersartigkeit alles
Heutigen, einer Fremdartigkeit alles Früheren.
f. Das Pendant zu den postfixierten Strömungen bilden die mit dem Präfix
„neo-“ bestückten Richtungen. Sie kennzeichnen das Paradoxon, daß Begriffe wie
neoabsolutistisch und neokolonial, neoliberal und neokonservativ, neonazistisch
und neomarxistisch gerade nichts Neues bezeichnen, sondern daß es sich bloß um
Rückfälle in überholte Positionen, um alte Hüte auf neuen Köpfen handelt. Man
unterstellt, daß es mit der neo-notierten Sache vorbei sei, so wie bei den mit „post“
verbundenen Adjektiven. Identität wird durch Negativität bestimmt, in einem
Zweiphasenmodell über ein „Nicht mehr“ definiert. Was ist oder kommt, bleibt
unbezeichnet, offen, leer. Der Übertritt ins Niemandsland der Nachgeschichte
führt uns ins sprachliche Nirwana.
1. Finis historiae
1a. Die Vorstellung, die Geschichte liege im wesentlichen hinter uns, ist eine Voraus-
setzung für jede solide Universaltheorie. Denn man kann über ein Ganzes nicht urtei-
len, ehe es vollständig vorliegt. Daher haben sich die meisten Geschichtsdenker in den
fünften Akt des Menschheitsdramas eingeordnet. Es gibt eine Endzeitstimmung, die
in der Antike bei Platon7 und den Stoikern, im Christentum seit Johannes dem Täufer
und der ersten Predigt Jesu8 aufscheint und seit der Aufklärung bei den verschieden-
sten Autoren in unterschiedlichsten Kontexten begegnet. Ein seit der Französischen
Revolution weitverbreitetes Krisenbewußtsein sieht sich auf der Schwelle zu einer
gegenüber der gesamten Vergangenheit radikal andersartigen Zukunft. Ein solches
Endzeitgefühl fanden wir schon bei Hegel. Nachdem er die Volksgeister, die ihr Pen-
sum erledigt haben, in die Geschichtslosigkeit entlassen hat, steht dieser Zustand auch
der Weltgeschichte im ganzen bevor. proklamierte das Ende der Kunst (einschließlich
der schönen Literatur),9 das Ende der Philosophie (einschließlich der Wissenschaften)
und das nahe Ende der Geschichte (einschließlich der Politik).10 Denn er glaubte, daß
die Menschheit im protestantisch-preußischen Staat ihren End- und Höhepunkt
gefunden habe. Gegen den Einwand, ein weiterer Fortschritt wäre der republikanische
Großstaat nach amerikanischem Muster, erklärte Hegel, Amerika sei nur ein Fortsatz
Europas. Das „Land der Zukunft“ sei „noch nicht soweit vorgerückt, um das Bedürf-
nis des Königtums zu haben“. Im übrigen heißt es: „Der Philosoph hat es nicht mit
dem Prophezeien zu tun“. Darin war er freilich nicht konsequent, da er behauptete,
daß „letzte Stadium der Geschichte“ sei gekommen.11
1b. Nachdem der Weltgeist im Bewußtsein Hegels zu sich selbst zurückgefun-
den hat, ist die Arbeit der Geschichte erledigt. Das sah Marx anders. Seine Endzeit-
vision unterscheidet sich von Hegel darin, daß er sich im letzten Stadium der „Vor-
geschichte“ glaubte, am Beginn der eigentlichen Geschichte, die nicht mehr wie
bisher „naturwüchsig“ verlaufen wird, sondern – nun doch wieder wie Hegel – das
Reich der Freiheit eröffnet. Die Einebnung der Klassengesellschaft war für ihn die
goldene Zukunft, aber in den Augen des kulturtragenden Bürgertums das irdische
Inferno. Schon 1835 hatte Tocqueville die bevorstehende Egalisierung in düsteren
Farben geschildert: Um ihrer „kleinen und vulgären Freuden“ willen unterwirft sich
die selbstverschuldet entmündigte Gesellschaft der demokratisch legitimierten Ver-
waltungsdiktatur.12 Geschichte beruht auf Spannung. Bei Gobineau bestand sie in
Rassengegensätzen. Diese aber tendieren zur Vermischung. Dadurch wird die
Menschheit rassisch homogenisiert und historisch sterilisiert. Das mündet, meinte
er, in die Geschichtslosigkeit.13
1c. Auch ein dritter Franzose sah das bevorstehende Ende der Geschichte in
trübem Licht. Der Mathematiker Antoine Augustin Cournot (1801 bis 1877)
prägte 1861 für das soeben angebrochene „letzte Stadium“ den Ausdruck posthi-
stoire.14 Alle Erfindungen und Einrichtungen hätten ihre Perfektion erreicht. Der
Markt und das Geld hätten andere Interessen verdrängt und die gesellschaftlichen
Spannungen zum Ausgleich gebracht. Es gehe nicht mehr um Religion und Kultur,
sondern um Ökonomie und Demographie. Die Volkssouveränität sei eine ebensol-
che Chimäre wie das Gottesgnadentum. Anstelle der Politik regiere künftig eine
treusorgende Verwaltung mit Amtsblättern, der Literatur der neuen Zeit. So wie
alle Flüsse kanalisiert werden, so werden auch alle geistigen Strömungen reguliert,
die Gesellschaft befindet sich in einem stabilen, dauerhaften Gleichgewicht wie ein
„Bienenstock“. Cournots Muster für die Zukunft bietet nicht Amerika, sondern
China mit seiner starren Hierarchie von Mandarinen. An der Stelle des bisherigen
Zufalls herrscht hinfort die Notwendigkeit mittels Statistik. Cournot wußte, daß
seine Vision schockiert, aber ihn tröstete, daß die Menschen genau das anstreben,
was er beschreibt. Weshalb also klagen?15
1d. Mit Cournot teilte dann Spengler das Endzeitbewußtsein.16 Der in fatalisti-
scher Selbstheroisierung verkündete Untergang des Abendlandes ist das Ende der
Kulturgeschichte überhaupt, nicht nur in Europa, da die faustische Zivilisation den
Globus erfaßt hat und keine weitere Hochkultur die zu ihrer Entwicklung erforder-
liche Isolation genießt – auch die russische nicht. So wie man mit demselben Schritt
einen Garten und ein Land verlassen kann, an dessen Grenze er liegt, so stehen wir
nach Spengler vor einem doppelten Ausgang einerseits aus der Geschichte des
Abendlandes und andererseits aus der Kulturgeschichte der Menschheit und befin-
den uns damit vor einem Übergang in eine kulturlose Zukunft der Zivilisation oder
ein Fellachentum.
1e. Spenglers Endvision wurde aufgenommen von einer Reihe rechtsintellektu-
eller Autoren. Ernst Jünger (1895 bis 1998) meinte 1932 zwar, die Kulturmorpho-
logie lasse keine gültige Prognose zu, konstatierte aber selbst: „Wir nehmen an dem
Schauspiel eines Untergangs teil, der nur mit geologischen Katastrophen zu verglei-
chen ist.“ Die „vernichtenden Veränderungen der natürlichen und geistigen Bil-
dungen auf der gesamten Erdoberfläche“ führten in eine „neue Einheit, deren Her-
aufkunft hinter den Trümmern der Kultur und unter der tödlichen Maske der
Zivilisation zu ahnen ist.“ Prägnanter formulierte er 1959, „daß wir uns am
Abschluß eines Zyklus befinden, der die Geschichte, ja vielleicht die menschliche
Existenz auf dieser Erde übergreift“. Sinnverwandt sind seine Formeln „Abschied
von der Geschichte“, „Furcht einer Endzeit“, „Anzeichen einer Weltwende“ und
nicht zuletzt das Bild der „Zeitmauer“, die wie andere Mauern Undurchdringlich-
keit vorspiegelt.17
In Jüngers Roman ›Eumeswil‹ aus dem Jahre 1977 ist von „Geschichtsverfall“
die Rede, von einer „Epigonenwelt dahinsiechender Großreiche“ und von „Endzei-
ten, in denen die historische Substanz erschöpft ist.“ Der „Katalog der Möglichkei-
ten“ gibt nichts mehr her, die „großen Ideen sind durch Wiederholung abgeschlif-
fen.“ Was einer übersättigten Spätzeit verbleibt, sind Brot und Spiele wie im
römischen Kaiserfrieden, als das Volk jeden Ehrgeiz, jeden Tatendrang verloren
hatte.18 „Geschichte ist tot“, das aber „erleichtert den historischen Rückblick“, der
nicht mehr durch Visionen getrübt ist.19 Noch 1993 gab Jünger ein Interview zur
Zukunft. Er hielt es für möglich, daß wir „am Ende schon außerhalb der Geschichte
stehen“, jedenfalls „wird sich die Entfernung des Menschen aus der Geschichte
fortsetzen.“20
1f. Ein Jünger geistig verwandter Denker war der Arzt Gottfried Benn (1886 bis
1956). Er fürchtete 1947 die „Zukunftslosigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes“.
Im Anschluß an Spenglers achte Hochkultur gehen „durch Abspannung“ das Quar-
tär und das „Dogma vom Homo sapiens“ zu Ende. Alles sei abgespielt, Plethora,
Sättigung, eingetreten. Im kommenden Quintär gönnt er uns noch eine Restge-
schichte, ein „Aprèslude“ des „synthetischen Lebens“ in einem „Lotosland, in dem
nichts geschieht und alles stillsteht.“21 Benn erinnert hier an jenes friedfertige Mär-
chenvolk der Lotos-Esser, das in der Odyssee und bei Apollodor erwähnt wird. Die
Gefährten des Odysseus haben von der honigsüßen Blumenspeise genossen, alles
vergessen und wollen nicht mehr zurück.22
1g. Ähnlich düstere Zeitbilder bieten zwei niederländische, von Spengler beein-
flußte Zivilisationskritiker: der Holländer Jan Huizinga (1872 bis 1945) und der
Belgier Hendrik de Man. Huizinga schrieb 1935: „Das Gefühl, einem Endpunkt
nahe zu kommen, ist uns vertraut genug geworden.“ Er sprach vom „Ende der Kul-
tur“ und konstatierte: „Die Welt zeigt das Bild von Spenglers Zivilisation plus ein
Maß von Wahnsinn, Humbug und Grausamkeit.“ Sichtbarster Ausdruck erschien
ihm die „Entartung“ der auf Effekthascherei reduzierte Kunst. Und 1943: „Die
Welt geht der nächsten Zukunft als räuberische Gemeinschaft einer gewinn- und
genußsüchtigen Menschheit entgegen.“23
1h. Der Belgier Hendrik de Man (1885 bis 1953) unterschied 1951 in seinem
Buch ›Vermassung und Kulturverfall‹ in der Kulturgeschichte drei parallele Vor-
gänge: einen kumulativen Prozeß, bei dem immer mehr hinzukommt; einen zykli-
schen Prozeß, der über einen Höhepunkt in den Niedergang führt; und einen dia-
lektischen Prozeß, der aus Umschlägen ins Gegenteil besteht. Hier wird nuklearer
Pessimismus spürbar. Die moderne Industriegesellschaft in den Großstädten, mit
der „ergokratischen“ Arbeitswut der kapitalistischen Wirtschaft, entfalte „Herden-
instinkte“: Die Massenmedien propagieren die Massenware der Massenproduktion
nach dem von den Mode- und Meinungsmachern manipulierten Massenge-
schmack. Maß ist nicht Qualität, sondern Quantität. Literarisches Muster ist der
Bestseller. Dominant sind Mechanisierung, Nivellierung und Amerikanisierung.
Folge ist die „Katastrophe“ der abendländischen Kultur, der Eintritt in die „außer-
geschichtliche Zeit“, in die „Phase der Sinnlosigkeit“. Den Beginn des Abstiegs
datiert de Man mit seinem flämischen Landsmann Joris-Karl Huysmans bereits
ans Ende der Stauferzeit. Die Gegenwart nennt er in Anlehnung an Cournot „Post-
historie“.24 Den Begriff übernahm dann Arnold Gehlen und erläuterte ihn durch
die „Kristallisation“ in der Spätkultur, gemeint ist die Erstarrung der Kreativität, die
nur noch Erbstücke so oder anders verwende.25
1i. Spenglers These vom Übergang in die Zivilisationsphase steht hinter der
radikalen Fortschrittskritik von Günther Anders aus dem Jahr 1980. Hatte Speng-
ler die Technik als schicksalhaftes Thema der Zukunft hingenommen, so wird sie
von Anders als Übermacht angeklagt. Sie ist das Signum der Endzeit, offenkundig
seit Hiroshima, und damit der Auftakt zum Untergang. Eine neue Art von
Geschichtslosigkeit geht aus ihm voraus: die Verdrängung des Menschen aus seiner
Rolle auf der Weltenbühne durch die sich verselbständigende Technik. Ihre magi-
sche Faszination degradiert den Menschen zur Marionette der Maschine; was
immer sie erlaubt, das geschieht. Die Technik bestimmt unser Denken und Han-
deln und wurde so zum Subjekt der Geschichte. Das Fließband produziert und
postuliert eigendynamisch eine uferlose Steigerung des Warenangebots, die Massen-
Massenhafte gesteigert, so daß kein einzelnes unter ihnen die Zeit finde, seine
Eigenart zu zeigen und seine Wirkung zu entfalten. Ein historisches Bewußtsein
ertrinke in einem Schwall von Jubiläen und Rückblicken. Das Publikum werde
durch die Flut an ephemeren Informationen, an kleinkarierter Routine übersättigt
und erstickt, die Geschichte „implodiert in Aktualität“. Die neue Urlaubsreise steht
bevor, noch ehe die Fotos von der alten eingeklebt sind. Die eingetretene Ge
schichtslosigkeit besteht für Baudrillard mithin nicht aus einem Mangel, sondern
aus einer Überfülle an Ereignissen, aus dem Übergang von der Linearität in die
Turbulenz. Er entwickelte seine Theorie – wie auch Fukuyama – noch vor der
Wende und stellte daher zwei Formen ahistorischen Lebens einander gegenüber, die
ewige Eiszeit im Osten und eine tropische Faktendichte im Westen. Nach dem
Zusammenbruch des Kommunismus, schreibt er, habe die geschichtslose Postmo-
derne die Menschheit in ein „Dauer-Koma“ gestürzt und die „Apokalypse der
Indifferenz“ ausgelöst.33 Mit dem Ende der „differentiellen Energie“ – wir denken
an die Entropie der Thermodynamik – sei die Geschichte selbst Geschichte gewor-
den. Sie gleiche einem toten Baum, an dem Gehenkte hängen.34
2c. Brisant wurde die These vom Ende der Geschichte durch die veränderte
weltpolitische Großwetterlage mit dem Niedergang der Sowjetunion. 1989 verkün-
dete der Amerikaner japanischer Abstammung Francis Fukuyama seine demokrati-
sche Eschatologie.35 Sein Buch von 1992 ›The End of History‹ hat Aufsehen erregt.36
Die Zielrichtung der Geschichte – gemeint ist die die Neuzeit – beruhe, heißt es,
auf dem Fortschritt der Naturwissenschaft, die den Wohlstand im Kapitalismus
ermöglicht habe, und auf dem allgemeinmenschlichen Wunsch nach gegenseitiger
Anerkennung, den die Demokratie erfülle. Hier hören wir Hegel und Kojève. Im
Zusammenbruch des kommunistischen Systems sah Fukuyama den definitiven
Sieg der parlamentarischen Demokratie und des liberalen Kapitalismus, den Ein-
tritt ins „Gelobte Land“.37 Darin bestätige sich die Prophezeiung von Karl Popper,
daß die „offene Gesellschaft“ (vom Typus Athen) über die „geschlossene“ (vom
Typus Sparta) triumphieren werde.38 Zur politischen und wirtschaftlichen Freiheit
gebe es nun in der „posthistorischen Welt“ keine Alternative mehr, und das, was an
friedlichen oder kriegerischen Ereignissen noch bevorstehe, seien allenfalls die
Nachwehen zur nunmehr erfolgten „Geburt der Komödie“, die bis zum Ende der
Menschheit andauern werde. Indem die Grundprobleme des Zusammenlebens
nach Jahrtausenden des Experimentierens mit Verfassungen endlich gelöst, die
ideologischen Differenzen überwunden seien, da nun global gleichartiger Wohl-
stand, gegenseitige Anerkennung und dauerhafter Frieden bevorständen, verdiene
das, was jetzt im „posthistorischen Greisenalter der Welt“39 vielleicht noch in Alba-
nien oder Obervolta vorfalle, nicht mehr die Bezeichnung „Geschichte“. Fukuyama
bekennt sich zu der populären Idee eines kohärenten und konsequenten Geschichts-
prozesses, der auf der Zielgraden zu einer gleichmäßig zivilisierten Weltgesellschaft
sei. Er begründete seine Theorie vom endism mit der Formel seines amerikanischen
3. Geschichtslosigkeit
3a. Im zehnten Kapitel der Apokalypse erscheint ein riesiger Engel und schwört bei
dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, „daß hinfort keine Zeit mehr sein soll.“
Mit der Wiederkehr des Messias ist die Geschichte zu Ende. Dies war sie in gewisser
Weise schon mit der ersten Parusie, mit der Vision der Frauen am leeren Grab oder
der Himmelfahrt. Das meinte Paulus, als er schrieb, die „Fülle der Zeit“, die pleni-
tudo temporis sei erreicht.46 Für den Frommen ist alles Gerangel um irdische Güter –
und was ist Geschichte anderes? – eitles Getriebe, unerheblich und nicht erinne-
rungswürdig, außer zum Beweis, daß es trostlos und nicht erwähnenswert ist. Den
wahren Christen augustinischer Prägung interessiert Geschichte nur, soweit er sie
als Wort Gottes in der Bibel liest oder zu deren Verständnis benötigt.47 Die
Gemeinde der Heiligen lebt geistlich außerhalb, steht über der Geschichte.48
3b. Für die Menschheit insgesamt vollzieht sich die Entgeschichtlichung, sobald
der Messias auf den Wolken des Himmels erscheint. Mit dem Jüngsten Tag kehrt
im Kosmos Ruhe ein, die gemäß Thomas von Aquino edler ist als Bewegung. Die
Himmelskörper kommen zum Stillstand, die Dunkelheit verschwindet aus der obe-
ren Welt. Die paradiesische Geschichtslosigkeit besteht aus Licht und Lust in seliger
Gottesschau. Es gibt keine Pflanzen und Tiere mehr, die ja zur Bedürfnisbefriedi-
gung der Menschen geschaffen waren und daher nun überflüssig sind.49 Auch die
ewigen Höllenqualen der Verdammten sind ein geschichtsloser Zustand.
3c. Die neuzeitlichen Vertreter eines Übergangs in die irdische Geschichtslosig-
keit50 sind weniger phantasievoll. Sie arbeiten stattdessen mit einem verkürzten
Geschichtsbegriff. Er wird so zurechtgeschnitten, daß alles, was nach der behaupte-
ten Finissage geschieht, den Namen Geschichte nicht mehr verdiene und nur als
deren unerheblicher Wurmfortsatz zu erachten sei. Er wird amputiert. Die Technik
der Operation zeigt musterhaft Fukuyama. Er vollzieht drei Schnitte. Zum ersten
schneidet er alles aus, was nicht Politik ist. Das künftige kulturelle, technische und
demographische Geschehen zieht er als unerheblich für die Geschichte nicht
Betracht. Zum anderen beschränkt er die Politik auf den Siegeszug des American
way of life . Wie sich die Ordnung des Zusammenlebens zwischen den himmelweit
auseinanderklaffenden „Demokratien“ weiter entwickelt, bleibt außen vor. Zum
dritten blendet er als Gegner im Kampf Staaten und Völker, Religionen und Kul
turen aus zugunsten der angeblich erledigten Konkurrenz politischer Grundprin
zipien. Da sich unter ihnen, wie er wähnt, die kapitaldemokratische Ideologie
endgültig durchgesetzt habe, ist alles weitere für ihn bloße Resteverwertung, hege-
lianisch: „faule Existenz“.51
3d. Wer ein solches eigenwilliges Selektionsverfahren billigt, steht vor absurden
Konsequenzen. Er könnte die Geschichte auch 1919 enden lassen, weil damals das
seit Homer dominante monarchische Gottesgnadentum als Herrschaftslegitima-
tion52 dem demokratischen „Volkswillen“, gemäß den Prinzipien der Französischen
nenswertes vorfällt, wo keine bedeutsame Neuerung, sondern nur mehr oder weni-
ger ewiges Einerlei stattfindet. So etwas hat es immer gegeben. Im Vergleich mit
den pulsierenden Hafenstädten war das Leben unter den Schäfern in Arkadien oder
das der Pygmäen im tropischen Regenwald arm an großer Geschichte und galt
lange als „geschichtslos“, nicht nur bei Hegel.58 Spenglers Muster sind die ägypti-
schen Fellachen, deren Leben einer gleichbleibenden Ordnung unterlag.59
Geschichtslosigkeit muß kein perspektivischer Irrtum im beschränkten Rückblick
des Historikers sein, sondern kann durchaus dem Bewußtsein der Betroffenen ent-
sprechen. Synesios von Kyrene schrieb um 400 n. Chr., seine Bauern glaubten, daß
noch immer Agamemnon an der Regierung sei.60 Ereignisarmut muß nicht auf
Erlebnisarmut beruhen, das sind verschiedene Kategorien. Die „Ebentheuer des
Armen Mannes im Tockenburg“ begannen, als er 1754 von seiner väterlichen Alm
nach Potsdam kam und es nicht mehr mit Kühen, sondern mit Soldaten zu tun
hatte.61
3h. Die unterschiedlich dichte Ereignisfolge im Lauf der Geschichte zeigt ein
Blick auf die Frühzeit des Menschen. Von den Heldentaten der Neandertaler und
Mammutjäger hat sich keine Kunde erhalten. Wir wissen nicht einmal, seit wann
Menschen und Völker Namen getragen haben. Die Urgeschichte vor den ersten
Hochkulturen in Mesopotamien und im Niltal mit Hegel aus der Geschichte aus-
zugliedern62 uns als „Vorgeschichte“ zu kennzeichnen oder gar mit Spengler in die
Zoologie zu verweisen,63 geht nicht an, wie nicht zuletzt die großartigen Höhlen-
malereien der Eiszeit und die gewaltigen Steinbauten der Megalithkultur dartun.
