Das Doppelte Lottchen

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Das doppelte Lottchen

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GEGENWARTSLITERATUR A
ERICH KÄSTNER

DAS DOPPELTE
LOTTCHEN

Bearbeitet von: Iris Felter


Illustrationen: Naja Abelsen
Umschlagillustrationen: Birgitte Frier Stewart

IER
zu
GEKÜ R ZT U N D V EREIN FA CH T
FÜR SC H U L E U N D SEL B ST ST U D IU M

Diese Ausgabe, deren Wortschatz nur die


gebräuchlichsten deutschen Wörter umfasst,
wurde gekürzt und vereinfacht und ist damit
den Ansprüchen des Deutschlemenden auf
einer frühen Stufe angepasst.

h tis 4
Dieses Werk folgt der
reformierten Rechtschreibung
und Zeichensetzung

Herausgeberin: U lla Malmmose

Umschlagentwurf: Mette Plesner

Copyright © by Atrium Verlag A G , Zürich


Published in agreement with
Leonhardt & Hpier Literary Agency, Kopenhagen

© 2000 EA SY READ ERS, Copenhagen


- a subsidiary of Lindhardt og Ringhof Forlag A/S,
an Egmont Company.
ISBN Dänemark 9 7 8 - 8 7 ^ 9 0 6 3 9 ^ 7
www.easyreaders.eu
The CEFR levels stated on the back of the book
are approximate levels.

Easy Readers

Gedruckt in Dänemark von


Sangill Grafisk Produktion, Holme Olstrup
ERICH K Ä ST N E R
18994974

Erich Kästner ist ein vielseitiger Autor. Seine »Rom a'


ne für Kinder« sind besonders beliebt. Mit Witz und
Ironie schildert er den A lltag der Kinder und Erwach'
senen, gibt aber auch zu verstehen: »Die Frauen, die
wirklichen, verheirateten, nehmen ihre Männer zu
wichtig! Dabei ist nur eines wesentlich: das Glück der
Kinder!«

W EITERE W ERKE

Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton, Fabh


an, Das fliegende Klassenzimmer, Drei Männer im
Schnee, Die Konferenz der Tiere, A ls ich ein kleiner
Junge war.
Erstes Kapitel

Kennt ihr eigentlich Seebühl?


Das Gebirgsdorf Seebühl am Bühlsee? Nein?
Nicht? Nun, dann kennt ihr natürlich auch
nicht das Kinderheim in Seebühl, ein Ferien­
heim für kleine Mädchen. 5

Als die Geschichte anfängt, baden die Kinder


im kühlen, grünen See. Sie planschen und
lachen und schwimmen oder tun wenigstens so.
Am wildesten ist wie immer ein Mädchen,
das den Kopf voller Locken und Einfälle hat 10
und Luise heißt, Luise Palfy. Aus Wien.
Da hört man vom Haus her einen Gong-
schlag. Noch einen und einen dritten. Die
Kinder schwimmen ans Ufer. »Der Gong ist für
alle!«, ruft Fräulein Ulrike. »Sogar für Luise!« 15

die Locken
der Gong

das Gebirgsdorf, ein kleiner Ort in den Bergen


planschen, im Wasser spielen
der Einfall, die Idee

5
»Ich komm ja schon!«, schreit Luise. »Ein
alter Mann ist doch kein Schnellzug.«
Zwölf Uhr, auf den Punkt, wird zu Mittag
gegessen. Und dann wird neugierig auf den
5 Nachmittag gewartet. Warum? Am Nachmit­

tag werden zwanzig »Neue« erwartet und am


Nachmittag stehen also Luise, Brigitte, Trude
und die anderen Kinder an dem großen Tor
und warten auf den Autobus.
10 Da hupt es! »Sie kommen!«
Der Bus fährt vorsichtig in die Einfahrt und
hält. Der Chauffeur steigt aus und hilft fleißig
einem Mädchen nach dem anderen aus dem
Wagen. Dann steht das zwanzigste Mädchen
15 in der Wagentür.

Der Chauffeur streckt freundlich die Arme


hoch, sie aber sagt höflich und bestimmt
»Danke nein!« und steigt ruhig und sicher
hinaus.
20 Unten blickt sie vorsichtig lächelnd in die
Runde. Plötzlich macht sie große, erstaunte
Augen. Sie starrt Luise anl Nun reißt auch
Luise die Augen auf. Auch die anderen Kinder
und Fräulein Ulrike sehen sprachlos von einer
25 zur anderen.

hupen, ein hörbares Zeichen, z.B. ein Ton von einem Auto
erstaunt, verwundert
anstarren, mit großen Augen auf etwas sehen

6
7
Warum denn?
Luise und das neue Mädchen sehen einan­
der zum Verwechseln ähnlich! Nur, die eine
hat lange Locken und die andere Zöpfe.

5 Frau Muthesius, die Leiterin, sitzt im Büro, als es


klopft. »Es handelt sich um Luise«, sagt Fräu­
lein Ulrike. »Sie wartet draußen.«
»Herein mit ihr!« Frau Muthesius muss lä­
cheln.
10 »Was hat sie denn wieder ausgefressen?«

| ausfressen, etwas machen, was eigentlich nicht erlaubt ist

8
»Diesmal nichts«, sagt Fräulein Ulrike. »Es
ist bloß ... «
Sie öffnet die Tür und ruft: »Kommt herein,
ihr beiden!« Nun treten die zwei Mädchen ins
Zimmer. Weit voneinander bleiben sie stehen. 5
Während Frau Muthesius erstaunt auf die
Kinder schaut, sagt Fräulein Ulrike: »Die Neue
heißt Lotte Körner und kommt aus München.
Sie haben einander bis zum heutigen Tag noch
nie gesehen. Merkwürdig, nicht?« jo

Frau Muthesius sagt freundlich: »Zwei Mäd­


chen, die einander so ähnlich sind, werden
sicher gute Freundinnen. Kommt, Kinder,
gebt euch die Hand!«
»Nein!« ruft Luise, rennt zur Tür und stürmt 15
hinaus. Lotte will langsam das Zimmer verlas­
sen.
»Noch einen Augenblick, Lottchen«,
meint Frau Muthesius. »Ich kann gleich dei­
nen Namen notieren. Und wann und wo du 20
geboren bist. Und wie deine Eltern heißen.«
»Ich habe nur noch eine Mutti«, flüstert
Lotte.
»Zuerst also dein Geburtstag!« Frau Muthe­
sius schlägt ein großes Buch auf. 25

schauen, sehen
rennen, schnell laufen
flüstern, leise sprechen

9
Warum denn?
Luise und das neue Mädchen sehen einan­
der zum Verwechseln ähnlich! Nur, die eine
hat lange Locken und die andere Zöpfe.

5 Frau Muthesius, die Leiterin, sitzt im Büro, als es


klopft. »Es handelt sich um Luise«, sagt Fräu­
lein Ulrike. »Sie wartet draußen.«
»Herein mit ihr!« Frau Muthesius muss lä­
cheln.
w »Was hat sie denn wieder ausgefr essen7.«

ausfressen, etwas machen, was eigentlich nicht erlaubt ist

8
Lottes Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie
fängt an, ihre Sachen in den Schrank zu legen.
Durch das offene Fenster hört sie Kinderla-
chen.
5 Sie hält eine Fotografie von einer jungen
Frau in der Hand, schaut das Bild liebevoll an
und legt es dann in den Schrank. Dabei fällt
ihr Blick auf einen Spiegel. Ernst sieht sie sich
an. Dann wirft sie plötzlich die Zöpfe weit
io nach hinten und hält das Haar so, dass es Lui'
se Palfys ähnlich wird.
Als irgendwo eine Tür schlägt, lässt Lotte
schnell die Hände sinken.

der Spiegel

Frau Muthesius sagt im Speisesaal zu Fräulein


15 Ulrike: »Wir wollen unsere Doppelgängerin­
nen nebeneinander setzen. Vielleicht hilft
das!«

ernst, nachdenklich
irgendwo, eine unbestimmte Stelle

10
Die Kinder strömen lärmend in den Saal.
Bald klappern die Löffel.

Der Platz neben Luise ist leer. »Da bist du ja


endlich«, sagt Fräulein Ulrike, als Lotte ein'
tritt. »Komm, ich will dir deinen Platz zeigen.« 5
Sie bringt das stille, ernste Zopfmädchen zum
Tisch. Luise blickt nicht hoch, sondern isst
ärgerlich ihre Suppe in sich hinein. Lotte setzt
sich artig neben Luise und greift zum Löffel. Ihr
Herz klopft. 10

Die anderen Mädchen schauen zu dem


merkwürdigen Paar hinüber. Ein Kalb mit zwei
bis drei Köpfen könnte nicht interessanter
sein.
Luise kann sich nicht länger beherrschen. 15
Und sie will es auch gar nicht. Mit aller Kraft
tritt sie unterm Tisch gegen Lottes Bein! Lot­
te zuckt vor Schmerz zusammen, gibt aber kei­
nen Ton von sich.
Frau Muthesius blickt nachdenklich zu dem 20

klappern, schnelle, hart klingende Geräusche machen, z.B. mit dem


Löffel gegen einen Teller
zucken, eine kurze, plötzliche Bewegung machen, ohne dass man es will

11
Lottes Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie
fängt an, ihre Sachen in den Schrank zu legen.
Durch das offene Fenster hört sie Kinderla-
chen.
5 Sie hält eine Fotografie von einer jungen
Frau in der Hand, schaut das Bild liebevoll an
und legt es dann in den Schrank. Dabei fällt
ihr Blick auf einen Spiegel. Ernst sieht sie sich
an. Dann wirft sie plötzlich die Zöpfe weit
10 nach hinten und hält das Haar so, dass es Lui­
se Palfys ähnlich wird.
Als irgendwo eine Tür schlägt, lässt Lotte
schnell die Hände sinken.

