Oliver Nelles - Regelungstechnik-Universität Siegen (2018) PDF

Als pdf oder txt herunterladen
Als pdf oder txt herunterladen
Sie sind auf Seite 1von 642

Regelungstechnik

von
Prof. Dr.-Ing. Oliver Nelles

University

Erstellt am 19. Januar 2018 Prof. Dr.-Ing.


Seite 1 Oliver Nelles
of Siegen
Mein beruflicher Werdegang
1969 Geboren in Frankfurt/M
1988 Abitur
1993 Dipl.-Ing. Elektrotechnik (Regelungstechnik) an der TU Darmstadt
1999 Dr.-Ing. (Automatisierungstechnik) an der TU Darmstadt
Thema: Identifikation nichtlinearer Systeme mit neuronalen Netzen
1999 – 2000 Postdoktorand am Mechanical Engineering Dept. an der UC Berkeley
2000 – 2001 Projektleiter bei Siemens Automobiltechnik in Regensburg
2001 – 2004 Gruppenleiter bei Siemens VDO Automotive in Regenburg
Bereich: Elektronische Getriebesteuerungen, Funktionsentwicklung
2004 – ... Professor für Mess- und Regelungstechnik, Mechatronische Systeme,
Fachbereich Maschinenbau, Universität Siegen

Paul-Bonatz-Str. 9–11 ● Raum PB-A 248, 249 ● Sekretariat: Tel.: 0271 / 740 - 4630 ●
Tel.: 0271 / 740 - 4045 ● E-mail: [email protected]
University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 2 Oliver Nelles
of Siegen
Lehrangebote
• Regelungstechnik (WS, 5 CP) 5. Sem. B.Sc.
• Signalverarbeitung (SS, 5 CP) 2. Sem. M.Sc.

• 2 Versuche Messtechniklabor 4. Sem B.Sc.


• 2 Versuche Maschinenlabor 5. Sem B.Sc.

• Digitale Regelung (SS, 3 CP) B.Sc. und M.Sc.


• Systemidentifikation (SS, 3 CP) B.Sc. und M.Sc.
• Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme (WS, 3 CP) M.Sc.

• Sensorics (SS, 5 CP) 2. Sem. M.Sc. Mechatronics

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 3 Oliver Nelles
of Siegen
Inhaltsverzeichnis RT
1. Einführung in die 10. Einfache lineare Regler
Regelungstechnik
11. Reglerentwurf mittels
2. Modellierung linearer Optimierung oder Einstellregeln
dynamischer Systeme
12. Reglerentwurf mittels
3. Linearisierung Kompensation
nichtlinearer Systeme
13. Wurzelortskurve (WOK)
4. Laplace-Transformation
14. *Reglerentwurf im Frequenzbereich
5. Übertragungsfunktion
15. Vertiefungen und Erweiterungen
6. Frequenzgang und Ortskurve
16. Nichtlineare Regelung
7. Wichtige dynamische Systeme
17. *Digitale Regelung
8. Stabilität linearer Systeme

9. Quantitative Stabilitätskriterien
* = wird in der Vorlesung nicht behandelt,
und ist auch kein Klausurstoff.
University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 4 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 1 Änderungsrate von y(t): ẏ(t) =
dy(t)
dt
Was ist ein dynamisches System?
Statisch: Dynamisch:
K=3 K = 3, T = 5 sec
u(t) 1 y(t) 3 u(t) 1 y(t) 3
2 2
0.5 0.5
1 1
0 0 0 0
-10 0 10 20 30 t -10 0 10 20 30 t -10 0 10 20 30 t -10 0 10 20 30 t
u(t) y(t) u(t) y(t)
System System

• Algebraischer Zusammenhang: Funktion • Differentialgleichung (DGL)


• Im linearen Fall: • Im linearen Fall, einfachstes Bsp.:
y(t) = K · u(t) T · ẏ(t) + y(t) = K · u(t)
• Mögliche nichtlineare Fälle: T ! 0 : statisch Z
p K
y(t) = K · u(t) T ! 1 : integrierend y(t) ⇡ u(t)dt
T
y(t) = K · u2 (t) • Nichtlineare Fälle → Kapitel 3
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 5


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1. Einführung in die
Regelungstechnik

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 6 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 1
Einführung in die Regelungstechnik
1.1 Faszination Regelungstechnik
1.2 Geschichte der Regelungstechnik
1.3 Regelkreis
a) Sensoren: Die Augen
b) Aktoren: Die Muskeln
c) Regler: Das Gehirn
1.4 Steuern versus Regeln
1.5 Prinzip Rückkopplung
1.6 Automatisierungstechnik
1.7 Kybernetik
1.8 Arbeitsmarkt
1.9 Wichtige Begriffe in englischer Sprache
1.10 Literatur
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 7


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Anwendungsgebiete der Regelungstechnik:
• Chemie-, Verfahrens- und Prozesstechnik
• Energietechnik
• Luft- und Raumfahrt
• Militär
• Automobil- und Verkehrstechnik
• Mechatronik
• Werkzeugmaschinen, Robotik
• Bio-/Medizintechnik
• Kraftwerksautomatisierung
• Fertigungsautomatisierung
• Gebäudeautomatisierung
• Volkswirtschaft, Sozialwissenschaften
→ Viele verschiedene Gebiete, eine gemeinsame Theorie!
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 8


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Windkraftwerk, Dänemark Ölbohrinsel, Golf von Mexiko

Wasserkraftwerk Itaipu Kernkraftwerk Grohnde

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 9


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Eine moderne großindustrielle Anlage: Ein Teil der OMV-Ölraffinerie in Österreich

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 10


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Merkmale vieler biotechnologischer Prozesse:
• Materialstrom oft nicht kontinuierlich sondern als (Semi-)Batch-Prozess.
• Interessierende Größen oft nicht (in Echtzeit) messbar: Konzentrationen.
• Modellierung schwierig.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 11


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Elektroofen der Georgsmarienhütte
Stahlproduktion und -verarbeitung

Hochofen 5 Rogesa, Dillingen

Auslauf einer Stranggießanlage

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 12


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik Warmbandcoil
Stahlproduktion und -verarbeitung
Rohrwalzwerk

Leitstand zur Überwachung von Strangguß

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 13


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik Bramme

Stahlproduktion und -verarbeitung

Kaltwalzwerk

Versandfertige Coils

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 14


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Quelle der nächsten 3 Seiten:
http://www05.abb.com/global/scot/scot227.nsf/veritydisplay/97910b41591f1f99c125789d003c1ec3/$file/techn_regelungen_walzwerke_3bdd017150de_final.pdf

„Wichtige Qualitätsparameter beim Walzen


Die bedeutendsten Qualitätsparameter beim Walzen sind Oberfläche, Planheit,
Materialhomogenität und die Banddickentoleranzen. Zur Kostenoptimierung und zur
maximalen Materialausnutzung sind enge Dickentoleranzen von höchster Bedeutung; denn
dadurch kann das Band so nah wie möglich auf die zulässige Mindestdicke heruntergewalzt
werden.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 15


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 16


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 17


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Regelungen beim Kaltwalzen

Vorteile des neuen Regelkonzepts:


• Schneller im Toleranzfenster, damit
Verringerung der Abmaßlängen
• Unterbrechungsfreie Anlagen-
beschleunigung und damit
Durchsatzerhöhung
• Bessere Störungsunterdrückung
und damit bessere Banddicken-
toleranzen über das gesamte Band
• Ermöglicht höhere Betriebs-
geschwindigkeiten und damit
Erhöhung des Durchsatzes

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 18


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Prozessautomatisierung eines Zementwerks

Eastern Province Cement Company,


Saudi-Arabien

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 19


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Prozessautomatisierung eines Zementwerks

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 20


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Prozessautomatisierung eines Zementwerks

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 21


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Automatisierung mit Pneumatik von Festo

Nahrungsmittel- und Verpackungsindustrie:

Ventil

Hochgeschwindigkeitsanwendungen:

Überprüfung

Elektromechanischer Antrieb Vakuumgenerator Servopneumatik


University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 22


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Eurofighter: Mechanisch instabil konstruiert. Nur mit Regelung zu stabilisieren.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 23


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Infos zum Eurofighter:
• Im Cockpit der Phantom dominieren analoge Rundinstru-
mente: Im Eurofighter arbeitet der Pilot mit multifunktio-
nalen Displays. Der Eurofighter ist gezielt instabil aus-
gelegt und damit wesentlich wendiger. Bei herkömmlichen
Flugzeugen liegt der Schwerpunkt immer hinter dem
Hauptauftriebspunkt der Tragflächen. Das Flugzeug wird
sozusagen gezogen und stabilisiert sich selbst. Beim
Eurofighter ist es genau umgekehrt. Er wird praktisch
angeschoben. Dadurch will er ständig ausbrechen.
• Dieser Balanceakt ist von Menschenhand nicht mehr
zu bewältigen. Und so korrigiert - selbst bei normalem
Geradeausflug - der Bordcomputer ständig den Euro-
fighter. Im Langsamflug zeigt sich, was die Rechner
permanent leisten müssen. Die Vorflügelklappen, die
den Auftrieb der Tragflächen variieren, sind ständig
in Bewegung. 83 Computer interpretieren und
realisieren die Steuereingaben des Piloten.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 24


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik

ABS, ASR:
• Regelung des Brems- bzw.
Antriebsschlupfes der
Räder
ESP:
• Verhindert Ausbrechen des
Autos
• Zustandsraummethoden
erforderlich

Hydroaggregat mit Anbausteuergerät

Raddrehzahlsensoren Lenkwinkelsensor Drehraten- und Quer-


beschleunigungssensor

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 25


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Elektronische Luftfedersysteme
Mit EAS (Electronic Air Suspension System) nutzt man die Möglichkeiten
der Elektronik für Fortschritte am Fahrwerk, die höchste Fahrsicherheit,
besten Komfort und sportliches Handling bieten. EAS passt Federkennlinie,
Dämpfungskennlinie und Karosserieniveau automatisch an wechselnde
Fahrzustände und den Beladungszustand des Fahrzeugs an.

Vorteile von EAS


• Reduzierung von Wank- und
Nickbewegungen
• Reduzierung sonstiger Aufbau-
bewegungen
• Reduzierung der Radlastschwankungen
• Spürbarer Zugewinn an Fahrdynamik
und -komfort

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 26


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Weiterentwicklung
1.1 Faszination Regelungstechnik Motorsteuerungen

50 und mehr Steuergeräte im Kfz für:


• Motor, Bremse, Lenkung, Batterie, Getriebe, Verteilergetriebe, ...
• ESP (inkl. ABS, ASR), Airbags, Schließsystem, Reifendruck, ...
• Komfortfunktionen, Klimaanlage, Sitze, Türen, Cockpit, ...

Nicht nur Steuerung und Regelung, auch Diagnosefunktionen. Motorsteuerung:


1 Lambda-Sonde 2, 2 Drosselklappenstellung, 3 Luftmasse,
4 Nockenwellenstellung, 5 Ansauglufttemperatur,
6 Motortemperatur, 7 Getriebestufe,
8 Fahrzeuggeschwindigkeit, 9 Klopfintensität,
10 Kurbelwellendrehzahl und oberer Totpunkt (OT),
11 Batterie, 12 Hauptrelais, 13 Lambda-Sonde 1,
14 Zündkerzen, 15 EGAS-Steller, 16 Motordrehzahl,
17 Einspritzventile, 18 Kraftstoffpumpenrelais,
19 Nockenwellensteuerung, 20 Tankentlüftung,
21 Saugrohrumschaltung, 22 Sekundärlufteinblasung und
Abgasrückführung, 23 Heizung Lambda-Sonde

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 27


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Regelung des Schreib/Lesekopfes einer Harddisk:
• Auf der Spur bleiben: Festwertregelung (Regulation).
• In neue Spur fahren: Folgeregelung (Tracking).
• Sehr hohe Geschwindigkeitsanforderungen.
• Große Störungen: Periodische durch
Exzentrizität und stoßweise.

Magnetschwebebahn Transrapid:
• Regelung in vertikaler Richtung (Sollwert
Abstand Stator-Tragmagnet 10 mm).
• Regelung in horizontaler Richtung
mittels Führungsmagnet.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 28


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Optischer Bildstabilisator bei Digitalkameras:
• Ermittlung der Vibrationen der Kamera durch Messung der Winkelgeschwindigkeiten des
Bildsensors um seine beiden Achsen mittels mikromechanisch hergestellten
Drehratensensoren nach dem Gyroskop-Prinzip (Ausnutzung der Coriolis-Kraft).
• Kompensation (d.h. Regelung auf Wunschposition) der durch Vibrationen verursachten
Verschiebung der Bildpunkte durch horizontale und vertikale Verschiebung des Bild-
sensors. Alternative: Verstellung der Linsen (Canon: IS, Nikon: VR, Panasonic: OIS)
• Als Aktor für die Verstellung des Bildsensors können piezoelektrische (Minolta/Sony) oder
elektromagnetische (Pentax/Samsung) Stellglieder zum Einsatz kommen (bis ~10Hz).

Super Steady Shot (Sony) Shake Reduction (Pentax)


University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 29


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Quelle: www.digitalkamera.de

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 30


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Industrieroboter:
• Einsatz in der Fertigung
• Kraft- und positionsgeregelt
• Gute (nichtlineare) Modelle

Humanoide Roboter:
• Nachbildung menschlicher
Fähigkeiten: 2-beiniges Gehen,
Fühlen, Sehen, ...
• Nachbildung bestimmter
tierischer Fähigkeiten, z.B.
Krabbeln durch Pipelines zur
Hindernis oder Lecksuche.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 31


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Menschlicher Körper enthält eine Vielzahl an Regelkreisen:
• Körpertemperatur
• Blutzucker
• Blutdruck
• Herzfrequenz
• Alle Hormone ...
Starke Variation zw. verschiedenen menschlichen Körpern und
große Änderungen der Umwelt erfordern sehr robuste Funktionsweise → Regelung!

Medizin (insbesondere innere) ist oft das Reparieren oder Kompensieren defekter bzw.
aus dem Gleichgewicht geratener Regelkreise, z.B.:
• Diabetes Typ I: Bauchspeicheldrüse (Stellglied) defekt. Insulin (Stellgröße) muss
von außen zugeführt werden.
• Diabetes Typ II: Insulin hat reduzierte Wirkung; die Zellen nehmen Zucker
schlecht auf → Regelstrecke defekt. Reparatur der Zellen wünschenswert;
ansonsten: Erhöhte Dosis Insulin von Außen.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 32


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.1 Faszination Regelungstechnik
Viele wirtschaftliche oder soziale Kennziffern verlaufen in Zyklen
(sog. Schweinezyklus, 1927):
• Wachstumsraten, Inflation, Devisenkurse, Aktienkurse, Insolvenzen, ...
• Hase/Fuchs-Population, Studentenanfänger-/Neueinstellungszahlen, ...
→ Diesen Dynamiken liegen ähnliche Differentialgleichungen zugrunde!
1. Viele Füchse fressen viele Hasen → weniger Hasen
2. Füchse sterben an Hunger, weil nicht genug Hasen da sind → weniger Füchse
3. Wenige Füchse können nicht viele Hasen fressen → mehr Hasen
4. Füchse haben viel Nahrung → mehr Füchse

Studentenzahlen

Jahr
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 33


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.2 Geschichte der Regelungstechnik
Technologien / Methoden:
• –300 Griechen → Wasserkanäle
James Watt, 1788:
• 1700 Industrielle Revolution → Fliehkraftregler für
Dampfmaschine Dampfmaschinen
• 1935 Kriegsjahre → Elektrischer
Verstärker (Ein-/Ausgangsmethoden)
• 1960 Computerzeitalter → Raumfahrt
(Zustandsraummethoden)
• 1975 Computermassenmarkt →
Adaptive Regelung
• 1985 Systematisierung beim Regler-
entwurf → Robuste Regelung
• 1995 Leistungsfähige Berechnungs-
methoden → Konvexe Optimierung
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Fliehkraftregler

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 34


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.2 Geschichte der Regelungstechnik
Regelungstechnische Meilensteine:
• 1788 James Watt: Fliehkraftregler
• 1868 Maxwell: DGL-Beschreibung verschiedener Regler
• 1895 Hurwitz: Stabilitätskriterium basierend auf Nennerpolynom
• 1922 Minorsky: PID-Regler
• 1932 Nyquist: Stabilitätskriterium basierend auf Ortskurve
• 1942 Ziegler/Nichols: Einstellregeln für PID-Regler
• 1942 Wiener: Filter und Prädiktion
• 1945 Bode: Frequenzganganalyse
• 1948 Evans: Wurzelortskurve
• 1956 Pontryagin: Maximumprinzip (zeitoptimale nichtlineare Steuerung)
• 1960 Kalman: Kalman-Filter, Dualität zw. Zustandsregler und -beobachter
• 1962 Bellman: Dynamische Programmierung (numerische Lsg. dyn. Opt.)

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 35


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Eigenschaften einer Regelung:
• Messen: Regelgröße wird mittels Sensor gemessen oder aus gemessenen Größen
berechnet.
• Vergleichen: Regelgröße (Istwert) wird mit Führungsgröße (Sollwert) verglichen:
Regelabweichung e(t) = w(t) – y(t).
• Stellen: Aus Regelabweichung wird Stellgröße berechnet und auf Stellglied/ Aktor
gegeben.

Regelstrecke Störung d(t)


Regelabweichung
Führungs- e(t) Stellgröße Stellglied / Regelgröße
Regler Prozess
größe w(t) u(t) Aktor uP(t) yP(t)
(Sollwert)

gemessene Regelgröße Messglied


y(t) / Sensor
(Istwert)
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 36


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel Geschwindigkeitsregelung (Tempomat)
Ziel des Tempomats: Die Geschwindigkeit des Autos soll
möglichst gut der vom Fahrer vorgegebenen Wunsch-
geschwindigkeit folgen.
Erweiterung Adaptive Cruise Control: Das Auto soll
dem vorausfahrenden Fahrzeug folgen. Was ändert sich? Stör- Steigungen,
größen Wind, …

Wunsch- Geschwindigkeits- Fahrpedal Längsdynamik Geschwindigkeit


z.B. PID
geschwindigkeit abweichung des Autos
Prozess /
Führungsgröße Regelgröße
Regelabweichung Regler Stellgröße Strecke
/Sollwert /Istwert
inkl. Aktor

gemessene
Tachometer
Geschwindigkeit

rückgekoppelte Sensor /
Größe Messglied
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 37


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel Geschwindigkeitsregelung (Tempomat)
Was genau verbirgt sich hinter dem Block Prozess / Strecke?

Aktor: Elektromotor zur


Drosselklappe
Verstellung der Drosselkl.

Verbrennungs-
Getriebe Differential
motor

Fahrzeug & Integrator


Rad
Umgebung

Inverser
Antriebsstrang

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 38


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel Geschwindigkeitsregelung (Tempomat)
Vereinfacht ergeben sich folgende formelmäßige Zusammenhänge:
Aktor: Elektromotor zum
Aktordynamik vernachlässigt!
Bewegen des Fahrpedals

Drosselklappe Luftpfaddynamik vernachlässigt!

Verbrennungs-
Motordynamik vernachlässigt!
motor

Getriebe
Antriebsstrangdynamik vernachlässigt!
Differential

Rad

Fahrzeug &
Umgebung

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 39


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel Temperaturregelung mit elektrischer Heizung
Ziel: Die Temperatur des Raumes soll möglichst gut der
vorgegebenen Wunschtemperatur folgen.
Wie wirkt sich eine bessere Wärmedämmung des Hauses
aus? Was passiert, wenn die Raumtemperatur sehr nahe am
Außentemperatur,
Heizkörper gemessen wird (wie beim Thermostat üblich)? Stör- offene Türen o. Fenster,
größen Wärmeerzeugung im Raum
(Kamin, viele Personen), …

Wunsch- Temperatur- z.B. Zwei- Strom Temperaturausgleich Temperatur


temperatur abweichung punktregler über Heizung und Raum
Prozess /
Führungsgröße / Regelgröße /
Regelabweichung Regler Stellgröße Strecke
Sollwert Istwert
inkl. Aktor

gemessene Temperatur-
Temperatur fühler

rückgekoppelte Sensor /
Größe Messglied
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 40


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel: Regelung eines Elektrofahrzeugs
Eigenschaften:
• Auto hat ein Getriebe mit nur einen Gang.
• Auto hat ein „Fahrpedal“ von −100% bis +100%. Im positiven Bereich wird die E-
Maschine als Motor (Antrieb) genutzt; im negativen Bereich als Generator (Bremse).
• Geschwindigkeiten sind so klein, dass der Luftwiderstand vernachlässigbar ist:
o People Mover (Flughafen),
o Kran,
o Gabelstapler, …

• Regelgröße: Geschwindigkeit des Fahrzeugs v (Tempomat)


• Stellgröße: Fahrpedal FP
• Führungsgröße: gewünschte Geschwindigkeit vw
• Regelabweichung: e = vw − v

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 41


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Fahrpedal FP Längsdynamik Geschwindigkeit v
1.3 Regelkreis des Fahrzeugs
Stellgröße Regelgröße

Beispiel: Messungen am Fahrzeug (ohne Regelung)


1. Messung: Vollgas geben zum Zeitpunkt t = 0 sec.
→ Fahrzeug beschleunigt in ca. 10 sec auf seine Höchstgeschwindigkeit vmax = 40 km/h.
2. Messung: Stufenweises Hochbeschleunigen.
→ Je nach Länge der „Stufe“ erreicht das Fahrzeug seine Endgeschwindigkeit oder nicht.
1. 100 2. 100
80 80
FP [%]

FP [%]
60 60
40 40
20 20
0 0
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20 25 30 35 40
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
50 50
40 40
v [km/h]

30
v [km/h] 30
20 20
10 10
0 0
-10 -10
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20 25 30 35 40
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 42


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
3. Messung: Kontinuierliches Gasgeben von 0% bis 100% von t = 0 sec bis t = 5 sec.
→ Fahrzeug „hinkt“ dem Fahrerwunsch stark hinterher und erreicht erst deutlich nach t = 5
sec seine Höchstgeschwindigkeit vmax.
4. Messung: Kontinuierliches Gasgeben von 0% bis 100% von t = 0 sec bis t = 40 sec.
→ Fahrzeug folgt dem Fahrerwunsch und erreicht kurz nach t = 40 sec sein vmax.

3. 100 4. 100
80 80
FP [%]

FP [%]
60 60
40 40
20 20
0 0
0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
50 50
40 40
v [km/h]

v [km/h]
30 30
20 20
10 10
0 0
-10 -10
0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 43


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
5. Messung: Langsames sinusförmiges Gasgeben zwischen 0% bis 100%.
→ Fahrzeug „hinkt“ leicht nach, erreicht aber fast vmax.
6. Messung: Schnelles sinusförmiges Gasgeben zwischen 0% bis 100%.
→ Fahrzeug kann Fahrpedal kaum folgen; schwingt um 20 km/h (nach Einschwingphase).

5. 100 6. 100
80 80
FP [%]

FP [%]
60 60
40 40
20 20
0 0
0 20 40 60 80 100 0 2 4 6 8 10
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
50 50
40 40
v [km/h]

30
v [km/h] 30
20 20
10 10
0 0
-10 -10
0 20 40 60 80 100 0 2 4 6 8 10
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 44


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel: Statischer Zusammenhang zwischen Stell- und Regelgröße
Vernachlässigt man den quadratisch wirkenden Luftwiderstand (was bei kleinen
Geschwindigkeiten realistisch ist) und alle anderen Nichtlinearitäten, so ergibt sich
folgender linearer Zusammenhang zwischen Stellgröße und Regelgröße:
v [km/h]
40

10

−100 25 100 FP [%]

−40

Aus dieser statischen Kennlinie kann man ablesen, wie viel Prozent Gas man geben muss,
um asymptotisch (d.h. für t → ∞) eine gewünschte Geschwindigkeit zu erreichen.
Z.B.: FP = 100% → v = 40 km/h, FP = 25% → v = 10 km/h.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 45


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel: Messungen am geregelten Fahrzeug (mit PI-Regler), vw = 10 km/h
Reglerverstärkung = 0,25 Reglerverstärkung = 1
100 100
FP [%]

FP [%]
starke Überhöhung
50
keine Überhöhung 50

0 0
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
40 40
v [km/h]

v [km/h]
20 langsame Regelung 20 schnelle Regelung
0 0

0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
Reglerverstärkung = 0,5 Reglerverstärkung = 2
150
100
Stellgrößenbeschränkung
FP [%]

FP [%]
100
50
leichte Überhöhung 50
überschritten!
0 0
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
v [km/h]

v [km/h]

40 40

20 mittelschnelle Regelung 20 sehr schnelle Regelung


0 0

0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 46


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel: Messungen am geregelten Fahrzeug, vw = Rampe (schnell/langsam)
Reglerverstärkung = 0,25 Reglerverstärkung = 0,25
200
100
FP [%]

FP [%]
150

100
50
50

0 0
0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
40 40
v [km/h]

v [km/h]
20 20

0 0

0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
Reglerverstärkung = 1 Reglerverstärkung = 1
200
100
FP [%]

FP [%]
150

100
50
50

0 0
0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
v [km/h]

v [km/h]

40 40

20 20

0 0

0 5 10 15 20 0 10 20 30 40 50
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 47


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Beispiel: Erkenntnisse aus Messungen und Regelung am Fahrzeug
Messungen an der Regelstrecke (Fahrzeug):
• Typischer Tiefpass-Charakter, d.h. langsam veränderlichen (niederfrequenten)
Eingangssignalen kann gefolgt werden; schnell veränderliche (hochfrequente)
Eingangssignale werden stark gedämpft.
• Die Kennlinie gibt den statischen Zusammenhang (im eingeschwungenen Zustand)
zwischen Eingangs- und Ausgangsgröße an.
• Nach Abwarten der Einschwingphase antwortet die Strecke auf ein Sinussignal auch mit
einem Sinussignal der selben Frequenz, allerdings frequenzabhängig mit anderer
Amplitude und Phase.
Geschwindigkeitsregelung des Fahrzeugs:
• Schnelligkeit der Regelung kann über Reglerverstärkung eingestellt werden.
• Schnelle Regelung erfordert Stellgrößenüberhöhung.
• Zu starke Stellgrößenüberhöhung führt zu Überschreitung der Stellgrößenbeschränkung.
• Zu schnellen Führungsgrößenänderungen kann auch die Regelung nicht folgen.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 48


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Ergänzende Bemerkungen:
• Eigentlich möchte man die wirkliche Regelgröße yP(t) regeln und nicht y(t). Man würde
sich also für den Sensor ein Übertragungsverhalten = 1 wünschen. Es ist allerdings
meist möglich, die statische und dynamische Verzerrung des Sensors zu vernachlässigen
bzw. (teilweise) zu kompensieren, so dass y(t) ≈ yP(t)!
• Das Stellglied ist bei manchen Problemstellungen schon vorgegeben. Mehr Freiheiten
hat der Regelungstechniker, wenn das Stellglied noch gewählt werden kann.
ACHTUNG: Am Prozess kommt immer nur die Ausgangsgröße des Stellglieds uP(t) an.
Wenn das Stellglied langsam ist und/oder einen kleinen Stellbereich (von Minimal- bis
Maximalanschlag) aufweist, können diese Einschränkungen mit keinem noch so
„tollen“ Regler überwunden werden.
• Grundprinzip einer Regelung ist die Rückkopplung der Regelgröße. Die Stellgröße wird
so verändert, dass sich die rückgekoppelte Regelgröße in der gewünschten Weise
(entsprechend der Führungsgröße) entwickelt. Ohne Messung ist keine Rückkopplung
möglich. ABER: Messungen müssen nicht immer zur Rückkopplung verwendet werden.
→ Prinzip der Steuerung.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 49


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Warum Regeln? Vorteile:
• Regelgröße folgt Führungsgröße.
• Störungen werden eliminiert (weggeregelt); auch wenn sie nicht gemessen werden.
• Eine ungefähre Beschreibung (Modell) der Regelstrecke ist ausreichend.
Ungenauigkeiten eines Modells der Regelstrecke werden (in gewissen Grenzen) von der
Regelung kompensiert. Man sagt auch:
Eine Regelung ist robust
in Bezug auf Modellungenauigkeiten.
• Instabile Regelstrecken können nur durch Rückkopplung stabilisiert werden.

Nachteile:
• Die Rückkopplung macht die Analyse des Systems komplizierter.
• Die Regelung kann instabil werden, d.h. die Stell- und Regelgröße können gegen
unendlich bzw. ihre physikalischen Grenzen laufen.
• Genaue und dynamisch schnelle Messung kann aufwändig oder teuer sein.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 50


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.3 Regelkreis
Physikalische Größen:
• Messung von: el. Strom, el. Spannung, Weg, Winkel, Füllstand, Geschwindigkeit,
Drehzahl, Beschleunigung, Winkelbeschleunigung,
Kraft, Drehmoment, Druck, Temperatur, Volumen-/Massenstrom, ...

Messglied / Sensor (die Augen):


• Drehspule, Generator, Potentiometer, kapazitiver/induktiver Sensor,
Schwimmer, Lichtschranke, Wirbelstrom, Dehnungsmessstreifen,
Widerstandsthermometer, Thermoelement, Stauscheibe, Heissfilm, ...

Stellglied / Aktor (die Muskeln):


• Schrittmotor, Thyristor, Elektromagnet, Stelltransformator, Ventil,
Pumpe, Hubkolben, Drehkolben, Membranantrieb, Piezokristall, ...

Regler (das Gehirn):


• Analog: Operationsverstärkerschaltungen, Hydraulik, Pneumatik
• Digital: Software
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 51


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
Steuerung:
• Keine Rückkopplung.
• Keine Messung notwendig (trotzdem kann auch eine Steuerung Messwerte verarbeiten;
nur darf nicht die Stellgröße u(t) aus der „Regelgröße“ y(t) bestimmt werden.
→ Keine Kompensation von Störungen und Modellungenauigkeiten!

Steuerung d(t)

w(t) u(t) y(t)


Steuerung Strecke

Regelung d(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


Regler Strecke

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 52


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
Optimale Steuerung:
• Forderung: Regelgröße soll Führungsgröße folgen, d.h.: y(t) = w(t).
• Es sei y(t) = GS u(t). GS beschreibt das Verhalten der Strecke. Dazu später mehr...
• Optimale Steuerung: Inverse der Strecke, d.h. u(t) = GS-1 w(t).
→ y(t) = w(t) + d(t), d.h. das Ziel ist erreicht, nur die Störung d(t) ist nicht beseitigt.
d(t)

w(t) u(t) y(t) = w(t) + d(t)


GS-1 GS

Wenn Störung d(t) messbar (ansonsten ist nichts besseres machbar!):


• Dann kann sie durch Subtraktion von der Führungsgröße kompensiert werden.
→ y(t) = w(t), d.h. das Ziel ist erreicht!
d(t)
~
w(t) w(t) u(t) y(t) = w(t)
GS-1 GS

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 53


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
Einschränkungen zur optimalen Steuerung:
• Das Verhalten der Strecke GS ist niemals exakt bekannt; bestenfalls kennt man ein gutes
Modell GM der Strecke mit GM ≈ GS.
d(t)
~
w(t) y(t) ≈ w(t)
w(t) u(t)
GM-1 GS

• Manche Störungen lassen sich nicht messen.


• Teile des Streckenverhaltens dürfen bzw. können gar nicht invertiert werden, weil:
1. Die Inverse instabil wäre.
2. Die Inverse in die Zukunft schauen müsste.
3. Die Inverse rein differenzierendes Verhalten aufweisen würde.
Problem 1 und 2 können auftreten, hängen von dem Streckenverhalten ab. Problem 3 tritt in
der Praxis fast immer auf. Dazu später mehr...

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 54


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
~
• Trotz dieser Einschränkungen ist die Steuerung mit einer näherungsweisen Inversen GM
das Beste, was man mit einer Steuerung erreichen kann. Es gibt verschiedene Methoden
eine näherungsweise Inverse zu berechnen, die verschiedene Vor- und Nachteile
aufweisen. Dazu später mehr...
• Zusammenfassend nochmals die Vor- und Nachteile einer Steuerung im Vergleich
zur Regelung:
+ Keine Messung der Regelgröße erforderlich.
+ Einfacher Entwurf durch näherungsweise Inversion des Streckenmodells.
+ Dynamisch schnell, d.h. y(t) folgt w(t) mit nur geringer (im theoretischen
Idealfall ganz ohne) Zeitverzögerung.
– Nicht messbare Störungen können nicht kompensiert werden.
– Modellungenauigkeiten wirken sich voll aus.
Zu letztgenannten schwerwiegenden Nachteil ein triviales Beispiel mit d(t) = 0:
GS = K GM = K + ! → y(t) = GM-1 GS w(t) = K / (K + !) w(t) = 1 / (1 + !/K) w(t)
d.h. die Regelgröße folgt der Führungsgröße mit einem systematischen Fehler.
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 55


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
Steuerung: 3D-Drucker Regelung: CNC-Drehmaschine

● einfach ● komplex
● Schrittmotoren ● positionsgeregelt
● begrenzte Genauigkeit ● hochgenau
● Störungen werden vernachlässigt ● Störungen werden
ausgeregelt
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 56


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.4 Steuern versus Regeln
Beispiele für Steuerungen
• Gasherd, Mikrowelle, manuelle Klimaanlage (Auto) und Hausheizung, aber NICHT:
Kühlschrank, Backofen, moderne Hausheizung: Temperatur soll genau eingehalten
werden; daher wird sie gemessen und geregelt!
• Dimmer zur Beleuchtung: Mensch agiert als Regler indem der den Dimmer so lange
dreht bis gewünschte Helligkeit erreicht ist.
• Schrittmotoren zur Positionierung: Zähler der Schritte erlaubt Rückschluss auf Position
auch ohne Messung, allerdings nur für genügend kleine Störungen (Drehmomente).
• Verbrennungsmotor: Regelung wäre wünschenswert aber lässt sich kaum realisieren, da
mögliche Regelgrößen (Motordrehmoment oder Verbrennungsdruck im Zylinder) nicht
in Serie sondern nur am Motorprüfstand gemessen werden können (zu teuer, zu wenig
robust). AUSNAHMEN: Lambda-Regelung, Leerlaufregelung.
• Straßenbeleuchtung: Evtl. eingeschaltet bei Unterschreiten einer Helligkeitsgrenze,
ABER die Helligkeit wird nicht geregelt!
• Ampel: Evtl. verkehrsflussgesteuert durch Fahrzeugmessung mittels Induktionsschleifen.

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 57


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.5 Prinzip Rückkopplung
Die beiden Hauptnachteile der Steuerung werden von der Regelung aufgehoben!

Wenn die Inverse der Strecke der optimalen Steuerung entspricht,


welche Rolle spielt sie bei einer Regelung?
Ohne Störung (also d(t) = 0) ergibt sich:

→ Für große Werte von GRGS ist y(t) ≈ w(t), d.h. der Regler zusammen mit der
Rückkopplung erzeugt implizit eine näherungsweise Inverse.
d(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


GR GS

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 59


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.5 Prinzip Rückkopplung
Der optimale Regler wäre demnach GR → ∞.

Und das Beste dabei ist, dass y(t) ≈ w(t) selbst dann gilt, wenn man statt des realen
(unbekannten) Streckenverhaltens GS sein (fehlerbehaftetes) Modell GM verwendet und eine
Störung (also d(t) ≠ 0) vorliegt:
y(t) = GRGS [w(t) – y(t)] + d(t) → (1 + GRGS) y(t) = GRGS w(t) + d(t)

und damit für GR → ∞: y(t) = w(t).


1 0
Dies bedeutet: Eine Regelung ist robust (d.h. unempfindlich) in Bezug auf Modellfehler und
Störungen. Sie werden im Gegensatz zur Steuerung kompensiert, wenn GR → ∞. In der
Praxis ist es nicht möglich, generell GR → ∞ zu realisieren. Aber man kann dies für
bestimmte Frequenzen bzw. Frequenzbereiche (exakt bzw. näherungsweise) tun. Dazu
später mehr...

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 60


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.5 Prinzip Rückkopplung
Beispiele für Regelungen (meist digital in elektronischen Steuergeräten) im Kfz
Name Stellgröße Regelgröße
!-Regelung Einspritzmenge/Luftmasse Luft-Kraftstoff-Verhältnis !
Leerlaufregelung Einspritzmenge/Luftmasse Motordrehzahl
Tempomat Motorleistung und evtl. Gang Fahrzeuggeschwindigkeit
ABS Bremsdruck über Hydraulikventile Bremsschlupf/Raddrehzahl
ASR Motorleistung Antriebsschlupf/Raddrehzahl
Aktives Fahrwerk Federkonstante des Fahrwerks Wankwinkel des Fahrzeugs
Niveauregulierung Federkonstante des Fahrwerks Abstand zw. Karosserie und Achse
Leuchtweite Vertikaler Winkel der Scheinwerfer Nickwinkel des Fahrzeugs
Kurvenlicht Horizontaler Winkel der Scheinwerfer Lenkradwinkel
Klimaanlage Kompressorleistung Temperatur
Abblend. Spiegel Reflexionsgrad des LCD Lichteinfall auf den Innenspiegel
Auto. Scheibenw. Scheibenwischermotor Regendichte
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 61


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.6 Automatisierungstechnik

Zeitrahmen Ebene Aufgaben Tools

Tage Management Strategie, Planung, SAP


Logistik

Optimierung der
Stunden Leitsystem Arbeitspunkte und Prozessleitsystem
Profile, Data Mining
Adaptive und
Minuten langsame überlagerte Regelung, prädiktive Regelung,
Regelkreise Diagnose Mehrgrößenregelung

schnelle unterlagerte Regelung,


Sekunden Regelkreise Steuerungen PID-Regelung

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 62


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.6 Automatisierungstechnik
Automatisieren ist mehr als Steuern und Regeln kontinuierlicher Prozesse:
• Steuerung ereignisdiskreter Prozesse (SPS)
• Prozessvisualisierung
• Überwachung, Fehlererkennung, Fehlerdiagnose, Rekonfiguration
• Optimierung
• Datenspeicherung, Data Mining
• Kommunikationsysteme / Vernetzung / Bussysteme
• Messtechnik / Sensorik
• Stellglieder / Aktorik

University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 65


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.7 Kybernetik
Der Begriff Kybernetik (griechisch: Steuermann) wurde von Norbert Wiener 1947 geprägt.
Er beschreibt die Wissenschaft komplexer dynamischer Systeme, die dazu dienen ein
Gleichgewicht aufrecht zu erhalten oder ein Ziel zu erreichen (Navigation).
Das universelle Prinzip der Rückkopplung ist damit das zentrale Element der Kybernetik.
Sie wird oft die „Kunst des Steuerns“ beschrieben.

Die Kybernetik ist eine Zusammenführung


u.a. der folgenden Disziplinen:
• Regelungstechnik und Systemtheorie
• Nachrichtentechnik und Informationstheorie
• Entscheidungs- und Spieltheorie

Norbert Wiener
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 67


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.9 Wichtige Begriffe in englischer Sprache
Regelung feedback control, closed-loop control
Steuerung feedforward control
offener / geschlossener Regelkreis open / closed (control) loop
Prozess / Regelstrecke process / plant
Modell / Modellierung model / modeling
Regler controller
Regelgröße controlled variable, control output
Stellgröße manipulated variable, control variable
Führungsgröße reference
Störgröße / Rauschen disturbance / noise
Regelabweichung control deviation, control error
Festwertregelung / Folgeregelung regulation / tracking
Sensor / Stellglied, Aktor sensor / actuator
Optimierung / Adaption optimization / adaptation
University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 72


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.10 Literatur
Grundlage dieser Vorlesung:
• Lunze: „Regelungstechnik 1“, 4. Aufl., Springer, 2004. (635 Seiten).
Web Site: http://www.esr.ruhr-uni-bochum.de
• Goodwin, Graebe, Salgado: „Control System Design“, Prentice Hall, 2000.
(944 Seiten). Web Site: http://csd.newcastle.edu.au/control/
• Dorf, Bishop: „Moderne Regelungssysteme“, Pearson, 2005. (1168 Seiten).
• Interessante Bücher kostenlos als PDF verfügbar. Unter http://link.springer.com/ nach
„Regelungstechnik“ suchen.

Ergänzungen und Erweiterungen:


• Lunze: „Regelungstechnik 2“, 3. Aufl., Springer, 2005. (635 Seiten).
Web Site: http://www.esr.ruhr-uni-bochum.de
• Föllinger; „Regelungstechnik“, 8. Aufl., Hüthig, 1994. (646 Seiten).
Nachschlagewerk:
• Lutz, Wendt: „Taschenbuch der Regelungstechnik“, 5. Aufl., H. Deutsch, 2003 (1160
S). University

1. Einführung in die Regelungstechnik Seite 73


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2. Modellierung linearer
dynamischer Systeme

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 74 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 2
2 Modellierung linearer dynamischer Systeme

2.1 Beispiele
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
2.3 Generelle Vorgehensweise bei der Modellierung
2.4 Allgemeine lineare DGL n-ter Ordnung
2.5 Homogene und partikuläre Lösung der DGL
2.6 Lösung der DGL 1. Ordnung
2.7 Lösung der DGL 2. Ordnung

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 75


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.1 Beispiele
Mechanisches Beispiel Variablen:

c • Eingangsgröße: Kraft F
m • Ausgangsgröße: Weg x
Parameter:
• Feder mit Federkonstante c
d x(t) F(t) • Dämpfer mit Dämpfungskonstante d
• Masse m
Kräftebilanz in x-Richtung:

Ausgang Eingang

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 76


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.1 Beispiele
Elektrisches Beispiel Variablen:

C
• Eingangsgröße: Spannung U
R L • Ausgangsgröße: Strom I
I(t)
Parameter:
• Kondensator mit Kapazität C
U(t) • Ohmscher Widerstand R
• Spule mit Induktivität L
Spannungsbilanz:

Ausgang Eingang

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 77


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.1 Beispiele
Verfahrenstechnisches Beispiel

→ Modellierung in Beispiel 4.3 aus Lunze 1.