Die Entwicklung der Streitaxt ist ein historisch faßbarer Vorgang, nicht aber ein
mit ihr vermutlich ausgetragener Zwist unter den Schnurkeramikern. Kriege zwi-
schen Germanenstämmen bezeichnete Spengler als Kämpfe zwischen Ameisenvöl-
kern.64 Die clades Variana hatte andere Folgen als eine Schlacht der Chamaven und
Angrivarier gegen die Brukterer, von der nur die Zahl von angeblich 60 000 Gefal-
lenen überliefert ist.65 Sowohl die frühzeitlichen Wanderungen als auch die Fort-
schritte der Zivilisation vollzogen sich unendlich langsam. Von der ersten Verwen-
dung des Feuers bis zu ihrer Seßhaftigkeit hat die Menschheit fast eine Million
Jahre gebraucht. Zwischen den einzelnen zivilisatorischen Fortschritten der Urzeit
liegen Jahrtausende. Erst mit der Schrift, dem Metall und dem Städtewesen im
3. Jahrtausend beschleunigt sich der Gang der Dinge, vermehrt sich das Quantum
an Geschichte. Seitdem begleitet den technischen Fortschritt das Auf und Ab der
Mächte und Kulturen.
3i. Der Befund ungleichmäßiger Ereignisdichte macht Geschichtslosigkeit vor-
stellbar.66 Für eine solche Fiktion müssen wir uns eine Zeit vorstellen, in der alles
fehlt , was den Namen eines denkwürdigen Ereignisses verdient. Dabei entsteht das
Bild einer homogenen und stabilen globalen Utopie, der weder eine Wunschvor-
stellung noch eine Angstvision zugrunde liegt, sondern lediglich eine Denkmög-
lichkeit. Vorausgesetzt ist einerseits eine gleichförmige Weltgesellschaft und ande-
rerseits eine anthropologische Wandlung: Der Mensch ist aus dem Raubtier nach
Spengler zum Haustier nach Lorenz geworden, eben ein wohltemperierter Endzeit
bürger.
3j. In einer geschichtslosen Gesellschaft der Nachgeschichte herrscht entweder
totale Unordnung oder höchste Ordnung, reine Natürlichkeit oder perfekte Künst-
lichkeit. Geschichte war Kontingenz, sie lag zwischen Zufall und Notwendigkeit,
zwischen Turbulenz und Stringenz. Im Leben jenseits der Geschichte indessen sind
alle Spannungen zwischen Gruppen ausgeglichen und diese selbst auf Vereins-
größe reduziert. Konflikte gehören gegebenenfalls in die Kriminalakten. Für eine
geschichtslose Industriegesellschaft wäre eine zentrale Versorgungsbürokratie anzu-
nehmen, die demokratisch oder populistisch legitimiert ist und alles regelt. Der
Volkswille wird durch operative Demoskopie teils ermittelt, teils gesteuert, indem
nur solche Fragen gestellt werden, die vorhersehbare Antworten und erfüllbare
Wünsche erwarten lassen. Die so gewonnene allgemeine Meinung wird durch Mas-
senmedien verbreitet. Der Wohlstand ist so verteilt, daß Neid allenfalls zwischen
Nachbarn aufkommen kann.
3k. Experten und Technokraten regeln hinfort panem et circenses. Als Sedativa
für das allgemeine Erregungsbedürfnis dienen im Hause Bildschirm und Beschal-
lungsapparate, außer Hause organisierte happenings und events in kurzen Abstän-
den. Aggressivität kann sich im Sport austoben. Man lebt chacun à son goût. Das
kulturelle Leben wird bunt und kleinkariert, frei von Stilzwängen. Freilich: allzu
bunt wird grau. Das talmigoldene Mittelmaß regiert. Friktionen sind parzelliert
und normalisiert. Was immer geschieht, bleibt im Rahmen des Alltäglichen, es ent-
wickelt sich nichts, alles ist entwickelt. Früheres ist zum Verständnis des Späteren
nicht mehr erforderlich. Alle Erfindungen und Entdeckungen sind gemacht. Ver
änderungen verlaufen schleichend und in regellos wechselnder Richtung. Über
regionale Ereignisse sind nur noch Vulkanausbrüche und Wirbelstürme. Der Strom
der Geschichte ist kanalisiert, alle Katarakte sind beseitigt.
3l. Sehnsucht nach Geschichte mit der Gefahr eines Rückfalls wird dadurch
verhindert, daß die Scheußlichkeiten der Vergangenheit in den Lehrplänen der
Schulen und den Fernsehprogrammen prominent sind. Sie vermitteln das stolze
Gefühl: Ein Glück, daß wir all das hinter uns haben! Man lebt objektiv unge-
schichtlich, aber nicht subjektiv ahistorisch. Die Historiker werden auch in der
Nachgeschichte nicht arbeitslos, solange noch nicht alle Schandtaten der Vergan-
genheit bekannt geworden sind. Die letzte Schwundstufe von Geschichte zeigt sich
in einer nichtssagenden Chronik der Namen von very important persons, analog
den ältesten Priester- und Herrscherlisten. Das humanitäre Endzeitideal wäre ein
Triumph der Nächstenliebe. Die Erde würde, wie Goethe formulierte, zu einem
großen Hospital, wo der Unterschied zwischen Arzt und Patient, zwischen Heilen
und Verletzen, zwischen Medizin und Gift überwunden und abgeschafft wäre.
Diese Gesellschaft hat keine Zukunft mehr, denn sie ist selbst die Zukunft.
ist, uns in anderen Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten.“69 Damit hat Kant frei-
lich die Möglichkeiten der Astronautik überschätzt. Es gab keine Stufe der Zivilisa-
tion, auf der sich die Menschheit mit regenerationsfähigen Rohstoffen begnügt
hätte. Die Geschichte der Menschheit war immer die Geschichte der Ausbeutung
der Natur und damit der Anfang vom Ende.
4e. Grundsätzlich sind zwei Todesarten der Menschheit denkbar. Das harte
Ende wäre der Atomschlag. Ihn dachten sich Horkheimer und Adorno in zwei
Varianten. „Entweder zerfleischt sich die Menschheit selbst oder sie reißt die
gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.“70 Das war 1944 noch nicht plausi-
bel, rückte aber nach dem Abwurf von Little Boy auf Hiroshima am 6. August 1945
in den Bereich des Möglichen. Das nukleare Ende der Geschichte fiele mit dem
Ende der Menschheit zusammen. Ein solches Finale Furioso ist mehrfach befürchtet
oder wenigsten für möglich gehalten worden;71 ist jedoch unwahrscheinlich, da, wie
uns die Bibel und Darwin – diesmal d’accord – lehren, ein einziges überlebendes
Menschenpaar, vielleicht auf Samoa, genügt, um die Art zu erhalten.
4f. Mehr spricht für ein weiches Ende, das langsam verläuft, indem die Ereignis-
fülle allmählich zurückgeht, das Quantum an Geschichte wieder abnimmt. Auf die
Zeitachse vom Sündenfall bis zum Weltgericht aufgetragen, bilden die geschichts
relevanten Geschehnisse vielleicht eine Gaußsche Glockenkurve, die gleich der
Bahn eines fliegenden Fisches aus einem beinahe geschichtslosen Zustand der
Urzeit auftaucht, in unserer Gegenwart kulminiert und nach einigen Jahrhunderten
wieder in den nahezu geschichtslosen Zustand einer erneuten Steinzeit zurück-
sinkt.72 So wie am Anfang eine prähistorische Zeit stand, könnte am Ende tatsäch-
lich eine posthistorische Zeit folgen. Das Ende der Geschichte ginge dem Ende der
Menschheit voraus. Es findet statt, bevor sie einst ausstirbt, nachdem die lebensnot-
wendigen Umweltbedingungen verschwunden sind und das genetische Potential
unserer Gattung an Vitalität erschöpft ist. Millionen ausgestorbener Arten haben
das „vorgelebt“.
4g. Das Bewußtsein vom letzten Kapitel der Geschichte ist alt. Bereits Seneca
unter Nero prognostizierte am Ende der Zeit neben gigantischen Naturkatastro-
phen einen Rückfall der Zivilisation auf Steinzeitniveau. Im Eschatolithikum wer-
den die Menschen wieder in Höhlen wohnen und Eicheln fressen. Auf diesem
Niveau kann die Menschheit auch die nächste Eiszeit überstehen, bevor die Natur
ihre Stimme erhebt und den Menschen verabschiedet. Er aber, bemerkte Pascal, ist
edler als sie, denn er weiß auch sterbend, was ihm von ihr widerfährt, während sie
auch lebend nicht weiß, was sie tut: „Quand l’univers l’écraserait, l’homme serait
encore plus noble que ce qui le tue, puisqu’il sait qu’il meurt, et l’avantage que l’univers
a sur lui; l’univers n’en sait rien.“73 Wäre das ein Trost?
a. Als der Prinz Zemir nach dem Tode seines Vaters die Herrschaft über Persien
übernahm, da berief er vierzig weise Männer vor seinen Thron und erklärte, bevor
er sich mit der Politik befasse, wolle er die Annalen der Völker studieren, um die
Irrtümer der Vergangenheit zu vermeiden. Zemir beauftragte die Gelehrten, ihm
ein Kompendium der Weltgeschichte zusammenzustellen. Sie sagten zu und gingen
an die Arbeit. Nach zwanzig Jahren, Zemir war längst an der Macht, kamen sie
wieder und führten eine Karawane von zwölf Kamelen mit, jedes beladen mit fünf-
hundert Büchern. „Bei Allah!“, stöhnte Zemir, „wann soll ich das lesen?“ Er ließ die
Bände in sein Archiv bringen und forderte eine kürzere Fassung. Die Gelehrten
machten sich wieder ans Werk und erschienen nach zehn Jahren, jetzt mit drei
Kamelen und nur fünfzehnhundert Büchern, in denen – wie sie versicherten –
nichts Wesentliches ausgelassen sei. „Beim Barte des Propheten! Das ist ja immer
noch viel zu viel!“, rief Zemir. Also mußten die Weisen ein drittes Mal an die
Arbeit. Nach diesmal fünf Jahren kehrten sie zurück, allerdings nur zu dritt. Die
übrigen Gelehrten waren inzwischen verstorben. Sie brachten einen einzigen Ele-
fanten mit und nur ein einziges Buch. Das aber hatte zehntausend Seiten. König
Zemir lag inzwischen selbst im Sterben; er stöhnte und fragte: „Geht es denn wirk-
lich nicht kürzer?“ „Doch“, sagte der älteste der Weisen. „Man kann die Weltge-
schichte auch in drei Worte fassen: Sie lebten, plagten sich und sind gestorben.“
b. Diese vom Abbé Blanchet († 1784) überlieferte Legende1 beleuchtet eine der
sieben Aporien der Geschichtswissenschaft.2 Das Wissen von der Vergangenheit soll
uns über das Handeln des Menschen orientieren. Eine solche Orientierung aber ist
unmöglich, wenn wir mit der ungefilterten, ungegliederten Masse der Tatsachen
konfrontiert werden. Man hat die Teile in der Hand, „fehlt, leider! nur das geistige
Band.“ Die Forschung hilft hier kaum weiter. Denn sie vermehrt in erster Linie die
Zahl der Bücher, vermehrt in zweiter Linie die Erkenntnisse in den Büchern, ver-
mehrt aber erst in dritter Linie das Wissen in den Köpfen und – wenn überhaupt –
Einsichten in das Wesen des Geschehens. Die Vermehrung des Gewußten vertieft
nicht das Verständnis. „Vielwisserei lehrt keine Vernunft“, heißt es bei Heraklit,
„Weisheit (to sophon) erfordert die Erkenntnis des Gedankens, der alles steuert.“3
Um einen Leitfaden durch das Labyrinth des Geschehenen zu gewinnen, müssen
wir, wie es bei Strabon heißt, die mit den Sinnen erfaßten Teile mit dem Verstand
zu einem Ganzen verbinden.4 Das heißt hier: die historischen Fakten nach Rele-
1. Begriff Geschichtsphilosophie
1a. Der Versuch, hier die rechte Mitte zu finden, Wesenszüge der Geschichte zu
erkennen, ist das Geschäft der Geschichtsphilosophie. Der Begriff Philosophie de
l’histoire erscheint zuerst in einem Brief Voltaires vom 4. März 1765 aus Ferney an
Damilaville, wo er auf ein Manuskript dieses Titels verweist. Als Autor wird der
verstorbene „Abbé Bazin“ genannt, als Erscheinungsort Holland. Das Buch exi-
stiert, es erschien 1765 in Amsterdam. Als Herausgeber firmiert ein anonymer
Neffe des Abbé. Gewidmet ist das Werk Katharina der Großen, mit der Voltaire
über das Buch, den Autor und den Herausgeber korrespondierte. Es handelt sich
um eine geistreiche Mystifikation des aus Paris verbannten Voltaire selbst. Das
Werk5 enthält einen Abriß der Weltgeschichte, beginnend mit geologischen Über-
legungen, den Menschenrassen und den Frühformen der Religion. Es folgt eine
Kulturgeschichte vom Alten China und dem frühen Orient an über die Juden seit
Abraham bis ins Mittelalter. Die biblische Frühzeit ist gestrichen, die jüdische
Überlieferung kritisch behandelt und manche bis heute verkannte Legende mit
einem Fragezeichen versehen.6 Es handelt sich um ein grundgelehrtes Buch, „philo-
sophisch“ insofern, als es die Heilgeschichte säkularisiert. „Philosophisch“ sind, so
wie in Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations die Charakterisierungen der
Völker und Zeiten, verallgemeinernde Abstraktionen und Maximen. Leitender
Gesichtspunkt ist das traditionell Bemerkenswerte, so wie Voltaires Freundin
Madame de Châtelet interessiert war „an dem, was am meisten Beachtung ver-
diente“.7
1b. Im heutigen Sinne erscheint der Begriff „Geschichtsphilosophie“ zuerst bei
Herder. Seine Frühschrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der
Menschheit‹ von 1774 zeigt einen bei Voltaire fehlenden Leitfaden. Herder wählt
die menschlichen Lebensalter als Denkmuster für die historische Entwicklung, ver-
wendet aber daneben auch das Bild eines Bauwerks, das eines Baumes und das einer
„Fahrt“, eines „Fortgangs zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit“ auf dem Wege
in eine „große Zukunft“. Damit erscheint die Geschichte als System, wie es eine
philosophische Behandlung erfordert. Ihr geht es stets um die Geschichte der
Menschheit schlechthin, um Aussagen über Verlauf und Gestalt, über Gliederung
und treibende Kräfte.
1c. Anfechtbar ist die Ansicht, daß von Geschichtsphilosophie erst gesprochen
werden könne, seitdem es den Begriff gibt, mithin seit der Aufklärung. Damit
2d. Dieses Denkmuster verwendet ein grobes Sieb, wo viel durchfällt, so wenn
Faust die Geschichte als „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer“ bezeichnet, in
der höchstens die eine oder andere „Haupt- und Staatsaktion“ bedeutsam sei. Kraß
sind gleichfalls die Abstriche aus dem Gesamtgeschehen, wo die Geschichte ledig-
lich als eine Galerie von Biographien, als ein Friedhof großer Männer Beachtung
findet. Bloß rhetorischen Charakter haben Exemplasammlungen in der Art des
Valerius Maximus, des Polyän oder des Hygin. Praktisch-politisches Interesse liegt
den Exzerpten aus der Historiographie zugrunde, die der byzantinische Kaiser Con-
stantinus Porphyrogenitus († 959) anlegen ließ unter Stichworten wie Über
Gesandtschaften, Über Kriegslisten, Über bemerkenswerte Aussprüche usw. An so
etwas dachte wohl auch Prinz Zemir.
*
2e. Anders denken die Vertreter der häufigeren dynamischen Konzeption, bei der
aus dem Knäuel zahlloser Ereignisfolgen ein einziger Vorgang wird. Auch hier liegt
eine Raumvorstellung zugrunde, die unsere Zeitempfindung begreiflich macht. Sie
beruht auf der Übertragung gegenständlicher Bewegung auf Ereignis- oder
Zustandsfolgen. Leitidee ist der „Weg“, der „Gang“ oder der „Lauf“ der Dinge. Dies
zeigt der Bildgehalt in den Begriffen „Vergangenheit“ und „Zukunft“, in den Wör-
tern „Fortschritt“, „Rückgang“ und „Kreislauf“ sowie ihrer Äquivalente in anderen
Sprachen, bei dem lateinischen processus oder progressus und dem griechischen
prokopē. Auch den verwandten Ausdrücken „Entstehung“ und „Entwicklung“, aber
auch „Verfall“ und „Auflösung“ liegt eine verblaßte Erinnerung an räumliches
Geschehen zugrunde. Selbst die Logik kommt ohne Anleihen bei Raumvorstellun-
gen nicht aus, wie die Grundbedeutung von „Grund“ und „Folge“ zeigen.