Frau Muthesius sagt im Speisesaal zu Fräulein


15 Ulrike: »Wir wollen unsere Doppelgängerin­
nen nebeneinander setzen. Vielleicht hilft
das!«

ernst, nachdenklich
irgendwo, eine unbestimmte Stelle

10
Die Kinder strömen lärmend in den Saal.
Bald klappern die Löffel.

Der Platz neben Luise ist leer. »Da bist du ja


endlich«, sagt Fräulein Ulrike, als Lotte ein-
tritt. »Komm, ich will dir deinen Platz zeigen.« 5
Sie bringt das stille, ernste Zopfmädchen zum
Tisch. Luise blickt nicht hoch, sondern isst
ärgerlich ihre Suppe in sich hinein. Lotte setzt
sich artig neben Luise und greift zum Löffel. Ihr
Herz klopft. w
Die anderen Mädchen schauen zu dem
merkwürdigen Paar hinüber. Ein Kalb mit zwei
bis drei Köpfen könnte nicht interessanter
sein.
Luise kann sich nicht länger beherrschen. 15
Und sie will es auch gar nicht. Mit aller Kraft
tritt sie unterm Tisch gegen Lottes Bein! Lot­
te zuckt vor Schmerz zusammen, gibt aber kei­
nen Ton von sich.
Frau Muthesius blickt nachdenklich zu dem 20

klappern, schnelle, hart klingende Geräusche machen, z.B. mit dem


Löffel gegen einen Teller
zucken, eine kurze, plötzliche Bewegung machen, ohne dass man es will

11
Tisch hinüber, an dem die zwei Mädchen sit­
zen. Dann sagt sie: »Lotte Körner bekommt
das Bett neben Luise Palfy! Sie müssen sich
akzeptieren.«
5 Es ist Nacht. Und alle Kinder schlafen. Bis
auf zwei. Diese zwei tun, als schliefen sie fest,
liegen aber mit offenen Augen. Plötzlich spitzt
Luise die Ohren. Sie hört leises Weinen.
Lotte presst die Hände auf den Mund. Was
10 hatte die Mutter ihr gesagt: »Ich freue mich
so, dass du ein paar Wochen mit vielen fröhli­
chen Kindern zusammen bist. Du bist zu ernst
für dein Alter, Lottchen.« Und nun liegt sie
hier in der Fremde, neben einem bösen Mäd-
15 chen, das sie hasst, weil sie ihm ähnlich sieht.
Lotte schluchzt vor sich hin.
Plötzlich streichelt eine kleine fremde Hand
über ihr Haar. Lottchen wird still vor Schreck.
Luises Hand streichelt weiter.
20 Der Mond schaut durchs große Fenster und
wundert sich. Da liegen zwei Mädchen neben­
einander und die eine, die eben noch weinte,
streckt langsam ihre Hand nach der Hand der
anderen.
25 »Na gut«, denkt der alte Mond. »Da kann
ich ja beruhigt untergehen!« Und das tut er
denn auch.
schluchzen, heftig weinen
streicheln, die Hand liebevoll über etwas hin und her bewegen

12
Zweites Kapitel

Luise und Lotte sehen einander nicht an, als


sie am nächsten Morgen aufwachen, auch
nicht, als sie in den Waschsaal laufen, als sie
Stuhl an Stuhl beim Frühstück sitzen, und als
sie am See spielen.
Jetzt sitzt Lotte allein in der Wiese und bin­
det einen Blumenkranz. Da fällt ein Schatten
über sie.
Luise steht vor ihr und tritt unsicher von
einem Bein aufs andere. Lotte versucht ein
vorsichtiges Lächeln. Luise lächelt erleichtert
zurück.
»Bist du mir noch böse?«, fragt Luise.
Lotte schüttelt den Kopf. Dann fragt sie lei­
se: Hast du Geschwister7.«
»Nein!«
»Ich auch nicht«, sagt Lotte.

Beide stehen im Waschsaal vor einem großen


Spiegel. Lotte ist dabei, Luise Zöpfe zu
machen. Luise schreit »Au!« und »Oh!«
»Willst du wohl ruhig sein?« Lotte spielt
streng. »Wenn dir deine Mutti Zöpfe macht,

die Wiese , Gras mit kleinen wilden Blumen


schütteln, durch Kopfbewegungen N ein sagen
die Geschwister, Bruder und Schwester
wird nicht geschrien!« »Ich hab doch gar kei­
ne Mutti!«, sagt Luise. »Deshalb bin ich ja
auch so ein lautes Kind, sagt mein Vater!«
Dann sind Luises Zöpfe fertig, und nun schau-
5 en die Kinder mit brennenden Augen in den

Spiegel. Die Gesichter strahlen.


Zwei ganz gleiche Mädchen blicken in den
Spiegel hinein! Zwei ganz gleiche Mädchen
blicken aus dem Spiegel heraus! »Wie zwei
10 Schwestern!«, flüstert Lotte begeistert.
Der Mittagsgong!
»Das wird lustig!« ruft Luise. »Komm!« Sie
rennen aus dem Waschsaal. Und halten sich
an den Händen. Die anderen Kinder sitzen
15 schon. Nur Luises und Lottes Stühle sind

noch leer. Da öffnet sich die Tür und Lotte


kommt herein. Sie setzt sich auf Luises Stuhl.
»Du!« sagt Trude. »Das ist Luises Platz!«
Lotte antwortet nicht, sondern fängt an zu
20 essen. Die Tür öffnet sich wieder, und, ja, zum
Donnerwetter! Lotte kommt noch einmal
herein! Sie geht zu dem letzten leeren Platz
und setzt sich. Die anderen am Tisch sperren
Mund und Nase auf.
25 Auch die Kinder von den Nebentischen
schauen herüber. Als die zwei zu lachen anfan-

strahlen, glücklich aussehen


aufsperren, weit öffnen

14
gen, dauert es keine Minute, da jubeln sie alle.
»Was ist denn das?« Frau Muthesius steht
auf. Als sie aber die zwei Zopfmädchen sieht,
fragt sie belustigt: »Also, welche von euch ist
nun Luise Palfy und welche Lotte Körner?« 5
»Das sagen wir nicht!«, erklärt die eine Lot­
te, und wieder wird hell gelacht. »Ja, um alles
in der Welt!«, ruft Frau Muthesius. »Was sol­
len wir denn nun machen?« »Vielleicht«, sagt
die zweite Lotte vergnügt, »vielleicht merkt es 10
doch jemand?«
Trude blickt langsam von der einen Lotte zur
anderen und schüttelt den Kopf. Dann aber
huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie zieht
die eine Lotte tüchtig am Zopf. Im nächsten 15
Augenblick klatscht eine Ohrfeige. Und, mit der
Hand an der Backe, ruft Trude begeistert: »Das
da war Luise!«

Luise und Lotte sind beim Fotografen in See­


bühl. Die »doppelte Lotte« soll im Bild festge- 20
halten werden. Um Fotos nach Hause zu schi­
cken. Da wird man sich wundem!
Sechs verschiedene Aufnahmen hat der
Fotograf gemacht. Nach dem ersten Staunen

huschen, leichte und schnelle Bewegung, die man fast nicht bemerkt
klatschen, hier: wenn man den Schlag hört
die Ohrfeige, Schlag mit der Hand ins Gesicht

15
sagt er zu seiner Frau: »Weißt du, ich schicke
ein paar davon an eine Illustrierte oder ein
Magazin. Sie interessieren sich für so was!«
Vor dem Geschäft bindet Luise ihre Zöpfe
5 auf, schüttelt die Locken und lädt Lotte zu

einem Glas Limonade ein. Die zwei Mädchen


haben so viel zu erzählen und zu fragen.
»Ist dein Vater schon lange tot?«, fragt Lui­
se. »Ich weiß es nicht«, sagt Lotte. »Mutti
10 spricht niemals von ihm, und fragen möchte
ich nicht gem.«
Luise nickt. »Früher stand auf Vaters Flügel
ein großes Bild von meiner Mutti. Einmal kam
er, als ich es mir ansah. Und am nächsten Tag
15 war es fort.«

»Du bist doch auch zehn Jahre alt?«, fragt


Luise. »Ja.« Lotte nickt. »Am 14- Oktober
werde ich elf.«
»Am 14- Oktober?«
20 »Am 14- Oktober!«

16
Luise beugt sich vor und flüstert: »Ich
auch!« Lotte bewegt sich nicht. Mit großen
Augen schauen sich die beiden Kinder an.
Dann fragt Luise aufgeregt: »Und ... und wo
bist du geboren?« Lotte antwortet leise: »In
Linz an der Donau!« Luise fährt sich mit der
Zunge über die trockenen Lippen. »Ich auch!«
Es ist ganz still. Langsam sagt Lotte: »Ich
habe ein Foto von ... von meiner Mutti im
Schrank.« Luise springt auf.
Im Kinderheim, im Schrank, unter der
Wäsche, holt Lotte eine Fotografie hervor.
Luise schaut ängstlich auf das Bild. Dann
presst sie es wild an sich und flüstert: »Meine
Mutti!« Lotte legt den Arm um Luises Hals.
»Unsere Mutti!«

Drittes Kapitel

Haben die Mädchen ihre Fotos beim Fotogra­


fen abgeholt? Längst! Haben sie die Fotos
nach Hause geschickt? Längst! Luise und Lot­
te haben mit den Köpfen genickt und ja
gesagt. Längst! Und ebenso lange liegen diese
Fotos in kleinen Stücken auf dem Grund des

aufgeregt, sehr unruhig

2 D as d°P P e lte L o ttc h e n 17


sagt er zu seiner Frau: »Weißt du, ich schicke
ein paar davon an eine Illustrierte oder ein
Magazin. Sie interessieren sich für so was!«
Vor dem Geschäft bindet Luise ihre Zöpfe
5 auf, schüttelt die Locken und lädt Lotte zu

einem Glas Limonade ein. Die zwei Mädchen


haben so viel zu erzählen und zu fragen.
»Ist dein Vater schon lange tot?«, fragt Lui­
se. »Ich weiß es nicht«, sagt Lotte. »Mutti
10 spricht niemals von ihm, und fragen möchte
ich nicht gern.«
Luise nickt. »Früher stand auf Vaters Flügel
ein großes Bild von meiner Mutti. Einmal kam
er, als ich es mir ansah. Und am nächsten Tag
15 war es fort.«

»Du bist doch auch zehn Jahre alt?«, fragt


Luise. »Ja.« Lotte nickt. »Am 14. Oktober
werde ich elf.«
»Am 14. Oktober?«
20 »Am 14. Oktober!«

16
grünen Sees bei Seebühl. Denn sie haben die
Wahrheit nicht erzählt. Sie wollen ihr
Geheimnis für sich behalten.