Lösung vom selben Typ wie die beiden anderen Beispiele:

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 78


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.1 Beispiele
Alle drei Beispiele führen auf eine Gleichung des selben Typs!

Vergleich zwischen mechanischem und elektrischem Beispiel:


• Jeweils ein Energieverbraucher (Energie wird in Wärme umgewandelt):
Dämpfer d ↔ Widerstand R
• Jeweils zwei Energiespeicher:
- Feder c (potentielle E.: ½·c·x2) ↔ Kondensator C (elektrische E.: ½·1/C·Q2)
- Masse m (kinetische E.: ½·m·v2) ↔ Spule L (magnetische E.: ½·L·I2)
● ●
v=x ↔ I=Q
Wenn der Energieverbraucher nicht zu groß ist, wird die Energie von einem Speicher
zum anderen hin- und hertransportiert → Schwingkreis.
Wenn der Energieverbraucher zu groß ist, wird die Energie verbraucht (also in Wärme
umgewandelt und damit dem System entzogen) bevor es zum Schwingen kommen kann.

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 79


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Linearität:
Ein Zusammenhang y = f (x) ist linear, wenn gilt:
• Additivität (Superpositionsprinzip): f (x1) + f (x2) = f (x1 + x2)
• Homogenität (Verstärkungsprinzip): K·f (x) = f (K·x)
Beispiel: 1-dimensionale lineare Funktion: Gerade durch den Ursprung: y = ax.
Wir beschäftigen uns zu 95% nur mit linearen DGLs.

Affinität:
Wenn ein Zusammenhang bis auf einen Gleichwert linear ist, dann ist er affin.
Beispiel: 1-dimensionale affine Funktion: Gerade: y = ax + b.
Durch eine lineare Koordinatentransformation lässt sich aus einem affinen
Zusammenhang ein linearer machen. Deshalb können affine und lineare Systeme mit
den selben Methoden behandelt werden.

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 80


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Kausalität:
Der Ausgang eines kausalen Systems zum Zeitpunkt t = t0 hängt nur von Größen der
Gegenwart und der Vergangenheit (also von t ≤ t0) ab; insbesondere kann eine
Eingangsgröße zum Zeitpunkt t = t0 nur den gegenwärtigen und den zukünftigen (also für
t ≥ t0) Verlauf der Ausgangsgröße beeinflussen.
Solange Zeitreisen unmöglich sind, ist jedes reale System kausal. Trotzdem gibt es
Anwendungen für akausale (nicht kausale) Systeme:
• Wenn im Computer ein zuvor gemessener Datensatz gespeichert wurde, kann man
(innerhalb der Datensatzgrenzen) auf „zukünftige Daten“ zugreifen. Somit ist z.B. eine
akausale Filterung der Daten möglich.

gespeicherter Datensatz

tAnfang t0 tEnde Zeit

„Vergangenheit“ „Zukunft“
University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 81


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Weiteres Beispiel für Akausalität:
• Messdaten werden nicht sofort bearbeitet sondern in einem Puffer zwischengespeichert.
Innerhalb der Grenzen des Puffers kann dann auf die Zukunft zugegriffen werden.

Datenpuffer

tAnfang t0 Zeit

„Vergangenheit“ „Zukunft“ Jetzt


(in realer Zeit)

Diese Vorgehensweise ist bei rückgekoppelten Signalen nicht sinnvoll! Warum?


• Pufferung bedeutet Zeitverzögerung. Das verschlechtert die Regelung, weil die
Informationen über Regelabweichungen später eintreffen. Dazu später mehr...

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 82


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Zeitinvarianz:
Ein System ist zeitinvariant, wenn es sich über die Zeit nicht ändert. D.h. die Antwort
y(t+t0) auf ein identisches Eingangssignal u(t+t0) ist von t0 unabhängig.
Beispiel: Typisches zeitvariantes Verhalten ist Verschleiß. Wird oft vernachlässigt.
Weiteres Beispiel: Ein typisches zeitvariantes System ist eine startende Rakete. Ihre
Masse ändert sich durch den verbrannten Treibstoff.
Gleiches gilt für ein Auto; nur hier ist die Masseveränderung im Bereich < 5% und
damit meist vernachlässigbar. Also kann die Längsdynamik eines Autos mit einer
zeitinvarianten DGL modelliert werden. Dies gilt nicht mehr, wenn das Auto sehr stark
be- oder entladen wird. Im Gegensatz zur Rakete ist hier die Zeitvarianz sprungförmig
(zu den Be- oder Entladungszeitpunkten) und nicht kontinuierlich.

Konzentrierte Parameter:
Wir nehmen an, dass die betrachteten Systeme durch gewöhnliche DGLs mit
konzentrierten Parametern beschrieben werden können. Partielle DGLs werden hier
nicht behandelt.
University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 83


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Es scheint eine große Einschränkung zu sein, wenn wir uns auf gewöhnliche,
zeitinvariante, kausale, lineare DGLs konzentrieren. Dem ist nicht so, weil:
• Jeder reale Prozess ist kausal.
• Bei den meisten Prozessen ist eine Zeitvarianz so klein in ihrer Auswirkung
oder so langsam, dass sie vernachlässigbar ist oder mit der Theorie
zeitinvarianter Systeme näherungsweise behandelt werden kann.
• Prozesse mit verteilten Parametern können oft näherungsweise mit
konzentrierten Parametern beschrieben werden. Andernfalls stellen sie ein
Spezialgebiet dar, dessen Behandlung die hier besprochenen Methoden
erweitert und damit deren Kenntnis voraussetzt.
• Zwar sind alle Prozesse nichtlinear aber viele lassen sich näherungsweise durch
lineare Modelle beschreiben. Wo dies nicht möglich ist (bei schnellen,
häufigen Arbeitspunktwechseln z.B.) können evtl. mehrere lineare Modelle,
zwischen denen gewechselt wird, genügen. Andernfalls müssen sehr viel
komplexerer nichtlineare Methoden verwendet werden, die aber auch die
Kenntnis der linearen Verfahren erfordern!

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 84


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.2 Linearität und weitere Eigenschaften
Häufig wurde bisher und wird in der Zukunft der Begriff „näherungsweise“
verwendet. Es gibt, zusätzlich zu den oben genannten, weitere Gründe, warum unsere
Modelle die betrachtete Regelstrecke nur approximativ beschreiben können:
• Der Prozess ist nicht gut verstanden (insbesondere bei biologischen und
chemischen aber auch bei thermo- und fluiddynamischen Prozessen).
• Die Modelle sind zu komplex, als dass sie sinnvoll für einen Reglerentwurf
genutzt werden können (Rechenzeit, Überblick, intuitives Verständnis, ...). Es
müssen Vereinfachungen durchgeführt werden. → Modellreduktion.
• Die Modelle enthalten unbekannte Parameter, die nicht (oder nur ungenau) aus den
vorhandenen Daten bestimmt (geschätzt) werden können.
• Die geschätzten Parameter im Modell weisen statistische Unsicherheiten auf, weil
die zur Schätzung verwendeten Daten stark verrauscht waren.

Wir müssen also mit Modellen leben, die nur näherungsweise richtig sind. Zum Glück
haben wir in Kap. 1 gesehen, dass eine Regelung robust in Bezug auf Modell-
ungenauigkeiten ist!

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 85


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.3 Generelle Vorgehensweise bei der Modellierung
Aufgabe der Modellierung:
• Systemzerlegung: System wird in Komponenten zerlegt.
• Komponentenmodelle: Gesetze aufschreiben, die jede Komponente beschreiben.
• Kopplungsbeziehungen: Beziehungen aufschreiben, die zwischen den Komponenten
bestehen.
• Modellumformung: Gleichungen zu einer DGL zusammenfassen und nach Eingangs-
und Ausgangsgrößen ordnen.

Beim Aufstellen der Gesetzmäßigkeiten können wir unterscheiden:


• Bilanzgleichungen: Energiestrombilanz, Impulsbilanz, ...
• Konstitutive Gleichungen: u.a. Verbindung von Potential- mit Flussgrößen:
Induktionsgesetz, Wärme- / Flüssigkeitsspeicher, Spule / Kondensator, ...
• Phänomenologische Gleichungen: irreversible Prozesse: Wärmeleitung, ohmsches
Gesetz, ...

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 86


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.4 Allgemeine lineare DGL n-ter Ordnung
In den Beispielen aus Kap. 2.1 haben wir bereits gesehen, dass sich verschiedenste Prozesse
aus eine lineare DGL gleichen Typs zurückführen lassen. Zum größten Teil werden folgende
allgemeine gewöhnliche, kausale, zeitinvariante, lineare DGL die Grundlage sein:
1. Ableitung

• In Praxis realisierbar sind nur Systeme mit n > m. Für rechnerische Zwischen-
ergebnisse muss diese Bedingung aber nicht erfüllt sein. Dazu später mehr...
• Man kann ohne Einschränkungen an = 1 setzen (Gleichung durch an teilen).
• Zur Lösung der DGL benötigen wir die folgenden Anfangsbedingungen zu einem
Zeitpunkt t0 (wird meist als t0 = 0 gewählt):

u(t) y(t)
System

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 87


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.5 Homogene und partikuläre Lösung der DGL
Skizze des Lösungswegs:
• Die homogene DGL beschreibt das Verhalten ohne Eingangsgröße (also für u(t) = 0),
das sog. Eigenverhalten, d.h. das System bleibt von den Anfangswerten ausgehend sich
selbst überlassen:

• Die Lösung dieser homogenen DGL nennen wir yfrei(t).


• Mit Hilfe von yfrei(t) können wir die partikuläre Lösung der DGL mittels „Variation der
Konstanten“ (siehe Mathematik) berechnen. Sie bezeichnet den Teil der Lösung, der
durch ein von Null verschiedenes Eingangssignal (u(t) ≠ 0) erzeugt wird. Da dieser
Lösungsanteil durch das Eingangssignal vom System erzwungen wurde, nennen wir ihn
yerzw(t).
• Die Gesamtlösung ergibt sich aus der Überlagerung der Systemantworten auf die
Anfangsbedingungen und auf das Eingangssignal:
y(t) = yfrei(t) + yerzw(t)

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 88


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.6 Lösung der DGL 1. Ordnung
DGL 1. Ordnung:
Faltungsintegral
Lösung:

3 Fälle für die homogene Lösung:


• a0 > 0: yfrei(t) klingt exponentiell von der Anfangsbedingung y(0) auf 0 ab.
• a0 = 0: yfrei(t) verharrt an der Anfangsbedingung y(0).
• a0 < 0: yfrei(t) wächst exponentiell von der Anfangsbed. y(0) über alle Grenzen.
2

1.5 a0 < 0
a0 = 0
yfrei(t) 1

0.5 a0 > 0
y(0)
0
0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1
Zeit t
University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 89


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.6 Lösung der DGL 1. Ordnung
Partikuläre Lösung für Einheitssprung als Eingangssignal :

3 Fälle für die partikuläre Lösung:


• a0 > 0: yerzw(t) nähert sich exponentiell seinem Endwert b0/a0.
• a0 = 0: yerzw(t) steigt rampenförmig an (verläuft entlang einer Geraden).
• a0 < 0: yerzw(t) wächst exponentiell über alle Grenzen.
2
a0 < 0 a0 = 0
1.5

yerzw(t) 1

0.5 a0 > 0

0
0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1
Zeit t
University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 90


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.7 Lösung der DGL 2. Ordnung
DGL 2. Ordnung:

Wurzeln (Nullstellen) der charakteristischen Gleichung λ2 + a1 λ + a0 = 0 :

3 Fälle für die homogene Lösung (Konst. C1 und C2 ergeben sich aus den Anfangsbed.):
1. a12/4 > a0: 2 reelle Wurzeln !1/2:
Überlagerung zweier
DGLs 1. Ordnung

2. a12/4 = a0: 2 identische reelle Wurzeln !1 = !2: Exponentiell gewichteter


rampenförmiger Verlauf

3. a12/4 < a0: konjugiert komplexe Wurzeln !1/2 = " ± i#:


Exponentiell gewichtete
Schwingung

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 91


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.7 Lösung der DGL 2. Ordnung
Für Fall 1 und 2 (reelle Wurzeln) schreibt man die DGL üblicherweise als:

Für Fall 3 (konjugiert komplexe Wurzeln) schreibt man die DGL üblicherweise als:

D: Dämpfung des Systems; nur D < 1 führt auf Fall 3! D = 1 → Fall 2. D > 1 → Fall 1.
!0: Kreisfrequenz der Schwingung

Mechanisches Beispiel: Elektrisches Beispiel:

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 92


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
2.7 Lösung der DGL 2. Ordnung
Simulation der partikuläre Lösungen: Beispiel Mechanisches System
• Zunächst DGL auflösen nach höchster Ableitung des Ausgangs:

• Dann Integratorkette realisieren von höchster Ableitung des Ausgangs bis zu x(t):

∫ ∫

• Dann Gleichung für höchste Ausgangsableitung realisieren:

∫ ∫

University

2. Modellierung linearer dynamischer Systeme Seite 93


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3. Linearisierung
nichtlinearer Systeme

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 94 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 3
3 Linearisierung nichtlinearer Systeme

3.1 Groß- und Kleinsignalverhalten


3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
3.4 Linearisierung nichtlinearer statischer Systeme
3.5 Linearisierung nichtlinearer dynamischer Systeme

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 95


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 3
Ableitungen
Man kann eine Größe y nach jeder Variablen ableiten. In der Schule 1

war das meist die Ableitung von y(x) nach x. Bei uns ist es meist y(t) 0.8

abgeleitet nach der Zeit t. Dies verdeutlichen wir durch den Punkt 0.6

y
über der Größe, also für die 1. und 2. Ableitung nach der Zeit: 0.4

d2 y
0.2
dy
ẏ = ÿ = 2 0
dt dt -5 0
x oder t
5

Die Ableitung ist immer die Steigung der Größe in Richtung der 1

Variablen. Deswegen ist die Ableitung am Optimum auch = 0. 0.8

Ableitung von y
Die Ableitung nach der Zeit kann auch als Rate oder Änderungs- 0.6

geschwindigkeit interpretiert werden. 0.4

→ Betragsmäßig große zeitliche Ableitung → Schnell 0.2

→ Betragsmäßig kleine zeitliche Ableitung → Langsam 0


-5 0 5
x oder t
→ Zeitliche Ableitung = 0 → Keine Änderung (stationär, statischer AP)
Bei der Linearisierung muss nach den Größen y, ẏ, ÿ, . . . , u, u̇, ü, . . . selbst abgeleitet
werden, weil nichtlineare dynamische Zusammenhänge (nichtlineare DGL) durch eine
lineare DGL approximiert werden sollen.
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 96


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.1 Groß- und Kleinsignalverhalten
Großsignale
• Wirklich gemessene Signale
• Benannt mit Großbuchstaben: Eingang U, Ausgang Y
Kleinsignale
• Signalabweichungen um einen Arbeitspunkt herum
• Meist wird angenommen, dass diese Abweichungen „klein“ sind
• Benannt mit Kleinbuchstaben Eingang u, Ausgang y

Y
Wie im Bild zu sehen ist gilt:
u = U – U0
y
y = Y – Y0
Y0 u
Statischer Zusammenhang:
Y = f (U)
U0 U Y0 = f (U0)
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 97


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.1 Groß- und Kleinsignalverhalten
Beispiel: Affine Kennline
• Gleichung der Kennlinie: Y = m·U + b
• Wähle einen beliebigen Arbeitspunkt (U0, Y0) auf der Kennlinie: Y0 = m·U0 + b
• Dies ergibt folgendes Kleinsignalverhalten:
• Y – Y0 = m·U + b – (m·U0 + b) = m·(U – U0) → y = m·u

→ Affiner Zusammenhang wird im Kleinsignalverhalten linear.


(Gleichwert wird unterdrückt)

Y
m
Jeder nichtlineare Zusammenhang kann im
y 1
Kleinsignalverhalten näherungsweise linear
Y0 beschrieben werden.
u
b Die Näherung ist um so besser, je „weniger
nichtlinear“ die Kennlinie am Arbeitspunkt ist,
0
0 U0 U und je kleiner u und y sind.
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 98


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Beispiel: Kreiselpumpe

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 99


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien Kraft Sport
Beispiel: Stoßdämpfer
• Nichtlinearität hängt ab von der Komfort
Geschwindigkeit des Ein- bzw. Ausfederns.
• Nichtlinearität ist unsymmetrisch, d.h. Geschwindigkeit
ist unterschiedlich für positive (Einfedern)
und negative (Ausfedern) Geschwindigkeiten.
• Wenn sich die Dämpfer der Fahrsituation
anpassen, handelt es sich um ein zeit-
variantes System.
• Man unterscheidet 3 Hauptcharakteristika:
Degressiv Linear Progressiv

Weich bei großen Weich bei kleinen


Unebenheiten Unebenheiten
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 100


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Beispiel: Tank mit Zu- und Abfluss Behälterquerschnittsfläche A

Druckgleichgewicht: Geschwindigkeit

Kontinuität: h(t)

v(t)

Rohrquerschnittsfläche a

Höhe h(t) taucht als Ableitung und nichtlinear auf.


→ Nichtlinear dynamisches Problem!

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 101


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Beispiel: Pendel

Energien: ! l
l
m

Änderung der Gesamtenergie muss = 0 sein:

Winkel !(t) taucht als 2. Ableitung und nichtlinear auf.


→ Nichtlinear dynamisches Problem!

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 102


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Beispiel: Coulombsche Reibung (trockene Reibung)

Typische Bewegungsgleichung:

Viskoser (geschwindigkeits- Hängt von der


proportionaler) Reibterm Bewegungsrichtung ab!

Eigenschaften:
• Coulombsche Reibung wirkt wie eine Konstante (Gleichwert) solange sich die
Bewegungsrichtung nicht ändert.
• Im Moment der Änderung der Bewegungsrichtung „springt“ der trockene Reibterm
von einem positiven auf einen negativen Wert (bzw. umgekehrt).
• Daher lässt sich dieser Term nicht differenzieren und damit die obige
Bewegungsgleichung nicht um alle Arbeitspunkte mit linearisieren!

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 103


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Beispiel: Magnetische Hysterese
• Magnetische Feldstärke H
(erzeugt vom fließenden Strom und dazu proportional)
• Magnetische Flußdichte B
(Änderung von B induziert eine Spannung)

Eigenschaften der Hysterese:


• ! hängt sowohl von H ab
als auch von der Vorgeschichte von H
• ! ist stark materialabhängig (kann sich um viele
Größenordnungen unterscheiden)
• Keine einfache Linearisierung möglich
• Modellierung von Hysterese generell schwierig

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 104


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Stabile und instabile Arbeitspunkte
Der Arbeitspunkt (AP) ergibt sich aus dem Schnittpunkt der Kennlinien des Energie
abgebenden Teils einer Anlage (Antrieb, Motor, Pumpe, ...) und des Energie
aufnehmenden Teils (Abtrieb, Generator, Rohrleitungssystem, ...).

Antrieb (Motor)
Stabile Arbeitspunkte (APs): Drehmoment M

Nach kleinen Veränderungen der


stabiler AP Abtrieb (Generator)
Eingangs- oder Ausgangsgrößen M1
strebt die Anlage wieder in den
AP zurück. M2 instabiler AP

n1 n2 Drehzahl n
Instabile Arbeitspunkte (APs):
Nach kleinen Veränderungen der
Eingangs- oder Ausgangsgrößen
strebt die Anlage weiter vom AP weg.

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 105


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.2 Nichtlineare Dynamik und Kennlinien
Vermessung von Kennlinien
• Eingangssignal muss solange konstant gehalten werden, bis Ausgangswert
eingeschwungen ist. Dann kann ein Punkt der U0-Y0-Kennlinie abgelesen werden.
→ Zeit zum Erfassen eines Kennlinienpunktes ist hoch!
• Kennlinie wird meist als „Tabelle“ (lookup table) mit linearer Interpolation (rot
gestrichelter Verlauf) implementiert. Alternative: Polynome, neuronale Netze, ...
• Kennlinien für mehr als 1 Eingang heißen Kennfelder. Sie werden oft rasterförmig
vermessen, d.h. z.B. 6 × 6 Eingangsgrößenkombination durchfahren (im 2-dim. Fall).
U(t) Y0
U06 Y06

Y06 Y(t)

U01
Y01
Y01
Zeit t U01 U06 U0
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 106


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.3 Linearisierung nichtlinearer statischer Systeme
Taylor-Reihenentwicklung um den Punkt (U0, Y0):

In Kleinsignalform: 1

0.9
2. Ordnung
0.8

0.7

0.6

Approximation 1. Ordnung ist Y 0.5


y
eine Linearisierung um den Arbeits- 0.4
0. Ordnung
punkt (U0, Y0). Ein anderer Arbeits- Y0 0.3 u
punkt führt normalerweise zu 0.2
einer anderen linearisierten Gleichung, f (U)
0.1
weil sich die Steigung von f (U) ändert. 1. Ordnung
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
U0 U
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 107


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.3 Linearisierung nichtlinearer statischer Systeme
Erweiterung auf Systeme mit p Eingangsgrößen U = [U1 U2 ... Up]T
Taylor-Reihenentwicklung um den Punkt (U0, Y0):

mit der 1. Ableitung (Gradient) ausgewertet am Arbeitspunkt (AP) (U0, Y0):

und der 2. Ableitung (p × p Hesse-Matrix) ausgewertet am Arbeitspunkt (AP) (U0, Y0):

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 108


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.3 Linearisierung nichtlinearer statischer Systeme
Zur Linearisierung mit p Eingängen:
• Nur die ersten beiden Terme (0. und 1. Ordnung) der Taylorreihe werden benötigt.
• In Kleinsignalform schreibt sich die linearisierte Gleichung:

• Diese Gleichung beschreibt keine Gerade (wie im 1-dim. Fall) sondern eine (Hyper)-
Ebene, also die p-dimensionale Verallgemeinerung einer Geraden.
• Gradient enthält Ableitungen des Ausgangs nach allen Eingängen U1, U2, ..., Up.

Nebenbemerkung: Reihenentwicklung bis 2. Ordnung:


• Für uns im Moment uninteressant.
• Basis für sehr viele anderen Anwendungen, insbesondere für Näherungs- und
Optimierungsverfahren. Approximation 2. Ordnung wird im Newton-Verfahren zur
Nullstellen- und Optimumssuche verwendet. Auch in der Least-Squares-Methode.
• Die Gleichungen 2. Ordnung stellen eine (Hyper)-Parabel dar.
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 109


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.4 Linearisierung nichtlinearer dynamischer Systeme
Linearisierung um einen stationären Arbeitspunkt (AP):
• „Stationär“ heißt, dass die Ableitungen aller Ein- und Ausgangsgrößen = 0 sind:

• Standardform der nichtlinearen DGL beschrieben durch:

• Linearisierung um einen stationären AP liefert:

@f @f (1) @f (n)
@Y (Y − Y0 ) + @ Y (1) AP
(Y (1) − Y0 ) + . . . + @ Y (n) AP
(Y (n) − Y0 )+
AP

@f @f (1) @f (m)
@U (U − U0 ) + @ U (1) AP
(U (1) − U0 ) + . . . + @ U (m) AP
(U (m) − U0 )=0
AP

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 110


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.4 Linearisierung nichtlinearer dynamischer Systeme
• Wegen Stationarität des AP:
Daher gilt auch:

@f @f (1) @f
@Y (Y − Y0 ) + @ Y (1) AP
Y0 + ... + @ Y (n) AP
Y (n) +
AP

@f @f @f
@U (U − U0 ) + @ U (1) AP
U (1) + . . . + @ U (m) AP
U (m) = 0
AP

Oder in Kleinsignalvariablen:

@f @f @f
@Y y+ @ Y (1) AP
y (1) + . . . + @ Y (n) AP
y (n) +
AP

@f @f @f
@U u+ @ U (1) AP
u(1) + . . . + @ U (m) AP
u(m) = 0
AP

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 111


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.4 Linearisierung nichtlinearer dynamischer Systeme
Beispiel: Affiner Zusammenhang (wiederholt)
Mit dieser schematischen Vorgehensweise soll zunächst nochmal die affine Kennlinie vom
Anfang des Kapitels behandelt werden. Ein statischer Prozess folge dem Gesetz:
Y = mU + b ! f (Y, U ) = Y − mU − b = 0
Stationärer Arbeitspunkt AP ist:
Y0 = mU0 + b
Da in f () keine zeitlichen Ableitungen wie U̇ oder Ẏ auftauchen, liefert die Linearisierung
um diesen AP einfach:
@f @f
@Y (Y − Y0 ) + @U (U − U0 ) = 0
AP AP
@f @f
Die Ableitung nach Y und U sind: @Y =1 @U = −m
AP AP
Im Großsignalverhalten reproduziert sich die Originalgleichung, weil es in diesem Beispiel
keine Nichtlinearitäten gibt. Als Kleinsignalverhalten ergibt sich immer lineares Verhalten:
@f @f
@Y y+ @U u = 0 ! 1 · y − m · u = 0 ! y = mu
AP AP
University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 112


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
3.4 Linearisierung nichtlinearer dynamischer Systeme
Beispiel: Tank mit Zu- und Abfluss

Eingang: Zufluss h(t)


v(t)
Ausgang: Füllhöhe

Umschreiben in nichtlineare Standardform:

Für einen stationären Arbeitspunkt gilt:

Linearisieren:

Lineare DGL:

University

3. Linearisierung nichtlinearer Systeme Seite 113


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4. Laplace-Transformation

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 114 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 4
4 Laplace-Transformation

4.1 Motivation
4.2 Definition
4.3 Eigenschaften
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
4.5 Lösen einer DGL im Laplace-Bereich
4.6 Rechenregeln
4.7 Tabelle Laplace-Transformation

University

4. Laplace-Transformation Seite 115


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Pierre Simon Laplace (1749-1827)

University

4. Laplace-Transformation Seite 116


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.1 Motivation
Wichtige Aufgabenstellung beim Rechnen mit dynamischen Systemen:
Gegeben:
- Lineare (linearisierte) DGL, die das dynamische System beschreibt.
- Zeitlicher Verlauf der Eingangsgröße u(t) des Systems.
Gesucht:
- Zeitlicher Verlauf der Ausgangsgröße y(t). u(t) dynamisches y(t) = ?
System

Aus Kapitel 2.6 kennen wir die partikuläre Lösung


für das einfachste dynamische System, beschrieben durch eine DGL 1. Ordnung:

ACHTUNG: Dies ist nur der partikuläre Lösungsanteil yerzw(t), der durch das
Eingangssignal u(t) hervorgerufen wird! Wir nehmen hier und in der Folge an (wenn nicht
ausdrücklich anders gesagt), dass die Anfangsbedingungen so gewählt sind, dass die
homogenen Lösungsanteile wegfallen. Uns interessiert primär das Ein-/Ausgangsverhalten.
University

4. Laplace-Transformation Seite 117


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.1 Motivation
Analysieren wir die Antwort y(t) auf das Eingangssignal u(t) genauer:

Systemeigenschaften
(signalunabhängig)

• Diese Vorschrift zur Berechnung des Ausgangssignals bei gegebenem Eingangssignal


heißt Faltung. Man schreibt sie auch symbolisch:

(Für den Fall einer DGL 1. Ordnung gilt .)


• Die Funktion g(t) nennt man Gewichtsfunktion (dazu später mehr...). Sie enthält alle
Eigenschaften über das System. Generell gilt für alle linearen Systeme (auch mit
höherer Ordnung):

University

4. Laplace-Transformation Seite 118


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.1 Motivation
Identische Formulierungen des Faltungsintegrals:

• Die erste Äquivalenz lässt sich leicht mit einer Substitution !´ = t – ! zeigen.
• Aus den Annahmen u(t) = 0 für t < 0 und g(t) = 0 für t < 0 ergibt sich die Äquivalenz
der Integralgrenzen.
- Die Annahme u(t) = 0 für t < 0 ist für die Laplace-Transformation nötig. Sie stellt
aber keine praktische Einschränkung dar, weil wir die Zeit immer so verschieben
können, dass vor t = 0 noch nichts passiert ist.
- Die Annahme g(t) = 0 für t < 0 entspricht der Annahme, dass das System kausal ist.
Davon gehen wir immer aus. Dazu später mehr...

Die Berechnung des Faltungsintegrals ist aufwendig! Die Zeitfunktionen g(t) und u(t)
können sehr kompliziert werden und das Faltungsintegral schwierig zu lösen sein.
→ Suche nach Ansätzen zur Vermeidung der direkten Berechnung des Faltungsintegrals!

University

4. Laplace-Transformation Seite 119


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.1 Motivation
Mit Hilfe der Laplace-Transformation wird aus der Faltung eine Multiplikation:

g(t), u(t) Faltung y(t)

Laplace- Laplace-
Transformation Rücktransformation

G(s), U(s) Multiplikation Y(s)

Deshalb machen wir in Zukunft lieber 3 einfache Schritte als 1 komplizierten:

g(t), u(t)

1. Schritt
× y(t)

3. Schritt

2. Schritt
G(s), U(s) Y(s)
University

4. Laplace-Transformation Seite 120


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition 4

Signale enthalten viele verschiedene Frequenz- 0

anteile. Eine Transformation vom Zeitbereich -2

in den Frequenzbereich erlaubt quantitative -4


0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

Aussagen darüber, welche Frequenzen bzw. 4

Frequenzbereiche wie stark im Signal ver- 2

Anteil hoher Frequenzen im Signal


0
treten sind.
-2

-4
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

Forderungen/Annahmen für eine Trans- 4

formation in den Frequenzbereich: 2

• Alle praktisch relevanten Signale -2

sollen transformierbar sein. -4


0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

• Signale sind Null für t < 0. 4

Dies wird von der Laplace-Transformation -2

erfüllt! -4
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

Zeit t
University

4. Laplace-Transformation Seite 121


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Fourier-Reihe
• Zerlegung periodischer Signale in ihre Frequenzbestandteile.
• Signal kann in eine unendliche Summe von Sinus- und Cosinus-Termen zerlegt werden.
• Amplitude zu jeder Frequenz 1.5
gibt an, wie stark diese Frequenz 1 Term
3 Terme
im Signal enthalten ist. 1

Grundfrequenz
0.5 2 Terme
Amplituden

1. Oberschwingung
2. Oberschwingung Amplitude 0

-0.5

Frequenzen !
-1

• Wenn man auch nicht-periodische


Signale behandeln will: Perioden- -1.5
0 2 4 6 8 10 12
länge → ∞, Grundfrequenz → 0. Zeit t
University

4. Laplace-Transformation Seite 122


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition Quelle: http://eitidaten.fh-
pforzheim.de/daten/mitarbeiter/blankenbach/vorlesungen/mathe_2/Fourier_Trafo_kurz_Foli
en.pdf

Kammerton a: f0 = 440 Hz auf verschiedenen Musikinstrumenten

University

4. Laplace-Transformation Seite 123


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Fourier-Transformation
• Erweiterung der Fourier-Reihe für nicht-periodische Signale.
• Periodenlänge T → ∞, Grundfrequenz ! → 0.
• Das Spektrum besteht nicht mehr aus absoluten Amplitudenwerten an diskreten
Frequenzen n·!0 (also Vielfachen der Grundfrequenz), sondern es besteht aus der
Amplitudendichte über einer kontinuierlichen Frequenzachse. (Gleiches gilt für die
Phasen.)

Fourier-Reihe Fourier-Transformation
Grundfrequenz Amplitudendichte |F(i!)|
Amplituden

1. Oberschwingung
2. Oberschwingung

!0 2!0 3!0 4!0 ! !


University

4. Laplace-Transformation Seite 124


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition 1

Amplitudendichte |F(i!)|
A = 1, T = 1
0.8
Beispiel: Fourier-Transformation
0.6
f (t)
0.4
A
0.2

0
0 5 10 15 20 25 30
0 T Zeit t Frequenz !

University

4. Laplace-Transformation Seite 125


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Problematik der Fourier-Transformation:
Viele Signale können nicht Fourier transformiert werden, weil das Integral nicht konvergiert.
Beispiel: Info: Sonderfall a = 0 entspricht Einheitssprung:

→ Für positive a (selbst für a = 0) geht das Integral gegen unendlich!


Ausweg: Wir dämpfen den Integranden mit einem zusätzlich eingeführten Faktor .
Dann konvergiert obiges Integral falls wir ! groß genug wählen, also für ! > a:

Diese neue komplexe Variable nennen wir die Laplace-Variable s = ! + i" .


University

4. Laplace-Transformation Seite 126


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Da der Term für t < 0 aufklingt (nicht dämpft) und damit kontraproduktiv wirkt,
starten wir bei der Laplace-Transformation immer erst bei t = 0. Dies ist hier aber keine
Einschränkung, da die Signale sowieso erst ab t = 0 von Null verschieden sind.
Laplace-Transformation einer Zeitfunktion f(t):

d.h. Zeitpunkt t = 0 ist im Integral enthalten!


Laplace-Rücktransformation einer Funktion im komplexen Frequenzbereich F(s):

F(s) ist die Laplace-Transformierte von f (t). Man schreibt symbolisch:

University

4. Laplace-Transformation Seite 127


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Damit kennen wir schon unsere erste Laplace-Transformierte:

Und als Sonderfall für a = 0 den Einheitssprung:

Eine wichtige weitere Funktion ist der Dirac-Impuls. Genau genommen ist das gar keine
Funktion, denn der Dirac-Impuls ist unendlich hoch und unendlich kurz. Er ist so definiert:
r(t) !(t)
Fläche = 1
1/T 1

0 T Zeit t 0 Zeit t
ACHTUNG: Das !(t) als Bezeichnung des Dirac-Impulses steht in keinem Zusammenhang
mit dem ! als Bezeichnung des Realteils der Laplace-Variablen s.
University

4. Laplace-Transformation Seite 128


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Auch wenn der Dirac-Impuls nicht realisierbar ist, stellt er ein wichtiges mathematisches
Hilfsmittel dar. Er hat folgende Ausblendeigenschaft:

Daraus folgt die Laplace-Transformierte des


Dirac-Impulses:

gilt für alle Frequenzen " in s=! +i"

Das bedeutet, alle Frequenzen sind im Spektrum gleich stark vertreten. Damit eignet sich der
Dirac-Impuls (theoretisch) gut, um die Eigenschaften eines dynamischen Systems zu ermitteln,
denn alle Frequenzen werden gleich stark angeregt. Jede Über- oder Untergewichtung
bestimmter Frequenzanteile im Ausgangssignal
sind dann auf das Systemverhalten zurückzuführen. !(t) dynamisches y(t) = ?
System
Dazu später mehr...
University

4. Laplace-Transformation Seite 129


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.2 Definition
Neben dem Einheitssprung !(t) ist der Dirac-Impuls "(t) die am häufigsten betrachtete
Eingangsgröße für dynamische Systeme. Beide stehen in einer engen Beziehung:

!(t) "(t)
1 1

0 T Zeit t 0 Zeit t

University

4. Laplace-Transformation Seite 130


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.3 Eigenschaften
Faltung
Der Hauptgrund für das Rechnen mit der Laplace-Transformation ist folgende Beziehung:

Anfangswert
Falls die Grenzwerte existieren, lässt sich schnell f (t)
der Anfangswert des Zeitverlaufs bestimmen:
f (+0) (Anfangswert)

(Anfangs- f (–0) Zeit t


bedingung)
Endwert
Falls die Grenzwerte existieren, lässt sich schnell der Endwert des Zeitverlaufs bestimmen:
Die Zeit t und die komplexe Frequenz s
verhalten sich invers zueinander!
University

4. Laplace-Transformation Seite 131


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.3 Eigenschaften
Überlagerung
Die Laplace-Transformation ist eine lineare Transformation:

Skalierung der Zeit- bzw. Frequenzachse (Ähnlichkeitssatz)


Die Zeit t und die komplexe Frequenz s verhalten sich invers zueinander:

Verschiebung der Frequenzachse (Dämpfungssatz)


Eine Frequenzverschiebung führt zu einer exponentiellen Dämpfung der Zeitfunktion:

Zeitliche Verschiebung
Eine einfache Zeitverzögerung um T wirkt sich im Laplace-Bereich relativ kompliziert aus:

University

4. Laplace-Transformation Seite 132


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.3 Eigenschaften
Beim Rechnen mit dynamischen Systemen gehört die Differentiation und die Integration
neben der Faltung zu den wichtigsten Operationen! Auch sie vereinfachen sich drastisch in
eine Multiplikation mit bzw. Division durch die komplexe Frequenzvariable s.

Differentiation
ACHTUNG: Hier geht die Anfangsbedingung f (–0), nicht der Anfangswert f (+0) ein!

Integration
Die Integration ist die zur Differentiation inverse Operation. Deshalb eine Division durch s:

University

4. Laplace-Transformation Seite 133


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Möglichkeiten zur Rücktransformation:
1. Verwendung der Tabelle, d.h. Rückgriff auf die Arbeit Anderer für Standardfälle.
2. Vereinfachung mittels Partialbruchzerlegung; anschließend Verwendung der Tabelle.
3. Explizite Berechnung des Integrals für die Rücktransformation (Residuensatz).
Lösung 1 ist trivial. Lösung 3 behandeln wir hier nicht. Lösung 2 wird jetzt erklärt...

Summen-Standardform eines Signals im Laplace-Bereich:


Totzeit
(Zeitverzug um Tt)

(n > m) wobei wir ohne Einschränkungen an = 1 setzen können (redundanter Parameter).

Produkt-Standardform eines Signals im Laplace-Bereich:

mit den m Nullstellen n1, ..., nm und den n Polstellen p1, ..., pn (n > m).
University

4. Laplace-Transformation Seite 134


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Asymmetrie
• Einfaches Ausmultiplizieren: Produkt-Standardform → Summen-Standardform
(s + 1)(s + 2) = s2 + 3s + 2
(s + 1)(s + 2)(s + 3) = s3 + 6s2 + 11s + 6

• Schwieriges Faktorisieren: Summen-Standardform → Produkt-Standardform


s2 + 3s + 2 = ?
r r
3 9 3 1 3 1 s1 = −1
s1,2 = − ± −2=− ± =− ± s2 = −2
2 4 2 4 2 2
! (s + 1)(s + 2)
s3 + 6s2 + 11s + 6 = ? s1,2,3 = ?

Für Polynome höheren Grades:


- nur mit Nullstellen raten → in Praxis unmöglich, da reell
- oder numerisch → nur (leicht) mit Computer möglich
University

4. Laplace-Transformation Seite 135


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich MATLAB
Summen-Standardform:
System = tf(Zaehler, Nenner); % tf = transfer function

Zaehler = [5 3 -1]; % Poly-Koeff. in absteigender Reihenfolge


Nenner = [2 0 -0.5 4]; % 0 für s^2 Koeffizienten
Totzeit = 2;
System = tf(Zaehler, Nenner); % Noch ohne Totzeit!
System.ioDelay = Totzeit; % "Eigenschaft" Totzeit hinzufügen

Alternative:
s = tf('s'); % Definiere 's' als Laplace-Variable
System = (5*s^2+3*s-1)/(5*s^3-0.5*s+4);
System.ioDelay = 2;

K = dcgain(System); % Berechnet die Verstärkung

University

4. Laplace-Transformation Seite 136


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich MATLAB
Produkt-Standardform:
System = zpk(Nullstellen, Pole, k);
% zpk = zeros-poles-k

Nullstellen = [-1 -2];


Pole = [-3 -1+i*2 -1-i*2];
k = 5; % Verstärkung K = G(0) =
% 5*(1*2)/(3*(1-i2)*(1+i2))
% = 5*2/15 = 2/3

University

4. Laplace-Transformation Seite 137


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Zerlegung der Produkt-Standardform in Partialbrüche:
• Ziel: Jeder Summand soll so einfach sein, dass er sich mit der Tabelle
rücktransformieren lässt.
• Evtl. Totzeiten T werden separat mit dem Satz zur zeitlichen Verschiebung behandelt:

Bei der Partialbruchzerlegung müssen 3 Fälle unterschieden werden:


1. Alle Pole sind reell und verschieden.
2. Alle Pole sind reell aber es gibt Mehrfachpole.
3. Es gibt auch konjugiert komplexe Pole.

Wir wollen nun also folgendes Signal transformieren (Struktur des Zählers Z(s) ist hier
uninteressant, Totzeit wird separat behandelt):

University

4. Laplace-Transformation Seite 138


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
1. Partialbruchzerlegung (alle Pole reell)

Die unbekannten Parameter B1, ..., Bn lassen sich mittels Koeffizientenvergleich ermitteln:

Rechts steht ein Polynom n–1. Grades, d.h. mit n Koeffizienten. Dies liefert n Gleichungen
für n Unbekannte.