2f. Das Denkbild des Weges steht Pate, wenn wir im Kontinuum der Zeit einen
Vorgang durch Anfang und Ende, durch Ursprung und Ziel ausgrenzen, wobei der
Begriff „Grenze“ selbst wieder Raumvorstellung voraussetzt. Das gilt ebenso, wenn
wir sagen, daß es mit einer Sache vorwärts oder rückwärts, bergauf oder bergab
„geht“, wenn wir von Richtung, von Zeit- und Wendepunkt, Höhe- und Tief-
punkt, von Zäsur (Einschnitt) und Periode (Umlauf ) sprechen. Begriffe wie Zeit-
raum, Zeitrahmen, Zeitfenster bestätigen das. Wo von einem „Plan“ die Rede ist,
da ist eine Fläche mitgedacht. Selbst „Sinn“, „Erinnerung“, „Erfahrung“ und „Vor-
stellung“ gehen auf Räumlichkeit zurück, ja schon die zeitlich verwendeten Adjek-
tive lang und kurz, nah und fern, sowie die Präpositionen in, vor, nach und bis
zeigen das. Zeit ist ohne Raum nicht zu denken, Raum ohne Zeit sehr wohl durch
die Annahme von Stillstand, wobei wir allerdings vergessen müssen, daß unser
Denken selbst Zeit beansprucht. Die in unseren Zeitvorstellungen verborgene
Bewegungsmetaphorik steckt dann ebenfalls in abgeleiteten Denkbildern für Histo-
risches aus den Bereichen des organischen Geschehens (Lebensaltergleichnis), der
Technik (Vernetzung) und der szenischen Darstellung (Welttheater).
ewige Tafeln.35 Für Juden und Christen ist das Leitprinzip ihr Gott, der alles weiß,
weil er alles bewirkt. Ganz folgerichtig war Augustinus strenger Determinist. Das
ist nun eine Sache des Glaubens, nicht des Handelns. Denn da wir nicht wissen,
was Gott beschlossen hat, erfüllen wir, was wir auch tun, seinen Plan. Mit der Ent-
mythisierung des Weltbilds durch die Aufklärer wurde Gott suspendiert, aber sein
Thron mit einem irreligiösen neutralen Nachfolger neu besetzt: durch die personi-
fizierte Natur (Kant), den höchsten Geist (Schiller), die Weltseele (Schelling), das
Absolute (Fichte), den Weltgeist (Hegel), die Politik (Napoleon), die Weltregierung
(Humboldt), den „verhüllten Genius unserer verschatteten Kugel“ (Jean Paul), die
Produktivkräfte (Marx), das Grand-Être (Comte), die schöpferische Evolution
(Haeckel), die Kulturseele (Spengler), die gnadenlose Vorsehung (Hitler) oder die
wohlmeinende „Weltvernunft des Logos“ (Lorenz). Die Ersatzbegriffe für Gott
übernehmen seine Funktion. Wir denken an den Wolf im Geschirr von Münch-
hausens Schlittenpferd.36
2j. Die Annahme einer höheren Weltregierung löst den Widerspruch zwischen
Absicht und Ergebnis. Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade. Hegel
sprach von der „List der Vernunft“, gemeint ist die des Weltgeistes. Der Gedanke ist
alt. „Eure Wege sind nicht meine Wege“, spricht der HErr im Munde Jesajas. Augu-
stinus bringt es in der Form: Gott hätte in seiner Güte das Böse nicht zugelassen,
könnte er es als Allmächtiger nicht zum Guten wenden – non sineret bonus (deus)
fieri male, nisi omnipotens (deus) etiam de malo facere posset bene.37 Bei Vico benutzt
die Vorsehung die Leidenschaften der Menschen, um Chaos in Ordnung zu ver-
wandeln. Leibniz erinnert homöopathisch an die doppelte Negation von Gift und
Gegengift bei Ausonius: et si fata volunt, bina venena iuvant38 – „Und wenn das
Schicksal es will, hilft dir zweifaches Gift.“ Er folgert: que souvent un mal cause un
bien.39 Schiller erklärte 1789, die Geschichte zeige, „daß der selbstsüchtige Mensch
niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.“40
Kant vertraute 1798 auf die „Hervorbringung des vom Menschen nicht beabsich-
tigten, aber, wenn es einmal da ist, sich ferner erhaltenden Guten aus dem innerlich
mit sich selbst immer veruneinigenden Bösen“.41 Mephisto bekennt sich als ein Teil
der Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Fichte wiederum
meinte, daß der Staat, indem er seine Selbsterhaltung betreibe, „dennoch den höhe-
ren Zweck der Entwicklung des Menschengeschlechts befördere.“42 Bei Droysen
sorgen die „sittlichen Sphären“ dafür, daß „die Dinge ihres Weges gehen trotz des
guten oder bösen Willens derer, durch welche sie sich vollziehen.“43 Nach Hegel
heißt es dann bei Friedrich Engels: „Was jeder Einzelne will, wird von jedem andern
verhindert, und das, was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat. So ver-
läuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses.“44 Und nach Goethe
meinte Meinecke, daß „Gott des Teufels bedürfe, um sich zu realisieren.“45
2k. Die Annahme, daß der Gang der Geschichte sinnvoll sei, obschon ihm kein
gemeinsamer Wille der Menschheit zugrunde liegt, ist eine Erblast aus der religi-
ösen Tradition. Das zeigt sich auch in der Vorstellung von einem allem Geschehen
zugrundeliegenden Gegensatz. So wie die Bewegung physikalisch aus dem Zusam-
menspiel von Triebkraft und Trägheit konzipiert wird, so gehört zu den durchgän-
gigen Denkschemata der Geschichtsphilosophie die Annahme einer inhaltlich
bestimmbaren Dialektik zwischen polaren Potenzen von universaler Wirksamkeit.
Diese binomische Struktur beherrscht die Vorstellung von Geschichte als Prozeß.
Dualismus vereinfacht die reiche Farbskala der Phänomene zu einem klar kontu-
rierten Holzschnitt in Schwarz-Weiß. Mit Grund protestierte dagegen Theodor Les-
sing 1922: „Leser! Hüte dich vor dem Joche der Gegensatzbegriffe!“46
2l. Der elementare Dualismus im Bereich des Menschenwesens ist der von Gut
und Böse. Demgemäß sind die paarweise gedachten Kräfte in der Geschichte
gewöhnlich nicht gleichwertig, sondern einerseits positiv, andererseits negativ
besetzt. Das beginnt mit dem Widerstreit von philia (Liebe) und neikos (Hader) bei
Empedokles, konkretisiert sich im Ost-West-Konflikt zwischen Asien und Europa
bei Herodot, wird religiös überhöht bei Zarathustra in dem Kampf zwischen Ahura
Mazda und Ahriman und setzt sich fort im dualistischen Weltbild der Gnosis, ins-
besondere der Manichäer. In der biblischen Tradition ringen Gott und Teufel um
die Seelen, Augustinus entwickelte daraus seine geschichtsphilosophische Antino-
mie von Civitas Dei und Civitas terrena.
2m. In der Neuzeit ist Polarität eine zentrale Kategorie im Denken Goethes,
wenn er zwischen Zeiten des Glaubens und Zeiten des Unglaubens unterscheidet.
Bei Hegel 1831 gelangt der Weltgeist zum Bewußtsein seiner selbst im Kampf zwi-
schen Herren und Knechten. Marx verstand 1847 die Geschichte als Klassenkampf
zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, bei Nietzsche gibt es 1871 den „fortwäh-
renden Kampf“ zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen.47 Mommsen
notierte 1857: „Die Geschichte, der Kampf der Notwendigkeit und der Freiheit, ist
ein sittliches Problem“, er zählte 1885 zu den „Gesetzen der Weltgeschichte“ die
ewige Abfolge von „Aufschwung und Niedergang“.48 Bei Treitschke 1861 heißt die
welthistorische Antinomie Beharren oder Geistesfreiheit,49 bei Freud Eros oder
Todestrieb.50 Carl Schmitt unterteilte die Mitmenschheit 1927 in Freund und
Feind und schrieb 1942 eine ›Weltgeschichtliche Betrachtung‹ über den ewigen
Kampf zwischen Landmächten und Seemächten.51 Ludwig Klages sprach 1929 von
dem Dauerkonflikt zwischen (herzlosem) Geist und (erdnaher) Seele.52 Meinecke
schrieb 1934: „Weltgeschichte ist nun mal der Kampf zwischen Sinn und Sinnlo-
sigkeit, ewig wogend.“53 Karl Popper rechnete 1944 mit einem universalen Antago-
nismus zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Konrad Lorenz erklärte
1973, daß wie die Evolution so die Geschichte „nur vom Zufall und von der Not-
wendigkeit gelenkt“ werde, daß der Mensch unter dem Konflikt zwischen natürli-
chen und kulturellen Geboten leide und daß Selektion außerspezifisch positiv, aber
innerspezifisch negativ wirke. Lorenz bekämpfte jedoch entschieden das den Deut-
schen eigentümliche dualistische Denken.54
3. Fortschritt
3a. Das Wort Fortschritt56 ist eine seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbare
Lehnübersetzung des französischen progrès. Sie ist mißglückt, denn „fort“ heißt
„weg von“, aber pro bedeutet „vor“, „vorwärts“, „hin zu“. Mit sicherem Sprach
gefühl verwendeten Herder und Goethe die richtige Bildung „Vorschritt“, die
Mommsen übernahm,57 nachdem Grillparzer sie nochmals verteidigt hatte:
Tugenden und Lastern den Leser zu belehren über das, was nachzuahmen oder zu
vermeiden sei, hatte einen didaktischen Sinn. Anders als Ranke und Max Weber
scheuten sich Voltaire und Hegel nicht, ganze Epochen pauschal zu bewerten; Marx
und Engels unterwarfen die gesamte Vergangenheit ihrem Urteil.
3c. Noch weiter gehen jene Professoren, die sich ein Urteil über die Ge
schichte schlechthin zutrauen. Die klassische Form dieser Tribunalisierung ist
die Theodizee, die sich anmaßt, selbst den Schöpfer der Welt und Herrn der
Geschichte auf die Anklagebank zu setzen, um ihn dann durch philosophische
Rabulistik doch mit Freispruch zu entlassen. „Was Gott tut, das ist wohlgetan“,
gewiß: aber für das, was Menschen tun, gilt das nicht unbedingt. Im Anschluß
an Leibniz und Hegel hat Nietzsche dann zwar nicht Gott, aber „das Dasein
und das Leben“ gerechtfertigt, nämlich als ästhetische Phänomene. Popper
erwartete 1944 die Rechtfertigung der Geschichte durch die Demokratie; Toyn-
bee tribunalisierte die Kulturen 1948, während Jaspers 1949 die „Überwindung
der Geschichte“ beim Betrachten der „Lichtfluten des Sonnenaufgangs“ lehrte.60
Neben der theologischen, der ästhetischen, der politischen und der romanti-
schen Apologie der Realität gibt es das juristische Plädoyer zu ihren Gunsten,
seit Hans Blumenberg 1968 der Neuzeit ihre „Legitimität“ bescheinigt hat,
indem er sie von dem in seinen Augen bestehenden Vorwurf befreite, ihr histo-
risches Selbstverständnis sei ein illegitimer Sproß der „säkularisierten“ christli-
chen Tradition. In all diesen Fällen kann durch Entlastung des Weltgeists das
Lebensgefühl des Lesers an Daseinsfreude gewinnen, alldieweil er sich damit
auch selbst als geschichtsphilosophisch bestätigt betrachten darf.
3d. Der Glaube an eine progressive Gesamtentwicklung der Menschheit
wird gestützt durch Erfahrung mit dem homo faber. Werktätige handeln in
erster Linie, damit der Zustand, in dem sie sich befinden, sich nicht verschlech-
tere. In zweiter Linie bemühen sie sich, ihn zu verbessern; und je weniger Kraft
und Zeit ersteres verlangt, desto mehr wird von beidem auf letzteres verwandt.
Denn der Mensch, zumal der faustische Typus im Abendland, neigt zu Unzu-
friedenheit und Tatendrang: „Je mehr er hat, je mehr er will. Nie schweigen
seine Wünsche still!“ Hölderlins Kennzeichnung der Deutschen als „tatenarm
und gedankenvoll“61 trifft nicht unbedingt zu, Spenglers Wort vom „Wikinger-
geist“ des Europäers schon eher. Bereits Thukydides rechnete die pleonexia, das
Mehrhabenwollen zu den Grundeigenschaften der menschlichen Natur.62 Nicht
selten sind rationale Beweggründe nur Vorwand für einen natürlichen Bewe-
gungsdrang. Psychologen sprechen hier von einer „funktionellen Autonomie
der Motive“.63 Die Hektik des Handelns ist von Lehrern des Quietismus seit
Buddha und Diogenes immer wieder als Ausdruck von Leid gedeutet und
durch Warnung vor Begehrlichkeit zu beheben versucht worden – doch blieb
der Erfolg auf wenige asketische Naturen beschränkt. Die nackten Weisen in
Indien haben ebensowenig wie Diogenes in seiner Tonne Alexander und seine
kutsche die Alpen überquerte. Froh zu sein, bedarf es wenig, wie es im Kinderlied
heißt, wenn uns auch eine allgegenwärtige Reklame einhämmert, daß nur Konsum
uns glücklich mache. Aber Geborgenheit und Anerkennung, ein Waldspaziergang
oder ein Musikerlebnis, ja nur das Wiedersehen mit einem Freund kann uns höhe-
res Glück bescheren als ein Lottogewinn. Das meinte Jaspers mit seinem Verweis
auf den Sonnenuntergang. Schwer vorstellbar ist das Glücksempfinden, das uns im
Reich Gottes erwarten soll, sei es im Himmel oder auf Erden.66 Alle Lust will Ewig-
keit – doch wäre ein Schlaraffenleben oder das permanente Jubilieren im Paradies
auszuhalten? Am Ende stürbe der Mensch dort ein zweites Mal – aus Langeweile.
Oder er revoltierte. Luzifer hat’s vorgemacht.
3i. Die zweite große Hoffnung des Fortschrittsglaubens galt und gilt der
Zunahme an Humanität. Der Begriff bezeichnet nicht ein Wesensmerkmal des
Homo sapiens, wie er ist, sondern ein Ideal, das er anstreben sollte, und zugleich
einen Maßstab, mit dem sein Verhalten zu beurteilen ist. Das Wort beruht auf dem
von Cicero geprägten, von homo – „Mensch“ abgeleiteten Wort humanitas, mit
dem er das auf Pythagoras67 zurückgehende Wort philanthrōpia – Menschenliebe
latinisierte. Es nähert sich den Begriffen eruditio und cultura, die alle ein geschichts-
philosophisches Programm enthalten: die Überwindung egoistischer Urtriebe.
Dennoch hatte Burckhardt gewiß Recht, wenn er meinte: „Die Aufopferung des
Lebens für andere kam gewiß schon bei den Pfahlmenschen vor.“68 Mit Grund
beklagte Kant das Manko einer allgemeinen Moralisierung, da der Mensch aus
„krummem Holze“ gemacht sei.69 Daher publizierte er einen Entwurf zum Ewigen
Frieden, der stets als Ziel der Humanität erschien, obschon von Heraklit bis Lorenz
der Kampf als unabdingbarer Motor des Fortschritts gedeutet wurde.
3j. Angesichts der begründeten Skepsis gegenüber einem allgemeinen Fort-
schritt in der Humanität ist doch eine Milderung der Umgangsformen anzuerken-
nen. Dazu zählt die Abschaffung der Menschenopfer durch die Verbote Gelons von
Syrakus und Kaiser Hadrians gegenüber den Puniern.70 In Rom untersagte ein
Senatsbeschluß des Jahres 97 v. Chr. Menschenopfer, und der Jurist Julius Paulus
bezeugt Anfang des 3. Jahrhundert n. Chr. ein gleiches.71 Indem er aber als Strafe
anführt, den Opferer den Zirkusbestien vorzuwerfen, zeigt sich nur ein begrenzter
Beitrag zur Hebung der Sitten. Es gab schwere Rückfälle in die legale Brutalität, so
im spätrömischen Vulgarrecht, mit dem Ordal und der Inquisition im Mittelalter,
mit der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V und den Hexenprozessen. Erst im
18. Jahrhundert wurden in Europa die gesetzlich verwendete Folter und die, zumal
im Kirchenstaat, straflos praktizierte Kastration von künftigen Diskantsängern ver-
boten, nachdem jährlich – so heißt es – über 4000 Knaben in Italien kastriert wor-
den waren. Die Sklaverei ist erst Ende des 19. Jahrhundert in der christlichen Welt
verschwunden.72
3k. Trotz allen menschenfreundlichen Errungenschaften und den immensen
Gewinnen an Lebensqualität sind die wieder mit den Weltkriegen verbundenen
Rückfälle in die Roheit dergestalt, daß der Fortschrittsglaube bei den Geschichts-
philosophen ins Wanken geraten ist und die Fortschrittskritik die Stimmung
beherrscht.73 Aber gleichviel bleibt die Humanisierung ein um so dringenderes
Postulat. Die allgemeine Verkündung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948
war immerhin ein Markstein in der Bewußtseinsbildung.74 An der Perfektibilität
des Menschen ist nicht zu zweifeln, nur daran, daß er von dieser Möglichkeit
Gebrauch macht.
4. Dekadenz
4a. Die Gegenbewegung zum Fortschritt heißt Dekadenz.75 Das Wort wurde im
17. Jahrhundert nach dem französischen décadence gebildet und geht zurück auf
lateinisch (de)cadere – fallen, woraus mittellateinisch decadentia – Verfall gebildet
wurde. Sehen wir ab vom mythischen Urglück, setzt Dekadenz Fortschritt insofern
voraus, als sie eine durch jenen erreichte Fallhöhe erfordert und den Verlust eines
gewonnenen Besitzes bezeichnet. Dekadenz steht für die Abnahme eines für das
Lebensgefühl wesentlichen Gutes ähnlich einer Erschlaffung, einer Ermüdung,
einer Krankheit oder der Altersschwäche, vergleichbar dem Untergang eines Schif-
fes oder dem Zerfall eines Bauwerks.
4b. Als Vorstufe des Niedergangs wird oft Stillstand betrachtet und als Stagna-
tion gebrandmarkt. „Was nicht wächst, muß schrumpfen“ heißt es. Gemeint ist,
daß da, wo kein Gewinn erzielt wird, doch ein Verlust an Zeit entsteht, die für den
Gewinn hätte genutzt werden müssen, um in einer vom Wettbewerb getriebenen
Gesellschaft nicht zurückzufallen. Dies ist jedoch ein Urteil aus der Außenperspek-
tive und steht unter Ideologieverdacht, weil es Konkurrenz und Rivalität als normal
voraussetzt und nichts über das Selbstverständnis jener aussagt, denen gegenüber
der Vorwurf, stehen geblieben zu sein, erhoben wird. Stillstand kann durchaus
wünschbar sein, wo nämlich die Vorzüge weiteren Fortschritts zweifelhaft geworden
sind.
4c. Die Klage über die gesunkene Gegenwart betraf in der Bibel den Abfall von
Gottes Gebot, bei Homer den Verlust an Heldenkraft und Heldenmut, bei Hesiod
das Verschwinden der Rechtlichkeit. Bei den Römern war das Lamento über den
Sittenverfall ein Dauerthema vom älteren Cato bis zum Kirchenvater Salvian, mit-
hin über sechshundert Jahre. Zutreffend war die Beobachtung, daß die Annehm-
lichkeiten der Zivilisation die Wehrkraft mindern. Wie oft haben nicht Barbaren
Kulturvölker besiegt! Denken wir an die Dorier gegen Mykene, die Germanen
gegen Rom, die Araber gegen Persien, die Mongolen gegen China, die Hunnen und
Türken gegen Byzanz. Weitere Beispiele lieferte Ibn Khaldun.
4d. Den klassischen Fall eines Dekadenzvorgangs bietet der Niveauverlust der
antiken Kultur, ablesbar am Rückgang der Schriftlichkeit, der Sprachreinheit, der
Infrastruktur, des Geldverkehrs, des Fernhandels, der Rechtssicherheit, des Städte-
wesens ...76 Er ist nicht der einzige Kulturverfall. Vorhergegangen war das Ver-
schwinden der eiszeitlichen Fels- und Höhlenmalerei vor 14 000 Jahren, das Ende
der Megalithkultur um 2000 v. Chr., das Erlöschen der kretischen und mykeni-
schen Palastkultur im späten 2. Jahrtausend, der Niedergang der altmesopotami-
schen Stadtstaaten, der Zerfall des Pharaonenreichs und das Verdämmern der grie-
chischen Poliswelt. Der Auflösung des Römerreiches folgten der Verfall von Byzanz,
der Abstieg Spaniens, Venedigs und des Osmanenreichs, um von den Maya und
den untergegangenen Kulturen Asiens zu schweigen. Die möglichen Erklärungen
aus inneren und äußeren Gründen wurden am Fall Roms durchexerziert.77 Nicht in
allen Bereichen ging es damals bergab. Fortschritte machten Mission und Organi-
sation der Kirche, die Verwendung des Blätterbuches und der Eisenwerkzeuge sowie
die Regeneration des Waldes. Insofern sind bezüglich des Dekadenzcharakters im
Fall der Spätantike gewisse Einschränkungen zu machen.78
4e. Geschichtsphilosophen, bei denen der Dekadenzgedanke des Kulturpessi-
mismus dominiert, amputieren die christliche Apokalyptik um den für die From-
men glücklichen Ausgang und enden mit Varianten zu den Wehen des Messias, mit
den Schrecknissen, die dem Sieg bei Harmagedon vorhergehen. Schwarzseher gal-
ten als geistreich: Aristoteles ait omnes ingeniosos melancholicos esse.79 Humoralpatho-
logisch gesehen, handelt es sich um ein Übermaß an Schwarzer Galle, die auf das
Geschichtsbild abfärbt. Die meisten Dekadenztheoretiker bieten jedoch einen
Hoffnungsschimmer. So hat sich der Erzvater des Untergangs Spengler gegen den
Vorwurf des Pessimismus 1921 nicht ganz überzeugend gewehrt, denn die von ihm
dem Abendland und der europäisierten Menschheit in Aussicht gestellte Zivilisa-
tion mit ihrem Kampf um die Weltherrschaft ist auch in seinen eigenen Augen ein
Abstieg von der Höhe goetheanischer Kultur. Pessimismus ist zumeist ein Vorwurf
von Optimisten und daher keine neutrale Kennzeichnung. Pessimisten pflegen sich
als Realisten zu verstehen und Optimisten als Wunschdenker zu bezeichnen.80 Prä-
gnant Spengler: „Optimismus ist Feigheit“ – oder, bei Arthur Herman: Optimis-
mus ist amerikanische Staatsideologie.81
4f. Einen endgültigen Abgesang auf das Abendland verdanken wir Theodor Les-
sings Fluch auf die Kultur von 1921. „Europa wird sich selbst verbrennen auf dem
Aschenberge seiner großen Leistungen.“82 Das Ende der Menschheit kündet dann
sein Buch ›Der Untergang der Erde am Geist‹ von 1924. Der „Schöpfer der Wirk-
lichkeitswelt und ihrer Geschichte“ war demnach der Teufel. Zeichnete er sich
nicht schon durch Klugheit aus in Gestalt der Schlange im Paradies? Die Geschichte
ist für den Autor eine „Sackgasse“, das Leben erlischt durch die „Diabolik des Gei-
stes“, jenen „Parasiten am Leben“, der die Naturkraft in uns aufzehrt. Vitalität ver-
dampft in Intellektualität. Es folgt das „Erlöschen des Lebens im Geist“, ja das
Weltende.83 Bereits Hegel verband den Geist mit dem Ende, mit dem Übergang aus
der Zeit in die Ewigkeit, sah das aber optimistisch. Die pessimistische Kurzform
bietet Ludwig Klages 1929: „Das Wesen des geschichtlichen Prozesses der Mensch-
heit (auch Fortschritt genannt) ist der siegreich fortschreitende Kampf des Geistes
gegen das Leben mit dem – absehbaren Ende der Vernichtung des letzteren.“84
4g. Klagen über die Dekadenz der westlichen Industriegesellschaft kommen aus
allen Lagern – ganz rechts wie ganz links.85 In ihrer ›Dialektik der Aufklärung‹ von
1944, geschrieben in Santa Monica, erhoben Horkheimer und Adorno schwere
Vorwürfe gegen die seit dem 18. Jahrhundert in Gang befindliche Modernisierung.