Trude, Brigitte und die anderen sind manch-


5 mal böse auf Luise und eifersüchtig auf Lotte.
Die beiden hängen die ganze Zeit zusammen.
Sie wissen schon recht gut Bescheid überein­
ander, über Schulfreundinnen, Nachbarn,
Lehrerinnen und Wohnungen.
10 Für Luise ist alles, was mit der Mutter
zusammenhängt, so wichtig! Und Lotte will
alles, aber auch alles über den Vater wissen.
Tag für Tag sprechen sie von nichts anderem.
Und noch abends flüstern sie stundenlang in
i5 ihren Betten. Die Welt, die sie bis jetzt kann­
ten, ist ja nur die eine Hälfte. Und wenn sie
nicht dabei sind, diese beiden Hälften zusam­
menzubringen, plagt sie eine andere Frage:
Warum sind die Eltern nicht mehr zusammen?
20 »Erst haben sie natürlich geheiratet«, erklärt
Luise zum hundersten Mal. »Dann haben sie
zwei kleine Mädchen gekriegt. Und weil Mut­
ti Luiselotte heißt, haben sie das eine Kind
Luise und das andere Lotte getauft. Das ist
25 doch sehr hübsch. Damals haben sie sich doch

das Geheimnis, etwas, das andere nicht wissen sollen


eifersüchtig, hier: wünschen, dass man auch dabei ist

18
noch gemocht, nicht?«
»Bestimmt!«, sagt Lotte. »Aber dann haben
sie sich sicher gezankt. Und sind voneinander
fort. Und haben uns genauso geteilt wie Mut­
tis Vornamen!«
»Eigentlich hätten sie uns fragen müssen,
ob sie uns halbieren dürfen!«
»Damals konnten wir ja noch gar nicht
reden!«
Die beiden Schwestern lächeln hilflos.
Dann gehen sie in den Garten.

Es ist Post gekommen. Überall, im Gras und


auf den Gartenbänken hocken die Mädchen
und lesen die Briefe. Lotte hält eine Fotogra­
fie in den Händen, und sie blickt mit zärtlichen
Augen auf ihren Vater. So sieht er also aus.
Und so wird es einem ums Herz, wenn man
einen wirklichen Vater hat! Sie hält das Bild
ganz fest. »Und ich darf es bestimmt behal­
ten?« »Natürlich«, sagt Luise.
»Unser Vater«, fragt Lotte, »hat doch keine
neue Frau?« »Nein«, antwortet Luise. »Das
würde ich wissen.«
»Vielleicht eine, mit der er nicht verheiratet
ist?«, fragt Lotte.

zanken, diskutieren und sich nicht einigen


hocken, hier: im Gras sitzen
Zärtlich, liebevoll
Luise schüttelt den Lockenkopf. »Bekann­
te hat er natürlich. Auch Frauen. Aber »du«
sagt er zu keiner von ihnen. Aber wie ist das
mit Mutti? Hat Mutti einen ... einen guten
5 Freund?«

»Nein«, meint Lotte. »Mutti hat mich und


ihre Arbeit, und sonst will sie nichts vom
Leben, sagt sie.« Luise blickt die Schwester
ziemlich ratlos an. »Ja, aber warum sind sie
10 denn dann geschieden?«
»Und warum ist Vati in Wien und Mutti in
München?«, fragt Luise weiter. »Warum haben
sie uns halbiert?« »Warum«, setzt Lotte fort,
»haben sie uns nie erzählt, dass wir Zwillinge
15 sind?«
Luise steht auf. »Schöne Eltern haben wir,
was? Na warte, wenn wir den beiden einmal
die Meinung sagen! Die werden sich wun­
dern!«

Viertes Kapitel

20 Die Ferien gehen dem Ende zu. Frau Muthesi­


us plant das Abschiedsfest. Die Kinder helfen
eifrig. Sie hängen im Garten bunte Lichter auf

ratlos, nicht weiter wissen


geschieden, wenn M ann und Frau in einer Familie nicht mehr
zusammen leben
der Abschied, der Zeitpunkt, wenn man »A uf Wiedersehen« sagt

20
und ziehen Girlanden von Baum zu Baum. Nur
die Zwillinge sind nicht dabei, denn sie haben
keine Zeit! Sie sitzen weit weg im Gras mit
Bleistiften und Heften und schreiben.
Lotte diktiert: »Am liebsten mag Mutti 5
Nudelsuppe mit Rindfleisch. Das Rindfleisch
kaufst du beim Fleischer Huber.«
Luise hebt den Kopf. »Fleischer Huber, in
der Max'EmanueLStraße.«
Lotte nickt. »Das Kochbuch liegt im 10
Schrank, unten links. Und in dem Buch sind
die Rezepte.« Luise notiert: »Kochbuch,
Küchenschrank . . . » Dann blickt sie auf und
sagt: »Vor dem Kochen habe ich Angst. Wenn
es nun schief geht?« 15
»Du musst mir gleich schreiben, wenn etwas
nicht klappt!« antwortet Lotte. »Ich gehe

die Nudelsuppe, Suppe mit kleinen Pastastücken


kochen, Essen machen
dos Rezept, erzählt, was man zum Kochen braucht
schief gehen, wenn etwas nicht gut geht

21
jeden Tag aufs Postamt und frage, ob etwas
angekommen ist!« »Ich auch«, meint Luise.
»Schreib nur recht oft!«
Dann beugen sich beide wieder über ihre
5 Hefte und hören einander die Namen der

Mitschülerinnen und den genauen Schulweg


ab.
»Mit dem Schulweg hast du es leichter als
ich«, meint Luise. »Du sagst Trude ganz ein-
io fach, sie soll dich am ersten Tag abholen! Da
läufst du dann einfach neben ihr und merkst
dir die Straßenecken und alles!« Lotte nickt.
Plötzlich erschrickt sie. »Das hab ich dir noch
gar nicht gesagt, vergiss ja nicht, Mutti, wenn
15 sie dich zu Bett bringt, einen Gute-Nacht-
Kuss zu geben!«
Luise blickt vor sich hin. »Das brauch ich
mir nicht aufzuschreiben. Das vergesse ich
bestimmt nicht!« Bald sind die Hefte randvoll
20 mit Notizen.

Lotte und Luise wollen den Eltern nicht sagen,


dass sie Bescheid wissen. Sie haben Angst, die
Eltern können ihr Glück wieder zerstören. Ihr
Plan sieht so aus: Sie wollen die Kleider, Frisu-
25 ren, Koffer, ja, alles tauschen! Luise will mit

tauschen, wechseln

22
Zöpfen, und brav, als Lotte zur Mutter nach
München! Und Lotte fährt, mit offenem Haar
und so lustig, wie sie es nur kann, zum Vater
nach Wien!

Das Gartenfest vor der Abreise ist ihre G ene' 5


ralprobe. Lotte kommt als lockige, lustige Lui-
se und Luise als brave, bezopfte Lotte.
Beide spielen ihre Rollen bestens. Niemand
merkt etwas! N icht einmal Trude, Luises
Schulkameradin aus Wien! Es ist lustig, einan- 10
der laut beim eigenen Vornamen zu rufen!
Die bunten Lichter schimmern in den Bäu­
men. Die Girlanden schaukeln im Abendwind,
und das Fest und die Ferien gehen zu Ende. Die
Schwestern schlafen in den vertauschten Bet- 15
ten und träumen vor Aufregung wilde Dinge.
Am nächsten Morgen fahren vom Bahnhof
in Seebühl am Bühlsee zwei Züge gleichzeitig
los. Der eine nach München, der andere nach
Wien. 20
Lotte beugt sich weit aus dem Fenster. Aus
einem Fenster im anderen Zug winkt Luise. Sie
lächeln einander Mut zu. Die Herzen klopfen!

schimmern, schwach leuchten


schaukeln, schwingen
heugen , hier: den Körper nach vorne strecken

23
Fünftes Kapitel

München. Hauptbahnhof. Bahnsteig 16. Der


Zug steht still. A u f dem Bahnsteig ist nur
noch ein einziges Kind da, ein Kind mit
Zöpfen. Bis gestern hatte es Locken. Bis
5 gestern hieß es Luise Palfy.

Das Mädchen hockt auf dem Koffer und


beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof in
einer fremden Stadt auf seine Mutter zu war­
ten, die man nur als Fotografie kennt und die
10 nicht kommt, das ist kein Kinderspiel!

24
Fünftes Kapitel

München. Hauptbahnhof. Bahnsteig 16. Der


Zug steht still. A u f dem Bahnsteig ist nur
noch ein einziges Kind da, ein Kind mit
Zöpfen. Bis gestern hatte es Locken. Bis
5 gestern hieß es Luise Palfy.

Das Mädchen hockt auf dem Koffer und


beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof in
einer fremden Stadt auf seine Mutter zu war-
ten, die man nur als Fotografie kennt und die
10 nicht kommt, das ist kein Kinderspiel!

24
Frau Luiselotte Palfy ist im Verlag, wo sie
arbeitet, verspätet worden. Endlich hat sie ein
Taxi. Sie läuft auf den Bahnsteig. Leer!
Nein! Ganz, ganz hinten sitzt ein Kind auf
einem Koffer. Die junge Frau rast dorthin. 5
Das Mädchen, das auf dem Koffer hockt,
springt ihr an den Hals. Diese junge
glückstrahlende, diese wirkliche Frau ist ja die
Mutter!
»Mutti!« 10
»Endlich, endlich habe ich dich wieder«,
flüstert die junge Frau unter Tränen.
Der Kindermund küsst leidenschaftlich ihr
weiches Gesicht, ihre zärtlichen Augen, ihre
Lippen, ihr Haar, ihr Hütchen. Ja, das Hüt- 15
chen auch!