Oder mit einem Trick: Einsetzen einer Polstelle pi in obige Gleichung liefert direkt einen
Parameter, da alle anderen Terme = 0 sind:

Dies kann für alle i = 1, ..., n durchgeführt werden.


University

4. Laplace-Transformation Seite 139


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Beispiel: 1. Partialbruchzerlegung (alle Pole reell)
Gegeben ist folgendes Signal im Laplace-Bereich:

Ansatz für die Rücktransformation ist:

a) Ermittlung der Parameter mittels Koeffizientenvergleichs:

University

4. Laplace-Transformation Seite 140


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Beispiel: 1. Partialbruchzerlegung (alle Pole reell)
b) Ermittlung der Parameter mittels Trick:

Ergebnis der Partialbruchzerlegung:

University

4. Laplace-Transformation Seite 141


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
2. Partialbruchzerlegung (alle Pole reell, aber Mehrfachpole)
Sortieren wir die Terme so, dass der erste Pol die Vielfachheit p hat:

Koeffizientenvergleich liefert auch hier die unbekannten Parameter. Das Polynom hat nun
den Grad n+p–1, so dass es wieder genauso viele Gleichungen wie Unbekannte gibt.

Der Trick von Fall 1 funktioniert hier nur für die Parameter der einfachen Pole B2, ..., Bn.
Für die Parameter der Mehrfachpole (Ordnung p) gilt folgende Erweiterung:
1 dp−i p
B1i = [Y (s)(s − p 1 ) ]
(p − i)! dsp−i s=p1

Dies kann für i = 1, ..., p berechnet werden.

University

4. Laplace-Transformation Seite 142


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Beispiel: 2. Partialbruchzerlegung (alle Pole reell, aber Mehrfachpole)
Gegeben ist folgendes Signal im Laplace-Bereich:

Ansatz für die Rücktransformation ist:

Mit dem Trick berechnen sich die Parameter zu:

University

4. Laplace-Transformation Seite 143


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
3. Partialbruchzerlegung (auch konjugiert komplexe Pole)
Sortieren wir die Terme so, dass die ersten beiden Pole ein konjugiert komplexes Polpaar
mit bilden:

Dann können wir die Parameter wieder über Koeffizientenvergleich ermitteln. Zu beachten
ist, dass natürlich reell ist!

Eine Erweiterung des Tricks liefert:

University

4. Laplace-Transformation Seite 144


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.4 Rücktransformation in den Zeitbereich
Beispiel: 3. Partialbruchzerlegung (auch konjugiert komplexe Pole)
Gegeben ist folgendes Signal im Laplace-Bereich:

Kompliziert zu berechnen,
Ansatz für die Rücktransformation ist: siehe Tabelle.

Mit dem Trick berechnen sich die Parameter zu:

University

4. Laplace-Transformation Seite 145


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.5 Lösen einer DGL im Laplace-Bereich
Lösen einer DGL 1. Ordnung
DGL im Zeitbereich:

DGL transformiert in den Laplace-Bereich:

Uns interessiert jetzt nur das Ein-/Ausgangsverhalten. Wir setzen also y(–0) = 0:

Wir bekommen U(s) durch Laplace-Transformation von u(t). Dann lässt sich Y(s) berechnen.
University

4. Laplace-Transformation Seite 146


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.5 Lösen einer DGL im Laplace-Bereich
Wie in Kapitel 2.6 sei u(t) ein Einheitssprung:
Transformationstabelle

Ergebnis ist identisch mit dem in Kapitel 2.6 für a1 = 1.

Für ein anderes Eingangssignal, z.B. eine Einheitsrampe, bekämen wir:

Die Rücktransformation zu y(t) erfolgt über Partialbruchzerlegung (doppelter Pol bei 0,


einfacher Pol bei –a0/a1) und Tabelle.
→ DGL recht einfach für verschiedenste Eingangssignale lösbar!

University

4. Laplace-Transformation Seite 147


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.5 Lösen einer DGL im Laplace-Bereich
Lösen einer DGL n. Ordnung
DGL im Zeitbereich:

DGL transformiert in den Laplace-Bereich:

Uns interessiert jetzt nur das Ein-/Ausgangsverhalten. Wir setzten also alle Anfangsbed. = 0:

→ Zeitlösung: Pole ausrechnen,


Partialbruchzerlegung, Tabelle.

University

4. Laplace-Transformation Seite 148


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.6 Rechenregeln
Parallelschaltung

Reihenschaltung

Negative Rückkopplungsschaltung (Gegenkopplung)

University

4. Laplace-Transformation Seite 149


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.7 Tabelle Laplace-Transformation
wichtig!

University

4. Laplace-Transformation Seite 150


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.7 Tabelle Laplace-Transformation

University

4. Laplace-Transformation Seite 151


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
4.7 Tabelle Laplace-Transformation

University

4. Laplace-Transformation Seite 152


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5. Übertragungsfunktion

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 153 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 5
5 Übertragungsfunktion

5.1 Definition der Gewichtsfunktion


5.2 Definition der Übertragungsfunktion
5.3 Pole der Übertragungsfunktion
5.4 Nullstellen der Übertragungsfunktion
5.5 Pol-/Nullstellen-Diagramm
5.6 Statische Verstärkung der Übertragungsfunktion
5.7 Weitere wichtige Eigenschaften der Übertragungsfunktion
5.8 Wichtige Übertragungsfunktionen im Regelkreis

University

5. Übertragungsfunktion Seite 154


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.1 Definition der Gewichtsfunktion
Wie wir bereits aus Kap. 4.2 wissen, gibt es für y(t)
u(t) dynamisches
jedes lineare System eine Funktion g(t), die sog.
System
Gewichtsfunktion, die alle Systemeigenschaften
charakterisiert. Für jedes beliebige Eingangssignal
u(t) lässt sich der Ausgang y(t) eines dynamischen Systems mittels des Faltungsintegrals
berechnen (Annahme: die Anfangsbedingungen sind Null):

Wählen wir als Eingangssignal einen Dirac-Impuls u(t) = !(t), dann bezeichnet man das
zugehörige Ausgangssignal als Impulsantwort:
Ausblendeigenschaft

Das heißt:
Die Impulsantwort eines linearen dynamischen Systems ist seine Gewichtsfunktion!
In der Mathematik/Physik ist für g(t) die Bezeichnung Greensche Funktion üblich!

University

5. Übertragungsfunktion Seite 155


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.1 Definition der Gewichtsfunktion
Damit ergeben sich folgende wichtige Zusammenhänge zwischen Dirac-Impuls bzw.
Einheitssprung als Eingangsgrößen und Impulsantwort bzw. Sprungantwort als
Ausgangsgrößen:
"(t) g(t)
1 1
dynamisches
System

0 Zeit t 0 Zeit t

!(t) h(t)
1 1
dynamisches
System

0 T Zeit t 0 T Zeit t
University

5. Übertragungsfunktion Seite 156


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.2 Definition der Übertragungsfunktion
Die Gewichtsfunktion charakterisiert ein lineares dynamisches System vollständig!
Was ist die Entsprechung der Gewichtsfunktion im Frequenzbereich?

Die Faltung im Zeitbereich

entspricht der Multiplikation im Frequenzbereich

Für einen Dirac-Impuls U(s) =1 am Eingang ergibt sich:

Damit wissen wir:

Die Laplace-Transformierte der Gewichtsfunktion nennen wir Übertragungsfunktion!


Sie enthält ebenso alle Informationen über das lineare dynamische System.

University

5. Übertragungsfunktion Seite 157


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.2 Definition der Übertragungsfunktion
Die Übertragungsfunktion eines linearen dynamischen Systems ist immer eine gebrochen
rationale Funktion evtl. multipliziert mit einer e-Funktion, die eine Totzeit beschreibt:

Diese Summen-Standardform kann in die Produkt-Standardform umgewandelt werden:

Diese Produktform erlaubt die Zerlegung in Partialbrüche (siehe Kap. 4.4). Daraus lässt sich
dann leicht in den Zeitbereich rücktransformieren. Damit ist klar: Die Pole einer
Übertragungsfunktion spielen für das dynamische Verhalten eine herausragende Rolle!

Bemerkung: Obige Summen-Standardform enthält einen redundanten Parameter. Man kann


ohne Einschränkungen z.B. an = 1 setzen.
University

5. Übertragungsfunktion Seite 158


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.2 Definition der Übertragungsfunktion
Die Übertragungsfunktion ist eine Funktion, die eine komplexe Variable s = ! + i" auf die
komplexe Zahl G(s) abbildet. Sie kann als Real- und Imaginärteil oder als Betrag und Phase
ausgedrückt werden:

Diese stehen wie folgt in Beziehung zueinander:

Im Im

Re Re

University

5. Übertragungsfunktion Seite 159


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.3 Pole der Übertragungsfunktion
1. Im einfachsten Fall hat eine Übertragungsfunktion n verschiedene reelle Pole:

Damit ergibt sich für die Gewichtsfunktion (= Impulsantwort) des Systems:

3 Fälle:
a) Alle Pole sind negativ, d.h. pi < 0 für alle i = 1, ..., n.
b) Ein Pol pj = 0, alle anderen sind negativ.
c) Mindestens ein Pol ist positiv, d.h. pj > 0, alle anderen sind irrelevant.

Daraus ergibt sich folgendes charakteristisches Verhalten für die Gewichtsfunktion:


a) g(t) strebt exponentiell schnell gegen 0. → Stabiles Verhalten.
b) g(t) strebt exponentiell schnell gegen den festen Endwert Bj. → Grenzstabiles Verhalten.
c) g(t) strebt exponentiell schnell gegen unendlich. → Instabiles Verhalten.
University

5. Übertragungsfunktion Seite 160


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.3 Pole der Übertragungsfunktion
2. Übertragungsfunktion mit einem p-fachen reellen Pol, sonst nur einfache reelle Pole:

Damit ergibt sich für die Gewichtsfunktion (= Impulsantwort) des Systems:

Die selben 3 Fälle wie zuvor aber mit folgender Besonderheit:

b) p1 = 0:

Daraus ergibt sich folgendes charakteristisches Verhalten für die Gewichtsfunktion:

b) g(t) strebt exponentiell schnell gegen eine Funktion t p–1 mit dem Vorfaktor B1p/(p–1)!,
wenn p1= 0 ein Mehrfachpol ist. → Instabiles Verhalten.

University

5. Übertragungsfunktion Seite 161


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.3 Pole der Übertragungsfunktion
3. Übertragungsfunktion mit einem konjugiert komplexen Polpaar :

Damit ergibt sich für die Gewichtsfunktion (= Impulsantwort) des Systems:

Die selben 3 Fälle wie zuvor aber mit folgenden Besonderheiten:


a) Alle Pole haben einen negativen Realteil...
b) Konjugiert komplexes Polpaar hat einen Realteil gleich Null: g(t) führt eine Dauer-
schwingung mit der Kreisfrequenz ! aus. → Oszillatorisch grenzstabiles Verhalten.
c) Mindestens ein Pol hat einen positiven Realteil... : Falls dies für das konjugiert komplexe
Polpaar der Fall ist: g(t) für eine exponentiell aufklingende Dauerschwingung mit der
Kreisfrequenz ! aus. → Oszillatorisch instabiles Verhalten.

University

5. Übertragungsfunktion Seite 162


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.4 Nullstellen der Übertragungsfunktion
Eigenschaften von Nullstellen:
• Entstehen typischerweise durch Parallelschaltungen (parallele Ursache-Wirkungs-Ketten),
z.B.:

• Bestimmen (zusammen mit anderen Größen) die Vorfaktoren vor den e-, sin-, cos-
Funktionen der Zeitlösungen und beeinflussen damit wie stark welche Dynamikanteile
gewichtet werden.
• Nullstellen „schlucken“ bestimmte Anregungssignale weg, weil sie Faktoren im Nenner
der Übertragungsfunktion wegkürzen.
Beispiel: Konjugiert komplexe Nullstellen bei s1/2 = ±i!0: Zähler (s+i!0)(s–i!0) = s2 + !02

(Schwingung mit !0 ist weg!)

Anregung mit sin!0t

• Pole mit positivem Realteil führen auf Instabilität. Nullstellen mit positivem Realteil
führen auch zu einem schwer regelbaren Verhalten. → Nicht phasenminimales Verhalten...
University

5. Übertragungsfunktion Seite 163


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.5 Pol-/Nullstellen-Diagramm
Da die Lage der Pole und Nullstellen für das dynamische Verhalten eines Systems
entscheidend sind, werden sie in der komplexen s-Ebene übersichtlich wie folgt
dargestellt:
• Pole als Kreuze:
• Nullstellen als Kreise:

Im Im

Re Re

University

5. Übertragungsfunktion Seite 164


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.5 Pol-/Nullstellen-Diagramm
Zusammenhang: Pollage → Zeitlösung der zugehörigen DGL (Gewichtsfunktion):

Im

-5 -4 -3 -2 -1 1 2 3 4 Re

-1

-2
1-facher Pol: 2-facher Pol:
-3

University

5. Übertragungsfunktion Seite 165


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.5 Pol-/Nullstellen-Diagramm MATLAB
Berechnung von Nullstellen und Polen:

Suche die Wurzeln eines Polynoms der Ordnung p:

c(1)*s^p + c(2)*s^(p-1) + ... + c(p)*s + c(p+1)


Koeff = [c(1) c(2) ... c(p) c(p+1)]; % Vektor mit Koeffizienten
Wurzeln = roots(Koeff); % Liefert die p Wurzeln des Poly.

ACHTUNG: Nummerierung ist umgedreht zu unserer (bei uns: ai gehört zur Potenz i: aisi).

Multiplikation zweier Polynome:


C_Koeff = [c(1) c(2) ... c(p) c(p+1)]; % Vektor mit Koeffizienten
D_Koeff = [d(1) d(2) ... d(q) d(q+1)]; % Vektor mit Koeffizienten
conv(C_koeff, D_Koeff); % Polynom der Ordnung p+q

conv([3 2 1], [4 5]); % Liefert: [12 23 14 5]

University

5. Übertragungsfunktion Seite 166


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.6 Statische Verstärkung der Übertragungsfunktion
Eingangsignal sei ein Einheitssprung. transient eingeschwungen
y(t) y(∞)
Welcher Wert stellt sich am Ausgang des
u(∞) = 1
Systems nach langer Zeit ein? u(t)

t
Endwertsatz der Laplace-Transformation:

Falls sich das System wirklich auf einen Endwert einpendelt, dann nennen wir diesen die
statische Verstärkung K = y(∞) / u(∞) des Systems. Für rein statische Betrachtungen
können wir dann ein lineares dynamisches System durch seine statische Verstärkung
ersetzen.
ACHTUNG: Es kann vorkommen, dass wir nach obiger Formel einen Endwert berechnen,
in Wirklichkeit das System aber gegen unendlich strebt oder eine Dauerschwingung
ausführt. Deshalb müssen wir zuvor zusätzlich prüfen, ob das System stabil ist, also alle
Komponenten der Zeitlösung einschwingen. Über Stabilität später mehr...

University

5. Übertragungsfunktion Seite 167


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.7 Weitere wichtige Eigenschaften der Übertragungsfunktion
Übertragungsfunktion:

Bislang haben wir angenommen: Nennergrad > Zählergrad, also n > m. Damit ergibt sich für
einen Einheitssprung am Eingang stets ein Anfangswert von G(s→∞) = 0 (Anfangswertsatz).

Was passiert für n = m ?

Was passiert für n < m ?

Was bedeutet das im Zeitbereich?


University

5. Übertragungsfunktion Seite 168


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.7 Weitere wichtige Eigenschaften der Übertragungsfunktion
Fall n = m:
• Impulsantwort enthält einen Dirac-Impuls:

• Sprungantwort springt sofort (bei t = 0) auf den Wert bn/an:


• Ein solches System bezeichnet man als sprungfähig oder als System mit Durchgriff.
• Sprungfähige Systeme gibt es in der Realität nicht, evtl. können sie aber als vereinfachte
Idealisierung verwendet werden. Außerdem können solche Systeme natürlich in
mathematischen Berechnungen vorkommen.

Fall n < m:
• Sprungantwort enthält einen Dirac-Impuls.
• Solche Systeme haben differenzierenden Charakter, d.h. sie erzeugen die (erste bis zu
(m–n)-te) Ableitung des Eingangssignals (Dirac-Impuls ist Ableitung des
Einheitssprungs).
• Differenzierende Systeme gibt es in der Realität nicht. Ein solches System müsste in der
Lage sein, auf einen Sprung mit einem unendlich hohen Dirac-Impuls zu antworten.
University

5. Übertragungsfunktion Seite 169


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.7 Weitere wichtige Eigenschaften der Übertragungsfunktion
Kausalität
Die Totzeit Tt im Faktor darf nicht negativ sein. Ansonsten würden Eingangwerte aus
der Zukunft u(t – Tt) den aktuellen Systemausgang y(t) beeinflussen.

Sprungfähigkeit
Ein lineares System ist sprungfähig bzw. hat Durchgriff (proper), wenn die Zählerordnung
gleich groß wie die Nennerordnung ist, also n = m. Für nicht sprungfähige (strictly proper)
muss der Zählergrad niedriger als der Nennergrad sein, also n > m.

Realisierbarkeit
Ein realisierbares System muss kausal sein, und die Zählerordnung darf nicht größer als die
Nennerordnung sein, es muss also gelten n ≥ m. Für die allermeisten realisierbaren System gilt
sogar n > m.

University

5. Übertragungsfunktion Seite 170


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.8 Wichtige Übertragungsfunktionen im Regelkreis
Regelkreis mit Strecke GS, Messglied GM, Regler GR, Führungsgrößenfilter Gv,
Störgrößendynamik Gdi für die Störung am Prozesseingang, Störgrößendynamik
Gdo für die Störung am Prozessausgang:

Y (s) GR (s)GS (s)Gv (s)


=
W (s) 1 + GR (s)GS (s)GM (s)

University

5. Übertragungsfunktion Seite 171


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.8 Wichtige Übertragungsfunktionen im Regelkreis
Wir stellen fest: Abhängig vom Eingang:
Vorwärtszweig =
Alle Übertragungsfunktionen enthalten den Faktor 8
< Gv (s)GR (s)GS (s) für w
mit Gdi (s)GS (s) für di
:
Gdo (s) für do
Regel zum Erstellen der Übertragungsfunktionen des
geschlossenen Regelkreises:
Vorwärtszweig
Gilt immer:
1 + offener Regelkreis
offener Regelkreis =

Der Faktor Gv (s)

beschreibt den Einfluss der Rückkopplung im Regelkreis oder den Unterschied zwischen
offenem und geschlossenem Regelkreis. Wird die Rückkopplung des Regelkreises aufgetrennt
(wie mit eingezeichnet), so fällt dieser Faktor weg und nur der Vorwärtszweig bleibt
bestehen. S wird Empfindlichkeitsfunktion (sensitivity function) genannt!

University

5. Übertragungsfunktion Seite 172


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.8 Wichtige Übertragungsfunktionen im Regelkreis
Wir stellen auch noch fest:
• Die Störung am Prozesseingang lässt sich in eine äquivalente Störung am Prozessausgang
umrechnen und umgekehrt:

- Störung nur am Eingang:

- Störung nur am Ausgang:

• Der Regler GR(s) beeinflusst die Empfindlichkeitsfunktion S.


• Der Führungsgrößenfilter Gv(s) beeinflusst die Empfindlichkeitsfunktion S nicht,
ebenso wie die Störfilter Gdi(s) und Gdo(s).

→ Um das Regelverhalten in Bezug auf die Störgrößen di, do und das Rauschen n zu be-
einflussen, müssen wir den Regler GR(s) (seine Struktur und/oder Parameter) verändern.
→ Um das Regelverhalten in Bezug auf die Führungsgröße w zu beeinflussen, können wir
sowohl den Regler GR(s) als auch das Fühungsgrößenfilter Gv(s) verändern.
University

5. Übertragungsfunktion Seite 173


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
5.8 Wichtige Übertragungsfunktionen im Regelkreis MATLAB
Berechnung der Übertragungsfunktion rückgekoppelter Systeme:

w y
G1(s)

G2(s)

s = tf('s');
G1 = 1/(s^2+2*s+1);
G2 = 5/(s+5);
Gw = feedback(G1,G2); % Berechnet die Übertragungsfunktion
% von w nach y

University

5. Übertragungsfunktion Seite 174


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6. Frequenzgang und Ortskurve

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 175 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 6
6 Frequenzgang und Ortskurve

6.1 Definition des Frequenzgangs


6.2 Beziehung zwischen Frequenzgang und Ortskurve
6.3 Bode-Diagramm
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
6.5 Konstruktionsregeln für nicht phasenminimale Systeme

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 176


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
Die Übertragungsfunktion G(s) enthält außer den Anfangsbedingungen alle Informationen
über ein lineares dynamisches System. G(s) ist eine Funktion, die die komplexe Variable
s = ! + i" auf einen komplexen Wert abbildet. G(s) kann in Real- und Imaginärteil oder in
Betrag und Phase zerlegt werden:

Zur Visualisierung von G(s) müssen wir also zwei 3-dimensionale Grafiken zeichnen:
• Betrag |G(s)| in Abhängigkeit von ! und ".
• Phase (Winkel) ∠G(s) in Abhängigkeit von ! und ".
Oder alternativ: Real- und Imaginärteil. Das ist aber i.A. weniger anschaulich.
Im{s} = "
G(s)
Es zeigt sich, dass alle Informationen von G(s) auch in G(i")
enthalten sind, d.h. entlang der imaginären Achse (! = 0).
Es ist viel einfacher mit G(i") zu arbeiten, weil es nur von Re{s} = !
einer Größe abhängt, nämlich " ; ! kommt nicht mehr vor. G(i")
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 177


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
40
Der Betrag von 20

|G(s)|dB
-20

ist zur Veranschaulichung dargestellt. -40

Gleiches kann man für die Phase tun. -60


|G(i!)|
-80
An den Polstellen strebt der Betrag gegen
-100
unendlich (= ∞ dB). An den Nullstellen 5
4
gegen Null (= –∞ dB). 0 0
2

Im{s} = ! -2
-5 -4 Re{s} = "

Erstaunlicherweise enthält die Pol bei s = –1+i3


Pol bei s = –1– i3
(lila) Kurve entlang der Im-Achse
|G(i!)|, also für s = 0–i∞ ... 0+i∞ (" = 0), Nullstelle bei s = –2
die selbe Information wie |G(s)|.
Gleiches gilt für die Phasen.
Deshalb können wir in Zukunft mit G(i!) statt mit G(s) arbeiten, wenn uns dies die Arbeit
erleichtert oder anschaulicher macht. Wir benötigen dann nur noch 2-dimensionale Grafiken!
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 178


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
Faktor 2 = 6 dB Faktor 1 = 0 dB
Beispiel: Übertragungsfunktion
6

0
0 1 2 3 4 5

0
-0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8

log 5
6

0
-1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 179


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
Wie kann es sein, dass in G(i!) die gleiche Information steckt wie in G(s)?
• Ähnliche "Merkwürdigkeiten" sind aus der Funktionentheorie reichlich bekannt. Z.B.
kommt es bei der Berechnung von Integralen entlang einer geschlossenen Kurve nicht auf
den genauen Weg an, sondern nur auf die eingeschlossenen Singularitäten.
• Aus der Funktionentheorie (Analysis für komplexe Zahlen) ist bekannt (Prinzip der
analytischen Fortsetzung), dass eine Funktion, definiert auf einem Gebiet (z.B. die
imaginäre Achse), nur eine Fortsetzung in einem anderen Gebiet (z.B. die ganze s-Ebene)
hat, das sich mit dem ersten Gebiet überschneidet.
Dieser Satz erklärt auch, warum es für alle reellen Funktionen eine eindeutige komplexe
Erweiterung gibt. Somit ist durch G(s = i!) auch G(s ≠ i!) eindeutig festgelegt und bietet
damit keine zusätzliche Information.
• Die Laplace-Rücktransformation benötigt auch nur Informationen entlang einer Linie
(parallel zur Im-Achse):

Offensichtlich reicht dies zur kompletten Berechnung des Zeitsignals aus!


University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 180


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
Die Abbildung G(i!) nennt man Frequenzgang eines linearen dynamischen Systems.

Grafische Darstellung des Frequenzgangs:


1. Explizite Funktion der Kreisfrequenz !:
• Amplitudengang: Betrag des Frequenzgangs in Abhängigkeit von !.
• Phasengang: Phase des Frequenzgangs in Abhängigkeit von !.
→ Bode-Diagramm
2. Real- und Imaginärteil des Frequenzgangs in der komplexen Ebene mit der
Kreisfrequenz ! als Parameter.
→ Ortskurve

Beide Darstellungsweisen sind äquivalent. Die zweite eignet sich nicht so gut für
quantitative Analysen, da die genaue Skalierung von ! verloren geht.

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 181


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.1 Definition des Frequenzgangs
Interpretation des Frequenzgangs G(i!)
Anregung mit einem sinusförmigen Eingangsignal:

Nach Einschwingen (Abklingen der homogenen Lösung der DGL) ergibt sich ein
sinusförmiges Ausgangssignal mit der selben Frequenz:

Die Amplitudenverstärkung und die Phasenverschiebung sind frequenzabhängig!


2

u(t)
Frequenzgang: 1
A = 1,7
0

-1
y(t)
" = –60°
-2
0 2 4 6 8 10
Zeit t

Berechnen oder messen wir A(!) für alle Werte von ! und tragen sie in ein Diagramm ein,
so ergibt sich der Amplitudengang. Tun wir dies für "(!), so ergibt sich der Phasengang.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 182


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.2 Beziehung zwischen Frequenzgang und Ortskurve
Beispiel: Bode-Diagramm und Ortskurve

Bode Diagram Nyquist Diagram


0 1

1 2 3 0.8
Magnitude (dB)

-50
0.6

0.4
-100
4

Imaginary Axis
0.2

0
3 4 1
-150
0
-0.2
1
2 -0.4
-90
2
Phase (deg)

-0.6
-180 3
-0.8
4 -1
-270 -1 -0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1
-2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10 Real Axis
Frequency (rad/sec)

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 183


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.2 Beziehung zwischen Frequenzgang und OrtskurveMATLAB
Zeichnen eines Bode-Diagramms:

s=tf('s');
G = (s+3)/(5*s^3+3*s^2+2*s+1);
bode(G); % Zeichnet Bode-Diagramm von G
oder
[Betrag , Phase, Omega] = bode(G); % Liefert Zahlenwerte; Skalierung
% der Frequenzachse automatisch

Zeichnen einer Ortskurve:

nyquist(G); % Zeichnet Ortskurve von G


% Plot für
oder
[Realteil, Imaginaerteil, Omega] = nyquist(G); % s.o.

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 184


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1

6.3 Bode-Diagramm 0.5

0 0

log(x)
Eigenschaften des Bode-Diagramms: -0.5

• Amplitude und Phase des Frequenzgangs werden in zwei -1

Diagrammen über der Kreisfrequenz ! = 2"f abgetragen. -1.5

Die Diagramme nennt man Amplitudengang bzw. Phasengang. 1


-2
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5

x
• Kreisfrequenz wird logarithmisch skaliert (... 0,01 – 0,1 – 1 – 10 – 100 ...), um einen
großen Frequenzbereich übersichtlich darstellen zu können. D.h. ! = 0 rad/s liegt
unendlich weit "links" im Diagramm und ! = ∞ rad/s liegt unendlich weit "rechts".
• Phase wird linear skaliert und typischerweise in der Einheit "Grad" angegeben.
• Amplitude wird logarithmisch skaliert, um einen großen Amplitudenbereich
übersichtlich darstellen zu können. D.h. Amplitude 0 liegt unendlich weit "unten" und
Amplitude ∞ liegt unendlich weit "oben". Die Amplitude wird in Dezibel angegeben:

Faktor 10: 20 dB
Faktor 2 : 6 dB
Faktor : 3 dB
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 185


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Doppelt logarithmische Darstellung
• Alle Potenzgesetze ! n lassen sich als Geraden darstellen.
• Die Höhe der Potenz n entspricht der Steigung der Geraden.
• Zähler der Übertragungsfunktion = positive Potenzen = Anstieg
• Nenner der Übertragungsfunktion = negative Potenzen = Abfall
3
1000000 = 106 1000 = 10
100000 = 105 3 100 = 102
!
10000 = 10 4 10 = 101
3 !2 0 !0
1000 = 10 1 = 10
-1
100 = 102 ! 1 0.1 = 10 ! −1
-2
10 = 101 0.01 = 10
0 !0 -3 ! −2
1 = 10 0.001 = 10
-4
0.1 = 10-1 0.0001 = 10 ! −3
0.01 = 10-2 0.00001 = 10-5
0.001 = 10
-3
0.000001 = 10-6 -1
0 1 2
10-1 100 101 102 10 10 10 10
! !
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 186


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Logarithmische Skalierung der Amplituden:
• Multiplikation von Übertragungsfunktionen entspricht Addition der Amplitudengänge

Lineare Skalierung der Phasen:


• Multiplikation von Übertragungsfunktionen entspricht Addition der Phasengänge

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 187


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Beispiel:

Bode Diagram
100

3
50 1
Magnitude (dB)

0 2

-50

-100
Kurve 3 =
0 Kurve 1
2 + Kurve 2
-90
1
Phase (deg)

-180 3

-270
-2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 188


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Beispiel:

Zerlegung in Real- und Imaginärteil (für Ortskurve):

Zerlegung in Betrag und Phase (für Bode-Diagramm):

Im
Trick: Vorzeichen für Imaginär- und Realteil getrennt 1
verwalten! Daraus ergibt sich der richtige Quadrant. Re

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 189


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Asymptoten für Betrag Asymptoten für Phase

Bode Diagram Nyquist Diagram


10 1
K 3 dB
0 0.8
Magnitude (dB)

– 20 dB / 0.6
-10
Dekade 0.4

-20

Imaginary Axis
0.2

-30 0
K
0 –45°
-0.2
Phase (deg)

-0.4

-45
-0.6

-0.8

-90 -1
1/T
-1 0 1 2
10 10 10 10 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2
Frequency (rad/sec) Real Axis

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 190


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Produkt-Standardform einer Übertragungsfunktion:

Hier tauchen die Pole und Nullstellen explizit auf. Alternativ kann man auch folgende
Schreibweise mit Zeitkonstanten wählen:

Die Pole und Nullstellen lassen sich leicht in die Zeitkonstanten umrechnen:

Der Vorteil der Zeitkonstanten-Darstellung ist, dass die Verstärkung K des Systems
unabhängig von den anderen Systemparametern wird, während sich k ändern muss, um die
Systemverstärkung konstant zu halten, wenn sich ein Pol oder eine Nullstelle verändert:

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 191


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Produkt-Standardform einer Übertragungsfunktion in Zeitkonstanten-Darstellung:

Logarithmus des Betrags der Übertragungsfunktion:

Phase der Übertragungsfunktion:

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 192


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Weit "links" von einer Nullstelle n gilt :

Weit "rechts" von einer Nullstelle n gilt :

90°
45°

3 dB 0°
3 |n| = 1/ |Tn| log !
0
Eckfrequenz Eckfrequenz
|n| = 1/ |Tn| log ! –90°
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 193


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Einfluss eines Pols ist invers zum
6.3 Bode-Diagramm Einfluss einer Nullstelle!

Weit "links" von einem Pol p gilt :

Weit "rechts" von einem Pol p gilt :

3 dB 90°
0
–3 Eckfrequenz
|p| = 1/ |Tp|

log !
–45°
Eckfrequenz
|p| = 1/ |Tp| log ! –90°
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 194


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.3 Bode-Diagramm
Behandlung von konjugiert komplexen Nullstellen und Polen:
1. Konjugiert komplexer Pol bzw. Nullstelle werden in folgende Form gebracht:

2. Für Zeichnung der Asymptoten: Behandlung wie bei einem reellen zweifachen Pol bzw.
Nullstelle bei p = –!0. D.h. die Asymptoten sind die selben wie für den Ausdruck:

3. Für den exakten Verlauf des Amplitudengangs ist aber der Wert der Dämpfung D von
entscheidender Bedeutung. Für Dämpfungen weist der Amplitudengang eine
Resonanzstelle (Überhöhung) auf. Für größere Dämpfungen nicht. Für Werte
D > 1 ergeben sich gar keine konjugiert komplexen Pole bzw. Nullstellen sondern reelle.

Weitere Details zu solchen Systemen 2. Ordnung werden in Kap. 7 behandelt...

University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 195


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Annahmen (zur Vereinfachung):
• Alle Pole liegen in der linken komplexen Halbebene (haben negativen Realteil).
• Alle Nullstellen liegen in der linken komplexen Halbebene (haben negativen Realteil).
• Keine Totzeit, also Tt = 0 s.
Bemerkung: Die beiden ersten Annahmen implizieren, dass keine Pole und Nullstellen bei
s = 0 liegen. Dadurch wird das Problem vereinfacht. Das ist aber nicht notwendig, um
Phasenminimalität sicher zu stellen. Wir betrachten diese Fälle etwas später...

Anmerkungen zur Notation:


• Wir wissen bereits: Pole in der linken s-Halbebene führen auf stabiles Verhalten
(abklingende e-Funktionen in der Zeitlösung), Pole in der rechten s-Halbebene führen auf
instabiles Verhalten (aufklingende e-Funktionen in der Zeitlösung). Deshalb spricht man
verkürzt oft auch von stabilen und instabilen Polen. Obwohl Nullstellen keine
Auswirkungen auf die Stabilität haben spricht man analog auch von stabilen und
instabilen Nullstellen. Im Englischen ist zusätzlich auch die Bezeichnung minimum-
phase und nonminimum-phase zeros geläufig.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 196


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Konstruktion der Asymptoten des Amplitudengangs im Bode-Diagramm:
1. Schreibe Übertragungsfunktion in Produkt-Standardform.
2. Ordne Pole und Nullstellen in betragsmäßig aufsteigender Reihenfolge.
3. Zeichne eine Gerade der Steigung 0 mit Amplitude K für ! = 0 (–∞ auf logarithmisch
skalierter Achse) bis ! = Kreisfrequenz des betragsmäßig kleinsten Pols bzw. Nullstelle.
4. Zeichne ausgehend vom rechten Ende der vorherigen Geraden eine neue Gerade bis
! = Kreisfrequenz des betragsmäßig nächsten Pols bzw. Nullstelle. Die Steigung dieser
neuen Geraden ist gleich der Steigung der vorherigen Geraden –20 dB / Dekade für
einfache Pole, –40 dB / Dekade für zweifache Pole, ... und +20 dB / Dekade für
einfache Nullstellen, +40 dB / Dekade für zweifache Nullstellen, ...
5. Gehe zu Schritt 4 bis der betragsmäßig größte Pol bzw. Nullstelle erreicht ist. Die sich
daran anschließende letzte Gerade wird ebenfalls nach Schritt 4 konstruiert, nur dass sie
bis ! = +∞ fortgeführt wird.

Bemerkung: Konjugiert komplexe Pol- bzw. Nullstellenpaare werden als zweifache Pol-
bzw. Nullstelle bei !0 gezählt.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 197


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Konstruktion der Asymptoten des Phasengangs im Bode-Diagramm:
• Die Einteilung entlang der Frequenzachse ist identisch mit dem Amplitudengang.
• Die Asymptoten sind Geraden mit Steigung 0.
• Das "Runterklappen" der Asymptoten um 20 dB / Dekade des Amplitudengangs bei
Polen entspricht einer Verschiebung der Phasengang-Asymptote um –90°, das
"Hochklappen" der Asymptoten um 20 dB / Dekade des Amplitudengangs bei
Nullstellen entspricht einer Verschiebung der Phasengang-Asymptote um +90°.
• D.h. zur Asymptote des Amplitudengangs mit n·20 dB / Dekade Steigung gehört eine
Asymptote des Phasengangs mit n·90° Phase (n = ..., –2, –1, 0, 1, 2, ...)! Die Phase lässt
sich also direkt aus der Amplitude berechnen (oder umgekehrt).

Zur Bezeichnung "phasenminimal":


Phasenminimale Systeme haben von allen Systemen mit gleichem Amplitudengang die
minimale Phase. Ein lineares System ist phasenminimal, wenn seine Pole und Nullstellen in
der linken s-Halbebene liegen und es keine Totzeit aufweist. Weil sie den kleinstmöglichen
Phasenverzug aufweisen, lassen sich phasenminimale Systeme leichter und besser regeln als
nicht phasenminimale gleicher Komplexität.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 198


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Beispiel:

Verstärkung:

Betragsmäßiges Sortieren der Pole und Nullstellen von unten nach oben:
Pol p1 = –0.3, Nullstelle n1 = –10, Nullstelle n2 = –20, Doppelpol p2/3 = –40.
Bode Diagram
0
K = –6 dB
-10
+20 dB /
Magnitude (dB)

-20
–20 dB / Dekade
-30 Dekade
-40 –20 dB /
Dekade
-50

-60
-2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10
|p1 | |n1 | |n2 | |p2/3 | Frequency (rad/sec)
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 199


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Bode Diagram
0
K = –6 dB
-10
+20 dB /
Magnitude (dB) -20
–20 dB / Dekade
-30 Dekade
-40 –20 dB /
Dekade
-50

-60
-2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10
|p1 | |n1 | |n2 | |p2/3 | Frequency (rad/sec)
90

45
Phase (deg)

-45

-90
-2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10
|p1 | |n1 | |n2 | |p2/3 |
Frequency (rad/sec)
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 200


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Behandlung von Nullstellen und Polen bei 0 (Faktoren s im Zähler oder Nenner):
• Es gilt immer der Fall weit "rechts" von der Nullstelle (n = 0) bzw. dem Pol (p = 0).
• Pro Nullstelle bei n = 0 gilt daher:

• Pro Pol bei p = 0 gilt daher:

• ACHTUNG: Diese Werte gelten exakt, nicht nur asymptotisch!

1/s s s
90°

0

log !

1/s
1 rad/sec log ! –90°
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 201


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Anmerkungen zu Nullstellen und Polen bei 0:
• Nullstelle bei 0 ist ein Differenzierglied:
1. Hebt Phase um 90° an.
2. Hebt Amplitude proportional zur Frequenz an.
• Pol bei 0 ist ein Integrierglied:
1. Senkt Phase um 90° ab.
2. Senkt Amplitude proportional zur Frequenz ab.

Vertikale Ausrichtung des Amplitudengangs:


• Nullstelle bei 0: An der Stelle ! = 1 rad/sec hat die Amplitude den Wert 1 = 0 dB.
• Pol bei 0: An der Stelle ! = 1 rad/sec hat die Amplitude den Wert 1/! = 1 = 0 dB.
• Für das Gesamtsystem hat die Amplitude an der Stelle ! = 1 rad/sec somit den Wert K.
• Liegen links von ! = 1 rad/sec weitere Nullstellen oder Pole, so muss die Gerade in
Gedanken verlängert werden und diese Verlängerung bei ! = 1 rad/sec durch den Wert K
verlaufen.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 202


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Differentiation Integration

Sinus-Anregung:
Eingeschwungene Antwort:

• Verstärkung hoher Frequenzen • Verstärkung niedriger Frequenzen


proportional zu ! anti-proportional zu !
• Phase eilt um 90° vor • Phase eilt um 90° nach
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 203


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.4 Konstruktionsregeln für phasenminimale Systeme
Beispiel: Zur Berechnung der Verstärkung K werden
Nullstellen und Pole bei s = 0 ignoriert und
dann s → 0 eingesetzt!
Verstärkung:
Bode Diagram
50

Pol p1 = –0.1 Verlängerung der


–10.5
0 Amplitude von 1/s
Pol p2 = –3

Magnitude (dB)
-50 –20 dB /
Dekade –40 dB /
-100 Dekade –60 dB /
-150
Dekade
-90

-135
Phase (deg)

-180

-225

-270 -2 -1 1 2
10 10
|p1| 100 |p2|
10 10
Frequency (rad/sec)
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 204


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.5 Konstruktionsregeln für nicht phasenminimale Systeme
Erweiterung auf stabile, nicht phasenminimale Systeme:
• Nullstellen können in der rechten s-Halbebene liegen.
• Es können Totzeiten vorkommen.
• Pole dürfen weiterhin nicht in der rechten s-Halbebene liegen, weil wir für instabile
Systeme keinen Frequenzgang messen können. (Mathematisch können wir ihn natürlich
dennoch ausrechnen, damit wollen wir uns hier aber nicht beschäftigen.)

Änderungen für Amplitudengang:


• Die selbe Konstruktion wie für phasenminimale Systeme.
• Totzeit spielt auch keine Rolle, da .

Änderungen für Phasengang:


• Konstruktion des Phasenanteils für Nullstellen und Pole in der linken s-Halbebene bleibt.
• Phase für Nullstellen in der rechten s-Halbebene: ,
für , da nun .
• Eine Totzeit ruft folgende Phasenänderung hervor: .
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 205


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
6.5 Konstruktionsregeln für nicht phasenminimale Systeme
Konsequenzen für die Regelung:
• Eine Nullstelle in der rechten s-Halbebene erzeugt eine Phasenverzögerung um bis zu
90°, im Gegensatz dazu eilt die Phase bei einer Nullstelle in der linken s-Halbebene um
bis zu 90° vor. Daher wirkt eine stabile Nullstelle im allgemeinen stabilisierend auf einen
Regelkreis; eine instabile Nullstelle wird destabilisierend und erschwert die Regelung.
• Eine Totzeit bewirkt eine Phasenverzögerung, die linear mit der Frequenz anwächst. (Im
Phasengang sieht dies aber durch die logarithmische Darstellung der Frequenz wie ein
exponentieller Zusammenhang aus.) Daher wirkt eine Totzeit destabilisierend; und zwar
umso stärker, je größer die Totzeit ist. Da die Phasenverschiebung mit zunehmender
Frequenz ansteigt, ist die maximal mögliche Schnelligkeit der Regelung beschränkt.