Die Aufklärung als Lehre der Machbarkeit alles Möglichen habe seit Napoleon
ihren humanitären Impuls verraten und die Welt im Namen der praktischen Ver-
nunft instrumentalisiert. Die beiden Autoren wenden sich gleichermaßen gegen
den kulturarmen Kapitalismus in Amerika (das sie aufgenommen hat) wie gegen
den inhumanen Faschismus (dem sie entkommen sind), zwei Varianten der Barba-
rei, die als Tief- und Endpunkt der falsch verstandenen Aufklärung erscheint. Der
Fortschritt habe durch die Entfesselung der ökonomischen Mächte seine Destruk-
tivkraft entfaltet und allenthalben Rückschritt bewirkt. Folge sei die Selbstzerstö-
rung der Aufklärung. Unschlüssig sind die Autoren hinsichtlich der Form, in der
sich die Menschheit vernichten wird. Die Geschichte ist „das Grauen“.86
4h. Zwischen den Argumenten für die Fortschrittlichkeit der Geschichte und
den Einwänden der Dekadenzerfahrung ist eine Bilanz schwer zu ziehen. Man kann
dem Janus kein drittes Gesicht aufsetzen. Bei jedem Fortschritt gibt es Verlust und
Verlierer, bei jeder Dekadenz Genuß und Gewinner. Der Unterschied liegt nur
darin, daß die Verlierer beim Fortschrittsprozeß innerhalb, die Gewinner bei Deka-
denzvorgängen außerhalb der jeweiligen Gesellschaft stehen. Im zweiten Fall profi-
tieren die robusteren Barbaren von der Erschöpfung einer verfeinerten Zivilisation;
im ersten Fall bleiben die Schwächeren in der Konkurrenz auf der Strecke, erken-
nen Weiterblickende die langfristigen Schäden kurzfristiger Vorteile. Das Für und
Wider könnte auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen, bei dem es nicht um Gewinn,
sondern um bloße Tätigkeit geht. „Tätig zu sein, ist des Menschen erste Bestim-
mung“, heißt es im ›Wilhelm Meister‹.
5. Systemfolge
5a. Wenden wir nun die Denkformen, mit denen die Geschichtsphilosophie das
menschliche Geschehen überschaubar macht, auf das Nach- und Nebeneinander
der geschichtsphilosophischen Systeme selbst an, so stellt sich die Frage, nach der
Grundstruktur des Theorienkomplexes. Handelt es sich hier um eine bloße Galerie
von Paradigmen, eine Sammlung von typologisch unterschiedenen Systemen? Oder
zeigt sich ihrer Abfolge eine Linie? Eine typologische Betrachtung der geschichts-
philosophischen Entwürfe gilt einerseits deren logischer Struktur und andererseits
dem thematisch bevorzugten historischen Stoff, der jeweils zugrunde liegt. Das Bild
der Geschichte hängt davon ab, ob der Betrachter mit Kant den „Keim der Aufklä-
rung“ oder mit Hegel die Entwicklung der Staatlichkeit im Auge hat, ob er mit
Marx die Produktion oder mit Spengler die Kunst als Leitsektor betrachtet. Eine
chronologische Behandlung hingegen fragt nach dem geistesgeschichtlichen
Zusammenhang, nach der doppelten Einbindung der Theorien einerseits in die dia-
chrone Tradition von Denkfiguren und andererseits in die synchrone Vernetzung
mit dem jeweiligen Zeitgeist.
5b. Die Grundstimmung einer Zeit kann sehr verschiedene Ausdrucksformen
annehmen. Die um die Zeitenwende im Mittelmeergebiet verbreitete Erwartung
einer neuen Epoche unter einem Heilsbringer zeigt sich sowohl in der Vergötterung
des Augustus als auch wenig später in der Messianität Jesu. Das Endzeitbewußtsein
der Kirchenväter äußerte sich bei Euseb in einer Euphorie, bei Augustinus in einer
Indifferenz gegenüber dem Imperium Romanum Christianum. Der Fortschritts-
glaube der Aufklärung hat bei Kant und bei Robespierre ein durchaus anderes
Gesicht. Der Materialismus des 19. Jahrhundert führte bei Karl Marx und bei Ernst
Haeckel zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen.
5c. Nicht selten finden sich gegensätzliche Grundstimmungen nebeneinander,
indem in derselben gesellschaftlichen Schicht, bisweilen sogar in derselben Person
durchaus verschiedene Auffassungen vorkommen. Unter den Vorsokratikern steht
dem „weinenden Philosophen“ Heraklit der „lachende Philosoph“ Demokrit
gegenüber.87 In der ausgehenden römischen Republik verbinden sich apokalypti-
sche Ängste und chiliastische Erwartungen. Während des römischen Kaiserfriedens
begrüßen Velleius, Plinius minor und Aelius Aristides den Wohlstand und die Zivi-
lisation; dagegen beklagen Seneca, Plinius maior und Juvenal die Sittenlosigkeit
und die Habsucht. Noch am Ende des römischen Reiches finden wir pessimistische
und optimistische Zeitbilder in derselben heidnischen Oberschicht. Über Nähe
und Ferne des Endgerichts waren die Christen immer zerstritten.
5d. Im 16. Jahrhundert werden sodann die neuen humanistischen Aufbruchs-
stimmen von alten biblischen Endzeitproprognosen begleitet.88 Neben den Fort-
schrittsaposteln der Aufklärer finden sich zeitgleich Skeptiker wie Rousseau und
Volney. Seit der Romantik mit ihrem Weltschmerz bleibt ein Dekadenzbewußtsein
lebendig, so daß für das 19. und 20. Jahrhundert schwerlich von einer herrschen-
den Geschichtsphilosophie gesprochen werden kann. Heute bestimmen blasse Fort-
schrittshoffnungen und krasse Krisengefühle das Geschichtsbild, und noch ist
unklar, welche Ansicht das bessere Recht auf ihrer Seite hat.
5e. Der Verschiedenartigkeit der Geschichtsbilder in der gleichen Zeit steht die
Gleichartigkeit von Ansichten über Geschichte in verschiedenen Zeiten gegenüber.
Es gibt konstante Denkfiguren. Als Salomon die Behauptung aufstellte, es gebe
nichts Neues unter der Sonne, fand er damit Beifall, ebenso Heraklit, als er im
Gegenteil behauptete, alles befinde sich im Wandel.89 Einzelne Denkfiguren sind
seit frühgriechischer Zeit so zählebig wie der Satz des Pythagoras, beispielsweise das
Lebensaltergleichnis, das Dekadenzmodell, das Krisengefühl und der Gedanke vom
steten Wissensfortschritt. Die Vier-Reiche-Lehre hatte vom 2. Jahrhundert v. Chr.
6. Säkularisierung
6a. Den größten Funktionswandel hat die jüdisch-christliche Eschatologie erlebt.
Denn unübersehbar ist der biblische Einfluß zumal auf die progressiven Geschichts-
konzepte der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Teleologie ist verweltlichte
Theologie. Diese von Wilhelm Dilthey 1883 beschriebene Transformation wurde
1923 von Nikolaus Berdjajew und 1936 von Friedrich Meinecke als Säkularisie-
rung christlichen Ideenguts bezeichnet. Er entdeckte eine dreiphasige der Stufen-
folge in der Säkularisation der Heilsgeschichte seit der frühen Neuzeit. Eine erste
Abwertung erblickte er in der Eliminierung christlichen Gedankengutes aus dem
ignotum (bis zur ersten Flut), dem intervallum mythicum (bis zur ersten Olympiade)
und dem intervallum historicum (seitdem)106 oder Marc Aurel mit den nicht näher
bestimmten Abschnitten der alten, mittleren und neuen Zeit.107 Präzisiert sind die
drei Perioden bei Paulus: ante legem (vor Moses), sub lege (seit dem Dekalog) und
sub gratia (seit der Inkarnation). Dieses Schema, das auch Augustinus benutzte,
wurde abgewandelt durch Joachim von Fiore in die Zeitalter des Vaters (bis zur
Inkarnation), des Sohnes (seither) und des Heiligen Geistes (in naher Zukunft).
Gemäß dem Epochendenken der Humanisten schuf Christoph Cellarius Ende des
17. Jahrhunderts unser Dreiphasenschema von Alter, Mittlerer und Neuer
Geschichte,108 umgedacht bei Vico 1725 in ein göttliches, ein heroisches und ein
menschliches Zeitalter, bei Schiller 1795 in einen ersten physischen Zustand, einen
zweiten ästhetischen und einen dritten moralischen,109 bei Comte 1844 in seine loi
des trois états,110 bei Bachofen 1861 in die Folge Urzeit-Mutterrecht-Vaterrecht; bei
Cournot ebenfalls 1861 in den Dreisprung von der primitiven Urgeschichte über
die Zeit der Zivilisation in die Endphase der posthistoire;111 bei Arnold Gehlen 1949
in die Trias präneolithisches Frühstadium – Kulturzeitalter – industrielle Global
zivilisation112 und ähnlich im selben Jahr bei Jaspers in die Stufen Vorgeschichte,
Geschichte, Weltgeschichte.113
6g. Am engsten ist der Bezug zum christlichen Zeitbild bei Autoren, die eine
Teleologie vertreten und auf eine glückliche Zukunft der Menschheit hoffen. Eine
ähnliche Endzeiterwartung fehlt bei Griechen und Römern, findet sich hingegen –
noch irdisch konkret – bei den Propheten des Alten Testaments. Wie sie hat der
moderne Fortschrittsglaube ein Ziel der Menschheit im Visier. Bisweilen ist es ein
Ideal, dem wir uns nähern, ohne es je zu erreichen, so daß es nur die Richtung mar-
kiert, in die sich die Menschheit bewegt. So etwa bei Kant mit seiner Aussicht auf
einen „ethischen Staat auf Erden“ oder Herder mit seiner Hoffnung auf die Huma-
nisierung. Als Bild der vollendeten Humanität sah er vermutlich Jesus oder den
unerreichbaren Menschen der Bergpredigt. Der progressus ad infinitum perfectionis
bei Leibniz ist ein schwaches Argument für die These von der besten aller Welten,
denn unendliche Vervollkommnung ist gleichbedeutend mit einer endlosen Unvoll-
kommenheit, bleibt doch das Ziel stets gleich weit entfernt.
6h. Häufiger ist die Annahme eines erreichbaren Wunschzustandes, wie er
Johannes auf Patmos vorschwebte. Daß dies bereits in der Gegenwart eingetreten
sei, war ein säkulares Dogma der Romideologie bei Vergil und den Panegyrikern
und begegnet uns wieder im Jubelruf Ulrich von Huttens 1518 und in der Eupho-
rie der Französischen Revolution mit der Ablösung der christlichen Ära durch die
neue Zeitrechnung, beginnend mit der Tag- und Nachtgleiche am 22. September
1792, 9 Uhr 18 Minuten und 30 Sekunden. Die Gegenwart als Vollendung der
Geschichte finden wir wenig später bei Hegel 1806 und 1992 bei Fukuyama.
6i. In nicht näher bestimmter Zukunft sollte Lessings „Zeit der Vollendung“
erreicht sein“, ebenso Condorcets „Elysium“ der Vernunft und Jean Pauls „goldenes
Zeitalter ..., wo man nur zuweilen mit dem Pflug Kanonenkugeln aufackert“.114
Der vorkritische Kant und der unkritische Fichte erwarteten das „Reich Gottes auf
Erden“. Varianten bieten Bachofens „Realisierung des Vernunftgesetzes“,115 Toyn-
bees „Gemeinschaft der Heiligen im Königreich Gottes“ und Poppers „offene
Gesellschaft“. Ob dies durch höhere Gesetzmäßigkeit oder durch menschliche
Bemühung erfolgt, macht keinen Unterschied, da letztere nur die Form ist, in der
der erstere zur Wirkung gelangt.
6j. Immer und immer wieder glauben Autoren, bereits auf der Schwelle zur
Endzeit zu stehen, die in allernächster Zukunft eintreten werde, entsprechend der
frühchristlichen Naherwartung des Himmelreiches, dessen Kommen die zweite
Bitte im Vaterunser beschleunigen soll. Ein solches Krisengefühl, das eine allge-
meine mutatio rerum, einen Völkerfrühling, einen letzten Zeitenmorgen angebro-
chen sieht, bewog Joachim von Fiore zum Glauben an das nahe Dritte Reich des
Heiligen Geistes. Condorcet sah die Menschheit 1793 vor einer „großen Revolu-
tion“ der Vernunft und des Glücks.116 Kant folgerte 1798 aus den Nachwehen des
gegenwärtigen Krieges eine „nahe bevorstehende Wendung des menschlichen
Geschlechts zum Besseren“.117 Bei Fichte 1806 ist der Weg vom Paradies Gottes
zum selbsterbauten Paradies der „vollendeten Rechtfertigung und Heiligung“
zurückgelegt, 1807 ist die „Morgenröte der neuen Welt schon angebrochen“;118
Hegel erkannte im gleichen Jahr, „daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des
Übergangs zu einer neuen Periode ist.“119 Saint-Simon sah 1814 das „goldene Zeit-
alter“ vor sich, Heinrich Heine jubelte: „Jetzt steigt das Morgenlicht herauf – ich
grüße dich, Phöbus Apollo!“. Marx hörte 1844 schon im Geiste das „Schmettern
des gallischen Hahns“, der den „deutschen Auferstehungstag“ verkünde, und Cour-
not sah sich 1861 im Vestibül der posthistoire.120 1936 glaubte sich der National
sozialist Karl Alexander von Müller „mitten in dieser Weltwende“,121 1940 wittern
wir politische Morgenluft bei dem Marxisten Benjamin, der am „Himmel der
Geschichte“ den Sonnenaufgang begrüßte.122 Ähnliches lesen wir bei dem Existen-
tialisten Jaspers. der 1949 die „Menschheitsgeschichte“ in zwei „Atemzüge“ auf-
teilte und spürte, wie sie zu letzterem soeben Luft holte,123 sowie bei Vertretern der
posthistoire. In der politischen Rhetorik findet sich die Ankündigung einer neuen
Zeit bei Bismarck, Hitler und Mao Tse-tung.124 Die Idee einer neuen Weltepoche
ist dem traditionellen chinesischen Zeitempfinden zwar fremd, aber Mao steht auf
den Schultern des christlich erzogenen Marx, 1834 in der damaligen Seminar-,
heute Jesuitenkirche zu Trier konfirmiert.
6k. Das christliche Erbe in den neuzeitlichen Geschichtsphilosophien zeigt sich
schließlich auch darin, daß mehrere von ihnen Weltanschauungen begründen, ja
Züge von Wissenschafts- oder Ersatzreligionen aufweisen. Die Aufklärung hatte
mit ihrer Kritik am christlichen Dogma emotionale Leerstellen geschaffen, die neu
zu füllen waren. Am 8. Juni 1794 eröffnete Robespierre mit dem „Fest des Höch-
sten Wesens“ den Kult der Vernunft. Der überlebte seinen Stifter in der Form des
7. Realitätsgehalt
7a. Die Spur christlichen Gedankengutes in den Geschichtskonzepten legt die
Frage nahe, ob und wenn wie weit eine Stringenz oder gar eine Entwicklung in der
Abfolge dieser Systementwürfe erkennbar ist. Läßt sich hier gar ein Erkenntnisfort-
schritt ausmachen, so wie die professionelle Geschichtsforschung unser Wissen um
die Vergangenheit vermehrt und verbessert? Hegel hat das abgewehrt, als er seinen
Hörern erklärte: „Wir müssen uns nicht durch die Historiker vom Fach verführen
lassen.“130 Wenn schon deren Wissensgewinn der Geschichtsphilosophie nichts
bringt, könnte ja die jeweils jüngere Theorie, auf den älteren aufbauend, dem
Wesen der Geschichte näher gekommen sein und einen Konsens unter den Den-
kern herbeigeführt haben. Eine solche Erwartung wird jedoch enttäuscht. Zwar
benutzen alle Entwürfe älteres Gedankenmaterial, doch geschieht dies in je eigener
Weise. Dies verhindert, daß jedes neue System, der üblichen Wissenschaftsge-
schichte entsprechend, den alten Erkenntnisstand überbietet. Jeder Autor greift
unmittelbar auf den gesamten Stoff der Ereignis- und der Geistesgeschichte zurück.
7b. Während die Geschichtsforschung gemäß ihrer facheigenen Methode
vorgeht, arbeitet die Geschichtsphilosophie überwiegend intuitiv. Sie wagt weit-
reichende Äußerungen über die Geschichte, und doch hat uns schon Schiller
gelehrt, wie begrenzt das Wissen der Historiker um die Vergangenheit ist.131
Und eben dies gilt für die Geschichtskenntnisse der Philosophen nicht weniger,
auch wenn sie sich nicht zu ihrem Dilettantismus bekennen wie der beschei-
dene Jacob Burckhardt,132 der doch den allerwenigsten Grund dazu hatte. Es
gibt im übrigen keinen Anlaß, Dilettanten verächtlich zu machen. Außenseiter,
die sich aus Liebhaberei mit einer Materie befassen, sich mit ihr ergötzen (dilet-
tare) wollen und keine Brotgelehrten im Sinne Schillers sind, gehen oftmals mit
größerer Unbefangenheit vor und leisten dann mitunter beträchtliche Beiträge
zur Wissenschaft, denken wir nur an Goethe und den Zwischenkieferknochen,
an Grotefend und die Entzifferung der Keilschrift und an Schliemann und die
Entdeckung von Troja. Angesichts der für den wissenschaftlichen Fortschritt
zunehmend erforderlichen Spezialisierung nach dem Motto more and more
about less and less erfordert das Bemühen um einen Überblick stets Mut zum
Dilettantismus. Er ist nicht mit Pfuscherei oder Stümperei zu verwechseln, die
sich ihrer fehlenden Fachkenntnis nicht bewußt ist. Das Loblied auf den Dilet-
tantismus sang schon Schopenhauer 1851 in seinen ›Paralipomena‹, indem er
die Lust an der Sache selbst gegen die Lust am Geld für die Sache ausspielte und
Goethe als genialen Dilettanten in der Optik feierte.133
7c. Geschichtsphilosophie ist keine akademische Disziplin, kein Teilgebiet
der Schulphilosophie wie Logik und Ethik, Metaphysik und Philosophiege-
schichte. Geschichtsphilosophie ist das Geschäft von Männern unterschiedlich-
ster Profession. Am Anfang sind es Mythographen, so der Autor der Genesis
und Hesiod. Es folgen die Philosophen wie Xenophanes und Heraklit, Platon
und die Stoiker. Geschichtsdeutung bieten sodann die Dichter Lukrez, Vergil
und Ovid in der Antike, sowie Lessing, Herder und Goethe in der Neuzeit. Die
Theologen treten herzu mit den Propheten des Alten Testaments, führen über
Paulus und die Kirchenväter bis zu den Klerikern des 18. Jahrhunderts. Zuvor
meldeten sich Juristen wie Bodin und Vico, ehe die Universalgelehrten Leibniz
und Voltaire, die Fachphilosophen Kant und Hegel, Fichte und Schelling ihre
Systeme vorlegten. Aus der Mathematik und der Sozialtheorie kamen die Franzosen
Saint-Simon, Condorcet, Comte und Cournot, aus der Sozialökonomie die Deut-
schen Marx, Engels und Max Weber. Die Biologie ist vertreten mit Darwin,
Haeckel und Lorenz. Der Mathematiklehrer Oswald Spengler bezeichnete sich als
„Historiker und Politiker“.134 Freud und Jaspers kommen aus der Psychiatrie,
Popper studierte Physik, Baudrillard war Deutschlehrer, Kojève arbeitete als Chargé
de mission im Finanzministerium, Fukuyama als Beamter im State Department.