In Wien in der Rotenturmstraße wartet die


Haushälterin Resi auf den Kapellmeister Palfy
und seine Tochter. Ihm ist heute ganz warm
und familiär ums Herz, und die Tochter hält 20
schüchtern lächelnd seine Hand fest, als könne
ihr der Vater sonst davonlaufen. Er holt eine
Karte aus der Brieftasche, gibt sie der Tochter
und sagt: »Heute Abend dirigiere ich Humper-

leidenschaftlich, mit sehr viel Gefühl


schüchtern, unsicher
hiumperdinck, Opernkomponist, 1854-1921

25
dincks »Hänsel und Gretel«! Resi bringt dich
ins Theater und holt dich auch wieder ab.«
»Oh!« Lotte strahlt. »Kann ich dich von
meinem Platz aus sehen?« »Natürlich.«
5 »Und schaust du auch zu mir hin?« »Na
sicher!«
»Und darf ich winken?« »Ich werde sogar
zurückwinken, Luise!«
Dann läutet das Telefon.
w Am anderen Ende redet eine Frauenstimme.
Der Vater antwortet kurz. Aber als er dann den
Hörer auflegt, muss er doch weg. Er muss noch
ein paar Stunden allein sein, ja, und kompo­
nieren. Denn er ist ja nicht nur Kapellmeister,
15 sondern auch Komponist. Und komponieren
kann er nun einmal nicht zu Hause. Nein,
dafür hat er sein Atelier in der Ringstraße.
Also, »Auf Wiedersehen!«
»Und ich darf dir in der Oper zuwinken,
20 Vati?«
»Natürlich, Kind. Warum denn nicht?«
Kuss auf die ernste Kinderstirn! Hut auf den
Kopf! Die Tür schlägt zu.
Das kleine Mädchen geht langsam zum
25 Fenster und denkt über das Leben nach. Die
Mutter darf nicht, der Vater kann nicht zu
Hause arbeiten.

|. die Stirn, der Gesichtsteil zwischen Augen und Haaren

26
Man hat es schwer mit den Eltern!
Aber wie kam es eigentlich zu der Scheidung
zwischen ihnen? Also, der Herr Kapellmeister
Ludwig Palfy ist ein Künstler, und Künstler
sind seltsame Menschen. Zwar ist er ganz nett 5
gekleidet, beinahe elegant, aber sein Innenle-
ben! Das ist kompliziert! Wenn er einen musi-
kalischen Einfall hat, muss er ihn auf der Stel­
le notieren. Und um zu komponieren muss er
allein sein. Deshalb lief er auch aus der eigenen 10
Wohnung fort, als er noch verheiratet war,
damals, als er ganz jung war, verliebt, glücklich
und verrückt zur gleichen Zeit.
Weil die kleinen Zwillinge Tag und Nacht
krähten, und er sein erstes Konzert dirigieren 15
sollte, da ließ er einfach den Flügel abholen
und in ein Atelier in der Ringstraße bringen.
Und weil er damals sehr viele Einfälle hatte,
kam er nur noch selten zu seiner jungen Frau
und den brüllenden Zwillingen. 20
Luiselotte Palfy, geborene Körner, keine
zwanzig Jahre alt, fand das nicht gut. Und erst
recht nicht, als ihr zu Ohren kam, dass der
Herr Kapellmeister in seinem Atelier nicht
nur Noten notierte, sondern auch mit 25
Opernsängerinnen Gesangsrollen studierte.

die Scheidung, wenn Mann und Frau sich trennen und die Ehe auflösen
krähen, wie ein Vogel schreien
selten, nicht oft

27
Sie reichte die Scheidung ein.

Nun konnte der Kapellmeister so viel allein


sein, wie er wollte, denn ein tüchtiges Kin­
dermädchen sorgte für den einen Zwilling, der
5 bei ihm geblieben war. Er komponierte und

dirigierte fleißig und wurde von Jahr zu Jahr


berühmter.
Und wenn in München ein Konzert mit der
Musik von Ludwig Palfy war, kaufte sich Lui-
10 selotte Körner eine Karte und saß dann in
einer der letzten, billigen Reihen. Sie lauschte
der Musik und verstand, dass ihr geschiedener
Mann trotzdem kein glücklicher Mensch
geworden war.

Sechstes Kapitel

15 Frau Luiselotte Körner hat ihre Tochter gera­


de in die kleine Wohnung in der Max-Erna-
nuel-Straße gebracht. Dann muss sie, sehr
ungern und sehr schnell, wieder in den Verlag
fahren. Arbeit wartet auf sie. Und Arbeit darf
20 nicht warten.
Lotte, ach nein! Luise hat sich kurz in der
Wohnung umgesehen. Dann ist sie einkaufen

einreichen, einen Brief an eine offizielle Stelle senden


berühmt, sehr bekannt
lauschen, aufmerksam zuhören

28
gegangen. Und beim Fleischer Huber an der
Ecke kauft sie Suppenfleisch.
Luise kocht. Sie hat eine Schürze von Mutti
umgebunden und rennt hin und her zwischen
dem Herd mit den Töpfen und dem Tisch, wo 5
das Kochbuch aufgeschlagen liegt. Jeden
Augenblick schaut sie in die Töpfe. Wenn
kochendes Wasser zischend überläuft, zuckt sie
zusammen. Wie viel Salz soll in die Suppe? Ein
halber Esslöffel! Wie viel Selleriesalz? »Eine 10
Prise!« Wie viel um alles in der Welt ist eine
Prise?
Das Mädchen steigt auf Stühle, schaut in
alle Schränke, starrt auf die Uhr an der Wand,
springt vom Stuhl herunter, nimmt eine Gabel, 15
verbrennt sich die Finger, sticht mit der Gabel
in dem Rindfleisch herum, nein, es ist noch
nicht weich!
Nanu, was liegt denn da friedlich neben dem
Kochbuch? Das Suppengrün! Ach, das muss 20
doch gewaschen und in die Suppe getan wer­
den! Und in einer halben Stunde kommt Mut­
ti! Und zwanzig Minuten vorher muss man die

die Schürze, siehe Zeichnung, Seite 30


der Topf, siehe Zeichnung, Seite 30
zischen, der Laut, wenn z.B. Wasser überkocht
die Prise, ein ganz kleine Menge
die G abel, siehe Zeichnung, Seite 30
stechen, mit einem spitzen Gegenstand durch etwas stoßen

29
die Gabel

der Topf

Nudeln in kochendes Wasser werfen. Und wie


es in der Küche aussieht! Und ... Und ... !
Luise sinkt auf dem Küchenstuhl zusammen.
A ch Lottchen! Es ist nicht leicht, deine
5 Schwester zu sein.

30
Nudeln in kochendes Wasser werfen. Und wie
es in der Küche aussieht! Und ... Und ... !
Luise sinkt auf dem Küchenstuhl zusammen.
A ch Lottchen! Es ist nicht leicht, deine
5 Schwester zu sein.

30
Als Frau Körner müde vom Verlag heim-
kehrt, findet sie keine fröhliche Tochter vor,
sondern ein weinendes, unglückliches Mäd­
chen.
»Ach, Mutti! Ich glaube, ich kann nicht 5
mehr kochen!«
»Aber Lottchen, Kochen vergisst man doch
nicht!«, ruft die Mutter erstaunt. Doch zum
Wundern ist wenig Zeit. Als sie endlich im
Wohnzimmer unter der Lampe sitzen und 10
Nudelsuppe löffeln, meint die Mutter tröstend:
»Es schmeckt doch eigentlich sehr gut,
nicht?«
»Ja?« Luise lächelt beruhigt, und nun
schmeckt es ihr selber mit einem Male so gut 15
wie noch nie im Leben!
»Die nächsten Tage koche ich selber«, sagt
die Mutter. »Und wenn du dabei schön auf­
passt, kannst du es bald wie vor den Ferien.«
Nach dem Essen waschen sie beide ab. Und 20
Luise erzählt, wie schön es im Ferienheim war.
Von dem Mädchen, das ihr zum Verwechseln
ähnlich war, erzählt sie aber kein Wort!

Lotte sitzt, in Luises schönstem Kleid, in der


Wiener Staatsoper und schaut mit brennenden 25

Augen zum Orchester hinunter, wo der Herr

I trösten, beruhigen

31
das Opernglas der Frack

Kapellmeister Palfy die Ouvertüre von »Hän-


sei und Gretel« dirigiert. Wie wundervoll Vati
im Frack aussieht! Vorhin hat er vergnügt zu
ihr heraufgewinkt.
5 Die Logentür geht. Eine elegante junge

die Loge, teure Plätze im Theater, in einem kleinen Raum für sich

32
das Opernglas der Frack

Kapellmeister Palfy die Ouvertüre von »Hän-


sei und Gretel« dirigiert. Wie wundervoll Vati
im Frack aussieht! Vorhin hat er vergnügt zu
ihr heraufgewinkt.
5 Die Logentür geht. Eine elegante junge

| die Loge, teure Plätze im Theater, in einem kleinen Raum für sich

32
Dame kommt herein, setzt sich und lächelt
Lotte zu. Die junge Dame holt ein Opernglas
hervor. Und ein Programm. Und eine Puder­
dose. Und Konfekt!
Als die Ouvertüre zu Ende ist, klatscht das
Publikum laut Beifall. Der Kapellmeister Palfy
verbeugt sich. Und dann sieht er zur Loge hin­
auf.
Lotte winkt schüchtern mit der Hand. Vati
lächelt noch zärtlicher als vorhin. Da merkt
Lotte, dass nicht nur sie mit der Hand winkt,
sondern auch die Dame neben ihr. Die Dame
winkt Vati zu?
Ja, wieso hat Luise nichts von der fremden
Frau erzählt? Kennt Vati sie noch nicht lange?
Aber wie darf sie ihm dann so zärtlich zuwin­
ken?
Dann hebt sich der Vorhang, und auf der
Bühne werden Hänsel und Gretel von ihren
Eltern in den Wald geschickt. Die wollen ihre
Kinder loswerden. Dabei haben sie die Kinder
doch lieb!
Wie können sie dann so böse sein? Oder
sind sie gar nicht böse? Ist nur das, was sie tun,
böse? Sie sind traurig darüber.
Warum machen sie es dann?