System ohne Phasenverzerrung (Null-Phase):


Systeme, die (in Bezug auf die Im-Achse) spiegelbildliche Nullstellen aufweisen, erzeugen
keine Phasenverschiebung. Dies kann man bei der Steuerung ausnutzen, wenn man einem
Referenzsignal mit möglichst geringem Phasenfehler folgen möchte (zero phase error
tracking controller). Beispiel: Nullstellen bei s = –a und s = a:
→ rein reell, Phase = 0.
University

6. Frequenzgang und Ortskurve Seite 206


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7. Wichtige dynamische Systeme

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 207 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 7
7 Wichtige dynamische Systeme

7.1 Bezeichnung linearer dynamischer Systeme


7.2 Proportionales Verhalten
7.3 Differenzierendes Verhalten
7.4 Integrierendes Verhalten
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
7.6 Totzeiten

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 208


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.1 Bezeichnung linearer dynamischer Systeme
Vorgehensweise:
1. Schreibe Übertragungsfunktion in Produkt-Standardform.
2. Kürze evtl. vorhandene Nullstellen-Pol-Kombinationen.
3. Multipliziere Zähler aus.
4. Dividiere Zählerterme durch evtl. im Nenner vorhandenen Faktor sk.
5. Gibt es im Zähler einen konstanten Term? Wenn ja → P (Proportionales Verhalten).
6. Suche Zählerterm mit der höchsten Potenz k. → Ik (k-fach integrierendes Verhalten).
7. Suche Zählerterm mit der höchsten Potenz l. → Dl (l-fach differenzierendes Verhalten).
8. Bezeichne die Nennerordnung (ohne sk) mit n. → Tn (n-fach verzögerndes Verhalten).
9. Gibt es eine Totzeit? Wenn ja → Tt.
10. Das System wird so bezeichnet (wenn k, l, n = 0, fällt der entsprechende Teil weg):

PIkDlTn-Tt

Beispiele: PID, PT2, PDT1, IT1, PI, DT2, PT3-Tt, ...


University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 209


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.1 Bezeichnung linearer dynamischer Systeme
Prinzipielle Benennung: Übliche Schreibweise:

• P:

• PT1:

• D:

• I:

• PD:

• PDT1:

• PI:

• PID:
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 210


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.1 Bezeichnung linearer dynamischer Systeme
Beispiel 1:

1. Produkt-Standardform:

2. Kürzen:
P I

4. Dividiere Zähler durch s: → PIT2

T2

Beispiel 2:

4. Dividiere Zähler durch s: → PID

I P D
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 211


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
K
7.2 Proportionales Verhalten
Reines P-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Einfache Regler haben P-Verhalten.
• Nur ein Parameter: Verstärkung K.
• Linearisierung einer statischen Kennlinie führt auf P-Verhalten (K = Steigung im AP).

Physikalische Realisierungen:
Spannungsteiler Hebel Feder

a b
c u=F
R1
u = ue
y=x
R2 y = ua u = xe y = xa

Für kleine Auslenkungen:

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 212


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Sprungantwort eines P-Glieds Bode-Diagramm eines P-Glieds
10
K 20 log K
5

Magnitude (dB)
0
0 t
-5

-10
90

Ortskurve eines P-Glieds 45

Phase (deg)
Im 0

-45

-90 -2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10

K Re Frequency (rad/sec)

• Kein Abfall des Betrags.


• Keine Phasenverschiebung.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 213


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
K T
7.2 Proportionales Verhalten
Proportional verzögerndes Verhalten 1. Ordnung (PT1):
• Übertragungsfunktion:
• Viele einfache Regelstrecken haben ein solches Verhalten bzw. lassen sich
näherungsweise damit beschreiben.
• Parameter: Verstärkung K, Zeitkonstante T (~ Langsamkeit des Systems).

Physikalische Realisierungen:
Widerstand-Kondensator-Schaltung Feder-Dämpfer-Element Thermisches System
R
d c u = !e y = !a

u = ue(t) C y = ua(t)
y = xa u = xe Spez. Wärmekapazität: c
Masse: m
Wärmewiderstand: W

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 214


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Sprungantwort eines PT1-Glieds Bode-Diagramm eines PT1-Glieds
5
20 log K
K 0

0.95K

Magnitude (dB)
-5

-10

0 T 3T = T95 t -15

-20

-25
0

Phase (deg)
Ortskurve eines PT1-Glieds -45

Im
-90
-2 -1 0 1
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

K
Re

• Abfall des Betrags: 0 bis –20 dB/Dekade.


–K/2
• Phasenverschiebung: 0° bis –90°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 215


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Proportional verzögerndes Verhalten 2. Ordnung (PT2):
• Übertragungsfunktion:
q p
s1,2 = −D!0 ± D2 !02 − !02 = −D!0 ± !0 D2 − 1
• Für Dämpfungen D ≥ 1 ergeben sich reelle Pole (bei D = 1 ein reeller Doppelpol) und
die Übertragungsfunktion lässt sich auch schreiben als:

• 2 Parameter: Zeitkonstanten T1 und T2 bzw. Dämpfung D und Eckfrequenz !0.


• Für D ≥ 1 kann (muss nicht) das PT2 aus der Hintereinanderschaltung zweier PT1-
Systeme entstanden sein:

PT2 = PT1 PT1

• Für D < 1 hat das PT2 ein konjugiert komplexes Polpaar und ist damit schwingungsfähig.
Ein solches Verhalten gibt es bei Systemen 1. Ordnung nicht!
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 216


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
K D, !0
7.2 Proportionales Verhalten
Physikalische Realisierungen eines PT2-Verhaltens:

Elektrischer Schwingkreis Mechanischer Schwinger


c
R L m
I(t)

u = ue(t) C y = ua(t)
d y = x(t) u = F(t)

Wenn R oder d groß sind, ist das System nicht mehr schwingungsfähig!
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 217


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Sprungantwort eines PT2-Glieds Bode-Diagramm eines PT2-Glieds
Überhöhung für
Überschwingen für D < 1 20 log K
K 0

Magnitude (dB)
Schwingt mit
-20
0 t

-40
0
Ortskurve eines PT2-Glieds
-45

Phase (deg)
Im
-90

-135

K
-180 -1
Re
0 1 2
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

• Abfall des Betrags: 0 bis –40 dB/Dekade.


–K/2D • Phasenverschiebung: 0° bis –180°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 218


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Verschiedene Dämpfungen

D = 1/16
D = 1/8
D = 1/4
D = 1/2
Amplitude [dB]

D=1

Kreisfrequenz [rad/sec]
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 219


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Resonanzkatastrophe: Beispiel Tacoma Bridge, 1940

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 220


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Bei welcher Kreisfrequenz und Dämpfung ist der Amplitudengang überhöht?

unabhängig von !

Suche Maximum (identisch für |G(i!)| und |G(i!)|2):

Amplitude am Maximum:

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 221


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Amplitude am Maximum...:

Überhöhung bei welcher Dämpfung D?

Achtung: Folgende Frequenzen sind unterschiedlich groß (!m ≤ !e ≤ !0):


• Eckfrequenz !0: Real- und Imaginärteil des Frequenzgangs sind gleich groß.
• Resonanzfrequenz !m: Maximale Überhöhung im Amplitudengang.
• Eigenfrequenz !e: Frequenz der Schwingung in der Sprungantwort o.ä.
Bei Dämpfung D = 0 fallen alle Werte wieder zusammen.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 222


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Proportional verzögerndes Verhalten n. Ordnung (PTn):
• Entsteht durch Hintereinanderschaltung von PT1- und/oder PT2-Gliedern.
• Abfall des Amplitudengangs: 0 bis –n·20 dB / Dekade.
• Phasenverzögerung: 0° bis –n·90°.
• Ortskurve geht durch n Quadranten.
• Anteile mit sehr hohen Eckfrequenzen (bzw. sehr kurzen Zeitkonstanten) im Vergleich
zu den anderen Anteilen, können oft vernachlässigt werden, um das Modell zu
vereinfachen → Ordnungsreduktion.
• Bei einer Parallelschaltung mehrerer Verzögerungselemente entstehen (wie bei der
Hintereinanderschaltung) Systeme mit verzögertem Verhalten höherer Ordnung,
allerdings ergibt sich auch eine Dynamik im Zähler (Nullstellen) der
Übertragungsfunktion. Beispiel:

Diese Systeme werden im Abschnitt "Differenzierendes Verhalten" behandelt.


University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 223


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.2 Proportionales Verhalten
Beispiel:
Step Response

G1
G2
0.8
Amplitude

0.6 G10

0.4

0.2

0
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Time (sec)
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 224


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
TD
7.3 Differenzierendes Verhalten
Ideales D-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Dieses Verhalten ist nicht realisierbar.
• Nur ein Parameter: Differenzierbeiwert oder -zeit oder Vorhaltezeit TD.

Physikalische Realisierungen:
Kondensator Dämpfer

y=i d
y=F
u=U C
u=x

ACHTUNG: In Realität gibt es keine "reine" Kapazität ohne ohmschen Widerstandsanteil


bzw. keinen "reinen" Dämpfer ohne federndes (kraftproportionales) Verhalten. Deshalb ist ein
idealer Differenzierer nicht realisierbar.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 225


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
Sprungantwort eines D-Glieds Bode-Diagramm eines D-Glieds
5

TD 20 log TD 0

Magnitude (dB)
-5

-10

0 t -15

-20

-25
180

Phase (deg)
Ortskurve eines D-Glieds 90

Im
0
-2 -1 0 1
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

Re

• Anstieg des Betrags: +20 dB/Dekade.


• Phasenverschiebung: +90°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 226


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
TD T
7.3 Differenzierendes Verhalten
DT1-Verhalten (reales D-Verhalten):
• Übertragungsfunktion:
• Dieses Verhalten ist (im Gegensatz zu idealem D-Verhalten) realisierbar.
• Zwei Parameter: Differenzierbeiwert oder -zeit oder Vorhaltezeit TD und Zeitkonstante T.
• Für T → 0 nähert sich das Verhalten idealem D-Verhalten an.

Physikalische Realisierungen:
Kondensator mit ohmschem Widerstandsanteil Dämpfer mit Federanteil

y=I d
c y=F
C
u=U u=x
R

Für R → 0 bzw. c → ∞ ergibt sich wieder ideal differenzierendes Verhalten!


University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 227


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
Sprungantwort eines DT1-Glieds Bode-Diagramm eines DT1-Glieds
30

20

Magnitude (dB)
10
≈ 20 log TD
0
0 T t
-10

-20

-30
90

Ortskurve eines DT1-Glieds

Phase (deg)
Im 45

0
-1 0 1 2 3
10 10 10 10 10
Re Frequency (rad/sec)

• Anstieg des Betrags: +20 bis 0 dB/Dekade.


• Phasenverschiebung: +90° bis 0°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 228


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
PDT1-Systeme können durch Parallelschaltung von P- und DT1-Gliedern entstehen:

K TD, T

Oder durch Reihenschaltung idealer PD- mit PT1-Gliedern:

Es können 3 Fälle unterschieden werden:


1. TD > T: Pol –1/T liegt links von der Nullstelle –1/TD → Lead-Glied (realer PD-Regler).
2. 0 < TD < T: Pol liegt rechts von der Nullstelle → Lag-Glied.
3. TD < 0: Nullstelle ist positiv (instabil) → nicht phasenminimales Verhalten.
Im

2 1 3 Fälle 1, 2 werden im Frequenzbereich in Kapitel 14.1 diskutiert.


Re Fall 3 wird auch in Kapitel 7.5 diskutiert.

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 229


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
Sprungantwort PDT1-Glied mit dominanter Nullstelle (TD > T) (realer PD-Regler):

0 t
Sprungantwort PDT1-Glied mit dominantem Pol (0 <TD < T):

Für TD = T kürzt sich Zähler gegen


Nenner und es ergibt sich ein
P-Glied G(s) = K.
0 t
Sprungantwort PDT1-Glied mit positiver Nullstelle (TD < 0) (nicht phasenminimal):

Gegenläufige Anfangsreaktionen
0 gibt es nur bei nicht
t
phasenminimalem Verhalten!

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 230


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
1. Lead-Glied mit TD = 10 sec und T = 1 sec 2. Lag-Glied mit TD = 1 sec und T = 10 sec
20 0

15 -5

Magnitude (dB)
Magnitude (dB)

10 -10

5 -15

0 -20
90 0
Phase (deg)

Phase (deg)
60 -30

30 -60

0 -90 -3
-3 -2 -1 0 1 2 -2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec) Frequency (rad/sec)

• Phasenanhebung im Bereich mittlerer • Amplitudenanhebung (zusammen mit


Frequenzen (Amplitudendurchtritts- vergrößertem Verstärkungsfaktor) bei
frequenz ). niedrigen Frequenzen .
• Wirkt dadurch stabilisierend ähnlich wie • Erhöht dadurch die stationäre Genauig-
ein D-Glied, hat aber geringer Rausch- keit ähnlich wie ein I-Glied, hat aber
verstärkung bei hohen Frequenzen. nicht dessen destabilisierende Wirkung.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 231


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.3 Differenzierendes Verhalten
Einfluss von Nullstellen auf die Systemdynamik:
• Die Exponenten der e-Funktionen und die Frequenzen in den sin- und cos-Funktionen der
Zeitlösung werden ausschließlich von den Polen bestimmt.
• Daher sind nur die Pole für Stabilität ausschlaggebend.
• Die Nullstellen beeinflussen aber entscheidend die Vorfaktoren vor den e-, sin- und cos-
Funktionen und bestimmen daher mit, welches dynamische Verhalten sich wie stark
auswirkt.
• Nullstellen filtern (blockieren) bestimmte Dynamiken im Eingangssignal heraus:
1. Nullstellen bei s = ±i!0 vernichten alle Signalkomponenten mit Frequenz !0.
2. Nullstellen bei s = 0 vernichten den Gleichanteil (entspricht Frequenz !0 = 0).
3. Nullstellen bei s = –a vernichten Anregungssignale der Form exp(–at).
• Positive (instabile) Nullstellen können dem Eingangssignal gegenläufige Anfangs-
reaktionen erzeugen. Beispiel: Anfangswert der Sprungantwort (Nullstelle bei s = +1/4):

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 232


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
TI
7.4 Integrierendes Verhalten
Reines I-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Nur ein Parameter: Integrierzeit oder Nachstellzeit TI bzw.
bzw. Integrierbeiwert KI. KI

• Häufig in Regelstrecken vorhanden:


Beschleunigung → Drehzahl, Drehzahl → Position.
• Häufig in Reglern enthalten zur Vermeidung bleibender
Regelabweichungen (dazu später mehr...).
• Grenzstabiles Verhalten.

Physikalische Realisierungen:
Kondensator Dämpfer Tank
u=!
u=I d
u=F
y=U C
y=x y=x

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 233


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.4 Integrierendes Verhalten
Sprungantwort eines I-Glieds Bode-Diagramm eines I-Glieds
30

1 20

Magnitude (dB)
10
–20 log TI
0
0 TI t
-10

-20

-30
0

Ortskurve eines I-Glieds

Phase (deg)
Im -90

-180
-1 0 1 2 3
10 10 10 10 10
Re Frequency (rad/sec)

• Abfall des Betrags: –20 dB/Dekade.


• Phasenverschiebung: –90°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 234


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
K TI
7.4 Integrierendes Verhalten
PI-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Zwei Parameter: Verstärkung K und Integrierzeit oder Nachstellzeit TI.
• Wird häufig als Regler eingesetzt.
• Pol bei s = 0, Nullstelle bei s = –1/TI.

Physikalische Realisierungen:
Siehe Kapitel 10 über Regler.

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 235


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.4 Integrierendes Verhalten
Sprungantwort eines PI-Glieds Bode-Diagramm eines PI-Glieds
30
2K
25

Magnitude (dB)
20

15 ≈ 20 log K
0 TI t
10

0
0

Ortskurve eines PI-Glieds

Phase (deg)
Im -45

-90 -1 0 1 2
10 10 10 10
Re Frequency (rad/sec)

• Abfall des Betrags: –20 bis 0 dB/Dekade.


• Phasenverschiebung: –90° bis 0°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 236


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
K T TI
7.4 Integrierendes Verhalten
IT1-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Reihenschaltung aus I- und PT1-Glied.
• Kommt häufig als Regelstrecke vor.
• Pole bei s = 0 und s = –1/T.

Physikalische Realisierungen:
Gleichstrommotor zur Positionsregelung des Tisches einer Werkzeugmaschine:
• Eingang: El. Spannung U des Motors. Ausgang: Position der Welle ! / des Tisches.
• Elektrisches System viel schneller als mechanisches. → Vernachlässigung der Dynamik.

Mechanisches System (Spannung → Drehzahl): (PT1-Verhalten)

Drehzahl → Winkel/Position: (I-Verhalten)

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 237


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.4 Integrierendes Verhalten
Sprungantwort eines IT1-Glieds Bode-Diagramm eines IT1-Glieds
30

20

Magnitude (dB)
10

0
0 t
-10

-20

-30
-90

Ortskurve eines IT1-Glieds

Phase (deg)
Im -135

-180
-2 -1 0
10 10 10
Re Frequency (rad/sec)

• Abfall des Betrags: –20 bis –40 dB/Dekade.


• Phasenverschiebung: –90° bis –180°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 238


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Phasenminimale Systeme:
• Weisen zu gegebenem Amplitudengang die minimale Phase auf.
• Es gibt eine 1:1-Beziehung zwischen Amplitudengang und Phasengang
• ACHTUNG: Bei Abtastung (digitale Regelung) kann Phasenminimalität verloren gehen!

Nichtphasenminimale Systeme:
• Haben mindestens eine (instabile) Nullstelle mit positivem Realteil oder eine Totzeit.
• Ihre Inverse ist instabil. Das macht das Steuern und Regeln sehr viel schwieriger als für
phasenminimale Systeme.
• Ihre Reaktion auf Änderungen des Eingangssignals sind oft gegenläufig, d.h. wenn das
Eingangssignal ansteigt, fällt der Systemausgang kurzzeitig ab um dann doch wieder
anzusteigen (im Unterschied zu Systemen mit negativer Verstärkung!). Dieses Verhalten
lässt sich z.B. für die Sprungantwort eines Systems mit einer instabilen Nullstelle
(Tni < 0) und Zählergrad = Nennergrad (n = m) leicht zeigen:
<0

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 239


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Unterschwingen der Sprungantwort nicht phasenminimaler Systeme:
Für ein nicht phasenminimales System mit Verstärkung 1 und einer instabilen Nullstelle bei
s = a > 0 gilt für die Unterschwingweite der Sprungantwort:

Die e-Funktion nähert sich dem Wert 1, wenn a → 0. Dann geht der Nenner gegen 0 und
damit muss Mu sehr groß werden. Außerdem existiert ein Zielkonflikt zwischen
Einschwinggeschwindigkeit und Unterschwingweite. Will man ein schnelles Einschwingen
erreichen, muss man ein großes Unterschwingen in Kauf nehmen!

1 ±
!
Einschwingzeit (Zeit bis das Signal im Band 1±! bleibt): ts
0
Mu t Unterschwingweite: Mu
ts
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 240


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Allpässe: Nicht phasenminimale Systeme ohne Totzeit deren Amplitudengang konstant 1 ist.
• Übertragungsfunktion eines Allpasses n. Ordnung:

• Zählergrad = Nennergrad.
• Die Nullstellen entsprechen den an der Imaginärachse gespiegelten Polen.
• Alle Pole sind stabil. → Alle Nullstellen sind instabil.
• Für Allpass n. Ordnung: Phasenverschiebung wächst schnelle Wirkungskette
von 0° auf –n·180°.

Beispiel: Allpass 1. Ordnung:

langsame Wirkungskette

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 241


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Beispiel: Nicht phasenminimales System: Leistungsregelung bei Wasserkraftwerken
Eingangsgröße: Ventilstellung u(t) zur Einstellung der Wassermenge
Ausgangsgröße: Elektrische Leistung des Generators p(t) Ventilstellung: u(t)

Stationär gilt:
p0 = K u0

Generatorleistung: p(t)

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 242


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Beispiel: Nicht phasenminimales System: Leistungsregelung bei Wasserkraftwerken
• Langfristig (langsame Wirkungskette) folgt die Generatorleistung p(t) proportional der
durch das Ventil u(t) eingestellten Wassermenge.
• Kurzfristig (schnelle Wirkungskette) sinkt die Generatorleistung aber beim Öffnen des
Ventils, da sich die Fließgeschwindigkeit reduziert (Impuls muss erhalten bleiben!).

Leistung:
Antwort auf sprungförmiges
Kurzfristige Reaktion nach Öffnen des Ventils: Öffnen des Ventils u(t)

• Massenstrom steigt proportional an:


• Fließgeschwindigkeit nimmt um den
selben Faktor ab (Impulserhaltung!):
→ Leistung bricht kurzfristig ein:

Leistung bricht kurzzeitig ein


University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 243


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Sprungantwort eines Bode-Diagramm eines Allpasses 2. Ordnung
Allpasses 2. Ordnung 1

1 0.5

Magnitude (dB)
0
0
t
-0.5

-1
Ortskurve eines 0

Allpasses 2. Ordnung -90

Phase (deg)
Im -180
1
-270

-360
–1 1
-2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)
Re
• Konstanter Betrag von 0 dB.
–1 • Phasenverschiebung: 0° bis –360°.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 244


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Zerlegung eines nicht phasenminimalen Systems GNPM in ein phasenminimales System
GPM und einen Allpass GAP:

Eine solche Zerlegung lässt sich für jedes nicht phasenminimale System finden
(ausgenommen Totzeiten). Dies sieht man leicht in der Produkt-Standardform. Die mv
stabilen Nullstellen seien mit vi bezeichnet, die mw instabilen Nullstellen mit wi, also gilt
vi < 0 und wi ≥ 0:

Umdrehen des Vorzeichens macht aus


instabilen, stabile Nullstellen bzw. Pole.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 245


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Beispiel:

Phasenminimaler Anteil:

Allpass-Anteil:

Somit ergibt sich:

Da Allpässe den Amplitudengang nicht verändern aber die Phase absenken, liegt ein
phasenminimales System vor, wenn sich kein Allpass in oben gezeigter Form abspalten
lässt, also alle Nullstellen stabil sind!
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 246


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.5 Allpässe und nicht phasenminimale Systeme
Spektralzerlegung:
Für manche Anwendungen ist nicht der Frequenzgang G(i!) selbst wichtig, sondern dessen
Betrag bzw. Betragsquadrat |G(i!)|2. Dann geht die Information über die Phase verloren und
nur der Amplitudengang ist relevant. Eine typische Anwendung ist die Veränderung des
Leistungsdichtespektrums eines Rauschsignals, um seine Eigenschaften im Frequenzbereich
zu modellieren:
weißes v n farbiges
G(i!)
Rauschen Rauschen

Aus dem gemessenen bzw. berechneten Leistungsdichtespektrum |G(i!)|2 muss dann der
Frequenzgang G(i!) rekonstruiert werden. Da die Phaseninformation fehlt, ist diese
Rekonstruktion nicht eindeutig. Dabei ist es immer möglich G(i!) so zu wählen, dass es
stabil und phasenminimal ist:
alle Pole und Nullstellen negativ:
stabil und phasenminimal

alle Pole und Nullstellen positiv:


konjugiert komplex instabil und nicht phasenminimal
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 247


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Tt
7.6 Totzeiten
Reines Totzeit-Verhalten:
• Übertragungsfunktion:
• Entsteht z.B. durch Laufzeiten von Material oder Signalen.
• Nur ein Parameter: Totzeit Tt.
• Je größer die Totzeit einer Regelstrecke ist, desto schwieriger ist sie zu regeln.
• Meist wird die Totzeit separat behandelt, denn ihre Laplace-Transformierte ist keine
gebrochen rationale Funktion, wie bei allen anderen linearen Übertragungsgliedern.
• Totzeiten können über Allpass-Glieder mittels Padé-Approximation angenähert werden.

Physikalische Realisierungen:
Förderband Datenpufferung
u v y u y
...

l N Speicherelemente
Taktzeit T0

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 248


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.6 Totzeiten
Sprungantwort eines Totzeit-Glieds Bode-Diagramm eines Totzeit-Glieds
1
1
0.5

Magnitude (dB)
0
0 Tt t
-0.5

-1
0

-180
Ortskurve eines Totzeit-Glieds

Phase (deg)
-360

Im unendlich viele
-540

1 Umläufe
-720
0 1
10 10
Frequency (rad/sec)

–1 1 Re
• Betrag ist konstant 1.
–1
• Phasenverschiebung wächst proportional zur
Totzeit und exponentiell mit der Frequenz.
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 249


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.6 Totzeiten
Beispiel: Integrator mit Totzeiten I-Tt: Info:
• Der Integrator lässt den Betrag mit 1/ω gegen Null gehen
• Die Totzeit dreht die Phase immer weiter.
• Kommt von –Tt –i∞ aus ω = 0. für Tt = 1 sec
• Geht → 0 für ω → ∞.

1
= (cos(−!Tt ) + isin(−!Tt ))
i!
1 1
= − sin(!Tt ) − i cos(!Tt )
! !
University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 250


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.6 Totzeiten
Padé-Approximation von Totzeiten:
• Totzeit-Glied wird mittels Allpass approximiert.
• Amplitudengang kann exakt nachgebildet werden (konstant 1).
• Approximationsfehler im Phasengang wird mit steigender Frequenz größer.
• Je höher die Ordnung der Padé-Approximation, desto größerer Frequenzbereich kann gut
beschrieben werden.

Totzeit Padé-Approximation Padé-Approximation


1. Ordnung 2. Ordnung

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 251


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.6 Totzeiten
Beispiel: Padé-Approximation 1./2. Ordnung:

Bode Diagram
2

Step Response 0 die 3 Amplituden-


gänge sind identisch!

Magnitude (dB)
1 -2
0.8
-4
0.6
-6
0.4 Totzeit-System
Amplitude

-8
0.2

0
-10
360
-0.2
Padé 2. Ordnung 180
-0.4
Phase (deg)

Padé 1. Ordnung
-0.6
Padé 1. Ordnung -180
-0.8
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
-360
Time (sec)
Totzeit-
-540 Padé 2. Ordnung
System
-720 -1 0 1 2
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 252


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
7.7 MATLAB-Funktionen MATLAB
Zeichnen der Spung- und Impulsantwort eines Systems:
s = tf('s'); % s als Laplace-Variable definieren
G = 1/(s+1); % PT1-Übertragungsfunktion

step(G); % Zeichnet die Sprungantwort von G


impulse(G); % Zeichnet die Impulsantwort von G
% Simulationszeit wird automatisch
% von MATLAB festgelegt.
step(G, T); % T ist ein Zeitvektor, der die
% Simulationszeit enthält
[h, t] = step(G); % Vektor h enthält die Sprungantwort
% Vektor t enthält die zugeh. Zeitpunkte
[g, t] = impulse(G); % Vektor g enthält die Impulsantwort

University

7. Wichtige dynamische Systeme Seite 253


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8. Stabilität linearer Systeme

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 254 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 8
8 Stabilität linearer Systeme

8.1 Stabilität im Regelkreis


8.2 Hurwitz-Kriterium
8.3 Nyquist-Kriterium

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 255


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Definition der Stabilität:
Ein lineares dynamisches System G(s) heißt stabil, wenn seine Gewichtsfunktion g(t) gegen
Null abklingt: .
Strebt die Gewichtsfunktion betragsmäßig gegen unendlich, heißt das System instabil.
Überschreitet die Gewichtsfunktion mit wachsendem t einen endlichen Wert nicht, heißt das
System grenzstabil.

Wir wissen bereits: Für den Verlauf von g(t) sind die Pole von G(s) entscheidend:

Im
• Alle Pole haben Realteil < 0 → stabil.
• Einfache Pole oder Polpaare haben Realteil = 0,
alle anderen Pole Realteil < 0 → grenzstabil.

Re • Ein oder mehrere Pole haben Realteil > 0 oder ein


oder mehrere Mehrfachpole haben Realteil = 0
→ instabil.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 256


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Beispiele:

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 257


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Stabilität im Regelkreis:
Ein Regelkreis heißt stabil, wenn nach einer endlichen Erregung durch Führungs- oder
Störsignale seine Regelgröße endlich bleibt. Verschwindet diese Erregung, dann klingt die
Regelgröße gegen Null ab: .
Dies bedeutet, dass die Übertragungsfunktionen von jedem möglichen Eingangssignal zur
Regelgröße stabil sein müssen, d.h. insbesondere die Führungsübertragungsfunktion Gw(s)
und die Störübertragungsfunktionen Gd1(s) und Gd2(s).

d1(t) d2(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


GR(s) GS(s)

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 258


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Nullstellen und Pole des geschlossenen Regelkreises:

• Regler:

• Strecke:

• Offener Regelkreis:

Nullstellen des offenen Kreises


bleiben erhalten!
Führungsübertragungsfunktion:
Pole hängen von Nullstellen und
Polen des offenen Kreises ab

Andere Nullstellen
Störübertragungsfunktion 1:
Pole identisch mit Gw(s)

Andere Nullstellen
Störübertragungsfunktion 2:
Pole identisch mit Gw(s)
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 259


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Beobachtung: Gw(s), Gd1(s) und Gd2(s) haben den selben Nenner!
Im Normalfall (d.h. wenn keine instabile Pol/Nullstellen-Kürzung vorkommt) ist ein
Regelkreis also stabil, wenn dieser Nenner

ausschließlich stabile Nullstellen (= Pole des geschlossenen Kreises) hat.


Vereinfacht können wir also die Nullstellen des folgenden Polynoms zur Stabilitätsprüfung
heranziehen:

Sonderfall: Kürzung instabiler Pole!


Enthält die Regelstrecke instabile Pole (also A(s) instabile Nullstellen), die durch identische
Nullstellen des Reglers (also instabile Nullstellen in Q(s)) gekürzt werden, dann ist der
geschlossene Regelkreis instabil!

Bemerkung: Es gibt aber andere Möglichkeiten eine instabile Regelstrecke zu stabilisieren!


University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 260


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
→ Ein geschlossener Regelkreis ist instabil, wenn instabile Pole der Regelstrecke mit
entsprechenden Nullstellen des Reglers gekürzt werden.

Warum ist das so?


Annahme: Regelstrecke hat instabilen Pol p:
Dieser Pol soll durch den Regler gekürzt werden, also:

instabil!

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 261


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Innere Stabilität:
Selbst wenn Gw(s), Gd1(s) und Gd2(s) stabil sind, kann es innerhalb des Regelkreises zu
unendlich großen Signalen kommen, ohne dass dies (theoretisch) von Außen, also an der
Regelgröße, bemerkt werden könnte. Eine solche Situation liegt vor, wenn ein instabiler Pol
der Reglers gegen eine entsprechende Nullstelle der Strecke gekürzt werden würde.
Betrachten wir dazu die Übertragungsfunktion von der Führungsgröße w zur Stellgröße u:
Annahme: Regler hat instabilen Pol p:
Dieser Pol wird durch eine Nullstelle in der Strecke gekürzt:

, d.h. die Stellgröße u wächst über alle Grenzen!


instabil!
Innere Stabilität des Regelkreises liegt also nur dann vor, wenn auch alle inneren Signale
endlich bleiben. Daher müssen wir fordern, dass Gw(s), Gd1(s), Gd2(s) und Gwu(s) stabil sind.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 262


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Kürzung instabiler Pole:
• Führt selbst bei exakter Kürzung zu einer instabilen Störübertragungsfunktion Gd1(s).
• Eine exakte Kürzung ist in der Praxis gar nicht zu erreichen, weil
1. das Modell die Regelstrecke immer nur ungefähr widerspiegelt (Modellfehler),
2. die Streckendynamik selbst (zumindest kleinen) zeitlichen Veränderungen
unterworfen ist (Alterung, Abhängigkeit von im Modell vernachlässigten
Einflussgrößen, ...).
In der Regel ergibt sich durch eine inexakte Kürzung instabiler Pole ein instabiles
Gesamtsystem. Siehe Kapitel 13.

Kürzung instabiler Nullstellen:


• Aus den o.g. Gründen führt auch ein Kürzen instabiler Nullstellen der Regelstrecke mit
entsprechenden Polen im Regler zu einem instabilen Regelkreis.
• Daher dürfen instabile Nullstellen in B(s) nicht gekürzt werden und der geschlossene
Regelkreis Gw(s) hat zwangsläufig nicht phasenminimales Verhalten, falls die Strecke
nicht phasenminimales Verhalten hat!
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 263


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
Stabilität ist die wichtigste Forderung an einen Regelkreis. Deshalb wurden viele Kriterien
entwickelt, um die Stabilität zu überprüfen:
• Direkte Berechnung der Pole des geschlossenen Regelkreises, also der Nullstellen des
charakteristischen Polynoms :
1. Erfordert numerische Suchverfahren.
2. War früher sehr aufwendig, heute mit MATLAB leicht möglich.
3. Pole geben neben Stabilität auch Auskunft zur Entfernung von der Stabilitätsgrenze
und der Art und Geschwindigkeit der Dynamik des geschlossen Regelkreises.
• Analyse der Koeffizienten des charakteristischen Polynoms des geschlossenen
Regelkreises :
1. Verfahren nach Hurwitz oder nach Routh.
2. Liefern nur eine Ja/Nein-Aussage.
3. Schnell und einfach für Systeme bis 3. Ordnung.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 264


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis
• Analyse der Ortskurve des offenen Regelkreises G0(s):
1. Nyquist-Kriterium.
2. Amplituden- und Phasenrand geben auch Auskunft über Nähe zur Stabilitätsgrenze.
3. Kann auch für den Reglerentwurf genutzt werden.
• Zeichnen der Wurzelortskurve (WOK), d.h. Zeichnen der Pollagen des geschlossenen
Regelkreises in der komplexen s-Ebene in Anhängigkeit der Reglerverstärkung (oder
eines anderen Parameters). Zum Zeichnen der WOK werden aber lediglich die Pole und
Nullstellen des offenen Regelkreises benötigt!
1. Auskunft über Nähe zur Stabilitätsgrenze.
2. Vermittelt Einsichten zur optimalen Wahl der Reglerverstärkung.
3. Liefert Hinweise zur Auswahl der Reglerstruktur.
• Q-Parametrierung bzw. Internal Model Control:
1. Neuartige Parametrierung des Reglers bzw. neuartige Regelkreisstruktur.
2. Dadurch ist der Regelkreis automatisch stabil, völlig unabhängig von der Wahl des
(neuen) Reglers!
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 265


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.1 Stabilität im Regelkreis MATLAB
Berechnung der Nullstellen des charakteristischen Polynoms:
Polynom = [2 0 1 3]; % Koeffizienten des charakteristischen
% Polynoms in absteigender Reihenfolge
%

Nullstellen = roots(Polynom); % Berechnet die Nullstellen des Polynoms


% Liefert:
% 0.5000 + 1.1180i
% 0.5000 - 1.1180i
% -1.0000

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 266


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Zur Erinnerung:

• Offener Regelkreis:

• Geschlossener Regelkreis:

Ohne Sensordynamik Mit Sensordynamik

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 267


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Eigenschaften des Hurwitz-Kriteriums:
• Überprüft anhand der Koeffizienten eines Polynoms, ob die Nullstellen dieses Polynoms
alle einen negativen Realteil aufweisen (also stabile Nullstellen sind).
• Liefert nur eine Ja/Nein-Aussage.
• Bequem für Polynome niedriger Ordnung; für höhere Ordnungen (>3–4) heute nicht mehr
besonders hilfreich, da sich die Nullstellen mit MATLAB schnell numerisch berechnen
lassen.
• Stabilität lässt sich in Abhängigkeit von Koeffizienten bestimmen (geht numerisch nicht).

→ Ausgangspunkt: Charakteristische Gleichung (= Nenner der Übertragungsfunktion des


geschlossenen Regelkreises):

Es werden bestimmte Bedingung für die Koeffizienten ci (i = 0, 1, ..., n) aufgestellt. Sind alle
diese Bedingungen erfüllt, dann haben alle Nullstellen der charakteristischen Gleichung einen
negativen Realteil und damit sind alle Pole des geschlossenen Regelkreises stabil!
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 268


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Hurwitz-Matrix:

Obere linke Determinanten der Hurwitz-Matrix:

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 269


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Hurwitz-Kriterium:
Alle Nullstellen des Polynoms haben genau dann einen
negativen Realteil, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind:

1. Alle Koeffizienten sind positiv:

2. Die n-1 führenden Hauptabschnittsdeterminanten Di der Hurwitz-Matrix H sind positiv:

Die ci mit i > n sind zu Null zu setzen.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 270


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Hurwitz-Kriterium für Polynome 1. – 4. Ordnung:

1. Ordnung:

2. Ordnung:

3. Ordnung:
ab hier muss das Stabilitäts-
gebiet nicht mehr konvex sein!

4. Ordnung:

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 271


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Beispiele: Stabile Strecke!
Regler: Strecke:

Charakteristische Gleichung:

→ Stabil für K > –10. D.h. für alle positiven Reglerverstärkung ist geschlossener Kreis stabil.
Instabile Strecke! Langsamer instabiler Pol.

Regler: Strecke:

Charakteristische Gleichung:

→ Stabil für K > 10.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 272


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.2 Hurwitz-Kriterium
Beispiele: Instabile Strecke! Schneller instabiler Pol.

Regler: Strecke:

Charakteristische Gleichung:

→ Immer instabil! Koeffizient "–3" lässt sich durch P-Regler nicht beeinflussen!

PDT1-Regler Instabile Strecke! Schneller instabiler Pol.


Regler: Strecke:

Charakteristische Gleichung:

→ Stabil für K > 100.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 273


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Eigenschaften des Nyquist-Kriteriums:
• Überprüft die Stabilität des geschlossenen Regelkreises anhand der Ortskurve des offenen
Regelkreises.
• Erlaubt quantitative Aussagen über die Stabilität, d.h. Entfernung zur Stabilitätsgrenze.
• Unterstützt den Reglerentwurf. Der Kompromiss zwischen Reglerverstärkung und
Entfernung von der Stabilitätsgrenze wird veranschaulicht.
• Ist einfach durchzuführen, auch für komplexe Systeme, auch für Systeme mit Totzeit.
• Benötigt kein mathematisches Modell der Strecke (Übertragungsfunktion). Die Ortskurve
des offenen Kreises kann auch experimentell bestimmt worden sein.

Also, welcher Zusammenhang existiert zwischen der Stabilität des geschlossenen Kreises
und der Ortskurve des offenen Kreises?

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 274


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Vorbereitungen zum Nyquist-Kriterium:
enthält Nullstellen des offenen Kreises
Offener Regelkreis:
enthält Pole des offenen Kreises

Für reale Systeme ist Nennerordnung größer als Zählerordnung (n > m): Pole des
geschlossenen Kreises

Pole des
offenen Kreises
Wir untersuchen im Folgenden die Ortskurve von 1 + G0(s). Später führen wir diese auf die
Ortskurve von G0(s) zurück.
Berechnen wir den Winkel obiger komplexer Gleichung:

bekannt, wenn man die Ortkurve unabhängig unbekannt bekannt


des offenen Kreises kennt von s
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 275


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium

Jetzt lassen wir s entlang der Imaginärachse von –iR bis iR laufen und entlang eines
Halbkreises mit Radius R durch die rechte s-Halbebene zurück und nennen diese Kurve C:

Im
C
Für R → ∞ umschließt die Kurve C alle instabilen Pole,
s weil diese in der positiven s-Halbebene liegen.
R

Re

Welche Winkeländerung ergibt sich, wenn s einmal obige Kurve C durchläuft?

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 276


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Berechnung der Winkeländerung für die Terme vom Typ :

Stabiler Pol Instabiler Pol

Im Im
C C

Re Re

Beim Durchlaufen der Kurve C Beim Durchlaufen der Kurve C dreht


"wackelt" der grüne Zeiger s–p nach sich der rote Zeiger s–p einmal um
oben und unten aber insgesamt wird volle 360° bzw. 2! im Uhrzeigersinn:
kein Winkel verändert:

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 277


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Damit ergibt sich für die Winkeländerungen:
, (für k > 0) da k ja gar nicht von s abhängt.

, mit ng+ als Anzahl der instabilen Pole des geschlossen Kreises.

, mit no+ als Anzahl der instabilen Pole des offenen Kreises.