Fachhistoriker bilden die Ausnahme: Ranke, Burckhardt und Meinecke. Offenbar
muß ein Historiker über den Sinn der Geschichte ebensowenig nachdenken wie ein
Uhrmacher über die Struktur der Zeit, wie ein Mediziner über das Wesen der
Krankheit, ein Jurist über die Grenzen der Gerechtigkeit, ein Ingenieur über Segen
und Fluch der Technik. All dies sind philosophische Fragen.
7d. Die bisher erfolgreichste und am häufigsten behandelte – aber auch meist-
verworfene – Geschichtsphilosophie ist die des Fortschritts.135 Die Annahme, daß
sie einen Fortschritt in der Geschichte der Geschichtsphilosophie darstelle, setzt die
Anerkennung der Fortschrittlichkeit des Fortschritts voraus. Aber ist der Glaube an
den Fortschritt in der Geschichte nicht ein Rückschritt in der Geschichte des Den-
kens? Dies haben Diogenes und andere fortschrittskritische Philosophen angenom-
men. Der Historiker stellt hier eine Kompetenzkontroverse fest zwischen den
Gewinnern und den Verlierern des Fortschritts. Quis iudicabit? Denn könnten die
Gewinner von heute nicht die Verlierer von morgen sein und umgekehrt? Die
moderne Industriegesellschaft freilich demonstriert mit Macht, woran sie glaubt.
Der Glaube des Baggerführers versetzt Berge. Wo dieser unausgesprochene, aber
höchst reale Fortschrittsglaube als Irrglaube bestritten wird, steht im Hintergrund
der Ritter von der traurigen Gestalt beim Kampf gegen Windmühlenflügel. Die
Stärke eines Glaubens wiegt in der Geschichte mehr als der Wahrheitsgehalt.
7e. Das Neben- und Gegeneinander von Zyklik und Linearität, von Dekadenz-
und Fortschrittsvorstellungen entscheidet keine wissenschaftliche Kontroverse wie
die Frage, ob Amerika durch Erich den Roten oder durch Kolumbus entdeckt
wurde; ob Luther seine Ablaßthesen an die Schloßkirchentür von Wittenberg gena-
gelt oder durch Boten versandt hat, ob Philipp Reis oder Thomas Edison der Erfin-
der des Telefons ist. Historische Sachfragen sind durch Begriffsklärung und Quel-
lenbelege entscheidbar, hier setzt sich gewöhnlich die am besten begründete Ansicht
durch. Bei Deutungen ist es anders. Sie beruhen auf unterschiedlicher Bewertung
der historischen Vorgänge und Ereignisse, so daß sie durch Gegenbeispiele kaum zu
erschüttern sind. Geschichtsphilosophen bestimmen die Beweiskraft der von ihnen
respektierten und ignorierten Realien gemäß eben ihrer Geschichtsphilosophie und
machen sie damit durch Fakten unangreifbar. Meinecke verwies auf die unter-
schiedlichen „Grundlieben“ der Denker, jeder „knetet sich die Geschichte nach
ihnen zurecht.“ Der Stoff ist derselbe, die Form wechselt.136 Die zeitliche Folge der
geschichtsphilosophischen Entwürfe läßt aufs Ganze gesehen keine Entwicklung
erkennen, die schrittweise zu einer Globaltheorie, einer gültigen Grammatik der
Geschichte geführt hätte oder führen würde.
7f. Das Gesamtbild der Geschichtsphilosophie gleicht demjenigen der Philoso-
phiegeschichte. Wer in Bezug auf sie von Fortschritt redet, bekennt sich zu einer
bestimmten Schule, die sich selbst an der Spitze sieht, da sie, was fortschrittlich
heißt, gemäß ihrer je eigenen Lehre definiert. So konnte Seneca spotten: Daß zwei
Philosophen dieselbe Meinung vertreten, ist so unwahrscheinlich, wie daß zwei
Uhren die gleiche Zeit zeigen.137 Inzwischen hat die Technik dieses letztere Problem
gelöst, während die Philosophie an ersterem weiter laboriert. Die Positionen liegen
heute wie eh und je weit auseinander.138 Wolfgang Stegmüller unterschied schon
1969 zwölf ›Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‹,139 die einander nicht
ergänzen wie die verschiedenen Zweige der Geschichtswissenschaft oder der Biolo-
gie, sondern einander widersprechen, ja sich gegenseitig der Irrationalität bezichti-
gen und als Scharlatanerie brandmarken, nicht immer zu Unrecht. Durch den Hin-
weis auf Anhängerschaft, auf den Anklang einer Lehre ist ein solcher Vorwurf nicht
zu entkräften. Der Scharlatan entlarvt sein Publikum.
7g. Ob nun jemand von allen Geschichtsphilosophien gleichermaßen abgesto-
ßen wird,140 ob er sich zu einer bestimmten hingezogen fühlt oder ob er eine eigene
entwickelt, das beruht auf seiner Persönlichkeit. Fichte hat gesagt, was für eine Phi-
losophie einer wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch er sei.141 Es gibt typen-
spezifische Angebote.142 Schon Hippokrates unterschied vier humoralpathologisch
begründete Temperamente.143 Die großen Philosophen erklären uns nicht das
Wesen der Welt, wie es ist, sondern zeigen uns, wie sie es verstehen, und wie auch
wir uns in unserem eigenen Kopf zurechtfinden können. Ein gutes philosophisches
Buch ist ein Baedeker für unser jeweiliges Gehirn. Und so wie nicht jeder Reise
führer auf jede Landschaft paßt, so paßt nicht jede Philosophie in jeden Kopf. Es
macht einen Unterschied, ob man ein betrogener Bauer ist wie Hesiod, ein Staats-
mann in der Verbannung wie Thukydides, ein Günstling des Kaisers wie Vergil, ein
frommer Gottsucher wie Augustinus.... Und es kommt darauf an, ob wir in der
Geschichte Trost suchen oder Bestätigung, Ermunterung oder Erkenntnis ... .
Indem wir unsererseits die Weltbilder der Geschichtsphilosophen durchmustern
und innere Nähe oder Ferne zu den einzelnen Konzepten verspüren, erkennen wir,
was für ein Mensch wir sind. Wer gar den Autor seines Herzens findet, der hat das
Glück des verständigen Fischers aus dem Thomas-Evangelium. Der Fischer warf
sein Netz ins Meer, und als er es herauszog, war es voller kleiner Fische. Unter ihnen
fand der Fischer einen großen guten Fisch. Da warf er die kleinen Fische wieder ins
Meer und wählte den großen Fisch ohne Bedenken.144 In diesem Verstande ist ein
Studium der Geschichtsphilosophie ein Bemühen um Selbsterkenntnis.
7h. Geschichtsphilosophie entwirft Strukturbilder, aber beantwortet sie
damit zugleich die oft gestellte Frage nach dem Sinn der Geschichte?145 Theodor
Lessing verwarf jede Deutung von Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen“,
als Koffertheorie. Wir wähnen herauszuholen, was sie uns bietet, und haben das
doch selber zuvor hineingelegt. Dies geschieht, wenn wir unsererseits, so wie
Schiller und Popper, der Geschichte einen Sinn geben zu können wähnen, den
sie dann uns verdankt.146 Dasselbe gilt für Poppers Gegner Habermas, dessen
experimentelle „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ nicht nach
einem verborgenen Sinn der Geschichte fahndet, sondern diesen Sinn „rettet,
indem sie ihn herstellt“ – durch revolutionäre Praxis zur Behebung der Klassen-
gegensätze.147 Die Sinngebung von Popper und Habermas setzt den praktischen
Erfolg der Lehre voraus, die sie jeweils aus der Geschichte ziehen.
7i. Wo nach dem „Sinn“ des Geschehens gefragt wird, hat man ein Ziel im Auge,
denn das ist der Sinn von „Sinn“. Althochdeutsch sinnan, verwandt mit „senden“,
heißt „sich begeben nach“ oder „streben nach“. Gemäß der Grundbedeutung des
Wortes, enthalten im Kompositum „Uhrzeigersinn“, geht es um die Richtung des
Geschehens. Sie geht entweder von oben nach unten oder von unten nach oben.
Ersteres ist der Fall, wenn Ideen aus dem Himmel sich auf Erden verwirklichen,
zum Ausdruck bringen. Doch fügt ein solcher Sinngedanke dem Geschehen nichts
hinzu. Letzteres ist der Fall bei einem Aufstieg, einer Vermehrung erstrebenswerter
Güter, einer Verbesserung der allgemeinen Lage, wie es der Fortschrittsglaube
annimmt. Wir ernten die Früchte, die für uns in der Vorwelt gesät wurden und
säen die Frucht, die der Nachwelt zugute kommen soll. Mehr als ein Nullsummen-
spiel wäre das aber nur, wenn das, was wir hinterlassen, sich als wertvoller erwiese
als das, was wir übernehmen, verbrauchen und zerstören. Das aber fragt sich.
7j. Verstehen wir „Sinn“ als Absicht oder Zweck, wie er jedem Machwerk
zugrunde liegt, so bündeln wir mit der Formel vom „Sinn der Geschichte“ die
Menschheit zu einem Phantomsubjekt. Aber die Geschichte wird nicht gemacht,
sondern ist das, was dabei herauskommt, wenn Menschen sie zu machen versuchen.
Selbst ein Macher wie Bismarck hat am 16. April 1869 im Norddeutschen Reichs-
tag bestritten, daß Geschichte machbar sei. Macht Gott die Geschichte, so ist der
Mensch sein Spielzeug, wie schon Heraklit den Zeitgott Aion als brettspielenden
Knaben bezeichnete.148 Noch Einstein und Niels Bohr 1926 stritten darüber, ob
denn Gott würfele. Spiel dient dem Zeitvertreib. Schuf Gott den Menschen zur
Verkürzung seiner Langeweile und zur Erhöhung seiner Herrlichkeit?149
7k. Einen Macher benötigen wir auch, wenn wir der Geschichte einen Sinn im
Sinne von objektiver Bedeutung zuschreiben. Für Luther zeigt uns Gott in der
Geschichte, wie er die Welt regiert.150 Die Geschichte ist ein Lehrbuch, ein Text, der
Mensch ist Leser und Buchstabe zugleich. Herder betrachtete die Geschichte neben
der Bibel als Offenbarung und sich selbst darin als „kaum eine Letter“. Emil Cioran
schrieb noch bescheidener: „In den Satzbau der Zeit gliedern sich die Menschen
wie Kommata ein.“151 Verzichten wir auf den himmlischen Schriftsteller, so verliert
die Geschichte ihren Charakter als Botschaft, als lesbarer Text, dem der vom Wel-
tenlenker hineingelegte Sinn durch Hermeneutik zu entnehmen ist.152 Es gibt ein
subjektives Sinnbedürfnis, aus dem heraus Vogelflug, Donnerschlag und Mondfin-
sternis als Mitteilungen der Götter verstanden wurden. So haben die Griechen am
Nachthimmel Sternbilder gesehen und in ihnen ihre Mythen wiedererkannt. Ähn-
lich verhält es sich mit den Figurationen der Geschichtsphilosophen.
7l. Ebensowenig wie die Natur hat die Geschichte einen Sinn. Wohl aber hat die
Historie einen Sinn. Die Beschäftigung mit der Geschichte, zumal das Philosophie-
ren über sie besitzt einen Erkenntniswert, denn das bereichert unser Wissen um
Glanz und Elend des Menschenlebens. Selbst der Nachweis von der Sinnlosigkeit
der Geschichte hat einen Sinn, wie überhaupt jedes Bewußtwerden und Bewußt
erhalten von Vergangenem. So beklagte Helena das schlimme Schicksal Trojas, von
Zeus verhängt, „damit wir künftigen Geschlechtern zum Gesang werden.“ Ihn hat
später Odysseus vernommen und war erschüttert.153 In dieser Situation bietet die
Geschichtsphilosophie Trost. Die Dekadenztheorie lehrt, daß wir es besser haben
als unsere Nachfahren. Der Fortschrittsglaube besagt, daß es uns besser geht als
unseren Vorfahren, und er verspricht, daß die gegenwärtigen Mängel behoben wer-
den. Und die Kreislaufidee vermittelt ihren Anhängern das Gefühl, daß es immer
schon so war und so sein wird, so daß Klage und Hoffnung gleichermaßen unbe-
gründet sind.
7m. Unabhängig von der Sinnfrage ist das Problem der von den meisten
Geschichtsphilosophen angenommenen Gesetzmäßigkeit der Geschichte, am nach-
drücklichsten im Historischen Materialismus.154 Hier prallen die Meinungen auf-
einander. Drastisch Nietzsche: „Soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die
Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert.“155 Was aber sind historische
Gesetze? Wer nicht weiß, was er sucht, erkennt nicht, was er findet. Gleicht nicht
der Streit zwischen Otto Hintze und Friedrich Meinecke,156 ob es historische
Gesetze gebe, dem Streit zwischen Jabold und Neinbold darum, ob es fliegende
Katzen gebe? Als Neinbold das betritt, verwies Jabold auf den philippinischen
Kagnang (Galeopithecus volans), den Alfred Brehm als „Fliegende Katze“
benennt.157 Da erklärte Neinbold, damit sei doch „eigentlich“ keine Katze gemeint.
Kontroversen über Es-gibt-Behauptungen beruhen gewöhnlich auf semantischer
Unklarheit. Was also ist unter „Geschichtsgesetzen“ zu verstehen? Hier leitet uns
gewöhnlich die Vorstellung von Naturgesetzen die Kant auch hinter allen mensch-
lichen Handlungen annahm.158 Beide Male handelt es sich um Erfahrungsregeln
über Ereignis- oder Zustandsfolgen, die aus Beobachtungen induktiv gewon-
nen sind. Sie dienen deduktiv zur Erklärung vergangenen Geschehens und zur Vor-
aussage künftigen Geschehens. Anwendbar sind Erfahrungsregeln nur unter der
ceteris paribus – Klausel gleicher Umstände. Genau gleiche Rahmenbedingun-
gen gibt es nie, doch gestattet der vereinbarte Parameter die zulässige Unschärfe
und damit die Beweiskraft eines Experiments. Ob ein Gesetz bestätigt, eine Vor
hersage eingetreten ist, das ist bisweilen eine Frage der Interpretation, der Herme-
neutik.159
7n. Die außerordentlich komplexen und rasch wechselnden Randbedingungen,
unter denen historische Prozesse abrollen, erlauben nur vergleichsweise allgemein
formulierte Erfahrungsregeln. Sie besagen etwa, daß Neues sich gewöhnlich gegen
Altes durchsetzt; daß jeder Zustand Veränderungen unterliegt; daß erfolgreiche
Aktionen nachgeahmt werden oder daß Notlagen Reaktionen hervorrufen. Es läuft
auf ein Definitionsproblem hinaus, ob der häufig zu beobachtende Zusammenhang
zwischen Großstadtzivilisation und Nachwuchsmangel, zwischen wachsendem
Wohlstand und schrumpfender Widerstandskraft, zwischen Revolution und Dikta-
tur, zwischen Machtfülle und Machtmißbrauch oder zwischen dem Erlaß eines
Gesetzes und dessen Befolgung als Kausalität aufgefaßt und ein „Gesetz“ genannt
werden kann oder nicht. Dennoch ist ohne die Verwendung von „allgemeinen
Erfahrungsregeln“,160 beziehungsweise von covering laws161 kein Verständnis von
Ereignisfolgen möglich.162 Historische Erklärungen verweisen auf Parallelen und
Konstellationen, die den erklärungsbedürftigen Ausgang erwarten ließen. Sie ver-
stehen kürzere Ereignisfolgen als Teile langfristiger Prozesse, deren einzelne Schritte
durch Erfahrungswissen nachvollziehbar sind und die Kohärenz einer Erzählung
ausmachen, mit der wir ein Ereignis oder einen Zustand aus seiner Vorgeschichte
herleiten.
Benedetto Croce hat 1915 erklärt, „daß die Geschichtsphilosophie tot ist“,1 und in
gebührendem Abstand verkündete Odo Marquard den Abschied von der
Geschichtsphilosophie 1973.2 Haben sich die großen Entwürfe mit ihren Verhei-
ßungen und Untergangsvisionen, mit ihren ideologischen und politischen Aus-
wüchsen nicht definitiv diskreditiert? Und überhaupt verblüffen die vielfältigen
Unstimmigkeiten, ja Absurditäten in den geschichtsphilosophischen Texten bedeu-
tender Denker. Indes: Großvieh macht auch Mist, sogar besonders fruchtbaren.
Mitunter brachte sich Juvenal in Erinnerung: difficile est saturam non scribere.3 Also:
Was tun?
Anstelle der monolithischen Prozeß- oder Strukturmodelle setzt Marquard auf
eine philosophische Anthropologie, die im pluralistischen Sinne mit Bausteinen aus
den Großtheorien arbeitet. Soweit über der Suche nach dem Wesen des Menschen
dessen Geschichte nicht aus dem Blick gerät und das Ziel eines Gesamtbildes erhal-
ten bleibt, haben wir es mit einer Schwundstufe von Geschichtsphilosophie zu tun.
Man übernimmt einzelne tragfähige Gedanken aus jenen Systemen, die als ganze
nicht mehr überzeugen. Gilt das nicht für alle generalisierenden philosophischen
Texte? Omnibus veris falsa quaedam adiuncta, heißt es bei Cicero: Jeder Wahrheit ist
etwas Falsches beigemischt. Alle Großentwürfe haben irgendwo Unrecht, aber auch
irgendwie Recht, wie es bei Augustinus heißt: haec omnia inde in quibusdam vera,
unde in quibusdam falsa sunt.4
Die Fortschrittstheorien haben einen soliden Kern in der Entwicklung der Zivi-
lisation. Technik, Wissenschaft und Produktion zeigen aufs Ganze gesehen einen
durchgehenden Zug und sind weiterhin im Vormarsch. Umstritten ist die anhal-
tende Wünschbarkeit fernerer Fortschritte angesichts unübersehbarer Begleit
erscheinungen und unabsehbarer Folgelasten. Darauf verweisen Zeitkritik und
Dekadenztheorie. Sie erinnern an den wiederholten Kulturverfall in der Vergangen-
heit und warnen vor einer fortgesetzten Ausschlachtung der Natur zugunsten eines
ad infinitum gesteigerten Wohllebens. Auch hier gibt es ein fundamentum in re.
Die Steigerung des Konsums dürfte irgendwann ein Absinken des Lebensstan-
dards bewirken. Wenn der „gehemmte Fortschritt“ des einen Rossebändigers im
Berliner Kleistpark nicht zum Zuge kommt, könnte der „beförderte Rückschritt“
des anderen die Richtung weisen.5 So wie der Fortschrittsgedanke und die Deka-
Kapitel I
1 Plinius NH. XXXIV 33; Augustinus 28 Plautus, Trinummus 381; ders.,
CD. VII 9; Macrobius I 9,10. Menaechmi 248.
2 Wie dies in der chinesischen Finger- 29 Zoepffel 1975.
sprache möglich ist, hat mir Heikos 30 Herodot I pr.; VII 152; Cicero,
Mutter gezeigt. De legibus I 5.
3 Aristoteles, Metaphysik 1005 b 5. 31 Isidor, Etymologiae I 41.
4 Nietzsche II 820; Kant, KrV. B 755ff 32 Zoepffel 1975.
5 Heraklit VS. 22 B 49a. 33 H. Strasburger, Die Entdeckung der
6 Kant VI 644 ff. politischen Geschichte durch Thuky-
7 Kant, KrV. B 230f dides (1954); ders., Der Geschichts-
8 Isidor, Etymologiae I 29,2. begriff des Thukydides (1979); ders.,
9 Quintilian, Institutio I 10,9 ff; Cae- Die Wesensbestimmung der
sar BG. VI 14; Ammian XV 9,8; Geschichte durch die griechische
Cicero, Tusculanen I 3. Geschichtsschreibung (1966). In:
10 AT. 1. Samuel 16,23; Tacitus, Anna- ders., Studien zur Alten Geschichte
len II 88; Sidonius ep. I 2, Jordanes, II 1982, 527 ff; 777 ff; 963 ff.
Getica 28; 43; 214; 256. 34 Thukydides I 22; III 82.
11 Odyssee VIII 43ff; 521 ff; Ilias VI 35 Aristoteles, Poetik 1459 a 20.
358; VII 436 ff. 36 Herodot I pr.; II 28,5.
12 Herodot I 1; Plinius ep. VI 16,1 ff. 37 Thukydides I 97.
13 Hesiod, Theogonie 54 ff; Anthologia 38 Polybios I 2,8; 3,1; 3,3.
Graeca IX 504 f; Horaz, Oden 39 Cicero, Pro Marcello 9.