die Bühne , die Stelle im Theater, wo Sänger und Schauspieler singen


und spielen

^ Das doppelte Lottchen 33


Siebentes Kapitel

Wochen sind seit dem ersten Tag und der


ersten Nacht in der fremden Welt vergangen.
Wochen, wo jeder Augenblick Gefahr mit
sich bringen konnte. Wochen mit sehr viel
5 Herzklopfen.
Es ist alles gut gelaufen. Ein bisschen Glück
war wohl auch dabei. Luise hat das Kochen
»wieder« gelernt. Und in München haben sich
die Lehrerinnen damit abgefunden, dass die
10 kleine Körner aus den Ferien weniger fleißig
und ordentlich, dafür aber um so lustiger,
zurückgekommen ist.
Und ihre Wiener Kolleginnen haben über­
haupt nichts dagegen, dass die Tochter des
15 Kapellmeisters nun besser aufpasst und ihre
Hausaufgaben macht.
Seit Lotte im Haus ist und alles sieht und
alles prüft, ist Resi, die Haushälterin, ein ande­
rer Mensch geworden. Lotte hat den Vater
20 überredet, das Haushaltsgeld ihr und nicht
Resi zu geben. Und es ist komisch, wenn Resi
ins Kinderzimmer tritt und berichtet, was sie
einkaufen muss und was im Haushalt nötig ist.
Lotte rechnet rasch die Kos-ten aus, nimmt
25 das Geld heraus, zählt es Resi hin und schreibt

| berichten, erzählen

34
die Summe in ein Heft.
Sogar dem Vater ist aufgefallen, dass der
Haushalt früher mehr gekostet hat, dass jetzt
sehr oft Blumen auf dem Tisch stehen und dass
es in der Rotenburgstraße jetzt richtig gemütlich 5
ist.
Dass er jetzt öfter und länger zu Hause sitzt, ist
auch Fräulein Irene Gerlach, der Dame aus der
Oper, aufgefallen. Sie weiß, was sie will. Sie will
Herrn Palfy heiraten. Er ist berühmt. Er gefällt 10
ihr. Sie gefällt ihm. Nur weiß er noch nichts von
seinem kommenden Glück. Aber sie wird es
ihm vorsichtig beibringen, so dass er glaubt, es
sei seine Idee mit der Heirat. Ein Problem gibt
es aber noch: das Kind. Aber damit wird Irene 15
Gerlach wohl auch fertigwerden.

Lotte tritt, in der Rotenturmstraße, aus der


Wohnung und klingelt an der Nachbartür.
Dahinter wohnt ein Maler namens Gabele,
ein freundlicher Herr, der Lotte gern zeichnen 20

möchte, wenn sie Zeit hat.


Herr Gabele öffnet. »Oh, die Luise!«
»Heute habe ich Zeit«, sagt sie. Herr Gabe­
le führt sie herein, setzt sie auf einen Stuhl,
nimmt einen Block und fängt an zu zeichnen. 25

Aber bald schimpft er. »Diese Fenster! Gar

I gemütlich, so, dass man sich wohl fühlt

35
nichts kann man sehen. Ein Atelier müsste
man haben!«
»Warum mieten Sie sich denn keines, Herr
Gabele?« »Weil es keine zu mieten gibt! Ate-
5 liers sind selten!« Nach einer Pause sagt Lot­

te: »Vati hat ein Atelier. Mit großen Fenstern.


Und Licht von oben.«
Herr Gabele murmelt etwas, und nach einer
neuen Pause sagt Lotte: »Zum Komponieren
10 braucht man doch gar nicht so viel Licht wie
zum Malen, nicht?« »Nein«, antwortet Herr
Gabele.
Lotte denkt nach. »Eigentlich könnte doch
Vati mit Ihnen tauschen! Sie bekommen
15 größere Fenster und mehr Licht. Und Vati
komponiert dann gleich neben unserer Woh­
nung!«
Sie freut sich bei dem Gedanken.
Herr Gabele meint lächelnd: » Sehr prak-
20 tisch! Es fragt sich nur, ob der Papa die gleiche

Meinung hat.«
Lotte nickt. »Ich werde ihn gleich fragen!«

Herr Palfy sitzt in seinem Atelier und hat


Besuch, Damenbesuch. Fräulein Irene war
25 »zufällig« ganz in der Nähe. Der Ludwig ärgert

mieten, gegen Bezahlung ein Zimmer oder eine Wohnung benutzen


zufällig, nicht geplant

36
sich zuerst, denn er kann es für den Tod nicht
leiden, wenn man ihn bei der Arbeit stört.
Aber dann gefällt es ihm doch, mit ihr zusam­
men zu sitzen und zu plaudern.
Es klingelt. 5

Ludwig öffnet. Und wer steht in der Tür?


Das Kind. Hat einen Strauß in der Hand und
sagt:
»Grüß Gott, Vati! Ich bring dir frische Blu­
men!« Sie spaziert ins Atelier, begrüßt kurz 10
den Besuch, nimmt eine Blumenvase und geht
in die Küche. Dann kommt sie wieder, stellt
die frischen Blumen auf den Tisch und sagt zu
Vati: »Ich koche nur rasch einen Kaffee. Wir
müssen doch deinem Besuch etwas anbieten.« 15
Vati und sein Besuch schauen überrascht hin­
ter ihr her.
Nach kurzer Zeit kommt Lotte wieder mit
Kaffee, Zucker und Sahne, schenkt ein und
setzt sich dann freundlich lächelnd neben 20
ihren Vati.
Man trinkt. Man schweigt.
Dann sagt Lotte: »Ich war eben bei Herrn
Gabele.« »Hat er dich gezeichnet?«, fragt der
Vater. »Nur ein bisschen«, meint das Kind. 25

plaudern, freundlich über unwichtige Dinge reden


der Strauß, siehe Zeichnung, Seite 60
anbieten, geben
schweigen, nichts sagen

37
»Er hat zu wenig L ic h t... von oben. Nicht so
wie hier.«
»Dann soll er sich ein Atelier mit Oberlicht
mieten«, bemerkt der Kapellmeister und
5 merkt nicht, dass er genau dorthin steuert,

wohin Lotte ihn haben will. »Das hab ich


ihm auch schon gesagt«, erklärt sie ruhig.
»Aber sie sind alle vermietet, die Ateliers.«
»So ein kleines Biest!«, denkt Fräulein Ger-
10 lach. Denn sie weiß schon, was das Kind will.
»Zum Komponieren braucht man eigentlich
kein Oberlicht, Vati. Nicht?« »Nein, eigent­
lich nicht.«
»Wenn du nun mit Herrn Gabele tauschen
1 5 würdest, Vati?« Lotte fragt sehr vorsichtig und
schaut den Vater bittend an. »Dann hat Herr
Gabele ein Atelier. Und du wohnst dann
direkt neben Resi und mir. Und wenn du nicht
allein sein willst, kommst du nur über den Flur j
20 und bist da. Und wenn das Essen fertig ist, j
klingeln wir dreimal an deiner Tür.«
Ihre Stimme klingt jetzt unsicher. »Wir j
kochen auch, was du willst.«
Fräulein Gerlach steht schnell auf. Sie muss
25 heim. Wie die Zeit vergeht!
Herr Kapellmeister Palfy bringt seinen Gast

das Biest, sagt man, wenn man sich über eine Person ärgert
der Flur, der Raum, der Wohnungstür und Zimmer verbindet

38
hinaus. Er küsst die duftende Frauenhand.
»Auf heute Abend also«, sagt er.
»Vielleicht hast du keine Zeit?«
»Wieso Liebling?«
»Vielleicht ziehst du gerade um!« 5

Er lacht.
»Lache nicht zu früh!« Ärgerlich steigt die
Dame die Treppe hinab.

Wieder sind Wochen vergangen. Fräulein Ire-


ne Gerlach hat den Vorschlag des Kindes, dass 10
der Vater das Atelier mit der Wohnung des
Malers Gabele tauschen könne, als eine
Kampfansage aufgefasst.
Eine richtige Frau, - und Irene Gerlach ist,
auch wenn Lotte sie nicht leiden mag, eine 15
richtige Frau, - die lässt sich nicht lange bit­
ten. Sie weiß, was sie tun muss. A lle ihre Pfei­
le hat sie auf das Künstlerherz des Kapellmeis­
ters abgeschossen. A lle Pfeile haben ins
Schwarze getroffen und sitzen nun im Herzen 20
des Mannes fest.
Er weiß sich keinen Rat mehr. »Ich will, dass
du meine Frau wirst«, sagt er. Sie streichelt

39
sein Haar und sagt spitz: »Dann werde ich
morgen mein bestes Kleid anziehen, Liebling,
um bei deiner Tochter um deine Hand anhal-
ten.« Wieder sitzt ein Pfeil in seinem Herzen.
5 Und diesmal ist der Pfeil vergiftet.

Herr Ludwig Palfy kommt in die Rotenturm-


Straße. Die Luise spielt Klavier? Nun, sie wird
ihm eine Weile zuhören müssen. Er öffnet die
Zimmertür.
10 Das Kind schaut hoch und lächelt ihn an.

»Vati? Wie schön!«


Sie springt vom Klavierstuhl. »Soll ich dir
einen Kaffee machen?« Sie will in die Küche.
Er hält sie fest. »Danke, nein!«, sagt er. »Ich
15 muss mit dir sprechen. Setz dich!«

Sie setzt sich und sieht erwartungsvoll zu ihm


hoch. Er geht ein paar Schritte auf und ab und
bleibt dann vor ihr stehen.
»Also, Luise«, fängt er an. »Es handelt sich
20 um eine wichtige und ernste Sache. Seit deine

Mutter nicht mehr ... nicht mehr da ist, bin


ich allein gewesen. Viele Jahre. Natürlich
nicht ganz allein, ich habe ja dich gehabt!«
Das Kind schaut ihn mit großen Augen an.
25 »Kurz und gut«, sagt er. »Ich will nicht län-

um die Hand anhalten , fragen, ob man eine Person heiraten darf


erwartungsvoll, voller Hoffnung

40
ger allein sein. Ich will wieder heiraten!«
»Nein!«, sagt das Kind laut. Es klingt wie ein
Schrei. »Bitte, nein, Vati, bitte, nein, bitte,
nein!«
»Du kennst Fräulein Gerlach ja schon. Sie 5
hat dich sehr gem. Und sie wird dir eine gute
Mutter sein!« Lotte schüttelt den Kopf und
bewegt dazu lautlos die Lippen. Der Vater
blickt rasch weg und sagt: »Also, Luise, ich
weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. 10
Du bist der vernünftigste kleine Kerl, den es
gibt!« Er schaut auf die Uhr.
»So, jetzt muss ich gehen!«

Lotte ist verzweifelt. Was ist zu tun? Dass


etwas getan werden muss, steht fest. Niemals 15

darf Vati eine andere Frau heiraten, niemals!