Für nicht sprungfähige Systeme gilt in der rechten s-Halbebene


(da Nennergrad n > Zählergrad m): .
Daher brauchen wir für die Winkeländerung von 1 + G0(s) entlang der Kurve C nur noch die
Imaginärachse zu betrachten. Der Anteil des (unendlich großen) Halbkreises fällt weg:

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 278


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Damit ergibt sich:

Wir sind gewohnt Ortskurven nur für positive Kreisfrequenzen zu zeichnen und den
symmetrischen negativen Teil wegzulassen (bringt keine Zusatzinformationen). Wenn wir
also die Ortskurve nur für positive ! zeichnen ergibt sich:

Geometrische Bedeutung der Ortskurve 1 + G0(s):


Im
–1
Re
Zur Auswertung von
müssen wir also die Drehung des Zeigers vom
Punkt –1 an die Ortskurve des offenen Kreises
G0(i!) bestimmen.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 279


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Für Stabilität des geschlossenen Regelkreises fordern wir, dass der geschlossene Kreis keine
instabilen Pole aufweist: . Damit ergibt sich:

wenn der offene Kreis


grenzstabile Pole hat.
Allgemeines Nyquist-Kriterium:
Weist der offene Regelkreis no+ instabile Pole auf (grenzstabile Pole zählen halb!), dann muss
die Ortskurve (für positive !) des offenen Regelkreises den Punkt –1 der komplexen Ebene
½no+-mal im Gegenuhrzeigersinn umschlingen bzw. der Zeiger vom Punkt –1 an die
Ortskurve muss einen Winkel von –"no+ (oder –180°·no+) überstreichen, damit der
geschlossen Regelkreis stabil ist.
Uhrzeigersinn = positive Winkel
Gegenuhrzeigersinn = negative Winkel
Einfaches Nyquist-Kriterium:
Ist der offene Regelkreis stabil (mit Ausnahme eines evtl. Pols bei s = 0), dann darf die
Ortskurve (für positive !) des offenen Regelkreises den Punkt –1 der komplexen Ebene nicht
umschlingen, damit der geschlossen Regelkreis stabil ist.
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 280


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Erweiterungen und Ergänzungen:
• Grenzstabile Pole des offenen und des geschlossenen Regelkreises zählen als halbe
instabile Pole.
• Neben einer Stabilitätsaussage liefert das Nyquist-Kriterium auch Informationen über die
Entfernung zur Stabilitätsgrenze. Dies erlaubt auch eine Aussage darüber, wie stark sich
Modell und realer Prozess für verschiedene Frequenzen voneinander unterscheiden
dürfen, um dennoch Stabilität garantieren zu können. Dies führt auf die Definition der
robusten Stabilität, siehe Kapitel 9.
• Das einfache Nyquist-Kriterium wird manchmal auch als "Linke-Hand-Regel" formuliert:
Linke-Hand-Regel: Ist der offene Regelkreis stabil, dann muss der Punkt –1 links von
der in Richtung wachsender Frequenzen durchlaufenen Ortskurve des offenen
Regelkreises liegen, damit der geschlossen Regelkreis stabil ist.
• Das Nyquist-Kriterium ist eines der wenigen Stabilitätskriterium, das auch für Systeme
mit Totzeit anwendbar ist.

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 281


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Beispiel: Stabiler offener Regelkreis

Regler: Strecke:

Offener Regelkreis: Nach Hurwitz ist G0(s) stabil → no+ = 0.

Negative Reglerverstärkungen:
Im
! Im
–1 K>0
! instabil
Re
! grenzstabil
Ortskurve des offenen stabil
! Regelkreises G0(i!) K < –1 –1 ––1 < K < 0 Re

Linke-Hand-Regel: Punkt –1 liegt links der Ortskurve → geschlossener Regelkreis ist stabil!
Diese Stabilitätsaussage gilt unabhängig von der Reglerverstärkung K > 0. Ein solches
Verhalten nennt man strukturstabil!
Für negative Reglerverstärkungen kleiner –1 wird der Regelkreis allerdings instabil!
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 282


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Beispiel: Grenzstabiler offener Regelkreis

Regler: Strecke:

Offener Regelkreis: → no+ = 1/2.


Nyquist Diagram Nyquist Diagram
250 1

200

0
150
–1
100
-1
Imaginary Axis

Imaginary Axis
50

0 -2
–1
-50

-3
-100

-150
-4
-200 Linke-Hand-Regel: instabil!
-250 -5
-20 -18 -16 -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 -10 -9 -8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0
Real Axis Real Axis

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 283


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium Zur Erinnerung:

Beispiel: Instabiler offener Regelkreis

Regler: Strecke:

Offener Regelkreis: → no+ = 1.

Nyquist Diagram
0.1
Drehwinkel um den Punkt –1:
–1
0
K > 3: –180° bzw. – !
K=2
-0.1
K=3 0 < K < 3: 0° bzw. 0
K=4
Imaginary Axis

-0.2 Für K > 3:

-0.3

Für 0 < K < 3:


-0.4

-0.5
-1.4 -1.2 -1 -0.8 -0.6
Real Axis
-0.4 -0.2 0
→ Geschlossener Kreis für K > 3 stabil!
University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 284


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium Zur Erinnerung:

Beispiel: Instabiler offener Regelkreis

Regler: Strecke:

Offener Regelkreis: → no+ = 1.

Nyquist Diagram

Drehwinkel um den Punkt –1:


0.9

0.8 K = 10 K > 4: 180° bzw. !


0.7
0 < K < 4: 0° bzw. 0
0.6
Imaginary Axis

0.5
Für K > 4:
0.4

0.3

0.2
Für 0 < K < 4:
0.1
–1
0

-0.1
-3 -2.5 -2 -1.5 -1 -0.5 0 0.5 → Mit P-Regler nicht stabilisierbar!
Real Axis

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 285


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
8.3 Nyquist-Kriterium
Beobachtungen:
• Es gibt Regelstrecken, die sich mit einem bestimmten Reglertyp (im einfachsten Fall
einem P-Regler) für jede Reglerverstärkung stabilisieren lassen. Solche Regelstrecken
nennt man strukturstabil.
ACHTUNG: Reale Prozesse sind meist viel komplizierter als die zum Reglerentwurf
verwendeten Prozessmodelle. Oft werden schnelle dynamische Eigenschaften und kleine
Totzeiten bei der Modellierung vernachlässigt. Dies führt insbesondere bei großen
Frequenzen zu erheblichen Abweichungen zwischen realem Prozess und Modell. Deshalb
kann es passieren, dass der Regelkreis mit dem Modell zwar stabil ist, am realen Prozess
aber instabil. Ein robuster Regelungsentwurf berücksichtigt diese Zusammenhänge.
• Es gibt Regelstrecken, die sich nicht mit einem P-Regler stabilisieren lassen. Mit
komplexeren Reglern ist dies aber möglich.
• Bei stabilen Regelstrecken muss die Reglerverstärkung K unter einer Schwelle bleiben
(K < Kkrit), um Stabilität des geschlossenen Kreises zu sichern.
• Bei instabilen Regelstrecken muss die Reglerverstärkung K über einer Schwelle bleiben
(K > Kkrit), um Stabilität des geschlossenen Kreises zu sichern. Warum ist das so?

University

8. Stabilität linearer Systeme Seite 286


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9. Quantitative
Stabilitätskriterien

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 287 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 9
9 Quantitative Stabilitätskriterien

9.1 Pollage
9.2 Amplitudenrand
9.3 Phasenrand
9.4 Die Rolle des Punktes (–1, 0)
9.5 Robuste Stabilität

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 288


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9 Qualitative Stabilitätskriterien
Wir wollen eine Aussage darüber machen, wie stabil ein Regelkreis ist, d.h. wie weit er von
der Stabilitätsgrenze entfernt ist.
Da es verschiedene Möglichkeiten gibt die "Entfernung" zur Stabilitätsgrenze zu messen,
gibt es verschiedene solcher quantitative Stabilitätskriterien.

Nur wenn die Entfernung von der Stabilitätsgrenze hinreichend groß ist, können wir für ein
System auch in der Praxis Stabilität sicher stellen. Denn unser Modell stimmt nicht mit der
realen (wahren) Strecke exakt überein, weil:
• bei der Modellierung bestimmte Effekte nicht erfasst oder beschrieben werden konnten,
• bei der Modellierung bestimmte Effekte zur Vereinfachung absichtlich vernachlässigt
wurden,
• die Strecke mit der Zeit ihr Verhalten verändert (Alterung, Verschleiß),
• äußere Einflüsse das Verhalten der Strecke verändern (Teile werden ausgetauscht)...

→ Wir brauchen genug "Spielraum", d.h. Abstand zur Stabilitätsgrenze,


damit nicht nur unser Modell sondern auch die reale Strecke stabil ist!
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 289


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.1 Pollage
Die Realteile der Pole des geschlossenen Regelkreises bestimmen das Abklingverhalten
der zeitlichen DGL-Lösung. Daher sollten alle Pole "genügend weit" von der
imaginären Achse entfernt sein (z.B. links der blauen Linie bei –!).
Was "genügend weit" konkret bedeutet, muss in jedem Einzelfall individuell
eingeschätzt werden. Bei manchen Prozessen geht es um msec bei anderen um h.

Abklingen ~ Im
Bemerkung:
Neben Stabilität spielen
beim Reglerentwurf
noch andere Kriterien
–! Re eine wichtige Rolle, z.B.
nicht zu starkes
Überschwingen. Dies
schränkt die erwünschten
schneller / stabiler Stabilitäts- Pollagen weiter ein!
grenze Dazu später mehr...
langsamer / instabiler
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 290


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.2 Amplitudenrand
Wir wissen aus dem einfachen Nyquist-Kriterium: Die Ortskurve des offenen Kreises
darf den Punkt –1 nicht umschlingen, damit der geschlossene Kreis stabil ist. Die
Frequenz bei der die Ortskurve die negative reelle Achse schneidet nennt man
Phasendurchtrittsfrequenz .
D.h. der Schnittpunkt der Ortskurve mit der negativen reellen Achse (bei –A) muss
rechts von der –1 liegen. Das ist um so mehr erfüllt, je kleiner A ist.

Amplitudenrand: Gilt nur für stabile offene Regelkreise!

Im Stabilität für: kR > 1.


Je größer kR, desto stabiler!
–1 –A
Re Amplitudenrand wird auch
Amplitudenreserve genannt, weil
man die Kreisverstärkung um
diesen Faktor erhöhen kann bis die
Stabilitätsgrenze erreicht wird.
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 291


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.2 Amplitudenrand
Gleiche Betrachtungen im Bode-Diagramm möglich:
Bode Diagram
20

0
< 0 dB → stabil!
-20
Magnitude (dB)

-40

-60

-80

-100
0
Phase (deg)

-90

-180

-270
-2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 292


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.3 Phasenrand
Alternativ können wir uns auch anschauen, bei welchem Winkel die Ortskurve des offenen
Regelkreises den Kreis mit Radius 1 um den Ursprung schneidet. Die Frequenz bei der
dieser Schnittpunkt liegt nennt man Amplitudendurchtrittsfrequenz .
Je mehr Phasenwinkel bis zum Erreichen der negativen reellen Achse, also bei φ = –180°,
übrig bleibt, desto weiter ist man von der Stabilitätsgrenze entfernt.

Phasenrand: Gilt nur für stabile offene Regelkreise!

Im Stabilität für: φR > 0°.


Je größer φR, desto stabiler!

–1 Phasenrand wird auch


Re Phasenreserve genannt, weil
man die Phasenverschiebung um
diesen Winkel erhöhen kann bis die
Stabilitätsgrenze erreicht wird.

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 293


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.3 Phasenrand
Gleiche Betrachtungen im Bode-Diagramm möglich:
Bode Diagram
20

-20
Magnitude (dB)

-40

-60

-80

-100
0
Phase (deg)

-90

φR > 0° → stabil!
-180

-270
-2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 294


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.4 Die Rolle des Punktes (–1, 0)
Wenn die Ortskurve die negative reelle Achse schneidet, dann weist der offene Regel-
kreis eine Phasenverschiebung von –180° auf, d.h. für eine sinusförmige Schwingung der
Frequenz im eingeschwungenen Zustand ist die Regelgröße y gegenüber der Regel-
abweichung e genau um eine Halbwelle verschoben, hat also entgegengesetztes Vorzeichen!
Damit wird für diese Frequenz die negative Rückkopplung (Gegenkopplung) zu einer
positiven Rückkopplung (Mitkopplung). Der Ausgang des offenen Kreises kommt also
phasensynchron wieder an dessen Eingang an. Stabilität erhält man folglich dann, wenn die
Verstärkung des offenen Kreises bei kleiner als Eins ist:
Das ist der Fall, wenn der Punkt (–1, 0) links von
der Ortskurve des offenen Regelkreises liegt!

Im
–1
t t t
Re
–180°

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 295


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Amplituden- und Phasenrand geben Auskunft darüber, wie stabil ein Regelkreis ist oder
genauer: wie weit er von der Stabilitätsgrenze entfernt ist. Je größer Amplituden- und
Phasenrand sind, desto sicherer können wir sein, dass Stabilität nicht nur für das Modell
sondern auch für die (davon abweichende) reale Strecke herrscht. Aber wie können wir
Stabilität für die reale Strecke garantieren?

Dazu benötigen wir zunächst eine Beschreibung der maximal möglichen Modellfehler
(Abweichungen zwischen Modell und realer Strecke):
• Parameterunsicherheiten: Das Modell enthält Parameter, die nur in einem Intervall
bekannt sind. Beispiele: Masse eines Autos [mleer, mvoll beladen]; Dämpfung eines
Stoßdämpfers (abgelesen aus dessen Kennlinie) [dmin, dmax]; ...
• Bereich des Arbeitspunkts: Die Linearisierung eines nichtlinearen Modells liefert
arbeitspunktabhängige Parameter. Aus dem Bereich des Arbeitspunkts ergeben sich die
Parameterschwankungen: (Flughöhe: [0 m, 10 000 m]; Fahrzeuggeschwindigkeit:
[0 km/h, 250 km/h])
• Unmodellierte Dynamik: Vernachlässigte kleine Totzeiten; höherfrequente dynamische
Eigenschaften; ...
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 296


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Am einfachsten lassen sich diese Modellunsicherheiten im Frequenzbereich darstellen und
weiterverarbeiten. Zwei alternative Ansätze:

1. Additive (absolute) Modellunsicherheiten

unbekannte Modell Unsicherheit


reale Strecke

2. Multiplikative (relative) Modellunsicherheiten

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 297


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Wenn ein Regelkreis für alle möglichen G(s) stabil ist, dann nennt man ihn robust stabil.
• Wichtig ist hierfür, dass wir mit bzw. eine maximale
Modellunsicherheit definieren.
• In der Praxis sind maximale Modellunsicherheiten teilweise schwer abzuschätzen.
• Zu große Modellunsicherheiten führen dazu, dass der Regler sehr konservativ (langsam)
eingestellt werden muss, um robuste Stabilität zu garantieren. Deshalb sollte die
Unsicherheitsabschätzung nicht zu großzügig sein.

Beispiel: Konstanter multiplikativer (relativer) Fehler.

Im Im Robuste Stabilität = Stabilität


für alle Ortskurven in diesem
–1 –1 "Schlauch"
Re Re

Modellunsicherheit
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 298


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Stabilität ohne Berücksichtigung der Modellfehler lässt sich leicht anhand der Ortskurve des
offenen Kreises zeigen:

Robuste Stabilität (also mit Berücksichtigung der Modellfehler) muss für die Ortskurven alle
möglichen offenen Kreise gezeigt werden:

Es könnte passieren, dass zwar die –1 nicht umschlingt, aber Teile des "Schlauchs"
die –1 umschlingen. Für robuste Stabilität darf der gesamte "Schlauch" die –1 nicht
umschlingen.
Bei additiven Modellunsicherheiten gilt für die möglichen Abweichungen zwischen Modell
und Strecke (grünen Kreise):

(Gleichheit gilt auf dem Rand des grünen Kreises. Das "<" gilt im Inneren.)

Die Formel für multiplikative Modellunsicherheiten lässt sich in ähnlicher Weise herleiten...

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 299


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Im

–1
Re

Wir können robuste Stabilität garantieren, wenn kein Punkt innerhalb der grünen Kreise die
–1 umschlingt. Dies ist genau dann der Fall, wenn gilt:

Robuste Stabilität
bei additiven Modellunsicherheiten:

Robuste Stabilität
bei multiplikativen Modellunsicherheiten:
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 300


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Beispiel: Regelung eines Systems 2. Ordnung / Vernachlässigung der Sensordynamik.
Modell 2. Ordnung: P-Regler: Vernachlässigte Sensordynamik:

Berechnung der multiplikativen Modellunsicherheit aus :


1 1 1
= (1 + ∆Gm (s))
s2 + s + 1 T s + 1 s2 + s + 1
Obere Grenze für den Betrag der Modellunsicherheit, wenn T unbekannt ist:

Bedingung für robuste Stabilität :

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 301


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
1
10

K=4
[dB]

0
10
K=2
K=1
K = 0,5
-1
10

-2
10

-3
10 -1 0 1
10 10 10

Robuste Stabilität bis ca. K < 1,5.


University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 302


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Für ein festes T können wir auch die frequenzabhängige und damit weniger konservative
obere Schranke angeben:

2
10
Eine realistische
T = 0,1 Abschätzung der
[dB]

Sensordynamik mit
1
10 T = 0,1 sec (d.h. ca. 10
T=1 mal schneller als die
Strecke) erlaubt
T = 10
10
0 wesentlich höhere
Verstärkungen als
K = 1,5 K = 1,5 bis zum
Erreichen der robusten
-1
10 Stabilitätsgrenze!

-2
10 -1 0 1
10 10 10

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 303


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
9.5 Robuste Stabilität
Robuste Stabilität garantiert die Stabilität des Regelkreises für alle möglichen Strecken, die
durch die Modellunsicherheit beschrieben werden.

Neben der Stabilität spielt auch die Güte (Performance) der Regelung eine wichtige Rolle. Sie
kann auf verschiedenste Arten gemessen werden.

Entsprechend der Stabilität lässt sich auch die Güte (Performance) eines Regelkreises auf den
Begriff der robusten Güte bzw. robusten Performance erweitern:

Robuste Güte (Performance) garantiert, dass vom Regelkreis ein Gütemaß (Performancemaß)
bestimmter Größe erfüllt wird, und zwar für alle möglichen Strecken, die durch die
Modellunsicherheit beschrieben werden.

→ Reglerentwurfsverfahren, die robuste Stabilität und evtl. auch robuste Güte (Performance)
des Regelkreises sicher stellen (oder das Fehlschlagen des Entwurfs melden) werden unter
dem Schlagwort "robuste Regelungen" behandelt. Dies soll aber nicht darüber hinweg
täuschen, dass alle (vernünftig entworfenen) Regelkreise durch die prinzipiellen Vorteile der
Rückkopplung (siehe Kapitel 1) robust sind.

University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 304


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10. Einfache lineare Regler

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 305 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 10
10 Einfache lineare Regler

10.1 Aufgaben einer Regelung


10.2 Statische Anforderungen
10.3 Dynamische Anforderungen
10.4 PID-Regler
10.5 Reglerrealisierungen

University

10. Einfache lineare Regler Seite 306


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.1 Aufgaben einer Regelung
• Regelkreis soll stabil sein.
• Regelgröße y soll von den Störungen di und d möglichst wenig beeinflusst werden, d.h.
die Störübertragungsfunktionen sollen möglichst klein sein:

• Regelgröße y soll der Führungsgröße w möglichst gut folgen, d.h. die


Führungsübertragungsfunktion soll möglichst gleich 1 sein:

→ Regler GR(s) sollte so gewählt werden, dass diese Forderungen erfüllt werden können.
Regelung di(t) d(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


GR(s) GS(s)

n(t)
University

10. Einfache lineare Regler Seite 307


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.1 Aufgaben einer Regelung
Eine Störung am Streckeneingang kann auf eine Störung am Streckenausgang umgerechnet
werden:
di(t)

GS(s)
di(t)

u(t) y(t) u(t) y(t)


GS(s) GS(s)

→ Die beiden wichtigsten Übertragungsfunktionen für die Güte einer Regelung sind:

Ausgangsstörung → Regelgröße: Empfindlichkeits-


funktion

komplementäre
Führungsgröße → Regelgröße:
Empfindlichkeitsfkt.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 308


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.1 Aufgaben einer Regelung
Die verschiedenen Ziele d(t)
einer Regelung können sich
widersprechen. Dann muss w(t) e(t) u(t) y(t)
GR(s) GS(s)
entweder ein Kompromiss
gefunden werden oder die n(t)
Struktur des Regelkreises
muss erweitert werden (Vorsteuerung, Filterung der Regelgröße), siehe Kap. 12.

d → y, w → e w → y, –n → y

Konflikte treten auf, wenn Führungsgröße w und Störgröße d in unterschiedlichen


Frequenzbereichen liegen.
Und wenn Führungsgröße w und Messrauschen n in überlappenden Frequenzbereichen liegen.

Weitere Betrachtungen im Frequenzbereich werden in Kapitel 14 näher behandelt. Für


moderne Reglerentwurfsverfahren spielen S und T eine entscheidende Rolle. Die beiden
Forderungen und können aber immer nur für bestimmte
Frequenzbereiche erfüllt werden.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 309


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.1 Aufgaben einer Regelung
Nun aber zunächst zu den etwas einfacheren Betrachtungen im Zeitbereich.
Die wichtigsten Forderungen sind:
1. Stabilität → Stabilitätskriterien
2. Stationäre Kompensation der Störung und Folge der Führungsgröße → Kapitel 10.2
3. Dynamische Anforderungen → Kapitel 10.3
4. Robustheit → quantitative Stabilitätskriterien (robuste Stabilität und Performance)

Schwierigkeit: Bei der Einstellung bzw. Optimierung des Reglers ist die Stabilität des
Regelkreises immer eine notwendige Nebenbedingung. Das macht den Reglerentwurf
schwierig.
Ausweg: Es gibt eine erweiterte Regelkreisstruktur (IMC = Internal Model Control bzw.
Q-Parametrierung oder Youla-Parametrierung), welche die Stabilität des Regelkreises für
alle stabilen Regler sicherstellt. Damit wird sowohl die manuelle Einstellung als auch die
automatische Optimierung des Reglers wesentlich vereinfacht. → Kap. 15.
Sehr viele moderne regelungstechnische Verfahren basieren darauf!

University

10. Einfache lineare Regler Seite 310


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen

d(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


GR(s) GS(s)

n(t)

Forderung: Im eingeschwungenen Zustand soll die Regelgröße y(t) der Führungsgröße w(t)
folgen: . Das bedeutet im Laplace-Bereich (Endwertsatz!):

University

10. Einfache lineare Regler Seite 311


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
Diese Forderung soll sowohl für w(t) = 0 (also auch W(s) = 0) als auch für d(t) = 0 (also auch
D(s) = 0) gelten. Daher müssen die Summanden auch einzeln = 0 sein:

Die Forderungen sind also für Führungsgröße und Störgröße (am Streckenausgang) identisch!
Die folgenden Beispiele gelten also für beides...

Beispiel: Impuls !(t)

→ Wird ausgeregelt!

Beispiel: Sprung σ(t)

University

10. Einfache lineare Regler Seite 312


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
Beispiel: Rampe t σ(t)

Beispiel: Sinusförmig
Lässt sich mit dem Endwertsatz nicht analysieren, da für t → ∞ kein stationärer Zustand
sondern Dauerschwingungen auftreten!

Beobachtung: Es fällt auf, dass für eine stationär (also für t → ∞) exakte Regelung der
offene Regelkreis G0(s) = GR(s)GS(s) als Faktor die Laplace-Transformierte der Führungs-
bzw. Störgröße enthalten muss. Der offene Regelkreis muss also ein Modell der Signale
enthalten. Dieses "Innere Modell"-Prinzip lässt sich auf beliebige Signaltypen erweitern.
Wenn das Signalmodell nicht in der Strecke enthalten ist, muss man es im Regler realisieren!

University

10. Einfache lineare Regler Seite 313


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
"Inneres Modell"-Prinzip
Zur Vereinfachung nehmen wir an w(t) = 0 und betrachten nur die Störgröße d(t). Umgekehrt
(d(t) = 0) gilt dann entsprechendes.

Ein Störsignal der Form entspricht im Frequenzbereich .

Ein Störsignal der Form entspricht im Frequenzbereich .

Aus Kapitel 7.3 wissen wir, dass eine Nullstelle im System den Pol (die Pole) des Signals
wegkürzt und somit das Signal nicht durchlässt. Genau das ist hier unser Ziel, denn wir
wollen verhindern, dass die Störung (dauerhaft) die Regelgröße beeinflusst. Deshalb fordern
wir, dass die Störübertragungsfunktion Nullstellen aufweist, wo das Störsignal Pole hat:

University

10. Einfache lineare Regler Seite 314


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
Allgemein fordern wir einen Zähler in der Störübertragungsfunktion, der dem Nenner Nd(s)
des Signals D(s) entspricht:

Auflösen nach G0(s) liefert:

Nenner von D(s) ist auch im Nenner von G0(s) vorhanden!


Gleiches kann man auch für das Führungsverhalten zeigen. Daraus folgt das sehr allgemeine
"Innere Modell"-Prinzip:

"Inneres Modell"-Prinzip:
Ein stabiler Regelkreis kann nur dann eine Störgröße vollständig unterdrücken bzw. einer
Führungsgröße ohne bleibende Regelabweichung folgen, wenn er (d.h. G0(s)) ein inneres
Modell der Störsignale bzw. der Führungssignale enthält.

University

10. Einfache lineare Regler Seite 315


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
Zusammenfassung
• Um einem Führungsgrößensprung ohne bleibende Regelabweichung zu folgen bzw. eine
sprungförmige Störung komplett auszuregeln, muss der offene Regelkreis G0(s) einen
I-Anteil (1/s) enthalten. Weist die Strecke keinen I-Anteil auf, muss dieser folglich im
Regler eingebaut werden.
• Wenn weder Strecke noch Regler einen I-Anteil enthalten, dann ergibt sich eine

Diese Regelabweichung ist um so kleiner sein, desto größer die Kreisverstärkung ist (also
das Produkt aus Regler- und Streckenverstärkung). Geht z.B. KR → ∞, dann verschwindet
die bleibende Regelabweichung. Das ist konsistent damit, dass ein I-Glied eine unendlich
hohe statische Verstärkung hat (Amplitude im Bode-Diagramm für ! → 0). Außerdem
stimmt es mit unserer Beobachtung aus dem 1. Kapitel überein, dass sich theoretisch bei
unendlicher Reglerverstärkung eine perfekte Regelung ergibt (praktisch ist natürlich die
Stabilitätsgrenze eine obere Schranke für die Reglerverstärkung).
• Für rampenförmige Signale wird entsprechend ein doppelter I-Anteil im offenen Kreis
benötigt. Ansonsten ergibt sich ein sog. Schleppfehler.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 316


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.2 Statische Anforderungen
Zwischenbemerkung: Stationäre Genauigkeit ohne I-Anteil
Wir haben gerade gelernt, dass ohne einen I-Anteil in G0(s) eine bleibende Regelabweichung
bei einem Führungsgrößensprung auftritt. Es gibt eine 2. Möglichkeit, wie dies vermieden
werden kann: Die Erweiterung des Standardregelkreises um einen statischen Vorfilter.
d(t)

w(t) e(t) u(t) y(t)


V GR(s) GS(s)

n(t)

Der Quotient aus y(t → ∞) / w(t → ∞) ohne Vorfilter ist . Durch geeignete Wahl
des Vorfilters lässt sich dies kompensieren:
Dieser Vorfilter beseitigt die bleibende Regelabweichung auch ohne
I-Anteil in G0(s).
ABER: • Im Gegensatz zum I-Anteil, müssen hier die Verstärkungen exakt bekannt sein!
• Vorfilter kann nicht für die (nicht messbaren) Störgrößen eingesetzt werden!
University

10. Einfache lineare Regler Seite 317


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.3 Dynamische Anforderungen
Neben dem eben betrachteten stationären Verhalten spielt natürlich auch das zeitliche
Verhalten des Regelkreises ein Rolle. Die Forderungen werden meist auf sprungförmige
Veränderung der Führungs- bzw. Störgröße bezogen. Bezogen auf einen Einheitssprung der
Führungsgröße liegen folgende Forderungen nahe:
1. Möglichst geringes bzw. kein Unterschwingen (für nicht phasenminimale Systeme).
2. Möglichste kurze Anstiegszeit. Überschwingweite
3. Möglichst geringes Überschwingen. 1
0,9
4. Möglichst kurze Beruhigungszeit.
Diese Forderungen stehen teilweise in
Konflikt zueinander und können nicht alle
0
gleichzeitig optimal erfüllt werden. Anstiegszeit Beruhigungszeit t

In vielen Anwendungen werden spezifische Forderungen ausgestellt, die den dortigen


charakteristischen Gegebenheiten Rechnung tragen (Rampenförmige Führungsgröße,
Sinusförmige Störung einer bestimmten Frequenz, Überschwingen ganz verboten, ...).

University

10. Einfache lineare Regler Seite 318


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.3 Dynamische Anforderungen
Prinzipiell kann zwischen zwei Aufgaben einer Regelung unterschieden werden:
1. Folgen der Führungsgröße.
2. Ausregeln der Störgröße.

Dominiert bei einer Regelung eine dieser beiden Aufgaben, dann unterscheidet man in:
1. Folgeregelung oder Nachlaufregelung (tracking). (Störgröße ist meist d(t) ≈ 0.)
2. Festwertregelung (regulation). (Führungsgröße ist meist w(t) = konst.)

Typische Beispiele sind:


1. Roboterbahnregelung, Positionsregelung CNC-Maschinen, Lenkwaffen, ...
2. Raumtemperaturregelung, Tempomat beim Auto, Magnetlager, Synchronmaschine, ...

Wenn beide Aspekte (Führungsgrößenfolge und Störgrößenunterdrückung) sehr wichtig sind,


reicht der Standardregelreis meist nicht aus, um beide Ziele gleichzeitig zu erfüllen. Dann
muss der Regelkreis um eine Vorsteuerung erweitert werden, siehe Kapitel 12.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 319


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Die in der Praxis am häufigsten eingesetzte Reglerstruktur ist der PID-Regler. Es gibt
2 alternative Darstellungsmöglichkeiten, die inhaltlich identisch sind:

P-Anteil I-Anteil D-Anteil proportionale Nachstellzeit Vorhaltezeit


Verstärkung (Integrierzeit) (Differenzierzeit)
Im Zeitbereich:

University

10. Einfache lineare Regler Seite 320


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Als vereinfachte Sonderfälle des PID-Reglers entstehen durch Nullsetzen der KP-, KI-, KD-
Faktoren P-, PI-, PD- oder I-Regler (alle anderen Kombinationsmöglichkeiten sind von
untergeordneter praktischer Bedeutung).
Typischerweise fällt beim Reglerentwurf erst die Entscheidung für eine bestimmte
Reglerstruktur (z.B. PI- oder PID-Regler) und anschließend werden die Reglerparameter
(z.B. KP und KI) bestimmt.

Sprungantwort eines PID-Reglers

u(t)
D-Anteil: Driac-Impuls der Höhe KPTD
P-Anteil: Auf diesen Wert (KP) fällt die
Sprungantwort nach dem Abklingen
des D-Anteils wieder zurück.
I-Anteil: Linearer Anstieg der Steigung KP/TI

0 t
University

10. Einfache lineare Regler Seite 321


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
P-Anteil:
• Stellgröße ist proportional zur Regelabweichung.
• "Je größer die Regelabweichung ist, desto größer muss auch die Stellgröße sein!"
• Schneller Abbau der Regelabweichung; aber sie wird evtl. nicht vollständig abgebaut.

I-Anteil:
• Stellgröße entspricht dem Integral (Summe) der vorangegangenen Regelabweichungen.
• Änderung der Stellgröße entspricht der Regelabweichung.
• "Solange eine Regelabweichung auftritt, muss die Stellgröße verändert werden!"
• Langsamer aber vollständiger Abbau der Regelabweichung.

D-Anteil:
• Stellgröße entspricht der Änderung (Steigung, Trend) der Regelabweichung.
• "Je stärker sich die Regelabweichung ändert, umso stärker muss die Regelung eingreifen!"
• Sehr schnelle Reaktion. Auch bei kleinen Regelabweichungen mit falscher Tendenz aktiv.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 322


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Veranschaulichung der Wirkung des I-Anteils
Die Stellgröße wird so lange erhöht bis die Regelabweichung bei 0 angekommen ist.
Dann wächst das Integral nicht mehr und die Stellgröße bleibt konstant.

e(t) u(t)

t t

Veranschaulichung der Wirkung des D-Anteils (im Zusammenspiel mit einem P-Anteil)
Wenn die Regelabweichung → 0 abnimmt, Wenn die Regelabweichung → ∞ zunimmt,
wird eine negative Komponente erzeugt, wird eine positive Komponente erzeugt, die
die den P-Anteil abschwächt. den P-Anteil unterstützt.

e(t) u(t) e(t) u(t)

t t t
University

10. Einfache lineare Regler Seite 323


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Im
10.4 PID-Regler –1
I Re
Einfluss des P-, I- und D-Anteils auf die Ortskurve
P
D
P-Anteil
Die Ortskurve wird proportional zum P-Anteil (Reglerverstärkung) skaliert, da der Betrag mit
dem P-Anteil multipliziert wird und die Phase unverändert bleibt. Eine Vergrößerung des P-
Anteils bringt die Ortskurve näher an den Punkt (–1, 0) heran und wirkt daher destabilisierend.
I-Anteil
Die Phase wird je nach Stärke des I-Anteils zwischen 0° und –90° verschoben. D.h. Punkte
gleicher Frequenz erfahren eine entsprechende zusätzliche Drehung im Uhrzeigersinn. Eine
Vergrößerung des I-Anteils dreht die Ortskurve näher an den Punkt (–1, 0) heran und wirkt
daher destabilisierend.
D-Anteil
Die Phase wird je nach Stärke des D-Anteils zwischen 0° und +90° verschoben. D.h. Punkte
gleicher Frequenz erfahren eine entsprechende zusätzliche Drehung gegen den Uhrzeigersinn.
Eine Vergrößerung des D-Anteils dreht die Ortskurve weiter vom Punkt (–1, 0) weg und wirkt
daher stabilisierend.
University

9. Qualitative Stabilitätskriterien Seite 324


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Zusammenfassung
• P-Anteil: Bewertet die Gegenwart, d.h. die aktuellen Regelabweichung
• I-Anteil: Bewertet die Vergangenheit, d.h. die akkumulierte (integrierte) Regelabweichung
→ Nachstellzeit TI
• D-Anteil: Bewertet die Zukunft; mit der Berechnung des Trends (Ableitung) wird der
zukünftige Verlauf der Regelabweichung vorhergesagt.
→ Vorhaltezeit TD

Bemerkung: Wenn der Mensch selbst regelt, dann tut er dies oft als I- oder PI-Regler, d.h. die
Änderung der Stellgröße hängt von der Regelabweichung ab. Absolute Werte sind oft nicht so
entscheidend.
Beispiel: Temperaturregelung unter der Dusche. Typischerweise dreht man den Temperatur-
stellknopf nach rechts oder links mit einer Drehwinkelgeschwindigkeit proportional zur
Regelabweichung (Differenz zwischen gewünschter und tatsächlicher Wassertemperatur).
Dabei ist die absolute Skala ziemlich egal. Es sei denn, der Temperaturstellknopf ist am
Anfang total verstellt. Dann wird wahrscheinlich noch eine Steuerungskomponente aktiv.
University

10. Einfache lineare Regler Seite 325


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
PID-Regler ist so nicht realisierbar! → Reiner D-Anteil, siehe Kapitel 7.
• D-Anteil wird als DT1-Glied realisiert.
• Zeitkonstante des DT1-Glieds bestimmt die "Stärke" der Differentiation.
• DT1-Glied:

• Für den Grenzfall T → 0 ergibt sich wieder ein reines D-Verhalten.


• Für den Grenzfall T → ∞ ergibt sich ein P-Verhalten.

DT1-Sprungantworten: Rauschverstärkung:
5

2 0

-5
0 2 4 6 8 10
5

weißes Rauschen
1 0

(enthält gleich stark -5


0 2 4 6 8 10
alle Frequenzen) 5

t -5
0 2 4 6 8 10

University

10. Einfache lineare Regler Seite 326


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Prinzipien bei der Auslegung von PID-Reglern, P-Anteil:
Der P-Anteil ist fast immer vorhanden (Ausnahme: reiner I-Regler). Der P-Anteil bestimmt
die Kreisverstärkung des Regelkreises und ist somit für die Stabilität sehr wichtig. Man muss
einen Kompromiss finden zwischen schneller Dynamik und kleiner bleibender
Regelabweichung 1/(1+K) (ohne I-Anteil) einerseits und genügendem Abstand zur
Stabilitätsgrenze und guter Dämpfung andererseits.
Für einfache Regelaufgaben reicht oft ein P-Regler schon aus, wenn die bleibende
Regelabweichung vernachlässigt oder toleriert werden kann (oder = 0 ist, weil die Strecke
einen I-Anteil besitzt).
Für sehr hohe Verstärkungen nähert sich der P-Regler einem Zweipunktregler an, der
zwischen den Stellgliedgrenzen hin- und herschaltet (z.B. Ventil auf / Ventil zu, Strom an /
Strom aus, ...):
u P-Regler mit sehr großer Verstärkung
P-Regler mit großer Verstärkung
Stellgliedgrenzen P-Regler mit kleiner Verstärkung
e

University

10. Einfache lineare Regler Seite 327


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Prinzipien bei der Auslegung von PID-Reglern, I-Anteil:
Hauptzweck eines I-Anteils ist die Vermeidung bleibender Regelabweichungen. Daher ist ein
I-Anteil normalerweise nicht nötig, wenn die Strecke schon einen I-Anteil besitzt.
Ausnahme: Es wird ein doppelter I-Anteil zur Vermeidung von Schleppfehlern benötigt.
Oder ein sehr vorsichtiger Regler soll entworfen werden: Ein reiner I-Regler erzeugt keine
Sprünge in der Stellgröße, ist also immer recht langsam. Das ist z.B. für Prozesse mit großer
Totzeit ratsam.
Wird ein I-Anteil im Regler nicht aus wichtigen Gründen benötigt, sollte er weggelassen
werden (P- oder PD-Regler), da seine Phasenabsenkung um 90° destabilisierend wirkt und
den Phasenrand entsprechend verkleinert.

University

10. Einfache lineare Regler Seite 328


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Prinzipien bei der Auslegung von PID-Reglern, D-Anteil:
Der D-Anteil wird oft nicht verwendet (P- oder PI-Regler). Zum Einsatz kommt er
hauptsächlich, wenn schnelle Dynamik gefragt ist oder die Strecke instabil ist (häufig kommt
I- bzw. doppeltes I-Verhalten in der Strecke vor; z.B. Drehzahl → Position oder
Beschleunigung → Drehzahl bzw. Beschleunigung → Position).
Mit dem D-Anteil sollte man sehr vorsichtig umgehen. Eine gute Strategie ist es, ohne
D-Anteil zu starten und ihn schrittweise zu vergrößern. Sich schnell ändernde Führungs-
oder Störgrößen (z.B. Sprünge) können wegen der starken Reaktion des D-Anteils leicht zu
Überschwingern führen. Dies kann man für die Führungsgröße abschwächen, indem man
diese mit einem sog. Führungsgrößenfilter/Vorfilter tiefpassfiltert.
Hochfrequente Rauschanteile werden durch die Differentiation verstärkt (um so mehr, je
kleiner die Zeitkonstante des realen DT1-Glieds ist).
Generell hat der D-Anteil einen positiven Einfluss auf die Dynamik: Er macht den Regelkreis
schneller und hebt die Phase um 90° an.

University

10. Einfache lineare Regler Seite 329


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
PID-Regler mit D-Anteil nur in der Rückführung (in der Industrie weit verbreitet!):
Der D-Anteil soll auf den Trend (Änderung) der Regelabweichung reagieren. Das funktioniert
sehr gut solange sich die Führungsgröße nicht ändert (Festwertregelung) bzw. zumindest
nicht sehr schnell ändert. Bei einem sprungförmigen Verlauf der Führungsgröße w wird eine
extreme Reaktion (theoretisch unendlich) des D-Anteils provoziert, die normalerweise nicht
gewollt ist.
Daher wird in industriellen PID-Reglern der D-Anteil oft nur in die Rückführung integriert.
D.h. es wird die Ableitung von –y und nicht von w–y verwendet. Alternativ (rechtes Bild)
kann man den D-Anteil von w über eine negative Vorsteuerung wieder eliminieren.