I 12,2. 40 Auctor ad Herennium I 8; 13; so
14 Ilias IX 63 f; Odyssee VIII 579 f; auch SHA. Tacitus 15,4; SHA.
XII 189 ff. Probus I 4; Augustinus, De doctrina
15 Ilias II 494ff. christiana II 109 .
16 Strabon I 2,9. 41 Hintze II 341.
17 Odyssee XI 363ff; XII 189 ff. 42 Cicero, An Atticus XII 18,1: tempora
18 Odyssee VIII 91. erudita.
19 Josephus, Contra .Apionem I 6. 43 Sueton, Augustus 100; Orosius VI
20 Cicero, De oratore II 52. 22,10; VII 33,16.
21 SHA. Tacitus I 1. 44 Plinius NH. XXVIII 12
22 Dionysios von Halikarnossos, 45 Koselleck 1975.
De Thucydide 5. 46 J. Osterhammel in: LGW. 2002,
23 Athenaios 462 F; Polybios IV 40,3. 320 ff.
24 Jacoby, FgrHist. 1, fr.1. 47 Demandt, Weltgeschichte 2004.
25 Strabon I 2,17; IX 3,12; XI 5,3. 48 Hegel Gph. 114.
26 Strabon I 2,15. 49 Kant I 238.
27 Censorinus 21,1, 50 Arrian IV 10,2
51 Benn, Zum Thema Geschichte wohl aber, daß Julian nachts den
(1943). In: ders., I 383. Das Zitat Studien oblag: Ammian XXV 4,5 f.
stammt aus K. Ploetz, Auszug aus 66 Max Weber WL. 266 ff; Demandt,
der Geschichte, 1891, 337. Ungeschichte, 53 ff.
52 Carr 1961. 67 Kamlah 1969, 89 ff; Demandt, Fall,
53 Cicero, De legibus I 2,5; Quintilian, 216 ff.
Institutio X 1,31. 68 P. E. Hübinger, Spätantike und frü-
54 Hegel Gph. 40. hes Mittelalter, 1952/59; Demandt,
55 Bei Augustin CD. VI 3. Fall, 216 ff; ders., Spätantike, 589 ff.
56 Lübbe spricht gern von „Systemindi- 69 Jaspers UZ. 19; zur Vorgeschichte
vidualisierung“ durch Geschichte: der Idee: D. Metzler, Achsenzeit
ders., 1977, 90 ff; 145 ff. als Ereignis und Geschichte. In:
57 Martianus Capella 349: ne quid M. Fitzenreiter (Hg.), Das Ereignis,
falsum, ne quid plus, ne quid minus. 2009, 169 ff.
58 Auctor ad Herennium III 36. 70 Burckhardt WB. 27 ff.
59 Ammian XXVI 1,1. 71 Nietzsche I 209 ff ; Demandt, Über
60 Friedrich der Große I 5. den Umgang mit Geschichte (1993).
61 Ibn Khaldun 30. In: ders., HM. II 144 ff.
62 P. Schöttler LGW. 2002, 142 ff. 72 H.-I. Marrou, De la connaissance
63 Auctor ad Herennium IV 13; Livius historique 1954/66; Th. Schieder,
I pr. Geschichte als Wissenschaft, 1968;
64 K. Halm (ed.), Rhetores Latini K. G. Faber, Theorie der Geschichts-
minores 1863, 588 f. wissenschaft, 1971.
65 Daß Constantin nachts zu schlafen 73 Droysen 1857/1993.
pflegte, war nicht berichtenswert, 74 Diodor I 2,2.
Kapitel II
1 Burckhardt GK. II 349 ff; H. Diels, 10 Horaz, Ars 173; Ilias I 260 ff; V 304;
Der antike Pessimismus, 1921. Odyssee II 276 f; IX 223 ff.
2 Ilias XVII 446 f; XXIV 525 f. 11 Strabon I 2,8; Synesios ep. 105.
3 Odyssee XVIII 130 f. 12 AT. 1. Mose 2,7 f; 2,17 f; 3,1 ff.
4 Theognis I 425 ff; vgl. 181 f; 291; 13 Demandt, Baumbuch 20 ff.
441 ff; 647 f; 677 f; Empedokles VS. 14 AT. 1. Mose 4,1 f.
31 A 62. 15 Kant I 269 ff; Schiller IX 243 ff.
5 Herodot I 31; III 40; 125. 16 AT. 1. Mose 3,22; Julian 93 D.
6 Empedokles VS. 31 B 124; Platon, 17 AT. 1.Mose 1,28; 3,21.
Phaidon 118. 18 AT. 1. Mose 2,19; 4,8 ff.
7 Plutarch, Antonius 70. 19 AT. 1. Mose 6 ff; 10 f.
8 Cicero, Tuskulanen I 83; Valerius 20 Hesiod WT. 47–105; ders., Theogo-
Maximus VIII 9 externa 3. nie 561–613.
9 Zur Dekadenzidee allgemein: Her- 21 AT. Weisheit Salomons 2, 24.
man 1997; Demandt HM. II 66 ff 22 AT. Jeremia 7, 31; Jesaja 66,24; NT.
(1985); ders. LGW. 54 ff. Ev. Luk. 16,24.
Kapitel III
1 Zum Fortschrittsgedanken in der 17 Platon, Phaidros 261d; Tacitus,
Antike: Bracher 1948/1987; Edel- Annalen XI 14; Pausanias X 31,1;
stein 1967; Meier 1975. Hygin, Fabulae 277.
2 Anders Koselleck: „Der Fortschritt 18 Pausanias X 4,4.
ist im Gegensatz zum Niedergang 19 Aischylos, Prometheus 436ff.
eine moderne Kategorie“, Koselleck/ 20 H. Schneider 1989.
Widmer, 1981, 215. 21 AT. 1. Mose 4,17 ff.
3 Homer, Odyssee IX 175ff, vgl. VIII 22 W. Jansen, Firdusis Königsbuch,
575. 1922, 9 f.
4 Ilias XXIII 175 ff. 23 Euripides, Die Flehenden 195ff.
5 AT. 1. Mose 22. 24 Thukydides I 70 f.
6 Bei Homer noch unbekannt: Ilias IX 25 Isokrates or. IV 22 f.
144 f. Die „Opferung Iphigeniens“ 26 Dittenberger, Sylloge 3704.
geht auf den nachhomerischen epi- 27 VS. 21 B 18.
schen Kyklos zurück. Die Sage: 28 VS. 21 B 4; B 19; Herodot I 74.
Hygin, Fabulae 98; Apollodor, Epi- Demandt, Finsternisse, 1970, 25 ff.
tome III 22. 29 VS. 88 B 25. Der Autor könnte
7 Plutarch, Moralia 175A; 552A. auch Euripides sein.
8 Herodot I 57; VIII 44; Thukydides 30 Sophokles, Antigone 332–373.
I 1,3; 1,6; Aristoteles, Poetik 1461 a; 31 Plinius NH. VII 191–215; Hygin,
Macrobius, Commentaria II 10, 8. Fabulae 273 f; 277; Clemens Alexan-
9 Homerische Hymnen 19. drinus, Stromata I 74 ff.
10 Ilias XVIII 373 ff. 32 Platon, Timaios 21 B ff; ders.,
11 Pausanias I 24,5. Phaidros 274 C ff.
12 Diodor IV 81,2. 33 Aristoteles, Politik 1329 b 20ff;
13 Manilius I 30 ff. Diodor I 28.
14 Vergil, Georgica I 147 ff; Plinius 34 Herodot I 94; V 58 f. als älteste
NH. VII 191: Isididor, Etymologiae Inschrift gilt die auf einer Kanne im
XVII 7, 26 ff. Dipylonstil aus Attika, frühes
15 Strabon I 2, 15. 8. Jahrhundert.
16 Hygin, Fabulae 39 f; 274, 15; Apol- 35 Athenaios 28 BC.
lodor III 214. 36 Anthologia Graeca XVI 297f.
Kapitel IV
1 Augustinus CD. XII 21; Johannes Epochenbewußtseins (1979) in:
Chrysostomos zu Mt. 24,15. ders., HM. II, 20 ff.
2 Platon Gesetze 893 B ff; ders., Tima- 12 Demandt, Restitutio, 2010.
ios 34 A; 40 B; 43 B. 13 VS. 31, A 52; B 17 ff; 26; 35.
3 M. Eliade, Der Mythos der ewigen 14 Herodot I 5; 207.
Wiederkehr, 1953, 5. 15 Seneca NQ. III pr. 5ff; Marc Aurel
4 Hornung 1966, 29. II 12; XII 21; Demandt, Metaphern,
5 Synesios, De providentia; T. 1978, 194 f.
Schmitt, Die Bekehrung des Syn- 16 AT. 2. Mose 4, 21; 7, 3.
esios von Kyrene, 2001, 315 ff. 17 Herodot III 40ff; 120ff.
6 Ammianus Marcellinus XXII 15, 30; 18 S. o. II 4!
J. Assmann, Steinzeit u. Sternzeit, 19 Augustinus, Confessiones XIII 48 ff;
2011, 222 ff. Agapetos PG. 86, 1 S. 1168 c. 11.
7 Oracula Sibyllina I 65; AT. 1. Mose 20 Ps. Phokylides, Gnomai 27, vgl.
9,15. Theognis ed. D. V. Hansen, 2005,
8 Demandt, Metaphern, 1978, 237. 25.
9 Diogenes Laertios VIII 14; Seneca 21 Cicero, In Pisonem 22 ; Tacitus,
ep. 108,20; Aristoteles, Physik Dialogus 23 ; Ammian XXXI 1,1.
223 b 24 ff; H. Zander, Geschichte 22 Carmina Burana 17,1 nach der
der Seelenwanderung in Europa, Übersetzung von Carl Fischer, 1974.
1999. 23 Carmina Burana 16,3; Ovid, Meta-
10 Marc Aurel VII 18; VIII 6; IX 19; morphosen XIII 404 ff; 422 f; 483 ff;
28 f; NT. Jak. 3,6. Shakespeare, Hamlet II 2.
11 Demandt, Metaphern, 1978, 248ff; 24 Seneca ep. 24,26; Marc Aurel VII
ders., Denkbilder es europäischen 49; XI 1.
75 Platon, Timaios 22 A; ders., Kritias 82 Plinius NH. X 3 ff mit dem Kommen-
112 A; Apollodor I 46 ff; Hygin, tar von König und Winkler 1986.
Fabulae 153. 83 Platon, Timaios 39 D; Cicero, De
76 Xenophanes VS. 21,A 33; AT. Ps. finibus II 102; ders., De natura
90,2: Marc Aurel IX 28. deorum II 51; Censorinus 18,11;
77 Anaximandros VS. 12 A 10; 17. Boethius, Consolatio III 50.
78 Aristoteles Politik 1329 B 20; ders., 84 Platon, Politikos 268 D–274 E.
De caelo 270 B 19. 85 Nach Abbé Georges Lemaître 1927.
79 Eudemos VS. 58 B 34. 86 Born 1964, 320 f.
80 SVF. II 625 f. 87 Lucrez II 292; E. A. Schmidt, Clina-
81 D. Hume, Dialoge über natürliche men, 2007.
Religion, 1757/1905, Kap. 8. 88 AT. Prediger 1,9 f.
Kapitel V
1 Ilias VIII 69 ff ; Apollodor III 48 ff. 20 AT. Jes. 11,6 f; 21,11; 41,20; 49,6;
2 AT. Ps. 46. 65,17.
3 Hegel Gph. 256. 21 AT. Jes. 13,8; 66,7 f.
4 Plutarch, Moralia 369 E. 22 AT. Zeph. 3,6 ff; Jes. 51,3; Hes.
5 Widengren 1965, 61. 36,35; Ps. 84,7.
6 Plutarch, Moralia 370 B ff. 23 Trieber 1892; Koch 1980.
7 Plutarch a. O; Widengren 1961, 24 AT. Dan. 2, 31–46, nach Kautzsch.
197 ff; ders., 1965, 199 ff; 285. 25 Herodot I 95 f; 130.
8 Lactanz DI. VII 17,9 ff; C. Colpe, 26 Photios, Codex 72, 35 b.
Hystaspes, in: RAC. XVI 1994, 27 Velleius I 6,6; Appian pr. 9.
1056 ff. 28 AT. Dan. 7, 2–14, nach Kautzsch.
9 Censorinus 17,5 f; Cassius Dio 55,7; 29 AT. Dan. 8; 10 f.
Plutarch, Sulla 7; Servius zu Vergil, 30 Schäfer 1983, 93.
Ekloge IX 46. 31 Kautzsch, Apokryphen II 217 ff.
10 Demandt, Zeitenwende unter 32 1. Qumran sb. V 23; Woude 1957;
Augustus (2000), in: ders. HM. II Hengel 1961, 281 ff.
240 ff. 33 Kautzsch, Apokryphen II 331 ff;
11 M. Noth (1957) in: Lammers 1961, 402 ff.
30 f; Alt 1959/70; Campenhausen 34 Sueton, Vespasian 4; Tacitus, Histo-
1979. rien V 13; Cassius Dio LXVI 2.
12 AT. 1. Mose 9 f. 35 Friedlieb 1852; Geffcken 1902;
13 AT. 1. Mose 8 f; 15; 2. Mose 19 ff; 2. Kautzsch, Apokryphen II 177 ff.
Sam. 7. 36 Dinkler 1967; Milburn 1954;
14 AT. Sprüche Salomons 3,12. Wendland 1938.
15 AT. Jes. 49,6; 55,3 ff 37 Augustus, Tiberius, Quirinius,
16 AT. 1. Sam. 10, 1; Jes. 45. Pilatus.
17 AT. Haggai 2,20 ff. 38 Herodes d. Gr., Herodes Antipas,
18 AT. Daniel 7,13 f. Herodes Philippus, Kaiphas, Johan-
19 AT. Jes. 35. nes der Täufer.
95 Koran, Sure 18,93 ff; 21,96; 120 Euseb VC. I 38; AT. 2. Mose 14,28;
Demandt, Alexander der Große, Orosius VII 26, 9 ff; NT. 1. Kor. 10, 6.
2009, 286 ff. 121 PL. 67, 487.
96 Koch 1997, 75 ff; 92. 122 H. Grotefend, Handbuch der histo-
97 Glasenapp II 411; 415. rischen Chronologie, 1872, 21.
98 Annolied 17,9; 19,4; Nellmann 92; 123 So jedenfalls bei meinem Besuch
Hieronymus CCL. 75 A, 794 f. dort am 20. März 1993.
99 Koch 1997, 102. 124 Winkelmann 1961.
100 Bodin, Methodus 310 ff. 125 AT. 1. Mose 49, 10 ff; 4. Mose
101 Sorokin 1953, 156; Koch 1997, 100. 23,19 ff; 24,17 ff.
102 Das Buch Mormon 1964, 199. 126 NT. Röm 11,17 ff; Justinus Martyr
103 A. Gow in: Brandes/Schmieder 119,1; Barnabas 4,6 ff.
2008, 1 ff. 127 Clemens, Stromata I 80,5.
104 Justin, Dialogus 45. 128 Tertullian, Apologeticum 17, 6.
105 Irenaeus, Adversus haereses III 11, 8; 129 Euseb PE. IX 6, 9; Augustinus,
Campenhausen in: Alonso-Nunez De doctrina christiana II 108.
1991, 298 ff. 130 Euseb HE. I 2,23; Peterson
106 Irenaeus, Adversus haereses V 33 ff. 1935/1951, 83.
107 AT. 1. Mose 1,5 ff; NT. Hebr. 4,4. 131 Euseb, HE. IV 26,7 ff; ders., Theo-
108 Barnabas 15,3 ff. phanie 126 f; 256 f; AT. Ps. 72,7 f;
109 Schwarte 1966; Demandt, Meta- Jes. 2,4; 35,1 ff; Micha 4,3.
phern, 1978, 150 ff. 132 Winkelmann 1991, 146 ff.
110 NT. Mk. 13,7 f; Joh. 16,20 f. 133 Euseb, Laus Constantini 7,13.
111 Didache 16. 134 PL. XIV 1142 f
112 Lactanz DI. VII 14 ff; ders., Epitome 135 Ambrosius ep. 18,23; ders., Exame-
66 f. ron III 65; Demandt, Argument,
113 Bernheim/Stavrides 1992, 94. 1972, 41 ff.
114 Aus Plymouth vertrieben, ging 136 Goetz 1980; Koch-Peters 1984;
Darby 1838 in die Schweiz, von wo Peterson 1935/51, 97 ff.
sich seine Lehre nach Württemberg 137 Orosius I prol. 14f.
und bis ins Siegerland ausbreitete. 138 Orosius III 20; V 2; VI 1 ff;
Sie ist noch heute in 33 Ländern VII 1,11; 39,1 ff.
lebendig. Ihr gehörte seit etwa 1855 139 Orosius VI 1 ff; VII 1,11; 39,1 ff.
mein Ururgroßvater Karl Engel 140 Hieronymus ep. 127,12. Demandt,
Demandt an, Sohn eines Hirten und Spätantike, 2007, 178.
Leineweber in Niederndorf. 141 Löwith WH. 173 ff; Dinkler 1958;
115 Theophilos III 27 f. Maier 1955; Schwarte 1966.
116 Schmitz-Berning 1998, 607. 142 Augustinus CD. XIX 25.
117 Auerbach 1939/1967; Demandt, 143 Augustinus, De doctrina christiana
Metaphern, 1978, 409 ff. II 63; 105; 148; NT. 1. Kor. 8,1.
118 Pausanias I 25,2; W. v. Massow, 144 Augustinus verwendet die Weltchro-
Führer durch das Pergamonmuseum nik Eusebs in der lateinischen Über-
1932, 51. setzung des Hieronymus.
119 AT. Jes. 43,16 ff; 2. Mose 14,29; 145 Maier 1955, 84 ff.
Jona 2,1 ff; NT. Mt. 12,39 ff. 146 Tertullian, Apologeticum 38,3.
Kapitel VI
1 Böhmer 1914, 47. 3 Steck 1961, 170; 178; 183;
2 Varga 1932; Demandt, Metaphern, Demandt, Metaphern, 1978, 102.
1978, 154 ff. 4 Horaz, Ars poetica 70.
5 Rutilius Namatianus, De reditu suo 38 Lactanz DI. VII 24; Augustinus CD.
I 139 f. X 27; Constantin, Ad Sanctos 19 ff.
6 S. o. II 6! 39 PL. 106,1427 B.
7 Spranger, Kulturphilosophie 1969 40 Boccaccio, Opera latine minori
(1960); Trillitzsch 1981. 1928, 194.
8 A. Demandt (Hg.), Stätten des Gei- 41 Giovanni di Boccaccio, Das Leben
stes, 1999. Dantes, übersetzt von O. v. Taube,
9 P. Piur, Cola di Rienzo, 1931. 1919.
10 Aristoteles, Über den Himmel 297 b 42 LdM. VIII 1526.
24; Demandt, Sternstunden, 2000, 43 H. Münkler, Machiavelli, 1981; A.
162 ff. Buck, Machiavelli, 1985.
11 Cicero, Academica II 123. 44 Machiavelli, Principe c. 25.
12 Rosenthal, Fortleben. 45 Machiavelli, Discorsi I 29.
13 Ibn Khaldun 45; Rosenthal, Fortle- 46 Polybios VI 56,6 ff; Machiavelli,
ben, 24; 344. Discorsi I 11; 14.
14 Pätzold 1992. 47 Machiavelli, Discorsi I 11 f ; II 5.
15 Ibn Khaldun 37. 48 Machiavelli, Principe c. 6.
16 Ebd. 35; 37; 44 f; 49. 49 Eine „Ehrenrettung“ (Clausewitz)
17 Ebd. 13; 31; 39. unternahm J. G. Fichte, Machiavell,
18 Ebd. 45; 47. 1807.
19 Ebd. 68 f. 50 Machiavelli, Principe c. 8.
20 Ebd. 51; 53; 86 ff. 51 Machiavelli, Discorsi II 8; ders.,
21 Überlieferter Titel ›Von Lüften, Principe 13; Demandt, Fall, 1984,
Gewässern und Orten‹, deutsch bei 97 ff.
W. Capelle (Hg.), Hippokrates, Fünf 52 Jordanes, Getica 132; Machiavelli,
auserlesene Schriften, 1955, 85 ff; Discorsi II 8.
Aristoteles, Politik VII 1327 B 20. 53 Demandt, Fall, 1984, 99; 161.
22 Ibn Khaldun 56 ff. 54 Machiavelli, Discorsi II pr; II 19;
23 Ebd. 59; 61. ders., Florenz V 1.
24 Ebd. 116; 125. 55 S. o. IV 5!
25 Ebd. 19; 50. 56 Machiavelli, Discorsi II 5.
26 Ebd. 198 f. 57 Machiavelli, Principe c. 14 ; ders.,
27 Ebd. 71; 88 ff; 91; 117 ff; 121 ff; Discorsi I 39 ; III 13.
127 ff. 58 Machiavelli, Discorsi II 5.