Er hat ja eine Frau! Auch wenn sie nicht mehr
bei ihm ist. Und sie will keine neue Mutter,
niemals! Sie hat ja ihre Mutter, ihre über alles
geliebte Mutti! 20

Vielleicht kann Mutti helfen? Aber sie darf


es nicht wissen. Und erst recht nicht, dass der
Vater Fräulein Gerlach zur Frau nehmen will.
So bleibt nur noch ein Weg. Und diesen
Weg muss Lottchen selbst gehen. Sie holt das 25

Telefonbuch. Es gibt nicht viele Gerlachs, und


sie findet bald die Adresse: »Koblenzallee 43 «.

41
Nachdem Resi ihr den Weg erklärt hat,
zieht Lotte den Mantel an und sagt: »Ich gehe
jetzt weg.«

Ein Stubenmädchen tritt in Irene Gerlachs eie-


5 gantes Zimmer: »Ein Kind möchte Sie spre­
chen, gnädiges Fräulein, eine Luise Palfy.«
Das gnädige Fräulein hat sich gerade die
Fingernägel frisch gelackt und schwenkt die
Hände durch die Luft.
10 »Ah,« sagt sie langsam. »Führ sie herauf.«
Als Lotte ins Zimmer tritt, lächelt sie. »Wie
nett, dass du mich besuchen kommst! Willst
du nicht deinen Mantel ablegen?«
»Danke,« sagt Lotte. »Ich will nicht lange
i5 bleiben.« »So?« Irene Gerlach bleibt freund­
lich. »Aber zum Hinsetzen wirst du hoffent­
lich Zeit haben?« Lotte setzt sich auf eine
Stuhlkante.
»Ich muss Ihnen etwas sagen!«
20 Irene Gerlach lacht. »Ich bin ganz Ohr.«
»Vati hat gesagt, dass Sie ihn heiraten wol­
len.«
»Hat er nicht gesagt, dass er mich heiraten
will? Aber das ist wohl Nebensache. Also, ja,
25 Luise, dein Papa und ich wollen heiraten. Und

gnädig, hier: höfliche Anrede


schwenken, durch die Luft hin und her bewegen

42
du und ich - wenn wir erst einige Zeit zusam'
men gewohnt haben - werden die besten
Freundinnen sein! Wir wollen uns beide viel
Mühe geben, ja? Meine Hand darauf!«
5 Lotte weicht zurück und sagt ernst: »Sie
dürfen Vati nicht heiraten!«
»Und warum nicht?«
»Weil Sie es nicht dürfen!«
»Du willst mir verbieten, die Frau deines
io Vaters zu werden?«
»Ja!«
»Das ist wirklich zu viel!« Die junge Dame
ist böse, und ihre Stimme ist scharf: »Ich muss
dich bitten, jetzt nach Hause zu gehen!«
15 A n der Tür dreht sich Lotte noch einmal
um und sagt: »Lassen Sie uns so, wie wir sind!
Bitte, bitte!«
Dann ist Fräulein Gerlach allein. Das Kind
muss in ein Internat! So schnell wie möglich!
20 Hier kann nur noch eine strenge Hand helfen!

Zu Hause erschrickt Resi, als sie Lotte beim


Abendbrot sieht. »Was hast du denn?« Lotte
schüttelt den Kopf und sagt nichts.
Die Haushälterin greift ihre Hand. »Du hast
25 ja Fieberl Du gehst gleich ins Bett!« Dann trägt
zurückweichen , nach hinten treten
verbieten , nicht erlauben
das Internat, Schule, wo man wohnt
das Fieber , zu hohe Temperatur

44
Resi das verstörte Mädchen ins Kinderzimmer,
zieht ihm die Kleider aus und legt es ins Bett.
»Nichts dem Vati erzählen!« Lottes Zähne
klappern.
Resi rennt zum Telefon und ruft den Arzt. 5
Dann rast sie wieder ins Schlafzimmer. Das
Kind schlägt um sich und redet durcheinander.
Was soll man machen? Umschläge? Aber was
für welche? Kalte? Heiße? Nasse? Trockene?
Resi ruft auch in der Staatsoper an. 10

Endlich ist die Oper aus. Der Kapellmeister


rast in der Rotenturmstraße die Treppe hoch.
Resi öffnet ihm. Sie hat noch den Hut auf,
weil sie in der Nachtapotheke war. »Wie geht
es ihr denn?«, fragt der Vater flüsternd. 15
»Nicht gut«, antwortet der Arzt.
»Masern?« »Keine Spur«, brummt der Arzt.
Er schaut den Vater an. »Das ist eine seelische
Krise. Wissen Sie davon? Nein?«
Resi sagt: »Ich weiß nicht, ob es damit zu 20
tun hat, aber heute Nachmittag war sie weg.
Wie man zur Koblenzallee kommt, hat sie
gefragt.«
Palfy geht rasch nebenan und telefoniert:
»War Luise heute Nachmittag bei dir?« »Ja«, 25

verstört, unklar
der Umschlag, Lappen mit kaltem oder warmem Wasser befeuchtet
die Masern, Kinderkrankheit
seelisch, nicht körperlich

45
sagt eine Frauenstimme. »Aber wieso erzählt
sie dir das?« Er antwortet nicht, sondern fragt
weiter: »Und was wollte sie?«
Fräulein Gerlach lacht ärgerlich. »Das lass
5 dir doch von ihr erzählen!«

»Antworte bitte!« Ein Glück, dass sie sein


Gesicht nicht sehen kann!
»Sie kam, um mir zu verbieten, deine Frau
zu werden!«, antwortet sie spitz.
10 Er murmelt etwas und legt den Hörer auf.
»So ein kleines Biest,« denkt Irene Gerlach.
»Kämpft mit allen Mitteln!«

Der Arzt gibt noch einige Anweisungen. Der


Vater hält ihn an der Tür zurück. »Was fehlt
15 dem Kind?«
»Nervenfieber. Ich komme morgen wieder.«
Der Kapellmeister geht ins Kinderzimmer
und setzt sich neben das Bett. Er streichelt das
kleine heiße Gesicht. Das Kind erschrickt im
20 Fieberschlaf und wirft sich wild zur Seite.

die Anweisung , was zu tun ist

46
Neuntes Kapitel

Im Verlag ist Sauregurkezeit. Luiselotte Körner


steht am Schreibtisch und sucht nach einem
Titelbild für eine Illustrierte. Ein Foto von der
neuen Meisterin im Brustschwimmen? Nein!
Sie wühlt zwischen den Zeitungen. Und findet 5
einige Fotos von einem Fotografen aus See-
bühl am Bühlsee. Sie starrt auf die Bilder! In
ihrem Kopf fahren die Gedanken Karussell.
Ihre beiden Kinder! Das Kinderheim! Die
Ferien! Natürlich! 10

die Sauregurkezeit, einige Wochen im Sommer, wo die Zeitungen nicht


viele Neuigkeiten haben
wühlen , durchsuchen

47
Neuntes Kapitel

Im Verlag ist Sauregurkezeit. Luiselotte Körner


steht am Schreibtisch und sucht nach einem
Titelbild für eine Illustrierte. Ein Foto von der
neuen Meisterin im Brustschwimmen? Nein!
Sie wühlt zwischen den Zeitungen. Und findet 5
einige Fotos von einem Fotografen aus See-
bühl am Bühlsee. Sie starrt auf die Bilder! In
ihrem Kopf fahren die Gedanken Karussell.
Ihre beiden Kinder! Das Kinderheim! Die
Ferien! Natürlich! 10

die Sauregurkezeit, einige Wochen im Sommer, wo die Zeitungen nicht


viele Neuigkeiten haben
wühlen, durchsuchen

47
Aber warum hat Lottchen nichts davon
erzählt? Mein Gott, wie sie einander gleichen!
Meine beiden, beiden Lieblinge!
Was soll nun geschehen? Ich werde mit
5 Lottchen reden! Aber ist es denn überhaupt
Lottchen?

Frau Körner kommt heim. Brennende Neugier


und kalte Angst kämpfen in ihrem Herzen.
»Heute riecht es aber gut!«, sagt die Mutter.
10 »Wie schnell du das Kochen gelernt hast!«
»Nicht wahr?«, antwortet das Kind fröhlich.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich . . . » Sie beißt
sich auf die Lippen. Jetzt nur nicht die Mutter
ansehen!
15 Diese steht an der Tür und ist weiß. Weiß
wie die Wand. »Luise!«
Krach! Die Teller liegen auf dem Boden.
Luises Augen sind vor Schreck ganz weit.
»Luise!«, wiederholt die Mutter leise und
20 öffnet die Arme. »Mutti!« Das Kind hängt der

Mutter am Hals und schluchzt leidenschaft­


lich. Die Mutter sinkt in die Knie und strei­
chelt Luise.
Stunden sind vergangen. Luise hat alles
25 erzählt. Ach, ist das schön, endlich die Wahr­
heit gesagt zu haben. Nur, dass es ein Fräulein

| riechen, duften

48
Gerlach gibt, wie Lotte ängstlich geschrieben
hat, hat sie nicht erzählt. »Ich denke darüber
nach, was jetzt werden soll,« sagt die Mutter.
»Lotte hat sicher großes Heimweh nach dir.
Und du doch auch nach ihr, nicht wahr, Mut- 5

ti?«
Die Mutter nickt.
»Und ich ja auch ... nach Lotte und . . . »