PID-Regler ohne D-Anteil im Pfad w → y PID-Regler ohne D-Anteil im Pfad w → y

D-Anteil
PI-Regler Strecke

PID-Regler Strecke
D-Anteil

University

10. Einfache lineare Regler Seite 330


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.4 PID-Regler
Übertragungsfunktion eines PID-Regler mit D-Anteil nur in der Rückführung:
Die Stellgröße berechnet sich auf Führungs- und Regelgröße wie folgt:

Die Übertragungsfunktion des offenen Regelkreises G0(s) hat sich im Vergleich zum
"normalen" PID-Regler nicht verändert:

(identisch zu G0(s) mit normalem PID-Regler)

wobei GS(s) die Übertragungsfunktion der Strecke ist. D.h. wir können mit dem industriellen
PID-Regler genauso die Pole des geschlossenen Regelkreises beeinflussen wie mit dem
"normalen" PID-Regler. Unterschiedlich ist aber der Vorwärtszweig, der nur aus dem PI-
Anteil besteht. Daher ergibt sich ein verändertes Führungsverhalten des Regelkreises:

(anders als Gw(s) mit normalem PID-Regler)

University

10. Einfache lineare Regler Seite 331


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
10.5 Reglerrealisierungen
Elektronische Realisierung eines PID-Reglers mittels Operationsverstärkerschaltung
Eigenschaften eines idealen negativ rückgekoppelten Operationsverstärkers:
• Verstärkung → ∞.
• Eingangsspannung ≈ 0.
• Eingangsstrom ≈ 0.
Z2
GR (s) =
Z1
Übertragungsfunktion:

4 Schaltungsparameter zum Einstellen


1 R1 C 1 + R2 C 2 von 3 Reglerparametern
GR (s) = + + R 2 C1 s
R1 C 2 s R1 C 2
→ Jeder beliebige PID-Regler möglich!
I-Anteil P-Anteil D-Anteil
University

10. Einfache lineare Regler Seite 332


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11. Reglerentwurf
mittels Optimierung
oder Einstellregeln

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 333 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 11
11 Reglerentwurf mittels Optimierung und Einstellregeln

11.1 Gütekriterien
11.2 Parameteroptimierung
11.3 Einstellregeln nach Ziegler-Nichols
11.4 Einstellregeln nach Summenzeitkonstante

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 334


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
Eine nahe liegende Idee für den Reglerentwurf ist folgende:
1. Lege die Reglerstruktur fest (z.B. P-Regler oder PI-Regler, ...).
2. Überlege ob das Störgrößen- oder Führungsgrößenverhalten wichtiger ist und welcher
Signaltyp als Störgröße bzw. Führungsgröße zu erwarten ist (z.B. Einheitssprung von
w(t)).
3. Stelle ein Gütekriterium auf, das die Qualität (Performance) der Regelung beurteilt.
4. Programmiere eine Funktion, die dieses Gütekriterium ausrechnet in Abhängigkeit der
noch zu ermittelnden Reglerparameter (z.B. KP und KI).
5. Setze ein Optimierungsverfahren ein, um die Reglerparameter so lange zu verändern, bis
das Optimum des Gütekriteriums gefunden ist.
6. Verwende diese optimalen Parameter. Reglerparameter

Optimierungs- Güte-
verfahren kriterium

Güte des Regelkreises


University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 335


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
Vorbemerkungen
• Man kann neutral von einer Zielfunktion (objective function) sprechen, die optimiert
werden soll oder von einer Gütefunktion (quality function), die maximiert werden soll
oder von Verlust- (loss) bzw. Kosten- (cost) bzw. Fehlerfunktion (error function), die
minimiert werden soll. Das ist Alles äquivalent, und lässt sich per Vorzeichenumkehr
ineinander überführen.
Wir sprechen hier meist von einer zu minimierenden Verlustfunktion J.
• Man unterscheidet lineare und nichtlineare Optimierungsprobleme.
• Wenn alle zu optimierenden Parameter den Fehler linear beeinflussen und die
Verlustfunktion als Summe (oder Integral) der Fehlerquadrate gewählt wird, dann
entsteht ein lineares Optimierungsproblem.
Anzahl der Datenpunkte

Beispiel:

gewünschte Polynom-
Funktionswerte werte

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 336


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
Lineare Optimierungsprobleme haben folgende sehr "schöne" Eigenschaften:
• Eindeutige Lösung.
• Geschlossenen Lösung.
• Ausgereifte, schnelle, numerisch stabile Lösungsverfahren.
• MATLAB-Funktionen: pinv, inv, "\". MATLAB

Nichtlineare Optimierungsprobleme haben folgende weniger "schöne" Eigenschaften:


• Lokale Optima können neben dem globalen Optimum existieren.
• Keine geschlossene Lösung, nicht mal für lokale Optima.
• Iterative, langsamere aber numerisch stabile und ausgereifte lokale Lösungsverfahren.
D.h. deren Lösung hängt vom Anfangswert/Startwert der Parameter ab.
• Iterative, sehr langsame globale Lösungsverfahren, die versuchen, das globale bzw.
zumindest ein "gutes" lokales Optimum zu finden.
• MATLAB-Funktionen: fminsearch, fminunc, lsqnonlin MATLAB
(lokale Verfahren in der Optimierungs-Toolbox).
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 337


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Regleroptimierung ist ein nichtlineares Optimierungsproblem
Im Standardregelkreis ist die Regelabweichung im Frequenzbereich gegeben durch:

✓ ◆ ✓ ◆
GR (s)GS (s) Q(s)B(s)
= 1− W (s) = 1− W (s)
1 + GR (s)GS (s) P (s)A(s) + Q(s)B(s)

Selbst für einfache Regler, wie z.B. einen P-Regler (Q(s) = KR. P(s) = 1) ergibt sich ein
nichtlinearer Zusammenhang zwischen dem/den Reglerparameter(n) und der
Regelabweichung:

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 338


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
1.2
w
11.1 Gütekriterien 1

0.8 y
0.6

Mögliche Gütekriterien 0.4

0.2

0 e
-0.2
0 2 4 6 8 10

Zeit t
1

• Aufintegrierter Fehlerbetrag 0.8


|e(t)|
0.6

0.4

0.2

Positive und negative Fehleranteile sollen sich nicht aufheben. 0


0 2 4 6 8 10
1

• Aufintegriertes Fehlerquadrat 0.8


e2(t)
0.6

0.4

0.2

Bietet viele rechnerische Vorteile bei der Optimierung. 0


0 2 4 6 8 10
1

• Aufintegriertes zeitgewichtetes Fehlerquadrat 0.8

0.6

0.4 t e2(t)
0.2
Eine spätere Abweichung wird stärker bestraft. 0
0 2 4 6 8 10

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 339


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
• Aufintegriertes Fehlerquadrat mit Bestrafung der quadratischen Stellgröße

Das aufintegrierte Quadrat der Stellgröße entspricht der eingesetzten Stellenergie. In


einigen Anwendungen wird auch direkt eine Energieeinsparung damit bezweckt
(Luft- und Raumfahrt). Typischerweise ist dieser Strafterm aber nur ein Vehikel, um
die Stellgrößenausschläge niedriger (im Vergleich zu ! = 0) zu halten, damit
a) ihre Begrenzungen/Anschläge nicht oder nicht so oft/lange überschritten werden
(bzw. u(t) nicht gegen unendlich strebt),
b) das Stellglied nicht so schnell verschleißt,
c) durch große Stellgrößenamplituden keine so hohen Frequenzen angeregt werden, dass
das zugrunde liegende Streckenmodell zu ungenau wird (Vernachlässigung schneller
Dynamik bei der Modellierung),
d) die Regelung weniger aggressiv (d.h. langsamer) und damit robuster wird.

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 340


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
• Aufintegriertes Fehlerquadrat mit Bestrafung der quadratischen Änderung der
Stellgröße

Mit !u(t) ist die Änderung der Stellgröße pro Zeiteinheit gemeint, also eigentlich die
Ableitung von u(t). Wenn die Schrittweite !t des Integrationsverfahrens aber gleich
bleibt, kann man vereinfacht auch !u(t) = u(t) – u(t – !t) schreiben (genauso wie bei
abgetasteten Systemen).
Die Bestrafung von !u2(t) statt u2(t) hat folgende Vorteile:
1. In vielen Anwendungen verbraucht nicht das Halten eines Absolutwerts der Stellgröße
Energie sondern die Änderung der Stellgröße.
2. Wenn die Strecke keinen I-Anteil besitzt, dann gilt für den Regelkreis im
eingeschwungenen Zustand: Falls y0 ≠ 0 dann folgt daraus auch u0 ≠ 0. D.h. der
Strafterm ∫ "u2(t)dt wird mit steigender Simulationszeit Tsim immer größer.
3. Eine Bestrafung von u2(t) ist besonders dann sinnvoll, wenn die Stellgröße im einge-
schwungenen Zustand wieder auf 0 zurück geht (Ausregelung von Impuls-Störungen).
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 341


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
Rolle des Hyperparameters !
• Der Name "Hyper-" oder "Metaparameter" rührt daher, dass dieser Parameter die
Verlustfunktion bestimmt und damit indirekt alle Reglerparameter steuert.
• ! → 0: Stellgröße wird nicht berücksichtigt. Regelkreis wird sehr (zu) schnell. In der
Praxis ergeben sich häufig Stellgrößen, die vom Stellglied gar nicht realisiert werden
können (z.B. ein Ventil kann nicht mehr als "auf" und weniger als "zu" sein; ein Motor
hat eine Maximalleistung, ...). Solche Begrenzungen sind nichtlineare Effekte und wir
berücksichtigen diese in RT nicht! Es ist klar, dass sich dann große Abweichungen
zwischen Simulation und Realität ergeben können.
• ! → ∞: Regelabweichung wird nicht berücksichtigt. !→0
Regelkreis wird beliebig langsam.

Menge der pareto-optimalen Lösungen von !

!→∞

für ! = 0 ... ∞. J1 J2

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 342


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.1 Gütekriterien
Pareto-optimale Lösungen
• Alle möglichen Punkte auf der blauen Kurve sind pareto-optimal, d.h. sie lassen sich
nicht in einer Zielfunktion verbessern ohne gleichzeitig die andere zu verschlechtern.
• Alle pareto-optimalen Lösungen sind prinzipiell gleichwertig. Welche den besten
Kompromiss (trade-off) zwischen den beiden Zielen darstellt, muss der Benutzer (nach
anderen Kriterien) entscheiden. Meist lassen sich diese "anderen Kriterien" schwer
mathematisch fassen, sonst hätte man sie von vorn herein in die Verlustfunktion mit
aufgenommen und das Optimierungsverfahren die insgesamt beste Lösung suchen lassen.

Mehrzieloptimierung (multi-objective optimization)


• Die Bildung einer gewichteten Summe aus 2 oder mehreren Zielfunktionen ist eine sehr
typische Vorgehensweise, um aus einem Optimierungsproblem mit mehreren Zielen
(z.B. minimaler Regelfehler und minimale Stellgrößenaktivität) ein Optimierungsproblem
mit einem Ziel zu machen. Dafür muss man meist an dem Hyperparameter ! "drehen" bis
man einen guten Kompromiss zwischen den Zielen gefunden hat.
• Es gibt spezielle Mehrzieloptimierungsverfahren, die effizient viele Lösungen in der
pareto-optimalen Menge finden und damit das "Drehen" an ! automatisch durchführen.
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 343


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Beispiel: Optimierung eines P-Reglers für die Strecke
auf einen Einheitssprung der Führungsgröße.

Hurwitz-Kriterium liefert folgende Stabilitätsgrenzen:


Charakteristische Gleichung:
Bedingungen:

4
• Eindimensionales Optimierungsproblem 10
J
• Simulationszeit: Tsim = 10 sec. 3
10

• Verlustfunktion:
2
10


1
10

• Bleibende Regelabw.: 0
10
0 2 4 6 8 10
Kopt K
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 344


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Optimierungsergebnisse
1.4
Kopt = 5 K=2
1.2
1

1
0.8

0.8
y(t)

0.6

y(t)
0.6

0.4
0.4

0.2
0.2

0 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
1 1.8
K = –1 K = 10 1.6
0
1.4
-1
1.2

-2 1

y(t)
y(t)

-3 0.8

0.6
-4
0.4
-5
0.2

-6 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
t [sec] t [sec]
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 345


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Analyse der Ergebnisse
• Da es sich um einen P-Regler handelt und die Strecke keinen I-Anteil aufweist, ergibt
sich eine bleibende Regelabweichung, die um so kleiner ist, je größer die Verstärkung
gewählt wird.
• Der optimale P-Regler mit K = 5 erreicht kein befriedigendes Regelverhalten. Das stark
oszillatorische Verhalten musste offensichtlich in Kauf genommen werden, um die
bleibende Regelabweichung zu reduzieren, vergleiche Ergebnis für K = 2.
• Der Kompromiss zwischen wenig oszillatorischem Verhalten und geringer
Regelabweichung hängt auch von der Wahl der Simulationszeit Tsim ab. Bei einer
längeren Simulationszeit wird die bleibenden Regelabweichung größeren Einfluss in der
Verlustfunktion bekommen. Dann wird die optimale Reglerverstärkung ansteigen, und
die Stärke der Oszillationen wird zunehmen.
• Die beiden Fälle K = –1 und K = 10 zeigen das Verhalten an der Stabilitätsgrenze, also
für den grenzstabilen Fall. Offensichtlich hat der geschlossene Regelkreis für K = –1
einen Pol im Ursprung (integrales Verhalten) und für K = 10 einen imaginären Doppelpol
bei ±i!0 (Dauerschwingung mit Kreisfrequenz !0).

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 346


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Wahl der Simulationszeit Tsim
Im Regelfall wird der offene Regelkreis G0(s) einen Integrator enthalten und somit eine
bleibende Regelabweichung vermeiden. Dann kann die Simulationszeit gegen unendlich
gehen (Tsim → ∞), um sicher zu stellen, dass alle Einschwingvorgänge abgeschlossen sind.
Die sehr häufig verwendete Verlustfunktion der aufintegrierten Fehlerquadrate kann dann
mittels des folgenden Satzes in den Frequenzbereich transformiert werden:

Parsevalsches Theorem:

Energie eines Signals Energie des transformierten Signals


=
im Zeitbereich im Frequenzbereich

Wir müssen also E(s) berechnen und können dann mit Hilfe des Parsevalschen Theorems
eine geschlossene Formel (abhängig von den Reglerparametern) für die Verlustfunktion
herleiten. Diese lässt sich dann viel schneller berechnen als eine Simulation im Zeitbereich.
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 347


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Beispiel: Optimierung eines PI-Reglers für die Strecke
auf einen Einheitssprung der Führungsgröße.

Zunächst vereinfachen wir das Problem zu einem 1-Parameter-Optimierungsproblem. Später


wird dann die allgemeine 2-Parameter-Optimierung (P- und I-Anteil gleichzeitig) behandelt.
Wir wählen die Zählerzeitkonstante des PI-Reglers gleich der langsamsten Nenner-
Zeitkonstante der Strecke, so dass sich die langsamste Dynamik wegkürzt:

→ Wähle TI = 1 sec.

Durch diese sinnvolle (aber nicht notwendigerweise optimale) Wahl des einen Regler-
parameters reduziert sich das Problem auf die Optimierung von KP.
Führungsübertragungsfunktion:

Bleibende Reglabweichung ist nun durch I-Anteil beseitigt: .


University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 348


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Hurwitz-Kriterium liefert folgende Stabilitätsgrenzen:

• Eindimensionales Optimierungsproblem
• Simulationszeit: Tsim = 10 sec.

• Verlustfunktion: 2
10
J
• KP, opt = 1,65

1
10

0 1 2 3 4 5
KP, opt KP
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 349


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
KP, opt = 1,65 KP = 1
1.4 1.4

1.2 1.2

1 1

0.8 0.8
y(t) y(t)
0.6 0.6

0.4 0.4

0.2 0.2

0 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
2 2

1.5 1.5

1 1
u(t) u(t)
0.5 0.5

0 0

-0.5 -0.5

-1 -1
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
t [sec] t [sec]
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 350


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Analyse der Ergebnisse
• Für das optimale Regelergebnis werden deutlich höhere (nach oben und nach unten)
Stellgrößen benötigt als für die langsamere Variante mit KP = 1.
• Die langsamere Variante scheint einige Vorteile für sich verbuchen zu können:
1. Geringere Stellgrößenausschläge.
2. Weniger Überschwingen.
3. Kürzere Beruhigungszeit, d.h. schnelleres Einschwingen innerhalb eines schmalen
Bandes um den Sollwert.
Als Nachteil im Vergleich zur optimalen Lösung steht dem "nur" gegenüber:
1. Längere Anstiegszeit.
• Wenn wir nun eine etwas langsamere Anstiegszeit in Kauf nehmen möchten, dann
müssen wir die Verlustfunktion ändern. Z.B. könnten wir nur die Beträge –nicht die
Quadrate– des Fehlers bestraften, dann würden die großen Fehler (nahe t = 0 sec) nicht so
stark gewichtet. Alternativ können wir die Stellgrößenaktivität bestrafen. Dies hat den
Vorteil, dass wir mit dem Hyperparameter ! unsere Zielvorstellung ausdrücken können.

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 351


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Verlauf der Verlustfunktion für verschiedenen Werte von !:
• Je größer ! wird, desto weiter rückt das Minimum nach links, d.h. in Richtung kleinerer
Verstärkungen, weil die Stellgrößenänderung verringert werden muss.
6
10

5
10
! = 10000
4
10

10
3 ! = 144

10
2 !=7
! = 0,1
1
10

0
10
0 1 2 3 4 5
KP
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 352


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Also wählen wir als Verlustfunktion:

0.35
! = 0,1 → KP, opt = 1,65 Die absolute Skalierung von
! hängt von den absoluten
0.3

0.25 Skalen von y und "u ab. Eine


Normierung dieser Größen
0.2
kann die Wahl des sinnvollen
0.15 Bereichs für ! erleichtern.
! = 7 → KP, opt = 1,2 Auch ist es zweckmäßig !
0.1
entsprechend einer
! = 144
0.05 ! = 10000 logarithmischen Skala zu
→ KP, opt = 0,65 → KP, opt = 0,25 verändern, da große Bereiche
0
abgedeckt werden müssen.
-0.05
8 10 12 14 16 18 20 22 24 26

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 353


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
! = 7 → KP, opt = 1,2 ! = 144 → KP, opt = 0,65
1.4 1.4

1.2 1.2

1 1

0.8 0.8
y(t) y(t)
0.6 0.6

0.4 0.4

0.2 0.2

0 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
1.5 1.5

1 1

u(t) u(t)
0.5 0.5

0 0

-0.5 -0.5
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
t [sec] t [sec]
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 354


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Gleichzeitige Optimierung des P- und I-Anteils des PI-Reglers
• Verlustfunktion wurde für instabile Fälle auf 100 begrenzt.
• Stark unterschiedlicher P- und I-Anteil im Vergleich zur vorherigen Strategie bestehend
aus Faustregel für I-Anteil und Optimierung des P-Anteils.
• Trotzdem relativ ähnlicher zeitlicher Verlauf.
• Verlustfunktion stark nichtlinear aber mit nur einem eindeutigen Minimum. (Das muss
nicht so sein!) für instabile Regelkreise
wurde J = 100 gesetzt!
5
2 4.5
1.8 4
1.6
3.5
log J

1.4
3
1.2
2.5
1
2
0.8
0 1.5
1 5
2
3 10
4 5 15 1
0 5 10 15

University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 355


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.2 Parameteroptimierung
Für KP, opt und TI,opt
1.4 3.5

1.2 3

2.5
1
2
0.8
y(t) u(t) 1.5
0.6
1
0.4
0.5
0.2 0

0 -0.5
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
t [sec] t [sec]

Simulationszeit von 0 bis


10 sec / ∞
Zusammefassung:
• Optimaler P-Regler: J = 9,3 / ∞ (bleibende Regelabweichung)
• PI-Regler mit I-Anteil nach Faustregel: J = 10,6 / 10,7
• Optimaler PI-Regler: J = 7,4 / 7,6
University

11. Reglerentwurf mittels Optimierung Seite 356


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.3 Einstellregeln nach Ziegler-Nichols
Wenn ein (explizites) Modell der Regelstrecke nicht vorliegt bzw. dessen Entwicklung
unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten würde oder wenn die Rechnerunterstützung zur
Optimierung nicht kurzfristig verfügbar ist, dann können heuristische Einstellregeln helfen
einen Standardregler (P, PI, PID) mit minimalem Aufwand sinnvoll einzustellen, um ein
ineffektives langwieriges Ausprobieren zu vermeiden bzw. zu verkürzen.

Vorteile von Einstellregeln


• Ein (explizites) Modell wird nicht benötigt.
• Schnell und ohne Rechnereinsatz verwendbar.

Nachteile von Einstellregeln


• Nur für die Standardreglerstrukturen (P, PI, PID) zu gebrauchen.
• Regelkreis muss stabil sein und Experimente (Sprungantwort, Schwingversuch) erlauben.
• Nur suboptimal.
• Bestimmte dynamische Anforderungen können nicht garantiert werden.

University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 357


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.3 Einstellregeln nach Ziegler-Nichols
Die bekanntesten Einstellregeln kommen von Ziegler und Nichols. Es existieren 2 alternative
Varianten:

Einstellregel 1 nach Ziegler-Nichols


Voraussetzungen: Die Regelstrecke ist stabil und die Sprungantwort kann gemessen werden
und weist näherungsweise aperiodisches (d.h. nicht oder nur sehr schwach oszillatorisches)
Verhalten auf.
1. Bestimme die Sprungantwort der Regelstrecke
2. Die Sprungantwort wird durch ein PT1-Tt-Glied approximiert (siehe nächste Seite).
3. Die Reglerparameter werden entsprechend der unten stehenden Tabelle gewählt.

P-Regler:

PI-Regler:

PID-Regler:

University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 358


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.3 Einstellregeln nach Ziegler-Nichols
Die Sprungantwort muss durch ein PT1Tt-Glied approximiert werden:

0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
t [sec]
University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 359


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.3 Einstellregeln nach Ziegler-Nichols
Einstellregel 2 nach Ziegler-Nichols
Voraussetzungen: Die Regelstrecke ist stabil und darf in einem Dauerschwingversuch an ihre
Stabilitätsgrenze gebracht werden (das ist oft nicht durchführbar).
1. Die Regelstrecke wird zunächst mit einem reinen P-Regler geregelt.
2. Die Verstärkung des P-Reglers wird im Experiment so lange erhöht bis die
Stabilitätsgrenze erreicht ist, d.h. bis die Regelgröße eine Dauerschwingung konstanter
Amplitude ausführt (Ortskurve von G0(i!) geht durch –1).
3. Die Verstärkung Kkrit an der Stabilitätsgrenze und die Periodendauer Tkrit der
Dauerschwingung sind die Basis für die Bestimmung der Reglerparameter mittels der
unten stehenden Tabelle.

P-Regler: → erzeugt einen Amplitudenrand von kR = 2

PI-Regler:

PID-Regler:

University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 360


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.4 Einstellregeln nach Summenzeitkonstante
Einstellregel mittels Summenzeitkonstante
Voraussetzungen: Die Regelstrecke ist stabil und die Sprungantwort kann gemessen werden
und weist näherungsweise aperiodisches Verhalten auf.
1. Messung einer Sprungantwort der Regelstrecke.
2. Bestimmung der Summenzeitkonstante T! und der Streckenverstärkung K aus der
Sprungantwort (siehe nächste Folie).
3. Die Reglerparameter werden entsprechend der unten stehenden Tabelle gewählt.

PI-Regler:

PID-Regler:

Bemerkung: Falls ein Modell der Strecke bekannt ist, dann kann daraus die
Summenzeitkonstante berechnet werden (Bed.: alle TVi < max Ti, damit kein Überschwingen):

University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 361


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
11.4 Einstellregeln nach Summenzeitkonstante
Ermittlung der Summenzeitkonstante aus einer Sprungsantwort
• Die Flächen A1 und A2 sollen gleich groß sein!

0
0
University

11. Reglerentwurf mittels Einstellregeln Seite 362


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12. Reglerentwurf
mittels Kompensation

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 363 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 12
12 Reglerentwurf mittels Kompensation

12.1 Steuerung phasenminimaler Systeme


12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme
12.3 Kompensationsregler
12.4 Polvorgabe-Regler

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 364


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.1 Steuerung phasenminimaler Systeme
Betrachten wir zunächst einmal das einfachere Problem der Steuerung.

Führungsgröße Stellgröße Steuergröße

Zur Vereinfachung nehmen wir zunächst an, dass GS(s) stabil und phasenminimal ist, d.h.
B(s) und A(s) haben nur stabile Nullstellen. Instabile Strecken können prinzipiell nicht
gesteuert werden (sie müssen vorher über eine Rückkopplung, also eine Regelung, stabilisiert
werden). Nicht phasenminimale Strecken → nächster Abschnitt. Außerdem nehmen wir an,
dass evtl. mögliche Pol/Nullstellen-Kürzungen an der Strecke vorgenommen worden sind.
Für die optimale Steuerung gilt:

Dies ist erfüllt für:

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 365


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.1 Steuerung phasenminimaler Systeme
Die optimale Steuerung ist also die Inverse der Strecke (siehe Kapitel 1.4):

Ist diese optimale Steuerung aber auch realisierbar?


(Fast) alle realen Strecken sind nicht sprungfähig, d.h. es gilt:
Zählergrad deg(B) = m < Nennergrad deg(A) = n
Für die Inverse müsste also gelten, dass der Zählergrad größer als der Nennergrad ist. Eine
solche Steuerung ist aber nicht realisierbar (reine D-Anteile)!
Wir können die Realisierbarkeit aber erzwingen, indem wir (wie bei einem realen D-Glied)
Verzögerungsglieder mit kleiner Zeitkonstante hinzu multiplizieren:

Zählergrad = n Nennergrad = m

Zählergrad = n Nennergrad = m + n – m = n

realisierbar!
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 366


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.1 Steuerung phasenminimaler Systeme
Die Wahl von T ist ein
Beispiel: Steuerung der Strecke
Kompromiss zwischen
Rauschunempfindlichkeit
und Schnelligkeit
(Dynamik) der Steuerung!

mit z.B. T = 0.1 sec

Beispiel: Steuerung der Strecke

mit z.B. T = 0.1 sec

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 367


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme
Instabile Nullstellen dürfen nicht weggekürzt werden, weil:
• Strecke und Modell der Strecke nie genau übereinstimmen und somit ein instabiler Pol in
der Steuerung entsteht.
• Selbst wenn Strecke und Modell der Strecke exakt übereinstimmen würden, ist die
Übertragungsfunktion GR(s) instabil, was zu unendlich großen Stellgrößen führen kann.
Also müssen stabile und instabile Nullstellen der Strecke offensichtlich unterschiedlich
behandelt werden. Dazu spalten wir B(s) in seinen stabilen B+(s) und seinen instabilen B–(s)
Teil auf:
Führungsgröße Stellgröße Steuergröße

Im
Bemerkung: In B–(s) sollten auch sehr schwach gedämpfte (aber
B+(s) B–(s)
noch stabile) Nullstellen einbezogen werden, weil es auch ratsam
ist, diese nicht zu kürzen. Denn bei nicht exakter Kürzung können Re
aufgrund der schwachen Dämpfung starke Oszillationen entstehen.
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 368


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme
Es gibt im Wesentlichen 3 Strategien zur Behandlung der instabilen Nullstellen in B–(s):
1. Ignorieren: Die instabilen Nullstellen verbleiben unkompensiert im Zähler der
Führungsübertragungsfunktion Gw(s). Dies ist die einfachste Methode.
2. Amplitudengang der Führungsübertragungsfunktion |Gw(i!)| = 1: Allerdings erreicht
man damit keine perfekte Steuerung, weil die Phase verzerrt wird. Der ideale
Amplitudengang |Gw(i!)| = 1 wird erreicht, wenn jede instabile Nullstelle der Strecke
mit ihrem (an der Im-Achse) gespiegelten Gegenpart im Nenner der Steuerung
"kompensiert" wird.
Jedem Faktor (1–Tis) in B–(s) wird also ein Faktor (1+Tis) im Nenner P(s) der Steuerung
entgegen gesetzt.
3. Phasengang der Führungsübertragungsfunktion ∠Gw(i!) = 0: Allerdings erreicht man
damit keine perfekte Steuerung, weil die Amplitude verzerrt wird. Der ideale Phasengang
∠Gw(i!) = 0 wird erreicht, wenn jede instabile Nullstelle der Strecke mit ihrem (an der
Im-Achse) gespiegelten Gegenpart im Zähler der Steuerung "kompensiert" wird.
Jedem Faktor (1–Tis) in B–(s) wird also ein Faktor (1+Tis) im Zähler Q(s) der Steuerung
entgegen gesetzt.

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 369


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme
Beispiel: Steuerung der Strecke

Methode 1:

Methode 2: Allpass
(Amplitudengang = 1)

Rein reeller Frequenzgang


Methode 3: (Phasengang = 0)

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 370


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme

T = 1 sec
60

Methode 2: 40

Magnitude (dB)
Beste Amplituden- 20

wiedergabe (~ 0 dB) 0 1
2
-20

Methode 3: -40

-60
Beste Phasen- 0
wiedergabe (~ 0°)
90 3
Phase (deg)

Methode 1: 2
1
-180
Zwischenweg

-270
-3 -2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 371


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.2 Steuerung nicht phasenminimaler Systeme

T = 0,1 sec
60
3
Methode 2: 40

Magnitude (dB)
Beste Amplituden- 20 1
wiedergabe (~ 0 dB) 0
2
-20

Methode 3: -40

-60
Beste Phasen- 0
wiedergabe (~ 0°)
3
90
Phase (deg)

1
Methode 1:
2
-180
Zwischenweg

-270
-3 -2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 372


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.3 Kompensationsregler
Vorbemerkung: Nullstellen/Pole der Regelstrecke und des geschlossenen Regelkreises
Betrachten wir die Übertragungsfunktionen der Strecke und des geschlossenen Regelkreises:

• Die Pole der Strecke können durch die Rückkopplung mittels Q(s) und P(s) verschoben
werden.
• Stabile Pole der Strecke können mittels Q(s) gekürzt werden.
• Die Nullstellen der Strecke bleiben durch die Rückkopplung erhalten.
• Stabile Nullstellen der Strecke können mittels P(s) gekürzt werden.

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 373


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.3 Kompensationsregler
Wir wünschen uns ein bestimmtes Verhalten für die Führungsübertragungsfunktion Gw(s) des
geschlossenen Regelkreises. Daraus rechnen wir den Regler aus, der dieses Gw(s) erzeugt.

!
=

• Die Forderung Gw(s) = 1 ist nicht möglich, da sie einen Regler GR(s) → ∞ erfordern
würde (perfekte Regelung).
• Die Strecke GS(s) wird invertiert (steht im Nenner), d.h. sie muss stabil und
phasenminimal sein, damit keine instabilen Pol/Nullstellen-Kürzungen auftreten!
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 374


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.3 Kompensationsregler
Eine vernünftige Forderung für das Führungsgrößenverhalten ist z.B.: .
Daraus ergibt sich folgender (streckenabhängiger) Regler:

Beispiel: PT1-Strecke

→ PI-Regler

Beispiel: PT2-Strecke

→ PID-Regler

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 375


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.3 Kompensationsregler
Die Forderung nach PT1-Führungsverhalten mit einem einzigen freien Parameter T
führt automatisch sowohl auf die Reglerstruktur als auch auf alle Reglerparameter!

Die beiden Beispiele zeigen:


• PT1-Strecke: Regler mit Zählergrad = Nennergrad
• PT2-Strecke: Regler mit Zählergrad = Nennergrad + 1, also nicht mehr realisierbar!
• Für eine PT3-Strecke würden wir erhalten: Regler mit Zählergrad = Nennergrad + 2 ...
Um die Realisierbarkeit des Reglers sicherzustellen sollten wir für das Führungsverhalten
z.B. fordern:

Dann ergibt sich immer ein Regler mit Zählergrad = Nennergrad.


Interessant ist auch: Falls GS(s) keinen I-Anteil hat, ergibt sch immer ein Regler mit I-Anteil.
(Die "1" in (1+Ts)n–m fällt gegen die "–1" weg und ein "s" lässt sich ausklammern.) Das muss
auch so sein, da das vorgegebene Führungsverhalten keine bleibende Regelabweichung hat.
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 376


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.3 Kompensationsregler
Was können wir tun, wenn die Strecke nicht phasenminimal ist?
Aus der Steuerung nicht phasenminimaler Systeme wissen wir, dass man die instabilen
Zählernullstellen nicht wegkürzen darf. Man muss sie im Führungsverhalten akzeptieren.
Wir können den Kompensationsregler also auf nicht phasenminimale Strecken erweitern,
wenn wir fordern, dass alle instabilen (in Praxis auch alle sehr schwach gedämpften)
Nullstellen der Strecke im gewünschten Führungsverhalten Gw(s) enthalten sein müssen.

Beispiel: Nicht phasenminimale Strecke

Wir fordern: instabile Nullstelle wird in das


„gewünschte“ Verhalten übernommen

→ Regler kürzt die instabile Nullstelle nicht!

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 377


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Der Kompensationsregler kann nur für stabile Prozesse verwendet werden. Außerdem ist die
Forderung, einem beliebig vorgegebenen Führungsverhalten zu folgen, recht "streng". Der
Regler wird daher (zumindest in manchen Frequenzbereichen) aggressiv eingreifen müssen
und nicht besonders robust ausfallen.
Im Folgenden gehen wir von dieser Maximalforderung einen Schritt zurück und verlangen
"bloß", dass der geschlossenen Regelkreis vorgegebene Pole aufweist. Es wird sich zeigen,
dass diese Forderung (prinzipiell) für jede beliebige Strecke erfüllbar ist, und zwar
unabhängig von der Wahl der gewünschten Pole! Bzgl. der Nullstellen und des sonstigen
Führungsverhaltens stellen wir keine Forderungen.

Diophantische
Gleichung
Polvorgabe:

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 378


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Beispiel: Phasenminimale Strecke 2. Ordnung
Frage: Wie viele Pole können/müssen wir vorgeben?
Charakteristische Gleichung:

Regler 0. Ordnung: P(s) = p0, Q(s) = q0: 2 Unbekannte, 3 Gleichungen.


Regler 1. Ordnung: P(s) = p1s + p0, Q(s) = q1s + q0 : 4 Unbekannte, 4 Gleichungen.
Regler 2. Ordnung: P(s) = p2s2 + p1s + p0, Q(s) = q2s2 + q1s + q0 : 6 Unbekannte, 5 Gl.

• Ein Regler 0. Ordnung kann die Pole nicht wie gefordert verschieben.
• Ein Regler 1. Ordnung kann die Pole wie gefordert verschieben.
• Ein Regler 2. und höherer Ordnung kann die Pole wie gefordert verschieben und hat
zusätzliche Freiheitsgrade, die für andere Zwecke genutzt werden können (z.B. zur
Erzwingung eines I-Anteils, um bleibende Regelabweichungen zu vermeiden).
Wählen wir zunächst den Regler minimaler Ordnung um unsere Forderung zu erfüllen...

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 379


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Charakteristische Gleichung mit Regler 1. Ordnung:

Wir fordern einen Dreifachpol bei –0,25 bzw. PT3-Verhalten mit Zeitkonstante 4 sec.:

Koeffizientenvergleich ergibt:

s2 : 11p1 + 28p0 + 5q1 = 48


In Matrix-Vektor-Form schreibt sich das:

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 380


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Damit ergeben sich die Reglerparameter:

Und somit der Regler und die Reglerverstärkung: → PDT1-Regler


2, 571s + 0, 643 4s + 1
GR (s) = = 0, 643
2, 286s + 0, 357 2, 286s + 0, 357
Daraus berechnet sich die Führungsübertragungsfunktion zu:

vorgegebene Pole!
Auf einen Führungsgrößensprung der Höhe 1 haben wir also eine bleibende
Regelabweichung von 1 – 0,643 = 0,357. Es wurden ja auch nur die Pole vorgegeben und
nichts für den Zähler bzw. die Verstärkung gefordert!
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 381


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Beispiel: Nicht phasenminimale Strecke 2. Ordnung

Mit den selben Forderungen wie im vorherigen Beispiel führt dies auf ein ähnliches
Gleichungssystem. Anstelle der "+5" tritt aber eine "–5":

Der Regler und die Reglerverstärkung berechnen sich zu: → PDT1-Regler

Sehr kleine Verstärkung!


(Regler muss bei nicht phasen-
Dies ergibt folgende Führungsübertragungsfunktion: minimaler Strecke vorsichtig
sein. Stabilitätsgrenze ist wegen
zusätzlicher Phase näher!)

Riesige bleibende Regelabweichung auf Einheitssprung von 1 – 0,107 = 0,893.


University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 382


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Wie können wir Regler höherer Ordnung mit Polvorgabe entwerfen?

Beispiel: Strecke 2. Ordnung

Charakteristische Gleichung:

Regler 1. Ordnung kann alle Pole beliebig verschieben. Regler 2. Ordnung bietet einen
überschüssigen Freiheitsgrad (5 Gleichungen für 6 unbekannte Parameter):

Den freien Parameter können wir z.B. sinnvoll nutzen, um im Regler einen I-Anteil zu
erzwingen, indem wir p0 = 0 setzen. Dann lautet die Übertragungsfunktion des Reglers:

→ PIDT1-Regler

Nun haben wir ein Problem mit 5 unbekannten Parametern zu deren Bestimmung
5 Gleichungen zur Verfügung stehen. Das ist analog zu den vorherigen Beispielen lösbar.

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 383


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Charakteristische Gleichung im allgemeinen Fall:

Ordnung: r n r m n+r (da n ≥ m)

Wie groß muss die Ordnung r des Reglers gewählt werden, damit das Polvorgabe-
problem exakt gelöst werden kann?
• Anzahl der Gleichungen: n + r + 1 (höchste Polynomordnung + 1 für Gleichwert)
• Anzahl der unbekannten Parameter: 2(r + 1) (je r + 1 für Zähler und Nenner des Reglers)

→ n + r + 1 = 2r +2 → r=n–1

Ausgeschrieben ergibt sich dann also folgende charakteristische Gleichung:

= 0, wenn m < n – 1
= 0, wenn m < n
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 384


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
In Matrix-Vektor-Form lassen sich die 2n Gleichungen, die sich aus dem Koeffizienten-
vergleich ergeben wie folgt schreiben:

enthält die enthält die enthält die Koeffizienten des


Streckenparameter Reglerparameter Polynoms aus der Polvorgabe

n n
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 385


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Die Matrix M nennt man Sylvester-Matrix. Sie spielt in vielen Bereichen der angewandten
Mathematik eine große Rolle. Für uns sind folgende Eigenschaften wichtig:
• M ist invertierbar, wenn die Polynome A(s) und B(s) keine gemeinsamen Nullstellen
aufweisen. Dies lässt sich immer durch evtl. Pol/Nullstellen-Kürzungen in B(s)/A(s)
erreichen. Damit lassen sich die Reglerparameter eindeutig bestimmen.
• Wir normieren typischerweise an = 1.
• Fast alle realen Prozesse sind nicht sprungfähig; dann gilt m < n (nicht nur m ≤ n) und
somit ist bn = 0.

Wie sollen die gewünschten Pole eigentlich gewählt werden?


Diese Frage wird im nächsten Kapitel ausführlich behandelt. Die sinnvolle Wahl der
gewünschten Pole ist schwierig. Man sollte auf jeden Fall aufpassen keine zu scharfen
Forderungen an den Regelkreis zu stellen, wie z.B. sehr schnelles und gleichzeitig
überschwingfreies Einschwingen. Denn obwohl alle Polkombinationen prinzipiell
realisierbar sind, können zu scharfe Forderungen auf sehr unrobustes Verhalten in Bezug auf
Modellungenauigkeiten und zu sehr aggressiven Stelleingriffen führen!
University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 386


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
12.4 Polvorgabe-Regler
Bemerkung: Wir sind beim Polvorgaberegler stets davon ausgegangen, dass wir einen
Regler mit Zählergrad = Nennergrad haben und dass alle Parameter unabhängig voneinander
bestimmt werden können bzw. müssen. Diese Vorgehensweise ist deswegen richtig, weil wir
auch keine Einschränkungen bei dem Polvorgabepolynom gemacht haben. So können wir die
Forderung nach einen Dreifachpol bei s = –2 auf die verschiedensten Arten ausdrücken, z.B.:

Würden wir uns auf eine Form festlegen, z.B. auf den Typ N(s) = (s+s1)·...·(s+s2n–1), dann
wäre automatische der Koeffizient vor der höchsten Potenz s2n–1 gleich 1. Dann müssten wir
auch pn–1 = 1 festlegen (und wie zuvor beschrieben: an = 1, bn = 0), damit das
Gleichungssystem noch lösbar ist. Die erste Gleichung lautet dann "pn–1 = 1", was keine neue
Information bringt.

University

12. Reglerentwurf mittels Kompensation Seite 387


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13. Wurzelortskurve (WOK)

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 388 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 13
13 Wurzelortskurve (WOK)

13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten


13.2 Konstruktion der WOK
13.3 Reglerentwurf mittels WOK

University

13. Wurzelortskurve Seite 389


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Viele Entwurfsverfahren geben eine Wunschlage für die Pole des geschlossenen Regelkreises
vor. Welche Polvorgabe ist sinnvoll? Zunächst einige quantitative Überlegungen:
• Alle Pole müssen stabil sein, also einen negativen Realteil aufweisen.
• Pole sehr nahe der imaginären Achse führen auf (zu) langsames Verhalten.
• Pole sehr weit entfernt von der imaginären Achse führen auf (zu) aggressives
Stellverhalten und eine (zu) geringe Robustheit gegenüber Modellfehlern wegen der
Anregung hoher Frequenzen.
• Pole mit großem Imaginärteil (im Vergleich zu ihrem Realteil) führen auf schwach
gedämpftes Verhalten, d.h. starkes Überschwingen bzw. Oszillationen.