28 Ebd. 77 ff. 59 Machiavelli, Discorsi III 1; ders.,
29 Ebd. 121 ff; 19. Kriegskunst, am Ende.
30 Ebd. 197 ff. 60 Daß dieser ständig wechselt, so daß
31 Pätzold 26. hier eine Art „Demokratie“ vorliegt,
32 Ibn Khaldun 199. wußte Bodin ebensowenig wie daß
33 Boccaccio, Opere latine minori, ed. der Weisel bei den Bienen eine
A. F. Massèra, 1928, 191 ff Königin ist.
34 Voigt, Wiederbelebung I 119; 164. 61 Bodin, Methodus 288.
35 Plinius NH. XIII 41. 62 Steck 1961, 199 zu Dürer.
36 Schäffer 1973, 56 f. 63 Bodin, Methodus 79 ff; 121.
37 Buck 1957, 13 ff. 64 Ebd. 120 f.
Kapitel VII
1 Demandt, Metaphern, 1978, 154 ff. 10 Sommer 2006, 228 ff.
2 Fridericus Rex. Aussprüche und 11 Oeuvres de Mr. Turgot II 1808,
Gedanken, 1907, 361. 52 ff; Loewenstein 2009, 154 ff; 185.
3 Gnomologium Vaticanum 314. 12 S. o. II 4!
4 Lucrez III 1 ff; V 1455; Quintilian, 13 Vertreibung von Christian Wolff aus
Institution VIII 3,72 f; Demandt, Halle 1723, Zensur unter Friedrich
Metaphern, 1978, 146. Wilhelm II seit 1788.
5 Buck 1957,18. 14 Oeuvres de Mr. Turgot II 1808,
6 Humboldt II 65 ff. 19 ff.
7 MEW. 13, 642; MEGA I 1, 140. 15 Sommer 2006, 291 ff.
8 B. de Fontenelle, Digression sur des 16 Text bei Roßmann 1959, 2 ff.
Anciens et les Modernes, 1688. 17 Hauptvertreter Spalding, Semler
9 S. o. VI 5! und J. W. Jerusalem.
Kapitel VIII
1 F. Meinecke, Weltbürgertum und 8 Dionysios Areopagita IX 2 ff; AT.
Nationalstaat, 1907/28. Daniel 10,21.
2 Schelling, Schriften 596. 9 Herder, Ideen I 346; II 87.
3 Platon, Staat VII Anfang. 10 Herder, Ideen II 225.
4 NT. 1. Kor. 13. 11 Fichte, (Vorlesungen über) Die
5 VS. 59 B 11 ff; Plotin V 2. Grundzüge des gegenwärtigen Zeit-
6 Croce 1915/1930, 86; Conte 2007, alters, 1806/1924; ders. , (Vierzehn)
45. Reden an die deutsche Nation
7 White 1987, 33: Historische „Ereig- 1807/08, 1912.
nisse sind real, nicht weil es sie gab, 12 Fichte, 14. Rede.
sondern weil man sich, erstens, an 13 Fichte, 9. u. 13. Vorlesung; ders.,
sie erinnerte und weil sie, zweitens, 6. u. 7. Rede.
sich in eine chronologische Abfolge 14 Fichte 1. und 14. Rede.
einreihen lassen.“ Demgemäß wären 15 Fichte, 1. Vorlesung; ders., 7. Rede.
weder der Untergang des Palastes 16 Fichte, 1. u. 9. Vorlesung.
von Knossos (an den sich niemand 17 Fichte, 2. Vorlesung.
erinnert) noch die Predigt Zarathus- 18 Fichte, 1., 2. und 14. Vorlesung;
tras (die man nicht datieren kann) ders., 4. Rede; Wundt 1927, 191 ff;
historische Ereignisse. Löwith II 223.
Kapitel IX
1 4. November 1823; B. III 37. 20 Marc Aurel VI 16; 28; VII 3; 29;
2 Goethe B. I 415 ff; III 37. VIII 50
3 Goethe MR. 271. 21 Goethe, 18. August 1792 an Jacobi.
4 4. Dezember 1827 an Zelter. 22 14. November 1812 an Reinhardt.
5 Demandt, Metaphern, 1978, 381 ff. 23 Goethe verstieß nur einmal dagegen,
6 Fontes Iuris Romani Anteiustini- 1806 in der Affäre Massenbach,
ani II, ed. J. Baviera 1968, 68; 75; LH. 31, 274.
298. 24 LH. 27, 154.
7 Herder, Auch 202. 25 LH. 28,96 f.
8 Goethe B. I 433 ff; B. II 130; Roß- 26 17. Januar 1831 an Niebuhr.
mann 1959, 131 ff. 27 B. III 137.
9 28. September 1775 an Lavater. 28 B. III 489.
10 15. Februar 1830 an Zelter. 29 LH. 26, 41; B. III 26.
11 NT. 1. Kor. 13,12. 30 B. I 434.
12 Demandt, Metaphern, 1978, 31 7. Juli 1793 an Jacobi.
370 ff.
13 Goethe MR. 651; 32 B. III 62,
ders., 22. Juli 1819 an Reinhard. 33 LH. 28, 258.
14 LH. 3, 109. 34 22. Juli 1810 an Reinhard. Zu Hegel
15 B. III 149; B. IV 131. s. o. VIII 3tuv!
16 C. VIII 953; MR. 264. 35 MR. 517.
17 S. u. 4d; 6c! 36 B. IV 69.
18 B. III 142; LH. 32, 79. 37 LH. 24, 287 ff.
19 NT. 1. Kor. 4,13; Röm. 9,2. 38 LH. 30, 76.
111 LH. 29,44 ff; 29,46. 147 H.-J. Weitz, Goethe über die Deut-
112 27. März 1784 an Herder. schen, 1965.
113 B. I 201; LH. 55, 136; LH. 31, 15 f. 148 LH. 33, 111; 15. Januar 1816 an
114 LH. 52, 83 ff; LH. 52, 288 ff. Sack.
115 3. Mai 1827 an Buttel. 149 LH. 53,113.
116 B. IV 53; LH. 53, 158. 150 LH. 53, 75.
117 B.IV 69; 337. 151 B. II 396; LH. 3, 242; B. III 149.
118 MR. 412; 432; LH. 22, 251. 152 Goethe, 28. August 1807 an Rein-
119 MR. 434; 438; 1369. hard.
120 LH. 22, 247; B. IV 196. 153 10. Mai 1812 an Jacobi..
121 LH. 53, 158. 154 LH. 53, 67; 73; MR. 1382; LH. 53,
122 LH. 53,81 f. 3.
123 28. August 1807 an Reinhard. 155 NT. Joh. 14,2.
124 MR. 1244; B. III 36. 156 Goethe LH. 53, 74.
125 MR. 554. 157 C. VIII 953.
126 S. u. XII 1! 158 B. IV 51; B. III 6; B. I 149.
127 Schopenhauer WWV. II 3,38. 159 19. November 1796 an Schiller.
128 Goethe LH. 22,246. 160 B. I 443; Burckhardt WB. 274.
129 5. Dezember 1796 an Meyer. 161 LH. 22, 262.
130 2. April 1818 an Schubarth. 162 LH. 3, 289.
131 LH. 22,262. 163 Faust S. 604, Paralipomena zu Faust
132 B. IV 131; C. XV 402 f; Burckhardt I; Hintze III 364.
WB. 1. 164 LH. 50, 28; Nietzsche I 209; B.
133 Goethe LH. 48, 165; 18. April 1796 III 148.
an Meyer; LH. 35, 349. 165 24. Mai 1828 an v. Müller.
134 B. I 471; B. III 257; B. I 148. 166 B. III 258; C. XV 875; MR.762.
135 22. August 1817 an Knebel. 167 MR. 660; C. XVI 523.
136 LH. 24, 71; C. VIII 953; LH. 24,7 f. 168 Tacitus, Annalen II 88.
137 Platon, Apologie 27 C ff; Goethe 169 Obschon Goethe das einschlägige
LH. 49, 10, Standardwerk, Philipp Clüvers
138 B. IV 330; 338; B. IV 358. ›Germania antiqua‹ (1616) und
139 LH. 48,176 ff. natürlich den Tacitus sehr wohl
140 S. o. VIII 3v! kannte (Franz 66).
141 B. I 475; B. I 401. 170 B. III 37; LH. 53, 79; MR. 167.
142 B. IV 41; B. II 44; B. I 401. 171 LH. 53, 161.
143 LH. 53, 166 ff. 172 4. Februar 1811 an Sartorius.
144 LH. 37. 173 Kant, Idee § 9.
145 B. I 435; MR. 313; LH. 53, 74. 174 LH. 53, 3; MR. 105.
146 Meinecke III 538; Goethe LH. 175 Meinecke III 537.
53,77. 176 MR. 495; LH. 5, 110.
Kapitel X
1 Burckhardt WB. 15 f. 24 Hintze II 366 f; 373.
2 Jordan in LGW. 2002, 171 ff. 25 Oncken 1922, 35; 71,
3 Nietzsche I 209 ff; III 479. 26 Meinecke IV 202 f; 374.
4 Conte, Croce 70; 112; 116. 27 Ranke, Epochen 17; Conte, Croce
5 Oncken 1922, 16. 92, Oncken 1922, 5.
6 Meinecke III. Ausgeblendet bleibt 28 Ranke, Epochen 57; 141.
im folgenden der Historismus in der 29 Ranke, Werke XV 103; ders.,
literarischen Hermeneutik. Dazu: G. Geschichten S. VII.
Scholtz (Hg.), Historismus am Ende 30 Meinecke, Sinn, 57; Isokrates,
des 20. Jahrhundert, 1997, 193 ff. Helena 22; Croce 1915/30, 108;
7 Zur Person: Muhlack in: Ranke, Terenz, Heauton timorumenos 25.
Mächte 1995, 115 ff; Demandt, 31 NT. Mt. 5,45; Lukian, Historia 49;
Ranke unter den Weltweisen (1996). Tacitus, Annalen I 1.
In: ders., HM. I 253 ff. 32 Meinecke IV 70 f; 78; 80 f; 376.
8 Hintze II 453 ff (1904); Christ 33 Buckle, History 109 f.
1972, 50 ff; W. Nippel, Johann 34 Ebd. 111 f; 118 f.
Gustav Droysen, 2008, 219 ff. 35 Ebd. 117; 121 f.
9 Hintze II 333. 36 Droysen, Historik 386 ff.
10 Die Vorlesung ist seit 1857 acht- 37 S. o. VI 6b!
zehnmal gehalten worden, 1881 38 Birtsch 1976, 17.
überarbeitet, aber erst 1937 durch 39 Hölderlin, Werke 1014; W. v. Hum-
seinen Enkel Rudolf Hübner nach boldt I 56 ff.
dem Manuskript und studentischen 40 Humboldt I 56 ff.
Mitschriften herausgegeben worden. 41 Ranke, Gespräch 30; 32; 39; 49.
Als besonders wertvoll erwies sich die 42 Ranke, Gespräch 33; 38; 43; Hegel
Mitschrift von Friedrich Meinecke. Gph. 96 f; 44; Treitschke, Schriften
11 Zur Person: Meinecke VIII (Auto- I, 1.
biographische Schriften). 43 Ranke, Gespräch 24; 32; 35 f; Hegel
12 Meinecke VI 163; VIII 327. Gph. 118.
13 Meinecke, Sinn, 48. 44 Ranke, Gespräch 48; ders., Epochen
14 Hintze II 329; 342. 43.
15 Ranke, Epochen 17. 45 Ranke, Gespräch 48.
16 Droysen, Historik 305 f; 346; 371; 46 Droysen, Historik 382 f; Ranke,
373; 378. Gespräch 35.
17 Ranke, Epochen 17; 141; Werke 47 Meinecke, Sinn 23 ff; 31 ff; 36; ders.
53/54, 665 f. IV 87.
18 Ranke, Epochen 21; 32 ff. 48 Meinecke, Sinn 30 f; ders. V 83.
19 Droysen, Texte 59, von 1854. 49 Heine, Werke und Briefe V 1961,
20 Droysen, Historik 301; 307 ff. 377 f.
21 Aristoteles, Über die Seele 417 b 7, 50 Demandt, Ranke unter den Welt-
22 Meinecke, Sinn 44. weisen (1996). In: ders., HM. I 264.
23 Ranke, Epochen 17; Birtsch 1976, 51 K. Christ, Von Gibbon zu
17; 20 f. Rostovtzeff, 1972, 67; Demandt,
Ranke, in: ders., HM. I 265; Birtsch 65 Troeltsch 1924, 70; Hintze II 361 ff;
1976, 37 f. W. J. Mommsen 1971,19.
52 Droysen, Historik 12 ff; 266; 415; 66 Hintze II 373,
Meinecke, Sinn 41. 67 Weber WL. 489 ff; s. u. XII 3d..
53 Droysen, Historik 207; 216 f; 68 Meinecke IV 225; 232; 341.
Birtsch 1976, 13. 69 Meinecke IV 231.
54 Droysen, Geschichte Alexanders des 70 Hintze II 334; 367.
Großen, 1833, Einleitung. 71 W. Mommsen 1971, 14.
55 Aristoteles, Politik 1284 a 10; Motto 72 Ebenso Troeltsch: Hintze II 365.
zu Droysen 1833. 73 Meinecke, VI 611.
56 Droysen, Historik 243; 245; 251; 74 Marcuse, Der eindimensionale
266; 384; 400 f. Mensch, 1964/1975, 228.
57 Ebd. 266 vgl. 241 f; 253; 258 ff; 75 Engelberg 1972, 11 ff; 103 ff;
401; Droysen, Alexander 25; 34. 135 ff.
58 H. v. Sybel, Über den Stand der 76 Zu Ranke s. o! Weber GPS. 171;
neueren deutschen Geschichtsschrei- Hintze II 327 ff; 372 f.
bung. In: ders., Kleine historische 77 Meinecke IV 71; 93; 203; 370;
Schriften I, 1880, 355; Droysen, VIII 337; ders., Sinn 20.
Historik 287. 78 Meinecke VIII 442 ff.
59 Zu Goethe s. o!; zu Nietzsche s. u! 79 Meinecke VIII 300.
60 Droysen, Historik 26; 329; Hitler, 80 Lucrez II 1 ff; Demandt, Metaphern,
Kampf 124 vgl.120. 1978, 184 f; Hans Blumenberg,
61 Meinecke IV 257 Schiffbruch mit Zuschauer, 1979.
62 Meinecke IV 227; ders., 1939, 11 ff. 81 Meinecke, Sinn 19; ders. IV 208 ff;
63 Meinecke IV 229; 231; 235. VI 206.
64 Meinecke IV 231. 82 Demandt, Apseudestat, 2006, 32.
Kapitel XI
1 Marx FS. 346. 11 Demandt, Metaphern, 1978, 506.
2 MEW. 21, 293. 12 MEW. 8, 545; 9, 133; 23, 12.
3 Demandt, Metaphern, 1978, 308 f; 13 Schopenhauer I 596.
A. Wittkau-Horgby, Materialismus, 14 Marx FS. 349; 354 f; 361 f; Trotzki
1998; W. Küttler in: LGW. 2002, 1921, 51; Fleischer 1969, 47; Bürger
167 ff. 1786/1959, 43.
4 J. Trier, Holz. Etymologien aus dem 15 Polybios I 3,3 f; Bodin, Methodus
Niederwald, 1952. 322.
5 Sambursky 1965, 144 ff. 16 MEW. 9, 221.
6 MEW. 20,24. 17 Marx FS. 356; 366; 379; 383; 391;
7 MEW. 13, 8 f. 408.
8 Trotzki 1921, 51; Stalin 1947/51, 735. 18 MEW. 17, 336; 551; 599; MEW.
9 MEW. 19, 108; 23,15; 791. 27, 451 ff; MEW. 34, 374; FS. 368;
10 Marx FS. 357; 361; 365; 378; 382; 384.
385; 389; 407 etc. 19 Marx FS. 374.
Kapitel XII
1 Marx FS. 342. 20 WB. 159; 167.
2 Nietzsche II 226 f. 21 WB. 192 ff.
3 Pseudo-Aristoteles, Rhetorik für 22 WB. 168; 188.
Alexander 1429 a 21 ff. 23 WB. 161.
4 Gregorovius, Kleine Schriften III 24 Burckhardt, Constantin 247 ff; ders.,
1892, 46; 54. WB. 59, 159 f; 191.
5 Christ 1972, 119 ff; W. Rehm, Jacob 25 WB. 6 f.
Burckhardt, 1930; K. Löwith, Jacob 26 WB. 97; 263.
Burckhardt (1936), in: ders. 27 Eunap fr. 46 Blockley; NT.
VII 39 ff. Röm. 13,1.
6 Unter diesem originalen Titel hat 28 Burckhardt WB. 266 ff.
Peter Ganz 1982 die skizzenhaften 29 WB. 161; 189.
Aufzeichnungen Burckhardts publi- 30 Thukydides III 70 ff; Burckhardt
ziert. Sie bestätigen die Sorgfalt, mit WB. 181.
der Oeri einen lesbaren Text daraus 31 Hegel Gph. 78; 84
hergestellt hat. Wesentliche Anre- 32 Burckhardt WB. 164; 267.
gungen verdankt Burckhardt Ernst 33 Thukydides III 82,2; Burckhardt
von Lasaulx, Neuer Versuch einer WB. 169; 191.
alten auf die Wahrheit der Thatsa- 34 WB. 172.
chen gegründeten Philosophie der 35 WB. 257; 259; 266.
Geschichte, 1856. 36 Nietzsche II 301; 936; 1170.
7 Nietzsche 7. November 1870 an 37 Ebd. 773; 866; 899.
Carl von Gersdorff. 38 Ebd. 362.
8 Burckhardt WB. 4; 6. 39 Nietzsche I 213; 215; 219.
9 Schopenhauer WWV. II Kap. 38. 40 Platon, Staat 328 A.
10 Hegel, Gph. 105 41 Nietzsche I 223; 225.
11 Burckhardt WB. 5; 256. 42 Ebd. 227 f.
12 Burckhardt an Preen, 27. Dezember 43 Goethe, Faust I 1339 f.
1890. 44 Nietzsche I 230; 823.
13 Burckhardt WB. 14 ff; 212. 45 Ebd. 232; Grimm KHM. Nr. 5.
14 Ilias VI 358; Odyssee VIII 521 ff. 46 Nietzsche I 232 f; 240; 281.
15 Burckhardt WB. 10 f. 47 Ebd. 225 ff.
16 WB. 6; 29. 48 Nietzsche I 245; 250 f; II 120; 503;
17 WB. 127. 861.
18 Hegel Gph. 76; Burckhardt WB. 49 Nietzsche I 251.
211; 229; 241. 50 Ebd. 265; 272 f; Horaz, Oden
19 Burckhardt, Constantin, 348; 383. I 12,37 f.
Kapitel XIII
1 Kuhn 1988, 188 ff. 31 Lamprecht, Einführung in das histo-
2 Ilias VI 145 ff; Livius II 32,9–12, rische Denken, 1912.
3 Platon, Staat 546 A; Polybios 32 Koktanek 29 ff.
VI 51,4; Sallust, Jugurtha II 3. 33 Spengler an Misch 5. Januar 1919;
4 Seneca ep. 71,12 ff; Lactanz DI. VII Janensch 2006.
15, 14 ff. 34 Frobenius, Paideuma 15.
5 Seneca NQ. II 30,5. 35 Spengler FW. X.
6 S. o. V 6b! 36 Spengler MT. 14 ff; 26.
7 Ramm, Frühsozialismus 69. 37 Kant, Idee § 7.
8 S. o. X 3! 38 Nietzsche I 233.
9 Leo, Naturlehre 121 ff; 166. 39 Spengler 5. Januar 1919 an Misch;
10 Demandt, Metaphern, 1978, 252 ff. ders., UA. I 143; II 43.
S. o. VI 6! 40 Spengler UA. I 20 ff.
11 Schoeps 1953. 41 Spengler UA. I 5.
12 Vollgraff I–IV 1828/29. 42 Spengler UA. II 583 ff ›Das Geld‹.
13 Platon, Gesetze 747 c. 43 Plinius NH. XXXV 115.
14 Frobenius, Paideuma, 1921/1953, 9; 44 Juvenal X 81.
12. 45 Spengler UA. II 61.
15 Christ 1972, 286 ff; Calder/Demandt 46 Spengler JdE. XI
1990. 47 Ebd. 147 ff; RA. 292 f.
16 H. Schneider, Die Bücher-Meyer- 48 Ebd. 158 f.
Kontroverse, in: Calder/Demandt 49 Spengler RA. 135 ff.
1990, 417 ff. 50 Spengler UA. I 35.