I das Heimweh, Gefühl von Traurigkeit, wenn man an etwas denkt

4 Das doppelte Lottchen 49



Gerlach gibt, wie Lotte ängstlich geschrieben
hat, hat sie nicht erzählt. »Ich denke darüber
nach, was jetzt werden soll,« sagt die Mutter.
»Lotte hat sicher großes Heimweh nach dir.
Und du doch auch nach ihr, nicht wahr, Mut- 5

ti?«
Die Mutter nickt.
»Und ich ja auch ... nach Lotte und . . . »

das Heimweh, Gefühl von Traurigkeit, wenn man an etwas denkt

4 Das doppelte Lottchen 49


»Und deinem Vater, ja?«
Luise nickt.
»Aber warum schreibt Lotte nicht mehr?«

Zehntes Kapitel

Lottchen schläft viel. Der Herr Kapellmeister


5 sitzt am Kinderbett und blickt ernst auf das

kleine, schmale Gesicht. Er kommt seit Tagen


nicht mehr aus dem Zimmer.
Nebenan läutet das Telefon.
Resi kommt ins Zimmer. »Ein Ferngespräch
10 aus München!«, flüstert sie.
Er steht leise auf. München? Wer kann das
sein?
»Hier Palfy!«
»Hier Körner!«, ruft eine weibliche Stimme.
15 »Was?«, fragt er überrascht. »Wer? Luiselot'
te?«
»Ja!«, sagt die Stimme. »Entschuldige, dass
ich dich anrufe. Doch ich bin wegen des Kin­
des in Sorge. Es ist hoffentlich nicht krank?«
20 »Doch.« Er spricht leise. »Es ist krank! Aber
ich verstehe nicht, wieso du ... »
»Wir hatten so ein Gefühl, ich und ... Luise!«
»Luise?« Er lacht nervös. Dann lauscht er
verwirrt. Lauscht immer verwirrter.
25 Die Frauenstimme berichtet hastig.

50
»Was fehlt denn dem Kind?«, fragt sie
besorgt.
»Nervenfieber«, antwortet er. »Das Schlimm­
ste ist überstanden, sagt der Arzt.«
»Ein tüchtiger Arzt?« 5

»Aber ja. Er kennt Luise schon von klein


auf.« Der Mann lacht nervös. »Entschuldige,
es ist ja Lotte! Er kennt sie also nicht!« Er
schweigt.
Auch in München schweigt eine Frau. 10

Zwei Menschen sind ratlos. In dieses


gefährliche Schweigen hinein klingt eine wil­
de Kinderstimme.
»Vati! Lieber, lieber Vati. Hier ist Luise!
Grüß dich, Vati! Sollen wir nach Wien kom- 15
men? Ganz schnell?« Das erlösende Wort ist
gesprochen.
»Das ist ein guter Gedanke!«, ruft der Vater.
»Wann könnt ihr hier sein?«
20
»Resi!«, flüstert er, als er ins Kinderzimmer
zurückkommt. »Morgen kommt meine Frau.«
»Ihre Frau?«
»Nicht so laut! Meine gechiedene Frau!
Lottchens Mutter!« 25

»Lottchens?«
Er winkt lächelnd ab. » Luise kommt auch
mit!«

4* 51
»Luise? Da liegt sie doch!«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, das ist der
Zwilling.«
»Zwilling?«
5 »Sorgen Sie dafür, dass wir zu essen haben.«
Der Vater betrachtet das schlafende Kind.
Das ist nun also die andere kleine Tochter!
Sein Lottchen!
Welche Tapferkeit und Willenskraft. Vom
io Vater hat es diesen Mut wohl nicht. Von
wem? Von der Mutter?
Wieder läutet das Telefon. Resi steckt den
Kopf ins Zimmer. »Fräulein Gerlach!« Herr
Palfy schüttelt, ohne sich umzudrehen, den
15 Kopf.

Am nächsten Morgen fährt ein Taxi vor. Resi


öffnet die Wohnungstür. »Grüß Gott, Resi!«,
ruft Luise und läuft ins Kinderzimmer.
»Wie geht es Lottchen?«, fragt eine junge
20 bildhübsche Frau mit einem Reisekoffer.

»Etwas besser, glaube ich«, meint Resi.


»Darf ich Ihnen den Weg zeigen?«
»Danke, ich weiß Bescheid!« Und schon ist
die junge Frau im Kinderzimmer verschwun-
25 den.

Der Abend ist gekommen. Im Kinderzimmer

52
ist es still. Luise schläft. Lotte schläft.
Frau Körner und der Kapellmeister haben
bis vor wenigen Minuten im Nebenzimmer
gesessen. Sie haben vieles besprochen. Dann
ist er aufgestanden und hat gesagt: »So! Nun 5

muss ich gehen!«


Sie bringt ihn zur Tür.
»Falls es wieder schlimmer werden sollte,
ich bin im Atelier.« »Mach dir keine Sor­
gen!«, sagt sie. »Vergiss lieber nicht, dass du 10

vielen Schlaf nachzuholen hast.« Er nickt.


»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Während er langsam die Treppe herunter­
geht, ruft sie leise: »Ludwig!« Er dreht sich fra- 15

gend um.
»Kommst du morgen zum Frühstück?«
»Ich komme!«

Eine Stunde später steigt vor dem Atelier eine


junge Dame aus einem Auto. 20

»Du?«, fragt Ludwig Palfy oben an der Tür.


»Richtig!« bemerkt Irene Gerlach scharf
und tritt ins Atelier. Sie setzt sich, zündet eine
Zigarette an und betrachtet den Mann. Er sagt
nichts. 25

»Warum lässt du dich am Telefon verleug'

| verleugnen, hier: sagen, dass m an nich t da ist

53
neu?«, fragt sie.
»Ich konnte nicht mit dir sprechen. Das
Kind war schwer krank. Außerdem ist meine
Frau jetzt da!«
5 »Wer?«
»Meine gechiedene Frau. Sie kam heute
morgen mit dem anderen Kind.«
»Mit dem anderen Kind?«, fragt die junge
Dame.
io »Ja, es sind Zwillinge.« Er erzählt ihr, was er
erst seit gestern weiß.
Die Dame lacht böse. »Die Situation ist
pikant, nicht wahr? In der einen Wohnung
sitzt eine Frau, mit der du nicht mehr, und in
15 der anderen eine, mit der du noch nicht ver-

heiratet bist!«
Er wird ärgerlich. »Es gibt noch viel mehr
Wohnungen, wo Frauen sitzen, mit denen ich
noch nicht verheiratet bin!«
20 »Oh!« Sie steht auf.
»Entschuldige, Irene, ich bin nervös!«
»Entschuldige, Ludwig, ich auch!« Bums!
Die Tür ist zu, und Fräulein Gerlach ist gegan­
gen.
25 Einige Zeit starrt Flerr Palfy auf die Tür.
Dann geht er zum Flügel und setzt sich.
Eine Zeitlang spielt er vom Blatt. Dann
moduliert er. Von c-moll nach Es-Dur. Und

54
langsam, ganz langsam erklingt eine neue
Melodie. Eine Melodie, so einfach, als ob zwei
kleine Mädchen mit ihren hellen, reinen Kin-
derstimmen sie singen würden. A u f einer
Sommerwiese, an einem See, in dem sich der 5

blaue Himmel spiegelt.

Elftes Kapitel

Lottchen ist wieder gesund. Sie trägt auch wie­


der ihre Zöpfe. Und Luise hat wie früher ihre
Locken. Sie helfen Mutti und der Resi. Sie
spielen im Kinderzimmer, singen zusammen, 10
während Vati am Klavier sitzt. Oder sie besu­
chen Herrn Gabele in der Nachbarwohnung.
Und manchmal, ja, da schauen sich die
Schwestern ängstlich in die Augen. Was wird
werden? 15

Am 14. Oktober haben die Mädchen Geburts­


tag. Selbstgebackenen Kuchen und heiße
Schokolade hat es gegeben und Vati hat ein
wunderschönes »Geburtstagslied für Zwillin­
ge« gespielt. 20
Nun dreht er sich auf dem Klavierschemel
herum und fragt: »Warum durften wir euch

modulieren , von einer Tonart und Klangfarbe in eine andere gehen


der Schemel, kleine Sitzbank

55
eigentlich nichts schenken?«
Lottchen holt tief Atem und sagt: »Weil wir
uns etwas wünschen, was man nicht kaufen
kann!«
5 »Was wünscht ihr euch denn?«, fragt Mutti.
Nun holt Luise tief Luft. Dann erklärt sie:
»Lotte und ich wünschen uns von euch zum
Geburtstag, dass wir von nun an immer zusam-
menbleiben dürfen!« Endlich ist es heraus!
10 Die Eltern schweigen.
Lotte sagt ganz leise: »Dann braucht ihr uns
auch niemals im Leben wieder etwas zu schen­
ken! Zu keinem Geburtstag. Und zu keinem
Weihnachtsfest mehr!«
15 »Ihr könnt es wenigtens versuchen!« Luise
hat Tränen in den Augen.
Der Vater steht auf. »Ist es dir recht, Luise-
lotte, wenn wir nebenan ein paar Worte mit­
einander sprechen?«
20 »Ja, Ludwig«, antwortet seine geschiedene
Frau.
Und nun gehen die zwei ins Nebenzimmer.
»Daumen halten!«, flüstert Luise aufgeregt.
Vier Daumen werden von vier Händen
25 umklammert und gedrückt. Lotte bewegt ton­
los die Lippen.
»Betest du?«, fragt Luise. Lotte nickt. Da

| der Atem, die Luft, die man durch Mund und N ase zieht

56
fängt auch Luise an, die Lippen zu bewegen.

»Wenn wir von uns absehen«, sagt gerade


Herr Palfy nebenan und schaut auf den Fuß­
boden, »so wäre es bestimmt das Beste, die
Kinder würden nicht wieder getrennt.« 5

»Bestimmt«, meint die junge Frau.