Bemerkung: Wenn in der Folge von schnellen und langsamen Polen bzw. Zeitkonstanten die
Rede ist, dann verstehen sich diese Ausdrücke immer relativ zu den Polen bzw. Zeitkonstanten
der Regelstrecke.
Für einen Kläranlagenprozess kann 10 min eine schnelle Zeitkonstante sein; für ein
Magnetlager kann 0,1 sec eine langsame Zeitkonstante sein.
Daher sind die Re- und Im-Achsen in der Folge auch nicht absolut skaliert!
University

13. Wurzelortskurve Seite 390


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Die Überlegungen der vorherigen Folie legen folgendes Zielgebiet für die Wunschpole nahe:
• Nicht zu langsam. → Links von der roten (weiter rechts liegenden senkrechten) Linie.
• Nicht zu schnell. → Rechts von der grünen (weiter links liegenden senkrechten) Linie.
• Keine zu niedrige Dämpfung. → Zwischen den blauen schrägen Linien.

Im

Bemerkung: Die Erfahrung zeigt, dass es


ungünstig ist, die gewünschten Pole dicht
beieinander zu platzieren. Es wird
Wunschregion

empfohlen, die Wunschpole z.B. in


gleichmäßigen Abständen auf einem Kreis
Re
um den Ursprung des Koordinatensystems
innerhalb der Wunschregion zu legen
(gestrichelt violett).

University

13. Wurzelortskurve Seite 391


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Zur weiteren Analyse nehmen wir vereinfachend an, dass sich der geschlossene Regelkreis
durch ein schwingungsfähiges System 2. Ordnung mit Verstärkung Kw=1 beschreiben lässt:

Dies ist z.B. dann der Fall, wenn der offene Regelkreis IT1-Verhalten aufweist:

Ein solches IT1-Verhalten kommt häufig vor. Es kann sich z.B. aus einem P-Regler mit
IT1-Strecke oder einem I-Regler mit PT1-Strecke oder einem PI-Regler mit PT2-Strecke
(mit einer Pol/Nullstellen-Kürzung) ergeben.

Auch viele Systeme höherer Ordnung können so approximiert Im


werden, wenn das konjugiert komplexe Polpaar in Gw(s)
dominant ist, d.h. weit rechts im Vergleich zu den restlichen Re
Polen des geschlossenen Regelkreises liegt (also sehr langsam ist):

University

13. Wurzelortskurve Seite 392


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Nun untersuchen wir, wie charakteristische Werte der Sprungantwort mit der Lage der Pole
zusammenhängen. Dann können wir von Forderungen im Zeitbereich auf Forderungen im
Frequenzbereich (Pollage) umrechnen und somit eine sinnvolle Polvorgabe machen.
1.6
D = 0.2
1.4

1.2
Sprungantworten h(t)

D = 0.4
1

0.8

D = 0.8
0.6

0.4

0.2

0
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
t [sec]
University

13. Wurzelortskurve Seite 393


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
h(t) Im
ü
1

Re

0
0 Tan Tü Tbe t

Pole bei
Re-Teil:
Im-Teil:
Dämpfung:

University

13. Wurzelortskurve Seite 394


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Lassen sich diese Überlegungen auch auf das Störverhalten des Regelkreises übertragen?
Ja, denn es gilt folgender Zusammenhang:

Störgrößenübertragungsfunktion:

Damit ist die Antwort auf einen Einheitssprung der Störgröße:

hd(t)
d(t)
1

0
t

→ Aus Überschwingen wird Unterschwingen; alle sonstigen Größen sind 1:1 übertragbar!

University

13. Wurzelortskurve Seite 395


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.1 Beziehung zwischen Polen und Zeitverhalten
Geschlossener Regelkreis hat einen dominanten reellen Pol

Dieser Fall entsteht, wenn der offene Regelkreis integrales Verhalten aufweist bzw. als
Integrator approximiert werden kann (d.h. alle anderen Pole sind sehr schnell und damit
vernachlässigbar). Dies passiert insbesondere bei sehr langsam eingestellten Reglern.

Einzige charakteristische Größe der Sprungantwort ist die Beruhigungszeit Tbe(5%), d.h. die
Zeit, in der das ±5%-Intervall um den Endwert erreicht und nicht mehr verlassen wird.
Ein PT1-Glied erreicht 95% seines Endwertes nach der ca. 3-fachen Zeitkonstante. Daher:

University

13. Wurzelortskurve Seite 396


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
Wir wissen jetzt, wo wir die Pole des geschlossenen Regelkreises haben wollen. Aber wie
wählen wir einen Regler und dessen Parameter aus, um diese Pole zu erzeugen?
Möglichkeit 1: Kompensationsregler oder Polvorgabe (→ Kapitel 12)
• Liefert schnell und bequem Reglerstruktur und -parameter.
• Keine Information über Robustheit oder Abstand zur Stabilitätsgrenze.
• Keine Einsichten oder "Gefühl" für Zusammenhänge.

Möglichkeit 2: Wurzelortskurve (WOK)


• Die WOK sind die Orte in der s-Ebene, wo die Pole des geschlossenen Regelkreises
(in Abhängigkeit von Regler- oder auch Streckenparametern) liegen können.
• Meist wird zunächst die Struktur und die dynamischen Parameter (Pole und Nullstellen)
des Reglers anhand qualitativer Überlegungen festgelegt; dann wird die WOK in
Abhängigkeit der Reglerverstärkung gezeichnet.
• Die Pole des geschlossenen Regelkreises sind die Nullstellen oder Wurzeln des
charakteristischen Polynoms. Daher kommt der Name Wurzelortskurve.

University

13. Wurzelortskurve Seite 397


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
Beispiel: Lage der Pole (Wurzeln der char. Gleichung) des geschlossenen Regelkreises

IT1-Strecke: P-Regler:

Charakteristische Gleichung:

Pole (Wurzeln): Pole des offenen Im


Regelkreises 3
Pole des geschlossenen Regelkreises
2

0 0 –4
2 –0,6 –3,4 –4 –3,4 –2 –0,6 Re

4 –2 –2 WOK mit 2 Ästen: –2


8 –2+i2 –2–i2 : Lage des 1. Pols
–3
13 –2+i3 –2–i3 : Lage des 2. Pols
University

13. Wurzelortskurve Seite 398


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
ACHTUNG: Positive Vorzeichen!
Für die Konstruktion der WOK gehen wir von der charakteristischen Gleichung aus:

Evtl. zuvor vorhandene Koeffizienten bm und an werden in den Faktor k mit herein gezogen.
k ist nicht die Kreisverstärkung, d.h. das Produkt aus Regler- und Streckenverstärkung:

Für jeden Wert der Verstärkung k hat die charakteristische Gleichung genau n Lösungen
für s, nämlich die n Pole des geschlossenen Regelkreises. Variiert man nun k = 0, ... ∞, dann
ergeben sich n Kurven, die sog. Äste der WOK, welche den Verlauf der Pole des
geschlossenen Regelkreises in Abhängigkeit der Verstärkung k repräsentieren. Am Verlauf
der WOK können wir daher sehen, welche Pole sich für welche Verstärkungswerte ergeben.
Dann wählen wir auf den Ästen der WOK eine Punktkombination aus, die unseren
Wunschpolen möglichst nahe kommt und rechnen die zugehörige Reglerverstärkung aus:

University

13. Wurzelortskurve Seite 399


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK Annahme: k ≥ 0, für k < 0
siehe weiter hinten
Eigenschaften der WOK

Achtung: i = imaginäre Einheit!


Jeder Punkt auf der WOK muss also folgende Bedingungen einhalten:

→ Amplitudenbedingung:

l = . . . , −2, −1,
→ Phasenbedingung:
0, 1, 2, . . .

University

13. Wurzelortskurve Seite 400


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
Die Konstruktion der WOK direkt aus der Amplituden- und Phasenbedingung ist zu
aufwändig. Statt dessen können Konstruktionsregeln abgeleitet werden, die eine einfache
Skizzierung der WOK erlauben.
Den exakten Verlauf der WOK kann man mit MATLAB berechnen. Es ist trotzdem sehr
wichtig, die wesentlichen Konstruktionsregeln zu kennen, denn nur so hat man später einen
Anhaltspunkt für den Entwurf der Reglerstruktur!

Einige Eigenschaften der WOK lassen sich leicht ableiten:


• Die WOK ist symmetrisch zur reellen Achse: Die Pole des geschlossenen Kreises sind
reell oder konjugiert komplex. Daraus folgt unmittelbar die Symmetrie der WOK.
• Die n Äste der WOK beginnen in den Polen pi des offenen Regelkreises:
Das folgt aus der charakteristischen Gleichung für k → 0:

University

13. Wurzelortskurve Seite 401


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
• m Äste der WOK enden in den Nullstellen ni des offenen Regelkreises: Das folgt aus
der charakteristischen Gleichung für k → ∞:

• n–m Äste der WOK enden im Unendlichen: Man kann sich die "fehlenden" n–m
Nullstellen als Nullstellen im Unendlichen vorstellen. Eine allgemeine
Übertragungsfunktion mit Zählergrad m und Nennergrad n lässt sich schreiben als:

m Nullstellen bei: n–m Nullstellen bei:

unter der Bedingung TZ(m+1) = ... = TZn → 0.


University

13. Wurzelortskurve Seite 402


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
• Jeder Punkt der reellen Achse, auf dessen rechter Seite die Anzahl der reellen Pole
und Nullstellen (zusammen gezählt) ungerade ist, gehört zur WOK.
• Die Asymptotenwinkel der n–m Äste, die ins Unendliche gehen, berechnen sich aus:

• Der Schnittpunkt sA dieser Asymptoten liegt auf der reellen Achse bei:

• Die Verzweigungspunkte sv der WOK auf der reellen Achse genügen der Gleichung:

• Schneiden sich in einem Verzweigungspunkt q Äste der WOK, so ist der Betrag des
Schnittwinkels:

University

13. Wurzelortskurve Seite 403


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK

Typischer Verlauf von WOKs


[Lunze1]:

Asymptoten der WOK für unterschiedlichen


Polüberschuss n–m [Lunze1]:

University

13. Wurzelortskurve Seite 404


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
Die WOK vermittelt einige tiefere Einsichten über das dynamische Verhalten von
Regelkreisen, die weit über die Analyse einzelner spezieller Fälle hinausgehen:

1. Instabile Systeme
• Da die WOK bei den Polen des offenen Kreises startet, sind geschlossene Regelkreise mit
instabiler Strecke (oder Regler) bei kleinen Verstärkungen auch instabil. Es ist eine
gewisse Mindestverstärkung k > kkrit notwendig, um den Regelkreis zu stabilisieren. D.h.
die Rückkopplung muss genügend stark wirken.

Im
Instabile Regelstrecke!
kkrit

Re
für zu kleine Reglerverstärkungen ist
der geschlossene Regelkreis instabil!

University

13. Wurzelortskurve Seite 405


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
2. Nicht phasenminimale Systeme
• Da die WOK in den Nullstellen des offenen Kreises endet, werden geschlossene
Regelkreise mit nicht phasenminimaler Strecke (oder Regler) bei großen Verstärkungen
instabil. Es darf eine gewisse Maximalverstärkung
Im kkrit
k < kkrit nicht überschritten werden, um den
Regelkreis stabil zu halten. D.h. die Rückkopplung
Re
muss genügend schwach wirken.
für zu große Reglerverstärkungen ist
der geschlossene Regelkreis instabil!
3. Systeme mit instabilen Polen und Nullstellen
• Um einen instabilen Pol der Strecke zu stabilisieren, muss die Regelung genügend stark
eingreifen. Die Regelung muss schneller sein als der Pol.
Um mit einer instabilen Nullstelle der Strecke zurecht zu kommen, muss die Regelung
genügend schwach eingreifen. Die Regelung muss langsamer sein als die Nullstelle.
Beide Bedingungen lassen sich nicht gleichzeitig erfüllen, wenn eine Strecke einen
instabilen Pol und eine instabile Nullstelle aufweist, wobei der Pol schneller ist (weiter
rechts liegt) als die Nullstelle. Eine solche Strecke wäre praktisch nicht regelbar!

University

13. Wurzelortskurve Seite 406


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
4. Kürzung instabiler Pol/Nullstellen
• Wir wissen bereits, dass wir aus Gründen der inneren Stabilität keine instabilen Pol/
Nullstellen-Kürzungen durchführen dürfen. Die WOK zeigt, dass auch der gesamte
geschlossene Regelkreis höchstwahrscheinlich instabil sein wird, wenn die Nullstelle
den Pol nicht exakt trifft (was in der Praxis immer der Fall sein wird). Dann entsteht ein
kurzes Stückchen WOK in der rechten s-Halbebene; Im Im
egal ob die Nullstelle leicht rechts oder links vom
Pol liegt. Re Re
Geschlossener Regelkreis hat
5. Kürzung stabiler Pol/Nullstellen einen instabilen Pol!

• Bei einer stabilen Pol/Nullstellen-Kürzung liegt dieses kurze Stückchen WOK aber in
der linken s-Halbebene. Dort richtet es keinen Schaden an und beeinflusst den sonstigen
Verlauf der WOK nur minimal (je weniger, desto näher sich Pol und Nullstelle sind).
Daher können bei einer stabilen Pol/Nullstellen-Kürzung der Pol und die Nullstelle aus
dem WOK-Diagramm entfernt werden.

University

13. Wurzelortskurve Seite 407


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.2 Konstruktion der WOK
6. Regelung mit hoher Kreisverstärkung (high gain control)
• Für phasenminimale offene Kreise mit Polüberschuss 1 enden alle bis auf einen der
WOK-Äste in den Nullstellen. Dieser eine Ast strebt gegen –∞. Da wegen der
Phasenminimalität alle Nullstellen in der linken s-Halbebene liegen, erhält man für
hinreichend große Kreisverstärkungen k immer einen stabilen Regelkreis. Die Stabilität
ist gesichert, unabhängig von der genauen Lage der Nullstellen und Pole! Eine solche
Regelstrategie nennt man "High Gain Control".
Leider weisen nahezu alle realen Prozesse einen Polüberschuss größer als 1 auf, so dass
diese sehr einfache Regelstrategie meist nicht realisierbar ist.

Im

Re

Endlage der Pole des geschlossenen Regelkreises für k → ∞


University

13. Wurzelortskurve Seite 408


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
Ist die Reglerstruktur inkl. der dynamischen Parameter (Lage der Pole und Nullstellen) erst
einmal festgelegt, kann man mittels WOK-Analyse leicht einen geeigneten Wert für die
Reglerverstärkung finden. Dazu orientiert man sich an den Wunschregionen für die Pole des
geschlossenen Regelkreises (siehe Anfang dieses Kapitels).
Wie soll man aber die Reglerstruktur und die Lage der Reglerpolstellen und -nullstellen
festlegen? Dafür gibt es keine allgemein gültige, immer funktionierende Vorgehensweise.
Etwas Ausprobieren wird dabei immer eine Rolle spielen. Folgende Gedanken sollten die
Reglersynthese leiten:
• Der Regler sollte einfach sein, also möglichst wenige Nullstellen und Pole besitzen.
• Vorwissen (z.B. Notwendigkeit für einen I-Anteil o.ä. aus dem "inneren Modell"-
Prinzip) sollte von vorn herein in den Regler integriert werden.
• Standardüberlegungen sollten ausprobiert werden, wie z.B. das Kürzen des oder der
dominanten Streckenpole mit Reglernullstellen.
• Nullstellen wirken auf die WOK-Äste "anziehend", Pole "abstoßend".
• Ein reiner D-Anteil reduziert die Anzahl der Asymptoten um 1, ein Polüberschuss von q
im Regler erhöht die Anzahl der Asymptoten um q.
University

13. Wurzelortskurve Seite 409


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
Beispiel: Reglersynthese für die Strecke

1. P-Regler:

Die Stabilitätsgrenze wird schon bei recht niedrigen Verstärkungen erreicht.

mit P-Regler
8

Im 0

-2

-4

-6

-8
-12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2

Re
University

13. Wurzelortskurve Seite 410


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
2. Mehr Dynamik erzeugt ein realer PD-Regler (PDT1):

Kürzen des langsamsten Streckenpols mittels TD = 1 sec und die Wahl T = 1/10 sec
führen auf:

Schnellere Regelung als mit P-Regler möglich. Weiter von Stabilitätsgrenze entfernt.

mit realem PD-Regler, T = 1/10 sec mit realem PD-Regler, T = 1/30 sec
8 8

6 6

4 4

2 2
Pol bei –30
Im 0 Im 0

-2 -2

-4 -4

-6 -6

-8 -8
-12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2

Re Re
University

13. Wurzelortskurve Seite 411


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
3. Um bleibende Regelabweichungen zu vermeiden könnte man einen PI-Regler probieren:

Kürzen des langsamsten Streckenpols mittels TI = 1 sec führt auf:

mit PI-Regler
8
Der I-Anteil wirkt destabilisierend. Die WOK ist
6
durch den Pol bei 0 näher an die Stabilitätsgrenze
4
gerutscht.
2

Im 0
Das ist der Preis, den man für die Vermeidung der
-2 bleibenden Regelabweichung zahlt, solange man
-4 bei einem 2-Parameter-Regler bleibt.
Ein PID-Regler kombiniert die Vorteile des PD-
-6

-8
-12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2
und des PI-Reglers...
Re
University

13. Wurzelortskurve Seite 412


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
4. Mit einem PID-Regler können die Vorteile des PD- und des PI-Reglers kombiniert
werden. Realistischerweise nehmen wir einen realen PID-Regler:

Kürzen der 2 langsamen Streckenpole (TI = 1 sec, TD = 1/2 sec) und T = 1/10 sec:

mit realem PID-Regler , T = 1/10 sec


8

6 Die Dynamik ist im Vergleich zum P-Regler


4 deutlich verbessert. Zusätzlich verhindert der I-
2
Anteil eine bleibende Regelabweichung.
Im 0

-2
Je weniger der D-Anteil durch die Nennerzeit-
-4 konstante T verwässert wird, desto weiter biegen
-6 sich die beiden rechten WOK-Äste nach links
-8
-12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 und desto größer wird der Abstand zur
Re Stabilitätsgrenze.
University

13. Wurzelortskurve Seite 413


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
5. Für den Grenzfall T → 0 wird der reale PID-Regler zum idealen PID-Regler:

Gleicher Entwurf wie beim realen PID-Regler führt auf:

mit idealem PID-Regler


8

6 Durch den reinen D-Anteil reduziert sich die


4 Anzahl der Asymptoten auf 2. Dadurch wird der
2
Regelkreis strukturstabil, d.h. er bleibt für
Im 0
beliebig hohe Verstärkungen stabil; allerdings
-2
wird seine Dämpfung immer kleiner, er
-4

-6
schwingt also immer stärker.
-8
-12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2

Re
University

13. Wurzelortskurve Seite 414


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
WOK von nicht phasenminimalen Systemen
Bei der Herleitung der WOK-Regeln war vorausgesetzt worden, dass k ≥ 0 ist und dass
Zähler- und Nennerpolynom mit +sm bzw. +sn starten:

Bei nicht phasenminimalen offenen Regelkreisen kann es vorkommen, dass sich vor sm ein
Minuszeichen ergibt bzw. (alternativ) dieses Minus in k herein gezogen wird und dann k < 0
ist. Dies passiert genau dann, wenn es eine ungerade Anzahl instabiler Nullstellen gibt, z.B.:

Instabile Pole sind kein Problem, solange sie in der üblichen Form auftreten.

Hingegen zählen sie wie instabile Nullstellen, wenn sie als geschrieben sind.

In solchen Fällen ändern sich die WOK-Regeln! Sie entsprechen dann den WOK-Regeln
"normaler" Systeme (ohne das Minuszeichen) für den Fall negativer Kreisverstärkungen.
University

13. Wurzelortskurve Seite 415


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK
Für offene Regelkreise der Form

bzw. der Form wenn interessiert, wie die Pole bei


negativer Reglerverstärkung liegen.

ändern sich die WOK-Konstruktionsregeln wie folgt:

• Jeder Punkt der reellen Achse, auf dessen rechter Seite die Anzahl der reellen Pole
und Nullstellen (zusammen gezählt) gerade ist, gehört zur WOK.
• Die Asymptotenwinkel der n–m Äste, die ins Unendliche gehen, berechnen sich aus:

Die Auswirkungen der Regeln werden sozusagen an der Imaginärachse "gespiegelt"!

University

13. Wurzelortskurve Seite 416


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
13.3 Reglerentwurf mittels WOK MATLAB

WOK-Funktionen
s = tf('s'); % s als Laplace-Variable definieren
G0 = 8/((s+1)*(s+2)*(s+4)); % Übertragungsfunktion offener Kreis
rlocus(G0); % Zeichnet die WOK von G0
[k, Pole] = rlocfind(G0); % Mit der Maus kann man auf einen Punkt
% eines WOK-Astes klicken und bekommt
% die zugehörige Kreisverstärkung sowie
% die Pole des geschlossen Kreises
% zurückgegeben und angezeigt.
sisotool % Sehr komfortables GUI-Tool zur
% interaktiven Reglersynthese.
% Zunächst übergibt man nur die
% Übertragungsfunktion der
% Regelstrecke. Pole und Nullstellen
% des Reglers kann man nachher
% graphisch ergänzen und deren
% Auswirkungen direkt an der WOK
% beobachten.

University

13. Wurzelortskurve Seite 417


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14. *Reglerentwurf
im Frequenzbereich

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 418 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 14
14 *Reglerentwurf im Frequenzbereich

14.1 *Lead- und Lag-Glieder


14.2 *Betragsoptimum
14.3 *Symmetrisches Optimum

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 419


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Der ideale Regler im Frequenzbereich:
In der Realität wird es im offenen Regelkreis immer einen Polüberschuss geben (Strecke
inkl. Aktor und Sensor nicht sprungfähig) und Gw(s) für hohe Frequenzen abfallen.
10

0
Amplitudengang |Gw(i!)| [dB]

-3 idealer
-10
Regler
zu große
Dämpfung "optimale"
-20 Dämpfung zu niedrige
Dämpfung
-30

-40

-50
-2 -1 0 1 2 3
10 10 10 10 10 10
!B1 !B2 !B3 ! [rad/sec]
Bandbreiten der Regelkreise
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 420


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Neben den klassischen Reglern (P, PI, PID, ...) gibt es noch zwei häufig als Regler bzw. als
Teil des Reglers verwendete Korrekturglieder:

Lead-Glied oder phasenanhebendes Glied (TD > T):


• Reales PD-Glied.
Im
• Abgeschwächte Eigenschaften eines D-Glieds.
• Wird verwendet, um den Phasenrand zu vergrößern. Re
0 t
Lag-Glied oder phasenabsenkendes Glied (TD < T):
• Abgeschwächte Eigenschaften eines I-Glieds.
Im
• Wird als Alternative zum I-Glied verwendet, um
den Amplitudengang bei niedrigen Frequenzen Re
anzuheben (Verbesserung der stationären
Genauigkeit). 0 t

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 421


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Lead-Glied mit TD = 10 sec und T = 1 sec Lag-Glied mit TD = 1 sec und T = 10 sec
20 0

15 -5

Magnitude (dB)
Magnitude (dB)

10 -10

5 -15

0 -20
90 0
Phase (deg)

Phase (deg)
60 -30

30 -60

0 -90 -3
-3 -2 -1 0 1 2 -2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec) Frequency (rad/sec)

• Phasenanhebung im Bereich mittlerer • Amplitudenanhebung (zusammen mit


Frequenzen Amplitudenendurchtritts- vergrößertem Verstärkungsfaktor) bei
frequenz ). niedrigen Frequenzen .
• Wirkt dadurch stabilisierend ähnlich wie • Erhöht dadurch die stationäre Genau-
ein D-Glied, hat aber geringer Rausch- igkeit ähnlich wie ein I-Glied, hat aber
verstärkung bei hohen Frequenzen. nicht dessen destabilisierende Wirkung.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 422


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Beispiel für den Einsatz eines Lead-Glieds:

Regelstrecke: Regler: P-Regler

1. Wo liegt die Amplitudendurchtrittsfrequenz !D bei einer Reglerverstärkung von KR = 1?


Aus dem Bode-Diagramm lesen wir ab: !D = 3.5 rad/sec.

2. Dieser Regelkreis ist uns zu langsam. Wir erhöhen deshalb die Reglerverstärkung auf
KR = 5. Wo liegt nun die Amplitudendurchtrittsfrequenz?

Der Amplitudengang schiebt sich nach oben, die Amplitudendurchtrittsfrequenz wandert


daher nach rechts auf !D(2) = 9.5 rad/sec.

3. Vergleiche den Phasenrand für Fall 1 und 2.

Fall 1: "R = 60°. Fall 2: "R = 30°. Der Abstand zu Stabilitätsgrenze hat sich durch die
Erhöhung der Reglerverstärkung erheblich reduziert!

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 423


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder

30

Magnitude (dB) 20

10

-10

-20

-30
0

-45
Phase (deg)

-90

-135

-180
-1 0 1 2
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 424


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
4. Nun fügen wir ein Lead-Glied in den Regler ein, um die Phase in der Gegend um
!D = 9.5 rad/sec anzuheben und damit den Regelkreis robuster zu machen. Der Regler
ist also nun von der Form:

Die Knickfrequenzen für das Lead-Glied wählen wir symmetrisch um !D, also wegen
der logarithmischen Skalierung bei 5 rad/sec und 20 rad/sec. Wie lautet dann der Regler?

Die Verstärkung bleibt bei KR = 5, die Zeitkonstanten sind dann TD = 1/5 sec,
T = 1/20 sec.

5. Wie groß ist nun der Phasenrand und die Amplitudendurchtrittsfrequenz?


Der Phasenrand konnte auf "R = 50° (Fall 3) erhöht werden. Zusätzlich wurde durch
das lokale D-Verhalten des Reglers zwischen TD und T die Amplitudendurchtrittsfre-
quenz auf !D(3) = 17 rad/sec angehoben und die Bandbreite des Regelkreises erhöht.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 425


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Wirksamer Bereich des Lead-
Glieds

30

Magnitude (dB) 20

10

-10

-20

-30
0

-45
Phase (deg)

-90

-135

-180
-1 0 1 2
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 426


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Beispiel für den Einsatz eines Lag-Glieds:
Beginnen wir mit dem Ergebnis des vorherigen Beispiels.

Regelstrecke: P-Regler mit Lead-Glied:

1. Wie groß ist die bleibende Regelabweichung, wenn die Führungsgröße mit einem
Einheitssprung beaufschlagt wird?

Bleibende Regelabweichung =

2. Was kann man tun, um die bleibende Regelabweichung zu reduzieren?

a) Einführung eines I-Anteils. → Senkt die Phase um 90° ab und erzeugt Instabilität.
D.h. der Regler müsste komplett neu ausgelegt werden.
b) Vergrößerung der Verstärkung. → Reduziert die Phasenreserve.
c) Einsatz eines Lag-Glieds. → Vergrößert die Verstärkungen nur für kleine Frequenzen.
Phasenreserve bleibt (nahezu) erhalten!

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 427


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
3. Ergänze den Regler durch ein Lag-Glied mit den Eckfrequenzen bei 0.05 rad/sec und
0.5 rad/sec, so dass es den Verlauf des Frequenzgangs für höhere Frequenzen kaum
beeinflusst.

Das Lag-Glied hat die Übertragungsfunktion:

Aus den Eckfrequenzen ergibt sich:

Die Verstärkung KLag muss so gewählt werden, dass das Übertragungsverhalten bei
hohen Frequenzen nicht verändert wird. Daraus erhält man:

Der Gesamtregler lautet also:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 428


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
4. Wie groß ist die bleibende Regelabweichung mit dem neuen Regler?

Bleibende Regelabweichung =

5. Wie hätte man mit dem Lag-Glied eine noch kleinere bleibende Regelabweichung
erzwingen können?

Die Übertragungsfunktion des Lag-Glieds ist:

Die Verstärkung wurde so eingestellt, dass sich für hohe Frequenzen nichts verändert:

Je größer der Faktor zwischen T und TD ist, desto größer wird die Verstärkung KLag für
niedrige Frequenzen.
Wichtig ist, dass 1/TD deutlich kleiner (mindestens eine Zehnerpotenz) ist als die
Amplitudendurchtrittsfrequenz !D, damit die negative Phasenverschiebung des Lag-
Glieds schon abgeklungen ist und nicht mehr (wesentlich) die Phasenreserve reduziert.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 429


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.1 *Lead- und Lag-Glieder
Wirksamer Bereich des Lag-Glieds

60
mit Lag-Glied
+20 dB 40
(Faktor 10)
Magnitude (dB)

20 ohne Lag-Glied

-20
Kein Einfluss
0
des Lag-Glieds
-45
Phase (deg)

-90

-135

-180
-2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Frequency (rad/sec)

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 430


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Das Betragsoptimum ist eine Einstellregel, also nicht wirklich eine Optimierung, die oft in
der Antriebstechnik angewandt wird. Sie hat folgende wichtige Eigenschaften:
• Entwurfsidee kommt aus Überlegungen im Frequenzbereich.
• Führt auf stark gedämpftes (d.h. wenig überschwingendes aber auch langsames)
Verhalten des geschlossenen Regelkreises.
• Ist sehr einfach anwendbar.
• Geht von einem PT2-Verhalten des geschlossenen Regelkreises aus.

Wir gehen also von folgender Führungsübertragungsfunktion aus:

Daraus folgt unmittelbar ein IT1-Verhalten des offenen Regelkreises:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 431


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Ein solches IT1-Verhalten ergibt sich in vielen Anwendungen bzw. kann durch geschickte
Wahl des Reglers erzeugt werden. Hierzu 4 typische Beispiele:
1. PT1-Strecke und I-Regler freier Reglerparameter

freier
Reglerparameter
2. PT2-Strecke und PI-Regler mit Kürzung eines Streckenpols

3. PT3-Strecke und PID-Regler mit Kürzung zweier Streckenpole

freier Reglerparameter

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 432


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
freier Reglerparameter
4. IT1-Strecke und P-Regler

Wir behandeln nun nur Fall 1; die anderen Fälle lassen sich leicht durch Variablen-
umbenennung darauf zurück führen.
• Variablenumbenennung: bzw. für Fall 4.
• Im Falle des PI- bzw. PID-Reglers ist es normalerweise sinnvoll, jeweils die langsamsten
Pole wegzukürzen, um ein möglichst schnelles Regelverhalten zu ermöglichen.
• In allen Fällen bleibt nur noch 1 freier Reglerparameter zu bestimmen.
• Eine PT1-Strecke mit einem I-Regler zu regeln ist natürlich sehr "konservativ"; mit
einem PI- oder gar PID-Regler könnte man natürlich viel besseres Regelverhalten
erzielen – dann ließe sich aber das Betragsoptimum-Entwurfsverfahren nicht mehr
direkt anwenden.

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 433


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Aus Kapitel 10 wissen wir, dass für den idealen Regler gilt:
Führungsübertragungsfunktion: Störübertragungsfunktion:
Dann würde die Regelgröße y(t) jeder Führungsgröße w(t) perfekt folgen und durch die
Störgröße d(t) gar nicht beeinflusst. Wie wissen auch, dass diese Forderungen in Realität nur
näherungsweise erfüllt werden können.
Eine sinnvolle Forderung wäre z.B., dass der Amplitudengang möglichst lange (d.h. von
! = 0 bis zu möglichst hohen Frequenzen) möglichst nahe an 1 ist.

Beim Betragsoptimum fordern wir: . Aus dem offenen IT1-Regelkreis ergibt


sich folgendes PT2-Verhalten des geschlossenen Regelkreises:

Der Amplitudengang der Führungsübertragungsfunktion ist dann:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 434


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Wir fordern nun bzw. :

Diese Forderung wäre exakt erfüllt, wenn folgende Bedingungen gelten würden:
1. (wichtig für niedrige Frequenzen )
2. (wichtig für mittlere Frequenzen )
3. (wichtig für hohe Frequenzen )

Zu diesen Bedingungen:
1. Durch den I-Anteil gibt es keine bleibende Regelabweichung, d.h. stationär (für ! = 0)
ist die Regelung perfekt. Deshalb ist diese Bedingung immer erfüllt.
2. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn gilt:
Damit ist der freie Reglerparameter TI festgelegt.
3. Diese Bedingung lässt sich nie erfüllen. D.h. es wird bei hohen Frequenzen
Abweichungen von der idealen Regelung geben.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 435


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Setzen wir nur den Reglerparameter TI = 2KT1, der nach dem Betragsoptimum ermittelt
wurde, in die Führungsübertragungsfunktion ein, erhalten wir:

Ein Vergleich mit der PT2-Standardform liefert:


1.2

0.8

0.6 h(t)

Die Sprungantwort h(t) des Regelkreises 0.4

schwingt also ganz leicht über: 0.2

0
0 2 4 6 8 10 12
t / T1
Der Vergleich mit der PT1-Sprungantwort zeigt: Ein I-Regler ist nicht gerade schnell!
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 436


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.2 *Betragsoptimum
Vereinfachungen der Regelstrecke, um Betragsoptimum anwenden zu können
Wenn kein offener Regelkreis mit IT1-Verhalten vorliegt bzw. sich nicht durch geschickte
Wahl der Reglerstruktur erzeugen lässt, dann kann er manchmal durch folgende
Vereinfachungen erzeugt werden.

Kleine Totzeiten

PTn-Verhalten (Satz von der Summe der kleinen Zeitkonstanten)


Falls man bei PT2-Verhalten keinen PI-Regler oder bei PT3-Verhalten keinen PID-Regler
einsetzen kann/möchte oder n > 3 ist:

Diese Vereinfachung ist nur zulässig, wenn in Reihe zu diesem PTn-Glied ein I-Glied oder
ein PT1-Glied mit großer Zeitkonstante geschaltet ist.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 437


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Auch aus der Antriebstechnik kommt eine weitere, einfache Einstellregel: das symmetrische
Optimum. Beim ihm geht man von einer IT1-Regelstrecke aus, die mit einem PI-Regler
geregelt werden soll, nicht mit einem P-Regler: dann wären die Voraussetzung für das
Betragsoptimum erfüllt. Im Gegensatz zum Betragsoptimum hat hier der offene Regelkreis
doppelt integrales Verhalten (einen Integrator in der Strecke, einen weiteren im Regler).
Wegen des doppelten I-Anteils darf der PI-Regler nicht den Pol der Strecke kürzen:

(oszillatorisch grenzstabil!)

Die Nullstelle des Reglers muss


also aggressiver gewählt werden, PI-Regler IT1-Strecke
um mehr zur Stabilisierung
beizutragen:
→ TI > T1

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 438


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Um uns den Zusammenhang zwischen der Reglernullstelle und der Stabilität des
geschlossenen Regelkreises klar zu machen, schauen wir uns die WOK an.
• Ohne die Nullstelle des Reglers bei –1/TI und den Pol der Strecke bei –1/T1 (bzw. bei
einer perfekten Pol/Nullstellen-Kürzung) würde die WOK des Doppelintegrators die
Im-Achse hoch- und runterlaufen → oszillatorisch grenzstabil!.
• Da Pole die WOK-Äste abstoßen und Nullstellen die WOK-Äste anziehen, gelingt eine
Stabilisierung nur, wenn TI > T1.
5 5

Im 0 Im 0

-5 -5
-2.5 -2 -1.5 -1 -0.5 0 0.5 -2.5 -2 -1.5 -1 -0.5 0 0.5
Re Re
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 439


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Wir wählen der bequemen Rechnung wegen:

Damit ist die Nachstellzeit TI des PI-Reglers durch die Wahl von a festgelegt. Die Idee des
symmetrischen Optimums ist es, die Reglerverstärkung KP so zu bestimmen, dass die
Phasenreserve (für ein gegebenes a) maximal wird. Berechnen wir also die Phase des
offenen Regelkreises:
Im

PI-Regler IT1-Strecke Re

weil im III. Quadranten

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 440


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum

Auch an der Gleichung für die Phase erkennt man, dass TI > T1 sein muss, da sonst die Phase
immer unter –180° fallen würde, d.h. der Phasenrand negativ wäre und damit der Regelkreis
instabil.
Wo ist die Phase maximal?
geometrisches Mittel
von TI und T1
An dieser Frequenz soll der Amplitudengang gleich 1 sein. Dann ist nämlich definitions-
gemäß bei dieser Frequenz auch die Phasenreserve abzulesen. Und die Phasenreserve ist dort
natürlich maximal, weil ja die Phase dort maximal ist.

Mit der Wahl des Parameters a kann man nun die Größe der Phasenreserve beeinflussen.
Aus a ergibt sich über obige Gleichungen direkt die Reglerverstärkung KP und die
Nachstellzeit TI des PI-Reglers.
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 441


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Der Name "symmetrisches Optimum" kommt daher, dass bei logarithmischer Skala
genau in der Mitte zwischen 1/TI und 1/T1 liegt (geometrisches Mittel). Hier T1 = 1 sec.
50
Magnitude (dB)

-50
-90
Phase (deg)

-135

-180
-2 -1 0 1
10 10 10 10
Frequency (rad/sec)
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 442


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Die Sprungantworten des geschlossenen Regelkreises schwingen wegen des recht starken
D-Anteils über, selbst wenn die Pole alle reell sind. Abhilfe schafft ein Vorfilter GV(s), das
die Führungsgröße tiefpassfiltert.

Ohne Vorfilter Mit Vorfilter


1.8 1.8

1.6 1.6

1.4 1.4

1.2 1.2

y(t) 1 y(t) 1

0.8 0.8

0.6 0.6

0.4 0.4

0.2 0.2

0 0
0 5 10 15 20 25 30 0 5 10 15 20 25 30
t [sec] t [sec]
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 443


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Die Phasenreserve ergibt sich aus:

Da schreiben wir , also:

Umformen ergibt folgenden Zusammenhang zwischen a und der Phasenreserve !R:

Die Vorgehensweise beim Reglerentwurf könnte also mit der Vorgabe einer gewünschten
Phasenreserve starten:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 444


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Alternativ zur Vorgabe einer gewünschten Phasenreserve könnte man zur Festlegung von a
auch nach der Idee des Betragsoptimums vorgehen. Dazu berechnen wir die
Führungsübertragungsfunktion, zuvor aber zunächst den offenen Kreis:

Mit den Reglerparametern nach dem symmetrischen Optimum ergibt sich:

Daraus berechnet sich die Führungsübertragungsfunktion zu:

Zur Vereinfachung wird jetzt für die Forderung nur noch der Nenner
betrachtet. Der Zähler mit recht stark differenzierendem Verhalten führt zu starkem
Überschwingen und wird durch einen Tiefpass-Vorfilter, mit dem die Führungsgröße
gefiltert wird, entschärft.

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 445


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Das Quadrat des Amplitudengangs (mit Zähler = 1) ergibt sich zu:

Man kommt dem idealen Amplitudengang von 1 am nächsten, wenn man wählt:

Dann erhält man aus den Gleichungen nach dem symmetrischen Optimum:

Diese Einstellung führt auf eine Phasenreserve von:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 446


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Vergleich des Betrags der (vereinfachten) Führungsübertragungsfunktion für T1 = 1 sec und
für verschiedene Werte von a. Für a = 2 ist am besten erfüllt!

-5

-10
-2 -1 0
10 10 10

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 447


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
Das Verfahren des symmetrischen Optimums lässt sich von der IT1-Strecke mit PI-Regler
(offener Kreis hat dann I2T1-Verhalten) auf weitere Regelkreisstrukturen erweitern.

ITn-Strecke mit PID-Regler


Die Strecke hat eine dominante Zeitkonstante T1. Die im Vergleich dazu kleinen anderen
Zeitkonstanten werden zu TE zusammengefasst (aufsummiert). Es gilt :

Der PID-Regler kann den dominanten Streckenpol wegkürzen. Für und


TI = a2TE und TD = T1 ergibt sich wieder ein offener Kreis mit
I2T1-Verhalten:

University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 448


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
14.3 *Symmetrisches Optimum
PTn-Strecke mit PI-Regler
Hat eine PTn-Strecke einen dominanten Pol , so kann dieser wie ein Integrator
behandelt werden. Mit kann man dann approximieren:

Mit einem PI-Regler ergibt sich nun das Standardproblem des symmetrischen Optimums.

PTn-Strecke mit PID-Regler


Hat eine PTn-Strecke zwei dominante Pole , so kann der dominantere von
beiden wie ein Integrator behandelt werden (s.o.) und der zweite kann durch den
Zählerfaktor (1 + TDs) eines PID-Reglers mit TD = T2 weggekürzt werden.