17 Ed. Meyer, Kleine Schriften I 157 51 Ebd. I 142.
18 Ed. Meyer, GdA. IV 2, 150 ff. 52 Ebd. II 51.
19 A. Demandt, Hellenismus – die mo 53 Ebd. I 147.
derne Zeit des Altertums? In: B. Funck 54 Spengler PS. 24 (von 1924).
(Hg.), Hellenismus, 1996, 17 ff. 55 Spengler JdE. 153.
20 Ed. Meyer, Hellenismus 60. 56 Spengler 5. Januar 1919 an Misch.
21 Heraklit VS. 22 A 22; Ilias 57 Spengler, Urfragen 31; 34.
XVIII 107. 58 Spengler UA. I 9.
22 Orosius IV 23,10. 59 Ebd. I 78 ff.
23 Horaz, Briefe I 12,19; Manilius I 142. 60 Nietzsche I 140.
24 Mommsen RA. 106; 142; anders 322. 61 Bienefeld 1996.
25 Ed. Schwartz, Gesammelte Schriften 62 Spengler UA. II 227.
I 1938/63, 173 ff. 63 Demandt, Spengler und die Spät
26 Ed. Meyer, Staat 97. antike, in: Ludz 1980, 25 ff.
27 Max Weber SWA. 99 ff. 64 Spengler UA. I 128 ff.
28 Ed. Meyer, GdA. I 1, 83; zu Ibn 65 Ebd. I 136; 140.
Khaldun s. o. VI 1ce! 66 Spengler, Urfragen 119; JdE. 63.
29 Ed. Meyer, GdA. I 1, 182 f 67 Spengler UA. I 201 f.
30 E. Gibbon, Memoirs of My Life 68 Ebd. I 6; 65; Frobenius, Paideuma 9.
1796/1966, 6; 136. 69 Ebd. I 28.
Kapitel XIV
1 S. o. VII 5 f! 8 Herodot IV 76 f; Cicero, Tuskulanen
2 S. o. VIII ! V 90.
3 Annales. Economies, Sociétés, 9 Platon, Staat 469 f; Aristoteles, Pro-
Civilisations 24, 1969. Numéro blemata 14; ders., Politik I 1,5; VII
spécial : Histoire biologique et 6,1.
société; Mann, Biologismus, 1973 ; 10 Prudentius, Contra Symmachum
Demandt, Natur- und Geschichts- II 816; Gregor von Nazianz or.
wissenschaft im 19. Jahrhundert IV 50; Augustinus CD. I 20.
(1982/83). In: ders., HM. I 81 ff; 11 Gobineau, Essai 210 f; 861 f.
ders., Biologistische Dekadenz- 12 Mann 1975, 285.
theorien (1985). In: ders., HM. II 13 AT. 1. Mose 10.
66 ff. 14 Cassirer 1949, 317.
4 Findeisen 1956. 15 Mann 1975, 76.
5 Polybios XV 20,3. 16 W. Preyer, Darwin. Sein Leben und
6 Theognis I 183 ff ; Platon, Politeia Wirken, 1896; Loewenstein, 2009,
459 A; Plutarch, Lykurg 15. 303 ff.
7 Strabon XIV 2, 28; Ilias II 867. 17 Kant II 251 ff.
Kapitel XV
1 Cicero, De finibus IV 16 ; V 26; 19 Jünger, Eumeswil 80; 203; 382.
Seneca NQ. III 27,2. 20 E. Jünger, Gestaltwandel. In: Die
2 Augustinus CD. 22,30. Zeit, Nr. 29, 16. Juli 1993, S. 36.
3 NT. Offb. 10,6. 21 Benn, Ptolemäer, 131 ff.
4 Berdjajew 1923/25, 250 22 Odyssee IX 82; Apollodor, Epitome
5 G. Anders, Die Antiquiertheit des 7,3.
Menschen I 1956/80, 276 ff. 23 Huizinga, Schatten 175 ff; ders.,
6 Freyer, Die Vollendbarkeit der Ge Zeitkritik 124; 136 f; 278.
schichte. In: Ders., 1955, 62 ff; A. Geh- 24 De Man 1951, 125 f; 175; 180 ff.
len, Ende der Geschichte? In: Ders., 25 Gehlen, Urmensch und Spätkultur
Einblicke, 1975, 115 ff; Niethammer 1956; ders., Über kulturelle Kristal-
1989; Demandt, Endzeit, 1993. lisation, 1963.
7 Gaiser 1961, 21. 26 Anders, Antiquiertheit 1980, 271 ff.
8 NT. Mk. 1,15. 27 Lukian, Der Lügenfreund (Phi-
9 L. Heidbrink, Vom Ende der Kunst lospseudes) 35 f.
zur historischen Verantwortung. In: 28 Guardini, Ende 91; 94; 98.
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 29 Thema der Dissertation war ›Die
45, 1997, 745 ff. Geschichtsphilosophie Wladimir
10 Maurer 1980. Solowjews‹, 1930, und umfaßte
11 Hegel Gph. 588. 20 Seiten.
12 Tocqueville, Gleichheit 98. 30 Kojève 1947/57; Anderson 1993, 57 ff.
13 S. o. XIV 1c! 31 J. Baudrillard, Die Revolution und
14 Das von deutschen Übersetzern ver- das Ende der Utopie. In: Kursbuch
wendete Neutrum „das“ posthistoire 23, 1989, 21 ff; ders., 1990 und 1993.
schmerzt jeden, der historia und 32 De Man 1952, 88
l’histoire als Femininum in Erinne- 33 Vondung 1988, 501.
rung hat. 34 Baudrillard 1990, 27.
15 Cournot 1861/1911; Anderson 35 Fukuyama, The End of History? In:
1993, 32 ff. The National Interest 16, 1989, 3 ff.
16 Engels 2008. 36 Martin Meyer 1993; Burns 1994. J.
17 E. Jünger, Der Arbeiter, 1932/82, Farrenkopf, Francis Fukuyama’s Poli-
78 ff; 95; ders., An der Zeitmauer tical Idealism. In: Australian Journal
1959, 96, 111; 182; 258. of International Affairs 49, 1995,
18 Juvenal IV 77 ff. 69 ff; Maurer 2003.
Kapitel XVI
157 Brehms Tierleben II 1900, 403. 166 Lübbe 1993, 19 ff; Koselleck 2000,
158 Kant I 223; Rickert 1924, 89 ff. 203 ff.
159 Dies ist die Achillesfers der trial- 167 Demandt, Läßt sich Geschichte
and-error-Methode Poppers. voraussagen? (1987) In: ders., HM.
160 M. Weber WL. 283. I 170 ff.
161 C. G. Hempel, Explanation in Sci- 168 Platon, Staat 518 E; 520 D; 527 C;
ence and History. In: Dray 1966, 540 AB.
95 ff. 169 Schmitt, Glossarium, 1991, 290
162 Demandt, Fall, 1984, 526 ff. zum 12. Januar 1950.
163 Schelling, System 1800, 416. 170 NT. 1. Kor.13, 9 f.
164 Ed. Meyer, Kleine Schriften I 35; II 171 Glasenapp II 505 ff; Demandt, Was
538. ist Geschichte? (1984), in: ders.,
165 Popper, Historizismus, 1965. HM. II 2002, 57.
Genannt werden Titel, die mehrfach zitiert und benutzt wurden. Nur einmal her-
angezogene Werke und kleinere Lexikonartikel erscheinen suo loco in den Fußno-
ten. Ausgaben antiker Autoren werden in der Regel hier nicht angeführt, sondern
mit Buch, Kapitel und Paragraph zitiert. Römische Zahlen hinter neuzeitlichen
Namen verweisen auf unten genannte Werkausgaben.
Bernheim, P.-A./Stavrides, G., Welt der Paradiese – Paradiese der Welt, 1992
Biedermann, F. v. (Hg.), Goethes Gespräche, Gesamtausgabe, I–V, 1909 ff, (zitiert: B.)
Bienefeld, H.-J., Physiognomischer Skeptizismus. Oswald Spenglers ›Morphologie der Welt-
geschichte‹ im Kontext zeitgenössischer Kunsttheorien. In: Bialas, W./Stenzel, B. (Hgg.),
Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz, 1966, 143 ff.
Birtsch, G., Geschichtswissenschaft und Gesellschaft, 1976
Blumenberg, H., Die Legitimität der Neuzeit, 1968
Boccaccio, G., Opere latine minori, ed. Masséra, 1928
Boccaccio, G., Das Leben Dantes, 1965
Bode, W., Goethes Gedanken aus seinen mündlichen Äußerungen. In sachlicher Ordnung
und mit Erläuterungen zusammengestellt I/II, 1907 (I 163 ff)
Bodin, J., Methodus ad facilem historiarum cognitionem, 1566/1650
Böhlig, A., Die Gnosis III. Der Manichäismus, 1980
Böhmer, H., Luthers Romfahrt, 1914
Bollenbeck, G., Eine Geschichte der Kulturkritik, 2007
Born, M., Die Relativitätstheorie Einsteins, 1964
Boterman, F., Oswald Spengler en: Der Untergang des Abendlandes. Cultuurpessimist en
politiek activist, 1992
Bracher, K. D., Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit, 1948/1987
Brandes, W./Schmieder, F. (Hgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Welt-
religionen, 2008
Breysig, K., Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte, 1927
Buck, A., Das Geschichtsdenken der Renaissance, 1957
Buck, A. (u. a. Hg.), Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung in der Renaissance, 1989
Buckle, Th., History and the Operation of Universal Laws. In: P. Gardiner (ed.), Theories of
History, 1959,106ff
Bürger, G. A., Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande des Freyherrn von Münchhausen,
1786/1959
Burck, E. (Hg.), Die Idee des Fortschritts, 1963
Burckhardt, J., Die Zeit Constantins des Großen, 1853/1880
Burckhardt, J., Die Kultur der Renaissance in Italien, I/II, 1860/1904
Burckhardt, J., Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1868/1935 (WB)
Burckhardt, J., Griechische Kulturgeschichte, 1898/1956
Burkert, W., Impact and Limits of the Idea of Progress in Antiquity. In. Burgen, 1997, 19 ff.
Burgen, A. (u. a. Hgg.), The Idea of Progress, 1997
Burns, T. (ed.) After History? Francis Fukuyama and His Critics, 1994
Bury, J. B., The Idea of Progress, 1920
Calder, W. M./Demandt, A. (Hgg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhis-
torikers, 1990
Campenhausen, H. v., Die Entstehung der Heilsgeschichte. In: Alonso-Nunez, J. M. (Hg.),
Geschichtsbild und Geschichtsdenken im Altertum, 1991, 268 ff.
Camus, A., Der Mensch in der Revolte, 1953
Capelle, W., Die Vorsokratiker, 1935
Carr, E. H., Was ist Geschichte?, 1961/1963
Cassirer, E., Goethe und die geschichtliche Welt, 1932
Dahlmann, H., Seneca und Rom. In: Das neue Bild der Antike, II, 1942
Darwin, Ch., Die Entstehung der Arten (1859), 1860/1893
Darwin, Ch., On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of
Favoured Races in the Struggle of Life, 1859
Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen (1871), eingeführt von Ch. Vogel, 1982
Darwin, Ch., The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, 1871
Demandt, A., Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, 1965
Demandt, A., Verformungstendenzen in der Überlieferung antiker Sonnen- und Mond
finsternisse, 1970
Demandt, A., Geschichte als Argument, 1972
Demandt, A., Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politi-
schen Denken, 1978
Demandt, A., Spengler und die Spätantike. In: Ludz 1980, 25 ff.
Demandt, A., Symbolfunktionen antiker Baukunst (1979). In: D. Papenfuß/V. M. Strocka
(Hgg.), Palast und Hütte, 1982, 49 ff.
Demandt, A., Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nach-
welt, 1984
Demandt, A., Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen,
wenn ...? 1984/2011 (Ungeschichte)
Demandt, A., Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, 1993
Demandt, A., Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, 1993
Demandt, A./Farrenkopf, J (Hgg.), Der Fall Spengler, 1994
Ranke, L. v., Die großen Mächte. Politisches Gespräch, hg. U. Muhlack, 1995
Rastätter, K., Aufklärerisches Denken in der Geschichtsphilosophie Kants, Saeculum 24,
1973, 266 ff.
Reckford, K. J., Some Appearances of the Golden Age. In: Classical Journal 54, 1958,
79 ff
Reeves, M., Joachim of Fiore, Dante and the Prophecy of the Last World Emperor. In: Kath-
egetria. Essays Presented to Joan Hussey for Her 80th Birthday, 1989
Reinisch, L. (Hg.), Der Sinn der Geschichte, 1961
Reitzenstein, R., Die nordischen, persischen und christlichen Vorstellungen vom Weltunter-
gang (1923/24), In: Ders., Antike und Christentum 1963, 76 ff
Reusch, P. (Hg.), Spengler zum Gedenken, 1938
Ribeiro, D., Der zivilisatorische Prozeß, 1971
Richter, R., Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk, 1903
Rickert, H., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1924
Ritter, J., Fortschritt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2, 1971, 1032 ff
Rohr, G., Platons Stellung zur Geschichte, 1932
Romein, J., Die Biographie, 1946/48
Rosenthal, F., Das Fortleben der Antike im Islam, 1965
Roßmann, K. (Hg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, 1959 ( R)
Rotermundt, R., Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, 1994
Rudberg, G., Biologie und Urgeschichte im ionischen Denken, in: Symbolae Osloenses 20,
1940, 1 ff
Sternberger, D., Machiavellis Principe und der Begriff des Politischen, 1974
Sternberger, D., Eschatologische Wissenschaft und wissenschaftliche Eschatologik. Berichte
zur Wissenschaftsgeschichte 4, 1981, 3 ff.
Strasburger, H., Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides, Saeculum 5,
1954, 395 ff.
Strasburger, H., Homer und die Geschichtsschreibung, 1972
Swassjan, Karen, Der Untergang eines Abendländers. Oswald Spengler und sein Requiem
auf Europa, 1998
Usener, H. Philologie und Geschichtswissenschaft (1882). In: Ders., Vorträge und Aufsätze,
1907, 1 ff
Yorck s. Dilthey!
Yovel, Y., Kant and the Philosophy of History, 1975.
1. Geschichtlichkeit 5. Geschichte
a. Geschichte definierbar? a. Geschehnis
b. Zeit und Geschichtlichkeit b. Kollektivsingular seit dem 17. Jahr-
c. Veränderung hundert
d. Kontinuität c. Weltgeschichte seit dem 18. Jahr-
e. Umkehr und Wiederholung hundert
f. Zustände wechseln, Gegenstand d. Geschehnis, Erzählung, Märe
bleibt e. history-histoire
g. Namen stiften Identität f. Hegel: Historie gleich Geschichte
h. Substanz und Idee g. Idealisten - Materialisten
i. Vorgeschichten
j. Entstehen und Vergehen 6. Begriffsinhalt
a. Benn aus dem Ploetz
2. Mythos b. Geschichtsdefinitionen
a. Begriffsgeschichte c. Werturteile darin
b. Ältestes Erzählgut d. Literaturgattungen darin
c. Kosmogonie e. Handlung
d. Heldenlied: Homer f. Rangordnung im Geschehen
e. Barden g. Verachtenswertes
f. Demodokos in der Odyssee h. Berichtenswertes
g. Muse Klio i. Drei Pflichten des Historikers
h. Kriegsgeschehen j. Relevanzkriterien
i. Mythos bei Homer k. Zusammenhang entscheidet
j. Epos
7. Wissenschaft
3. Historia a. Erkenntnis
a. Chronistik b. Selbsterlebtes als Grundlage
b. Vorsokratiker: Kritik c. Historische Quellen
c. Varro: intervallum historicum d. Geschichtsforschung
d. Herodot: historia e. Geschichtsschreibung
e. Isidor: Etymologie dazu f. Periodisierung
f. Commentarii etc. g. Geschichtsphilosophie
g. Thukydides: Wahrheit h. Geschichtstheorie
i. Wissenschaften vom Menschen
4. Res gestae j. Sieben Aporien
a. Aristoteles: praxis und pathos
b. Polybios: pragmata
V. Jüdisch-christliche Heilsgeschichte
1. Dekadenz bei Ibn Khaldun 5. Bacon: Die Neuen sind die Alten
a. Griechische Wissenschaft im Islam a. Novum Organon: Wir sind die
b. Ibn Khalduns Buch der Beispiele Alten
c. Kulturentwicklung b. Einheit der Geschichte
d. Klimatheorie c. Fortschritt als Lernprozeß
e. Dekadenzkreislauf d. Sündenfall Naturverlust
f. Lebensaltergleichnis e. Lebenslauf der Staaten
f. Drei Oasen
2. Boccaccios Naturtheologie g. Der neue Weg zum Fortschritt
a. Antikensehnsucht
b. Wegbereiter: Dante und Petrarca 6. Vico und die Kreislauflehre
c. Vergils Zeitlob aktualisiert a. Antike Muster
d. Naturtheologie b. Nur Gemachtes ist verständlich
e. Poesie Gottes c. Die neue Wissenschaft von der
Natur der Völker
3. Geschichte als Musterbuch bei d. Kreisläufe allenthalben
Machiavelli e. in der Verfassung
a. Leben und Werk f. im Recht
b. Zufall und Tugend g. Fortschritt in der Religion zum
c. Verderbnis der Kirche Christentum
d. Savonarola h. in der Humanität
e. Perfektion der Politik
f. Technik und Moral 7. Altertum – Mittelalter – Neuzeit
g. Italien einigen! a. Mittelalter als Zwischenzeit
h. Die Schuld am Untergang Roms b. Zäsuren bei Cellarius
i. Kreisläufe in der Geschichte c. Das Mittelalter unter dem Anti-
j. Kosmoszyklen christ
k. Ad fontes! d. Methodenprobleme der Periodi
sierung
e. Spenglers Bild vom Bandwurm
f. Rückwärtsblick im Reisewagen
a. Professionalisierung 3. Staat
b. Geschichte als Argument oder als a. Ranke konservativ
Sedativ b. Lebensprinzipien der Staaten
c. Historisierung allenthalben c. sind historisch erkennbar
d. Professoren zur Geschichtsphilo d. Krankheit und Gesundheut
sophie e. Trieb zur Vortrefflichkeit
e. Ranke f. Meinecke: Entelechie
f. Droysen g. Selbstbehauptung erforderlich
g. Meinecke
h. Individualität und Universal 4. Politik
geschichte a. Rankes Indifferentismus
b. Heines Fortschrittsglaube
1. Entwicklung c. Droysen gegen Rankes feige Intelli-
a. Erziehung des Menschen genz
geschlechts d. Begeisterung für den Gemeinsinn!
b. Fortschritt bei Ranke e. Volksart fördern!
c. bei Droysen f. Kosten abbuchen!
d. Permanente Selbstvollendung g. Gemeinschaft stärken!
h. Eunuchische Objektivität
2. Individualität i. Befruchtung durch Historie
a. Einmaligkeit alles Historischen j. Parteilichkeit vonnöten
b. Spezial- und Universalgeschichte
c. Alles ist unmittelbar zu Gott 5. Die Pandorabüchse des Historismus
d. Unparteilichkeit gefordert a. Drei Bühnen
e. Selbstlos verstehen geboten b. Der Weltkrieg als Weltgericht
f. Gerechtigkeit wahren! c. Historisierung der Werte
g. Meinecke: Dienst am Göttlichen d. Troeltsch contra Weber
h. Buckle: Vorbild Naturwissenschaft? e. Religionsersatz
i. Statistische Gesetzmäßigkeit f. Relativismus lähmt
j. Droysens sittliche Welt g. Das Gespenst als Historismus
h. Meineckes Goethegemeinden
i. Tragödie und Exzelsiordrang
XIV. Geschichtsbiologismus
Angesichts der Herausforderungen, die der Prozess der Globalisierung für die
Nationalstaaten darstellt, ist es angebracht, über die Perspektiven des Staates
im 21. Jahrhundert nachzudenken. In diesem Handbuch werden Modelle
politischer Ordnung vom Altertum bis zur Gegenwart beleuchtet, und zwar
aus einem doppelten Blickwinkel: Die Reflexion der Realgeschichte (Staats-
form) findet ebenso Berücksichtigung wie die Reflexion der Ideengeschichte
(Staatsidee). Das Buch verbindet in interdisziplinärer Weise historische
Analyse mit vergleichend-politikwissenschaftlicher Methode und spannt so
einen Bogen von der ehrwürdigen antiken Staatsformenlehre bis zur mo-
dernen Vergleichenden Regierungslehre.
2., aktual. und erg. aufl. 2007. 415 S. Mit 37 tab. br. 170 x 240 MM.
iSbn 978-3-8252-8343-8
ALEXANDER DEMANDT
ZEIT UND UNZEIT
GESCHICHTSPHILOSOPHISCHE ESSAYS
(HISTORICA MINORA, BAND 2)
ALEXANDER DEMANDT
SIEBEN SIEGEL
ESSAYS ZUR KULTURGESCHICHTE
(HISTORICA MINORA, BAND 3)