Er schaut noch immer auf den Fußboden.
»Ich bin also damit einverstanden, dass du ...
dass du sie beide zu dir nach München nimmst.«
Sie greift sich ans Herz. 10
»Ach, Ludwig, hast du wirklich nicht
gemerkt, wonach sich die Kinder sehnen, und
was sie nur nicht auszusprechen wagen?«
»Natürlich hab ich es gemerkt!« Er tritt ans
Fenster. »Natürlich weiß ich, was sie wollen! 15
Sie wollen, dass auch du und ich zusammen-
bleiben!«

| sehnen, etwas sehr wünschen

57
»Vater und Mutter wollen sie haben, unsere
Kinder! Ist das unbescheiden?«, fragt die Frau.
»Nein! Aber es gibt auch bescheidene Wün­
sche, die nicht zu erfüllen sind.«
5 »Warum nicht?«
Überrascht wendet er sich um. »Das fragst
du mich? Nach allem, was war?«
Sie schaut ihn ernst an und nickt. Dann sagt
sie:
10 »Ja! Nach allem, was gewesen ist!«
Luise steht an der Tür und presst ein Auge
ans Schlüsselloch. »Oh, oh, oh! Vati gibt
Mutti einen Kuss!«
Lottchen schiebt die Schwester weg und
i5 starrt nun durch das Schlüsselbch.
»Nun?«, fragt Luise. »Noch immer?«
»Nein«, flüstert Lotte und richtet sich strah­
lend hoch. »Nun gibt Mutti Vati einen Kuss!«
Da fallen sich die Zwillinge glücklich in die
20 Arme.

das Schlüsselloch

| unbescheiden, hier: zu viel

58
Zwölftes Kapitel

Der alte Beamte im Standesamt des Ersten


Wiener Bezirks nimmt eine Trauung vor, die
ihn ab und zu ein bisschen aus der Fassung
bringt. Die Braut ist die geschiedene Frau des
Bräutigams. Die beiden Mädchen sind die 5
Kinder des Brautpaars.
Nein, so was!
Lottchen und Luise sitzen auf ihren Stühlen
und sind mächtig stolz! Denn sie selber sind ja
an dem herrlichen Glück schuld. Leicht war 10
es auch nicht gerade gewesen.
Abenteuer, Tränen, Angst, Lügen, Ver­
zweiflung, Krankheit, nichts war ihnen
gespart geblieben!

In der Rotenturmstraße wartet Resi. Sie über- 15


reicht dem »neuen« Ehepaar einen mächtigen
Blumenstrauß.
»Ich danke Ihnen, Resi«, sagt die junge
Frau. »Und ich freue mich, dass Sie bei uns
bleiben wollen!« 20
»Moment!«, sagt der Herr Kapellmeister.
»Ich muss erst einmal in die andere Woh­
nung!«

das Standesamt, Büro, wo geheiratet wird


die Trauung, der öffentliche Teil des Heiratens
die Fassung, Selbstbeherrschung

59
Alle starren ihn an. Schon am Hochzeitstag
will er wieder ins Atelier in der Ringstraße?
Nur die Resi lacht lautlos in sich hinein.
Herr Palfy geht zu Herr Gabeles Woh-
5 nungstür und schließt in aller Ruhe auf. Lott-
chen rennt zu ihm. A n der Tür ist ein neues

60
der Strauß

Alle starren ihn an. Schon am Hochzeitstag


will er wieder ins Atelier in der Ringstraße?
Nur die Resi lacht lautlos in sich hinein.
Herr Palfy geht zu Herr Gabeles Woh-
5 nungstür und schließt in aller Ruhe auf. Lott-
chen rennt zu ihm. A n der Tür ist ein neues

60
Schild angebracht, und auf dem neuen Schild
steht »Palfy«!
»Oh, Vati!«, ruft sie überglücklich.
»Geht mit Resi in die Küche und helft ihr.
Ich zeig Mutti meine Wohnung. Und wenn 5
das Essen soweit ist, klingelt ihr!« Er nimmt
seine Frau an der Hand.
»Was für eine schöne Überraschung!«, meint
sie.
»Es war schon lange Lottchens Wunsch, 10
bevor es auch meiner wurde«, sagt er und
führt sie ins Arbeitszimmer. »Im dritten Stock
links werden wir zu viert glücklich sein, und
im dritten Stock rechts ich allein, aber mit
euch Wand an Wand.« 15

Er legt den Arm um sie.


»Ich hätte nie geglaubt, dass es das gibt!«,
sagt sie leise.
»Was?«
»Dass man verlorenes Glück nachholen 20
kann, wie eine versäumte Schulstunde.«
Aus der Nebenwohnung dringt Lachen.
»Kannst du denn bei solchem Lärm arbei­
ten?«, fragt die Frau erschrocken.
Er geht an den Flügel und sagt, während er 25
ihn öffnet: »Nur bei solchem Lärm!« Und er

der Stock, Etage in einem Wohnhaus


versäumen, etwas nicht tun

61
spielt seiner Frau das Duett in Es-Dur vor, das
bis in die Küche der Nachbarwohnung dringt.
Die drei dort sind so leise wie möglich, um
sich auch keinen Ton entgehen zu lassen.
Als das Lied ausklingt, fragt Lottchen vor­
sichtig: »Wie ist das eigentlich, Resi? Nun, wo
Vati und Mutti wieder mit uns zusammen
sind, können Luise und ich doch noch
Geschwister bekommen?«
»Ja, sicher!«, erklärt Resi. »Wollt ihr denn
welche haben?«
»Natürlich«, meint Luise.
»Buben oder Mädchen«, fragt Resi.
»Buben und Mädchen!«, sagt Lottchen.
Luise aber ruft: »Und lauter Zwillinge!«

das Duett , Musikstück für zwei Sänger


lauter, nur
FRAG EN

1. Warum ist Luise so böse darüber, dass


Lotte ihr zum Verwechseln ähnlich sieht?

2 . Woher weiß Trude, - als die beiden


Zopfmädchen vor ihr stehen, - wer von
ihnen Luise ist?

3 . Wodurch entdecken Luise und Lotte, dass


sie Schwestern sind?

4 - Aus welchem Grund schicken Luise und


Lotte die Fotos doch nicht nach Hause?

5 . Wieso sind die anderen Kinder


eifersüchtig auf Lotte?

6 . Wer von den beiden Mädchen fährt nach


Wien, und wer nach München?

7 . Wie geht es ihnen?

8 . Aus welchem Grund wünscht sich Lotte,


dass der Vater sein Atelier mit der
Wohnung des Malers tauscht?

9 . Warum besucht Lotte Fräulein Gerlach?

63
10. Was geschieht, als plötzlich die Fotos
auftauchen?

SPRA C H Ü BU N G EN

A . Setze der, die oder das ein:

1. Im Theater hebt sich ... Vorhang.


2. ... Holzhauer und seine Frau sind arm.
3. ... Eltern haben kein Brot für ... Kinder.
4. Darum schicken ... Eltern ihre Kinder in
den Wald.
5. ... kleine Pfefferkuchenhaus liegt mitten
im Wald.
6. ... Kinder hören ... Hexenstimme und
erschrecken.
7. In ... Loge beugt sich ... Fräulein zu dem
Kind, schiebt ihm den Konfekt zu und
flüstert: »Willst du auch ein bisschen
knuspern?«
8. ... Kind sieht ... Frauengesicht vor sich
und wird ganz steif vor Schreck.
9. ... Dame lächelt.

64
B. Bilde das Präteritum:

Luise hockt mit ihren Freundinnen auf der


Gartenmauer. Auch Trude, ihre Freundin aus
Wien, wartet auf den Bus.
Die anderen Kinder sperren den Mund auf
und lachen und jubeln.
Lotte beugt sich aus dem Fenster und Luise
winkt ihr zu.
Das Telefon klingelt und der Vater antwor­
tet kurz.
Luise schüttelt wieder ihre Locken.
Die Schwestern besuchen Herrn Gabele.
»Was wünscht ihr euch denn?«, fragt die
Mutti.

C. Setze die richtige Form von sein oder


haben ein:

Sie fragt:................. du mir noch böse?


I c h ................keine Geschwister,................... du
welche?
Wer von euch ................... Luise und wer
................. Lotte?
Ic h ein Foto von unserer Mutti.
W arum ................. sie uns geteilt?
I c h ................Angst vor dem Kochen.
D a s................kein Kinderspiel.

65
M a n ................. es schwer mit den Eltern.
R e s i................ein anderer Mensch geworden.
I c h ................. in Sorge, sagt die Mutter.
Im Oktober................ die Mädchen Geburtstag.
Vati und M u tti................. wieder zusammen.

D. Setze die fehlenden Wörter ein.


Die Anfangsbuchstaben ergeben einen
Namen - von hinten gelesen.

Die Zwillinge haben im O ktober................

Fräulein Gerlach will das Kind in ein


................schicken.

In der ersten Nacht hört Luise leises ................


vom Nebenbett.

A n einem späten Abend steigt eine junge


................aus dem Auto.

Im Ferienheim wird jeden Tag um zwölf


................zu Mittag gegessen.

Luise hat den Kopf voller Einfälle und voller

66
N11< Zentral- und Landesbibliothek Berlin
39799021
109

Z w illin g s s c h w e s t e rn Luise und Lotte getren nt. J ah re s p ä t e r


s t e h e n sich die zwei M ä d c h e n , die nichts v o n e in a n d e r
w u s s t e n , plötzlich g e g e n ü b e r und stellen fe s t, d a s s s ie sich
g le ich e n w ie ein Ei dem a n d e r e n .
A n f a n g s h a s s t Luise ihre D o p p e lg ä n g e r in und Lotte ist
t o du nglü cklich. Dann w e rd e n s ie F reundin nen! Und a ls s ie
sich plötzlich und ü b e r r a s c h e n d a ls S c h w e s t e r n e rk en n e n ,
träu m e n s ie nur noch d a v o n , die Eltern w ie d e r z u s a m m e n z u ­
fü h ren.

Heiter und ironisch e rzäh lt Erich K ästner, w ie die Zwillinge


e n t s c h l o s s e n und m utig ein en Plan s c h m ie d e n . » D as d o p p e lt e
Lottchen« w u r d e m e h r m a ls verfilm t.

EASY READERS
w e r d e n in vie r Reihen
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von 600 Wörtern (A2)

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H REa ö ISB N 9 7 8 -8 7 -2 3 -9 0 6 3 9 -7
9788723906397

C, Jp
* 7 ZO v 9 788 723 906397

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