Nach der Pol/Nullstellen-Kürzung ergibt sich wieder das Standardproblem des


symmetrischen Optimums aus IT1-Strecke und PI-Regler(-Rest).
University

14. Reglerentwurf im Frequenzbereich Seite 449


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15. Vertiefungen und
Erweiterungen des
Standardregelkreises

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 450 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 15
15. Vertiefungen und Erweiterungen des Standardregelkreises

15.1 Grenzen der Regelung

15.2 Vorsteuerung

15.3 Störgrößenaufschaltung
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
15.5 Kaskadenregelung

15.6 Mehrgrößenregelung
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
15.8 Stoßfreies Umschalten (Bumpless Transfer)

15.9 Smith-Prädiktor
15.10 Internal Model Control
15.11 Prädiktive Regelung
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 451


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Empfindlichkeit des geschlossenen Regelkreises auf Änderungen der Regelstrecke
Für die Beurteilung der Empfindlichkeit bzw. Robustheit von Regelungen ist entscheidend
wie stark sich Änderungen der Regelstrecke auf das Verhalten des geschlossenen
Regelkreises auswirken.
Eine Aufgabe der Rückkopplung besteht darin, den Einfluss solcher Streckenänderungen
abzuschwächen, den Regelkreis also robust zu machen.
Untersuchen wir, wie sich eine Änderung der Regelstrecke auf das Verhalten des
geschlossenen Regelkreises auswirkt:
Erinnerung:

Betrachten wir, wie im Bode-Diagramm, die Logarithmen der Übertragungsfunktionen:

denn es gilt:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 452


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Daraus ergibt sich:

Diese Übertragungsfunktion beschreibt wie stark sich eine Änderung der (logarithmierten)
Übertragungsfunktion der Regelstrecke auf die (logarithmierte) Übertragungsfunktion des
geschlossenen Regelkreises auswirkt. Man nennt sie daher

Empfindlichkeitsfunktion (sensitivity function):

Als Gegenstück dazu definiert man die

komplimentäre Empfindlichkeitsfunktion:

Es gilt daher immer:

bzw.
ACHTUNG! Das bedeutet nicht:
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 453


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung Identische Forderungen für gutes
Führungs- und Störverhalten
Interpretation der Empfindlichkeitsfunktion
Die Empfindlichkeitsfunktion S(s) beschreibt viele wichtige Zusammenhänge im Regelkreis:
• S(s) ist identisch mit der Störübertragungsfunktion Gd(s): d → y.
• S(s) ist identisch mit der Übertragungsfunktion von Führungsgröße zu Regelabweichung:
w → e.
• S(s) ist der Faktor, der die Übertragungsfunktion des offenen Kreises G0(s) von der
Übertragungsfunktion des geschlossenen Kreises Gw(s) unterscheidet:

Es entspricht dem "Anteil", der durch die Rückkopplung erzeugt wird, also der Wirkung
der Regelung im Vergleich zur Steuerung. Daher wird S(s) auch dynamischer
Regelfaktor genannt.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 454


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Frequenzdarstellung von S und T
20
I II III Im
|S| und |T| in dB

10

|T| Re
0

-10
|S|
-20
-1 0 1
10 10 10

Man unterscheidet 3 Frequenzbereiche:


I. Gegenkopplungsbereich: |S(i!)| < 1. Die Rückkopplung wirkt wie gewünscht.
Störungen werden unterdrückt, Führungsgrößen wird gefolgt, Einfluss von
Streckenänderungen wird reduziert.
II. Mitkopplungsbereich: |S(i!)| > 1. Die Rückkopplung wirkt kontraproduktiv.
III. Unempfindlichkeitsbereich: |S(i!)| ≈ 1. Die Rückkopplung wirkt gar nicht.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 455


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Bandbreite des Regelkreises
Der Regelkreis ist nur im Gegenkopplungsbereich im gewünschten Sinne aktiv. Wir fordern
eine Verbesserung der Störunterdrückung im Vergleich zum ungeregelten Kreis um
mindestens den Faktor 3 dB = :

Die obere Grenze des Frequenzbereichs, für den diese Forderung


erfüllt ist, nennt man Bandbreite (des geschlossenen Regelkreises).

Alternativ kann man auch die Phasendurchtrittsfrequenz als Bandbreite nehmen.


20
|S| und |G| in dB

10

|S|
0
-3

-10

-20
-1 0 1
10 10 10

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 456


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Gleichgewichtstheorem
Man würde sich wünschen, den Bereich I möglichst groß zu machen und den Bereich II
möglichst zu vermeiden. Leider ist dies i.A. nicht machbar. Der durch die Rückkopplung
erzielte Gewinn (Bereich I) muss durch einen Verlust an anderer Stelle (Bereich II) erkauft
werden (no free lunch!).
Das von Bode hergeleitete Gleichgewichtstheorem beschreibt diesen Zusammenhang:

Voraussetzungen:
• System stabil
• Polüberschuss ≥ 2

In der Praxis bedeutet die Voraussetzung, dass das System G0(s) mindestens Polüberschuss 2
(also Zählerordnung ≤ Nennerordnung – 2) haben muss, keine wirkliche Einschränkung, da
G0(s) aus Regler, Aktor, Strecke und Sensor besteht und jedes der letzten drei Elemente
normalerweise einen Polüberschuss von mindestens 1 aufweist, wenn nicht die schnellen
Dynamikanteile vernachlässigt werden.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 457


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Wasserbett-Effekt
Das Gleichgewichtstheorem sagt aus, dass die Fläche zwischen der "0 dB"-Linie und |S(i!)|
unterhalb (A1) der "0 dB"-Linie gleich der Fläche oberhalb (A2) ist. (Durch die
logarithmische Skala der Frequenz ist die Flächengleichheit optisch nicht klar zu erkennen.)
D.h. jede Verbesserung im Gegenkopplungsbereich führt zu einer Verschlechterung im
Mitkopplungsbereich. Allerdings kann man versuchen, den Gegenkopplungsbereich auf alle
(in der Stör- und Führungsgröße enthaltenen) relevanten Frequenzen auszudehnen; dann liegt
der Mitkopplungsbereich sehr hochfrequent und spielt praktisch eine untergeordnete Rolle.
20

10
A1 = A2 positiv
|S| in dB

A2 |S|
0

A1
-10
negativ
-20
-1 0 1
10 10 10

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 458


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Illustration des Wasserbett-Effekts
Größere Kreisverstärkungen führen zu größeren Bandbreiten, d.h. die Regelung ist bis zu
höheren Frequenzen wirksam (Schnittpunkt von |S(i!)| mit der "0 dB"-Line) und damit
schneller.
Dadurch wird aber die Fläche unter der "0 dB"-Line vergrößert. Das führt wegen des
Wasserbett-Effekts zu einer größeren Überhöhung der Empfindlichkeitsfunktion (Fläche
über der "0 dB"-Line wird auch größer).
Die maximale Empfindlichkeit steigt mit K an; der Regelkreis verliert Robustheit.
20

K = 1,5
K=1
10
|S| in dB

K = 0,75
0

-10

-20 -1 0 1
10 10 10

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 459


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Beispiel für den Wasserbett-Effekt
Betrachten wir einen Prozess 2. Ordnung mit Verstärkung K und einer schnellen und einer
langsamen Zeitkonstante T1 und T2:

Als Regler nehmen wir einen PI-Regler, der die Prozessverstärkung und die langsame
Zeitkonstante des Prozesses wegkürzt, um den Regelkreis zu beschleunigen:

Somit ist der offene Regelkreis und auch die Empfindlichkeitsfunktion nur noch von der
schnellen Prozesszeitkonstante und der Reglerverstärkung abhängig:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 460


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Beispiel für den Wasserbett-Effekt: WOK
Als einfaches Zahlenbeispiel wählen wir T1 = 1 sec und vergleichen verschiedene Regler-
verstärkungen miteinander. Die tiefsten Einsichten über die Abhängigkeit des Regelkreis-
verhaltens von der Reglerverstärkung KR liefert uns die Wurzelortskurve (WOK):

Im Bis zu einer Verstärkung von ¼ ergeben sich zwei reelle


1,94 Pole, bei KR = ¼ entsteht ein reeller Doppelpol bei −0,5
(apperiodischer Grenzfall). Für größere Regler-
0,88 verstärkungen fängt der Regelkreis an zu schwingen, und
zwar mit immer geringerer Dämpfung (größer werdender
Re Im-Anteil) je weiter KR erhöht wird.
−1 −0,5
−0,88 Theoretisch ist der Regelkreis strukturstabil, da die
Verstärkung unendlich groß werden kann und die Pole
−1,94 immer in der linken Halbebene liegen.
In der Praxis wird wegen Modellierungsungenauigkeiten
dennoch irgendwann instabiles Verhalten entstehen. Außerdem können wegen stets
vorhandenen (aber bei linearen Systemen vernachlässigten) Stellgrößenbeschränkungen, sehr
große Reglereingriffe gar nicht mehr praktisch umgesetzt werden.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 461


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Beispiel für den Wasserbett-Effekt: Empfindlichkeitsfunktionen und Sprungantworten
Mit steigender Reglerverstärkung KR passiert folgendes:
• Die Bandbreite (bis hierhin wird eine Störung abgeschwächt) des Regelkreises steigt an:
!B1/4 = 0,35 rad/sec, !B1 = 0,7 rad/sec, !B4 = 1,5 rad/sec.
• Der Regelkreis wird schneller.
• Der Regelkreis schwingt stärker.
• Der Regelkreis wird weniger robust (siehe nächste Seite).
Sprungantworten
1.5
Amplitudengänge der Empfindlichkeitsfunktionen
10

5
1
|S| in dB

-5
0.5
-10

-15

-20 -1 0
10 !B1/4 !B1
0
10 !B4 1
10 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
t [sec]
[rad/sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 462


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
Bode Diagram
50

15.1 Grenzen der Regelung

Magnitude (dB)
0

Beispiel für den Wasserbett-Effekt: Robustheit


-50

Der Nyquist-Plot, d.h. die Ortskurve des offenen


Regelkreises G0(i!), als auch dessen Frequenzgang
-100
-90

zeigen wie der Phasenrand und damit die Robustheit

Phase (deg)
des Regelkreises mit steigender Reglererstärkung KR -135

abnimmt.
-180 -2 -1 0 1 2
10 10 10 10 10
Nyquist Diagram
1 Frequency (rad/sec)
Einheitskreis Bode Diagram
0.5 10

5
0

Magnitude (dB)
−1 0
-0.5
Imaginary Axis

-5
-1
-10
-90
-15.5

Phase (deg)
-2
-135 76°
-2.5 52°
28°
-180 -1
-3 10 10
0
10
1
-3 -2.5 -2 -15.5 -1 -0.5 0 0.5 1
Frequency (rad/sec)
Real Axis

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 463


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Beispiel: Regelkreisverhalten auf verschiedenen Frequenzen
Der Regelkreis wird mit einer Amplitudengänge der Empfindlichkeitsfunktionen
10
sinusförmigen Störung der
5
Amplitude 1 am Ausgang gestört.

|S| in dB
0
Wie reagiert der Regelkreis in
-5
Abhängigkeit von der Frequenz
der Störung? -10

Die Dämpfung der Störung lässt -15

sich direkt aus der Empfindlich- -20 -1


10 0.3
0
10 3 10
1

keitsfunktion ablesen! [rad/sec]


15.5 15.5
1 ! = 0,1 rad/sec 1 ! = 1 rad/sec
0.5 0.5
0 0

-0.5 -0.5
-1 -1

Störsignale: -15.5
0 20 40 60 80 100 120
-15.5
0 20 40 60 80 100 120

15.5 15.5

u(t) = sin ! t 1

0.5
! = 0,3 rad/sec 1

0.5
! = 3 rad/sec
0 0
-0.5 -0.5
-1 -1

-15.5 -15.5
0 20 40 60 80 100 120 0 20 40 60 80 100 120

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 464


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung 1.5
Regelgröße y
1 ! = 0,1 rad/sec
Beispiel: Störunterdrückung bei
0.5
0

verschiedenen Frequenzen -0.5


-1

• ! = 0,1 rad/sec: Regelung funktioniert sehr gut, -1.5


0 20 40 60 80 100 120

dämpft selbst bei KR = ¼ um mehr als Faktor 2. 1.5


1 ! = 0,3 rad/sec
• ! = 0,3 rad/sec: Dämpfung nur noch für KR = 1 u. 4.0.50
• ! = 1 rad/sec: Dämpfung nur noch für KR = 4. -0.5
-1

• ! = 3 rad/sec: Keine Dämpfung für KR = ¼ u. 1, -1.5


0 5 10 15 20 25 30 35 40

für KR = 4 kontraproduktiv. 1.5


1
! = 1 rad/sec
Amplitudengänge der Empfindlichkeitsfunktionen 0.5

10 0
-0.5
5 -1
-1.5
0 0 2 4 6 8 10 12
1.5
-5 1 ! = 3 rad/sec

-10
! = 0,1 rad/sec 0.5
0
! = 0,3 rad/sec -0.5
-15 ! = 1 rad/sec
! = 3 rad/sec -1
-1.5
-20 -1 0 1 0 0.5 1 15.5 2 2.5 3 3.5 4
10 0.3 10 3 10
[rad/sec] t [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 465


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Gleichgewichtstheorem für instabile Systeme
Bodes Gleichgewichtstheorem wurde später auf instabile Systeme erweitert:

Voraussetzungen:
• ni instabile Pole pi
• Polüberschuss ≥ 2

Für ni = 0 instabile Pole geht diese Gleichung in die Formel für stabile Systeme über. Je mehr
instabile Pole vorliegen und desto schneller (größerer Realteil) diese Pole sind, desto weiter
verschiebt sich also die Empfindlichkeitsfunktion nach oben. D.h. instabile Pole kosten
prinzipiell Regelgüte.

Auch instabile Nullstellen schränken die Möglichkeiten der Regelung ein. Die Formeln sind
zu kompliziert, um sie hier zu diskutieren. Interessant ist aber: Eine Strecke ist um zu
schwerer zu regeln, je näher sich instabile Pole und instabile Nullstellen kommen.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 466


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.1 Grenzen der Regelung
Instabile Pole im offenen Kreis G0(s)
Die Bandbreite des geschlossenen Regelkreises sollte immer größer sein als der
schnellste instabile Pol des offenen Kreises. Ansonsten reagiert die Regelung zu langsam
um der instabilen Eigendynamik gegenzuhalten.
Das heißt auch, dass es für instabile Systeme nicht (nur) eine kritische maximale Verstärkung
gibt, ab welcher der Regelkreis instabil wird. Es gibt auch eine kritische minimale
Verstärkung, bis zu welcher der Regelkreis instabil ist.

Instabile Nullstellen im offenen Kreis G0(s)


Nicht phasenminimales Verhalten (Totzeiten und/oder instabile Nullstellen) schränkt die
Bandbreite des Regelkreises ein, weil durch die zusätzliche Phasenabsenkung im Vergleich
zum phasenminimalen System schon bei kleineren Kreisverstärkungen die Stabilitätsgrenze
erreicht wird. Instabile Nullstellen drehen für hohe Frequenzen das Vorzeichen der
Verstärkung um. Deshalb auch das typische gegenläufige Verhalten der Sprungantwort. Auch
hieran erkennt man, dass die Bandbreite eingeschränkt werden muss.
Als Faustregel gilt: Die Bandbreite sollte kleiner gewählt werden als die langsamste
instabile Nullstelle des offenen Kreises.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 467


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Optimale Steuerung
Wir wissen bereits, dass die Inverse der Strecke die ideale optimale Steuerung ist:

Die Hauptgründe, warum die ideale optimale Steuerung meist nicht realisierbar ist, sind:
1. Zählergrad ist größer (größer gleich) dem Nennergrad: Das ergibt sich zwangsläufig,
weil für die Strecke GS(s) gilt, dass ihr Zählergrad kleiner (in Ausnahmefällen gleich)
ihrem Nennergrad ist.
2. Negative Totzeit: Hat die Strecke eine Totzeit, so ergibt sich für die Inverse eine negative
Totzeit, d.h. ein Prädiktor! Ein solcher Prädiktor ist nur realisierbar, wenn der Verlauf der
Führungsgröße w(t) um mindestens die Totzeit Tt im voraus bekannt ist!
3. Instabiles Verhalten: Ist die Strecke nicht phasenminimal (hat also instabile Nullstellen),
dann folgt daraus, dass die ideale Steuerung instabile Pole aufweisen müsste. Das kann zu
unendlich großen Stellsignalen u(t) führen und bei nicht exakter Pol/Nullstellen-Kürzung
zu instabilem Gesamtverhalten. Instabile Strecken lassen sich generell nicht durch eine
Steuerung stabilisieren, dafür benötigt man eine Regelung!
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 468


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Realisierbare Steuerung
Folgende Strategien bieten sich an, um die ideale optimale Steuerung realisierbar zu machen:
1. Hinzufügen von Nennerzeitkonstanten bis Zählergrad gleich Nennergrad wird:

2. Ignorieren der negativen Totzeit:


Nennergrad von GS(s)
Zählergrad von GS(s)

3. Ignorieren der instabilen Nullstellen:

Andere Möglichkeiten zur Behandlung instabiler Strecken-Nullstellen wurden bereits in


Kapitel 12.2. beschrieben.

Wahl von T: Kompromiss zwischen Rauschempfindlichkeit und Schnelligkeit der Steuerung.


University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 469


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Regler mit 2 Freiheitsgraden (2 degrees of freedom (2-DOF) control)
Aus Kapitel 15.1 wissen wir, dass ein Standardregler gleich gut eine Ausgangsstörung d(t)
unterdrückt und für die Folge der Führungsgröße w(t) sorgt, solange d(t) und w(t) im gleichen
Frequenzbereich liegen, also z.B. beide sprungförmige Signalverläufe aufweisen. Liegen sie
in unterschiedlichen Frequenzbereichen, dann muss ein Kompromiss gefunden werden.
Die Einführung eines 2. Freiheitsgrades in das Regelsystem, nämlich einer Vorsteuerung
oder eines Vorfilters, ermöglicht eine individuelle, optimale Auslegung bezüglich der beiden
Anforderungen: Störgrößenunterdrückung und Führungsgrößenfolge. Ein Kompromiss ist
nicht mehr notwendig.

Vorsteuerung:

Die Stabilität des Regelkreises


wird nicht beeinflusst, denn es
handelt sich um eine Steuerung!

Vorfilter:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 470


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Vorteile von Regler mit 2 Freiheitsgraden (2 degrees of freedom (2-DOF) control)
Die Vor- und Nachteile von Steuerung und Regelung wurden bereits diskutiert. Mit der
Erweiterung des Standardregelkreises versucht man die Vorteile beider Ansätze zu vereinen.

Mittels Vorsteuerung kann die Schnelligkeit der Steuerung (w(t) wirkt direkt über den
Vorwärtszweig auf y(t), ohne auf die Rückkopplung warten zu müssen) kombiniert werden
mit der Robustheit der Regelung (Störungen und Unbekanntes der Strecke werden
ausgeregelt).

Wenn der Mensch als Regler agiert, ist dies meist ebenfalls eine Kombination aus beidem.
Z.B. beim Auto fahren um eine Kurve wird das Bekannte gesteuert und könnte auch mit
verbundenen Augen passieren (kein Sensor). Dieser Anteil nimmt mit Kenntnis der Strecke
und Erfahrung des Fahrers zu und geschieht sehr schnell.
Auf das Unbekannte (Unsicherheit oder Veränderung der Strecke, Baustellen, Menschen etc.)
wird geregelt. Dies benötigt die Augen (Sensor) und geschieht recht langsam.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 471


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Grundidee der Vorsteuerung
1. Zuerst wird die Vorsteuerung als (näherungsweise) Inverse der Strecke entworfen.
2. Danach wird der Regler so entworfen, dass er möglichst gut die Störung d(t) unterdrückt.
Dazu ist eine möglichst genaue Kenntnis des typischen Spektrums vom D(s) nützlich.

Grundidee des Vorfilters


1. Zuerst wird der Regler so entworfen, dass er möglichst gut die Störung d(t) unterdrückt.
Dazu ist eine möglichst genaue Kenntnis des typischen Spektrums von D(s) nützlich.
2. Danach wird der Vorfilter so entworfen, dass er die Dynamik des geschlossenen
Regelkreises verbessert, d.h. die Regelgröße besser der Führungsgröße folgt.

Die Interpretation und Vorgehensweise beider Ansätze ist zwar unterschiedlich, sie können
aber leicht ineinander umgerechnet werden.
Dafür fordern wir identische Führungsübertragungsfunktionen w → y für beide Ansätze...

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 472


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Äquivalenz von Vorsteuerung und Vorfilter
Die Führungsübertragungsfunktion beider Ansätze sind:

Gleichsetzen liefert:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 473


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Idealer Fall
Ohne Beachtung der Realisierbarkeit würden wir die Vorsteuerung als Inverse der Strecke
wählen:

Das ist äquivalent mit folgender Wahl des Vorfilters:

Das ist, wie zu erwarten, genau die Inverse der Übertragungsfunktion des geschlossenen
Regelkreises (ohne Vorfilter).

Die Vorsteuerung hängt im Gegensatz zum Vorfilter nicht vom Regler ab! Dies bietet den
Vorteil, dass sie nicht geändert werden muss, wenn der Regler z.B. durch nachträgliches
Adaptieren oder Optimieren verändert wird.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 474


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Alternative Entwurfsidee für Vorfilter
Annahme: Die Führungsübertragungsfunktion weist „störende“ D-Anteile
(Nullstellen) auf. Diese wirken oft störend, da sie zu evtl. starkem Überschwingen der
Sprungantwort führen können (siehe Kapitel 7). Solche D-Anteile können auf zwei Arten
entstehen:
• Regelstrecke weist D-Anteile auf.
• Regler weist D-Anteile auf. Diese sind zur Stabilisierung und Verbesserung der
dynamischen Eigenschaften des geschlossenen Regelkreises aber gewollt. Ihr Einfluss
auf den Nenner (die Pole) von ist erwünscht. Ihr Einfluss auf den Zähler
(die Nullstellen) von ist meist unerwünscht und muss zwangsläufig in Kauf
genommen werden.
Das Vorfilter kann in beiden Fällen dazu genutzt werden, die störenden Nullstellen in
wegzukürzen. Zunächst kann man sich also beim Entwurf des Reglers auf die
Veränderung der Pole des geschlossenen Regelkreises konzentrieren. Die evtl. negativen
Nebenwirkungen eines starken D-Anteils auf das Führungsverhalten werden danach mit dem
Vorfilter kompensiert.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 475


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.2 Vorsteuerung
Beispiel: Vorfilter kompensiert Nullstellen der Führungsübertragungsfunktion

Regelstrecke: (grenzstabil)

Regler: PD-Regler zur Stabilisierung. Kein I-Anteil nötig, da in Strecke schon enthalten.

störende Nullstelle

Führungsverhalten:

Vorfilter: ( , denn Gesamtverstärkung soll unverändert bleiben!)

1
ohne Vorfilter 1
ohne Vorfilter
Sprungantwort

Sprungantwort
0.8 0.8

0.6 0.6
mit Vorfilter mit Vorfilter
0.4 0.4

0.2 0.2

0 0
0 2 t [sec] 4 6 0 2 t [sec] 4 6

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 476


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Grundidee der Störgrößenaufschaltung
Wenn man eine Störgröße messen kann, dann kann sie ähnlich wie die Führungsgröße
behandelt werden. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Einfluss der Störgröße
möglichst klein sein soll.
Überträgt man das Konzept der Vorsteuerung auf messbare Störgrößen erhält man die sog.
Störgrößenaufschaltung. Eine messbare Störung z(t) wirkt über ein dynamisches System
GD(s) additiv auf die Regelgröße y(t). Eine solche Störung lässt sich (im Idealfall) perfekt
durch die Störgrößenaufschaltung GZ(s) kompensieren, falls gilt: roter Pfad =
blauer gestrichelter Pfad

Gleiche Formel wie bei


Vorsteuerung für GD(s) = 1.

Die Stabilität des Regelkreises


wird nicht beeinflusst, denn es
handelt sich um eine Steuerung!
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 477


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Realisierbarkeit der Störgrößenaufschaltung
Im Unterschied zur Vorsteuerung ist die Störgrößenaufschaltung meist leichter realisierbar,
weil das Problem durch das typischerweise verzögernde Verhalten von GD(s) entschärft wird.
Je stärker GD(s) verzögernd wirkt (größere Totzeit, stärkeres Tiefpassverhalten), um so
leichter lässt sich GZ(s) realisieren.

Beispiel:

Fall 1: (vergleichbar mit der Vorsteuerungsaufgabe)

große
Abweichungen

Fall 2: größere Totzeit als GS(s)

kleine
Abweichungen
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 478


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Simulationsergebnisse für Fall 2

Störgrößenaufschaltung: Einheitssprung der Störung bei t = 0 sec


0.35
• keine: 0.3 keine
0.25

0.2
• statisch:

Regelgröße y
0.15

0.1

0.05

0
• dynamisch: dynamisch
-0.05

-0.1 statisch
-0.15
0 20 40 60 80 100
mit T = 1 sec. t [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 479


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Dynamische Störgrößenaufschaltung: Wahl der Zeitkonstante T
• T → 0 ergibt die ideale Inverse und liefert damit eine perfekte Störunterdrückung.
• Der differenzierende Charakter nimmt mit kleiner werdendem T stark zu.
• Die (betragsmäßige) Stellgrößenauslenkung nimmt mit kleiner werdendem T stark zu.

Einheitssprung der Störung bei t = 0 sec


0.05 0

T = 1 sec
0.04
-0.5

0.03
-1
Regelgröße y

Stellgröße u
0.02
T = 0,3 sec -15.5
0.01

T = 0,1 sec -2
0

-2.5
wegen Stellgrößenbeschränkung
-0.01
irgendwann nicht mehr wirksam
-0.02 -3
0 20 40 60 80 100 0 1 2 3 4 5
3s t [sec] t [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 480


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Realisierbarkeit der Störgrößenaufschaltung
An den 2 Fällen des letzten Beispiels erkennen wir:
• Wenn die Störung mit einer Totzeit größer gleich der Streckentotzeit auf die Regelgröße
einwirkt, dann kann die Kompensation ohne Zeitverzug wirken.
• Je stärker das Verzögerungsverhalten ist, mit dem die Störung auf die Regelgröße
einwirkt, desto einfacher ist es, die Störung zu kompensieren. Das macht sich dadurch
bemerkbar, dass GZ(s) weniger extremes Hochpassverhalten (also schwächer
differenzierenden Charakter) hat und damit unempfindlicher auf der Störung überlagertes
Messrauschen reagiert.
• Um für GZ(s) die Bedingung Zählergrad ≤ Nennergrad einhalten zu können, muss ein
PTn-Glied der folgenden Ordnung ergänzt werden:

Nennergrad von GS(s) Zählergrad von GD(s)


Zählergrad von GS(s) Nennergrad von GD(s)

Ist der Polüberschuss von GD(s) gleich dem von GS(s), ist n = 0.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 481


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.3 Störgrößenaufschaltung
Beispiel: Innenraumtemperaturregelung mit Außentemperatursensor
• Regelgröße: gemessene Innenraumtemperatur (Sensor im Zimmer notwendig!)
• Führungsgröße: gewünschte Innenraumtemperatur
• Stellgröße: Vorlauftemperatur der Heizung
• Störung: Außentemperatur (Sensor außen notwendig!)
Außentemperatur

Kompensation Wärmeleitung durch die Haus-


des Einflusses wand und durch den Innenraum
der Außentemp. bis zum Innenraumsensor

Wunsch- Vom Heizkessel über Innenraum-


Heizungsregler die Heizkörper bis
temperatur zum Innenraumsensor temperatur
Vorlauf-
temperatur

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 482


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Was sind Hilfsstell- und Hilfsregelgrößen?
In einem Standardregelkreis steht eine Stellgröße zur Verfügung, mit welcher die
Regelstrecke im gewünschten Sinne beeinflusst werden kann. Und es steht eine Regelgröße
zur Verfügung, die zur Rückkopplung genutzt werden kann.
Falls es die zusätzliche Möglichkeit gibt, die Regelstrecke über einen weiteres Stellglied zu
beeinflussen, kann eine solche Hilfsstellgröße genutzt werden, um das dynamische Verhalten
des Regelkreises zu verbessern.
Falls es die zusätzliche Möglichkeit gibt, relevante Signale aus dem Inneren der Regelstrecke
über einen weiteren Sensor zu messen, kann eine solche Messgröße als Hilfsregelgröße
genutzt werden, um das dynamische Verhalten des Regelkreises zu verbessern.

Beide Erweiterungen des Standardregelkreises weisen u.a. folgende Eigenschaften auf:


• Verbesserung des dynamischen Verhaltens, insbesondere bei Strecken hoher Ordnung.
• Zusätzlicher Hardwareaufwand (Stellglied bzw. Sensor).
• Eingriff in den geschlossenen Regelkreis. → Stabilität wird beeinflusst.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 483


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Hilfsstellgrößen
Aus der Regelabweichung wird über einen Hilfsregler GRH(s) eine Hilfsstellgröße uH(t)
erzeugt, die im Innern der Strecke eingreift. Da damit ein Teil der Strecke, nämlich GS1(s),
überbrückt wird, kann die Regelung über den Hilfsregler schneller agieren.
Typischerweise stellt man mit u(t) das stationäre Verhalten ein, weil dies z.B. aus verfahrens-
technischen oder energetischen Gründen günstiger ist, und uH(t) verbessert die Dynamik.
Durch die Hilfsstellgröße verändert sich die Übertragungsfunktion des offenen und des
geschlossenen Regelkreises:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 484


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Beispiel: Hilfsstellgröße bei einem Gegenstromwärmetauscher

Wasser

Dampf
Wassertemperatur

gewünschte
Wassertemperatur

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 485


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Funktionsweise des Gegenstromwärmetauschers
Strecke u → y (langsam):
Die Wassertemperatur wird mittels der Stellgröße Dampfventil u beeinflusst. Je weiter das
Ventil geöffnet wird, desto mehr Dampf strömt durch das Rohr und desto mehr
Wärmeenergie kann auf das Wasser übertragen werden, d.h. die Wassertemperatur steigt.
Strecke uH → y (schnell):
Eine zweite Möglichkeit zur Beeinflussung der Wassertemperatur liefert die Hilfsstellgröße
Wasserventil uH. Je weiter dieses Ventil geschlossen (negative Verstärkung!) wird, desto
weniger Wasser fließt durch den Wärmetauscher und desto länger kann Energie vom Dampf
auf das Wasser übertragen werden, d.h. die Wassertemperatur steigt.

Es wird normalerweise ein bestimmter Wasservolumenstrom dW und eine bestimmte Wasser-


temperatur y gewünscht. Deshalb sollen Eingriffe in den Wasservolumenstrom über die
Hilfsstellgröße uH nur vorübergehend erfolgen, um möglichst schnell die gewünschte
Wassertemperatur zu erreichen bzw. zu stabilisieren. Langfristig soll der ursprüngliche
Wasservolumenstrom wieder hergestellt werden.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 486


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Blockschaltbild der Regelung
Umzeichnen des Hilfsstellgrößen-Blockschaltbildes ergibt:

Aus den bisherigen Überlegung folgt:


• GS(s) ist langsam, GS2(s) ist schnell.
• Stellgröße u soll stationären Zustand einstellen. → I-Anteil im Regler GR(s), damit
u = konst. für Regelabweichung e = 0.
• Hilfsstellgröße uH soll vorübergehenden Regelabweichungen schnell entgegenwirken,
weil sich die Regelgröße y schneller über GS2(s) als über GS(s) beeinflussen lässt.
Stationär (e = 0) soll die Hilfsstellgröße aber den Wasservolumenstrom nicht ändern.
→ Wähle z.B.: GR(s) als PI-Regler und GRH(s) als (P)DT1-Regler.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 487


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Hilfsregelgrößen
Neben der Regelgröße y(t) wird im Inneren der Regelstrecke eine weitere Größe yH(t)
gemessen und als Hilfsregelgröße verwendet. Sie wird über die Hilfsrückführung GH(s) auf
die Stellgröße rückgekoppelt. Da hiermit Informationen aus dem Inneren der Strecke zur
Regelung herangezogen werden, kann die Regelung auf sich abzeichnende Abweichungen
schneller reagieren. Beispielsweise wird eine Störung, die zwischen GS1(s) und GS2(s)
angreift sofort "erkannt" und nicht erst, wenn sie durch GS2(s) hindurch gelaufen ist.
Durch die Hilfsregelgröße verändert sich die Übertragungsfunktion des offenen und des
geschlossenen Regelkreises:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 488


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.4 Regelkreis mit Hilfsstellgrößen und Hilfsregelgrößen
Beispiel: Hilfsregelgröße bei einer Ofentemperaturregelung

dehnt sich mit steigender


Temperatur aus

Temperatur y
Solltemperatur w
W (Regelgröße)
(Führungsgröße)

Öl
hebt sich mit stei-
Ventilstellung u U gendem Gasdruck
(Stellgröße) Gasdruck yH

(Hilfsregelgröße)

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 489


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.5 Kaskadenregelung
Prinzip der Kaskadenregelung
Die Kaskadenregelung besteht aus hierarchisch ineinander geschachtelten Standardregel-
kreisen. Sie kann als Kombination von Hilfsstellgrößen- und Hilfsregelgrößenregelung
gesehen werden. Dafür müssen 2 (oder mehr) Regelgrößen und 2 (oder mehr) dazu passende
Stellgrößen zur Verfügung stehen.
Es gibt einen inneren Regelkreis, der Teil einer äußeren Strecke ist. Die Führungsgröße des
inneren Regelkreises ist die Stellgröße des äußeren Reglers. Diese Hierarchie lässt sich auch
auf mehr als 2 ineinander geschachtelte Regelkreise ausdehnen.
Die Kaskadenregelung vereint die Geschwindigkeits- und Robustheitsvorteile der Hilfsstell-
größen- und Hilfsregelgrößenregelung und deren Nachteil des erhöhten Hardwareaufwands.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 490


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.5 Kaskadenregelung
Entwurf einer Kaskadenregelung
Wie üblich bei hierarchischen Problemen beginnt man zweckmäßigerweise mit der innersten
Struktur, also hier dem inneren Regelkreis 1.
1. Der innere Regler GR1(s) lässt sich im Prinzip so auslegen als gäbe es den äußeren
Regelkreis nicht. Es handelt sich als um ein Standardproblem.
2. Ist GR1(s) entworfen, so kann man das Führungsverhalten Gw1(s) berechnen (rosa Kasten).
3. Nun lässt sich der äußere Regler GR2(s) für die Strecke Gw1(s)·GS2(s) entwerfen. Das ist
wieder ein Standardproblem...

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 491


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.5 Kaskadenregelung
Besondere Aspekte beim Entwurf von Kaskadenregelungen
Obwohl, wie auf der vorherigen Folie erklärt, alle Entwurfsmethoden für Standardregelkreise auch
für die Kaskadenregelung verwendet werden können, gibt es wichtige Unterschiede bei den Zielen
für den Reglerentwurf:
• Die Wahl eines inneren Reglers (z.B. GR1(s)) beeinflusst entscheidend die Struktur und
Parameter der inneren Führungsübertragungsfunktion (z.B. Gw1(s)).
• Diese Führungsübertragungsfunktion ist aber ein Teil der Regelstrecke für den nächst
äußeren Regelkreis. Somit bestimmt der Entwurf des inneren Reglers darüber, wie schwierig
die Regelungsaufgabe für den nächst äußeren Regler wird. Wenn insgesamt schnelles
Regelverhalten gewünscht wird, so muss schon der innere Regler entsprechend aggressiv
ausgelegt sein.
• Oft interessiert nur die Regelgüte des äußersten Regelkreises; alle inneren Regelkreise sind nur
Mittel zum Zweck. Dann spielen Entwurfsziele wie "keine bleibende Regelabweichung" oder
"nur geringes Überschwingen" für die inneren Regelkreise keine entscheidende Rolle. Z.B.
kann eine bleibende Regelabweichung mit einem I-Anteil im äußersten Regler vermieden
werden. Die inneren Regelkreise dürfen ruhig bleibende Regelabweichungen produzieren. Die
inneren Regler können dann vom Typ P- oder PDT1 sein und damit schneller als PI o.ä.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 492


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.5 Kaskadenregelung
Impliziter D-Anteil
Streckenanteile, z.B. , haben meist verzögernden Charakter. Entspricht
beispielsweise einem PT1 mit Verstärkung 1 und Zeitkonstanten T, dann gilt:

Beim einem Integrator (siehe Bild unten) gilt:

Eine Rückführung von Y1(s) erzeugt somit die Ableitung von Y2(s), OHNE differenzieren zu
müssen. Also werden alle damit verbundenen Nachteile (Rauschempfindlichkeit,
Zählerordnung > Nennerordnung) vermieden und der D-Anteil hat nur Vorteile! Allerdings
muss man dafür Y1(s) messen.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 493


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.5 Kaskadenregelung
Beispiel: Lage-/Positionsregelung
Die Kaskadenstruktur ist insbesondere bei der Regelung elektrischer Antriebe besonders weit
verbreitet. Typischerweise liegt bei Lage- bzw. Positionsregelungsaufgaben eine
3-stufige Kaskadenregelung vor:
1. Innerster Regelkreis: Strom/Drehmomentregelung.
2. Mittlerer Regelkreis: Drehzahlregelung.
3. Äußerer Regelkreis: Lage-/Positionsregelung.

Lastmoment
Antriebs- Winkel/
moment Drehzahl Position

Momentenrückführung

Drehzahlrückführung

Positionsrückführung

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 494


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung SISO = Single Input, Single Output

Wann braucht man Mehrgrößenregelungen? MIMO = Multiple Input, Multiple Output

Ein Mehrgrößenregelung ist immer dann erforderlich, wenn


• mehrere Stell- und Regelgrößen vorliegen
• und diese stark miteinander gekoppelt sind.
Ist die Kopplung nur schwach, kann man die Mehrgrößenregelung in separate Eingrößen-
regelungen zerlegen, bei denen die Kopplung vernachlässigt bzw. als externe Störgröße
aufgefasst wird. Dann kann man jedes Entwurfsverfahren für Eingrößenregelkreise einsetzen.

wenn Kopplungen
schwach

Wenn die Kopplungen stark sind, muss das Mehrgrößensystem als Ganzes betrachtet werden.
Mit ausschließlich solchen Fällen wollen wir uns im Folgenden befassen.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 495


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Beispiele für Mehrgrößenregelungen
Starke Wechselwirkung der Regelgrößen:
• Dampferzeuger: Regelgrößen Druck und Temperatur.
• Klimaanlage: Regelgrößen Temperatur und Luftfeuchtigkeit.
• Brenner: Regelgrößen Temperatur, Flammenhöhe und Rauchgaszusammensetzung.
• Roboterarm: Regelgrößen Position, Geschwindigkeit und Kraft.

Koordinierter Eingriff der Stellgrößen:


• Robotergreifen: Mehrere Antriebe müssen gleichzeitig positionsgeregelt werden.
• Kurvenflug eines Flugzeugs: Roll- und Gierbewegung müssen gleichzeitig ausgeführt
werden.
• Stabilisierung eines Bioreaktors: Temperatur, pH-Wert und Biomasseverteilung müssen
gleichzeitig in bestimmten Grenzen gehalten werden, um den Arbeitspunkt zu
stabilisieren.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 496


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Matrix/Vektor-Darstellung
Um das Verhalten von Mehrgrößensystemen möglichst effizient beschreiben zu können,
greifen wir auf die Matrix/Vektor-Darstellung zurück. Um die Notation so einfach wie
möglich zu halten, gehen wir im Folgenden immer von Systemen mit 2 Eingängen und
2 Ausgängen aus. Eine Erweiterung auf Systeme mit beliebig vielen Ein- und Ausgängen ist
aber immer leicht möglich.
Das System kann sowohl eine Regelstrecke als auch einen Regler oder anderes beschreiben.

Eingrößensystem Mehrgrößensystem

Übertragungfunktion: Übertragungsmatrix:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 497


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Systeme in P- und V-kanonischer Struktur
Die beiden folgenden Strukturen treten bei Mehrgrößensystemen besonders häufig auf.

P-kanonische Struktur V-kanonische Struktur

• Entspricht direkt der Übertragungsmatrix. • Ergibt sich häufig aus der Modellbildung.
• Leichter regelungstechnisch zu behandeln. • Schwieriger regelungstechnisch zu behandeln.
• Pij(s) haben oft keine 1:1-Entsprechung • Vij(s) haben oft eine 1:1-Entsprechung
zum realen System. zum realen System.
• "Weiter weg" von der Physik. • Näher an der Physik.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 498


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Umrechnung von der V-kanonischen in die P-kanonische Struktur
Moderne regelungstechnische Methoden basieren fast alle auf der P-kanonischen Struktur.
Liegt das System nach der Modellbildung zunächst in V-kanonischer Struktur vor, kann es
wie folgt umgerechnet werden:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 499


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Grob kann man 3 Konzepte zur Mehrgrößenregelung unterscheiden:
• Dezentrale Regelung: Es gibt für jedes Stell-/Regelgrößenpaar nur einen Regler.
Die auf diesen Regelkreis durch die Kopplungen einwirkenden "Störungen" werden
beim Entwurf berücksichtigt. Die Nachteile dieses Verfahrens werden anhand des
nachfolgenden Beispiels erläutert.
• Regelung mit Entkopplung: Es gibt für jedes Stell/Regelgrößenpaar je einen Hauptregler
und für alle anderen Kopplungen zwischen den Stell- und Regelgrößen je einen
Entkopplungsregler. Die Aufgabe der Entkopplungsregler ist es, den Einfluss der
anderen Stellgrößen auf die jeweilige Regelgröße zu eliminieren oder zumindest soweit
zu reduzieren, dass man auch die ursprünglich stark verkoppelten Regelkreise separat
voneinander betrachten kann und den Hauptregler mit Methoden der Eingrößenregelung
entwerfen kann. Dieses Verfahren wird im Folgenden ausführlich vorgestellt.
• Echte Mehrgrößenregelung: Der Mehrgrößenregler hat so viele Eingänge wie
Regelgrößen (und Regelabweichungen) und so viele Ausgänge wie Stellgrößen.
Die Kopplungen zwischen den Größen wird voll in einem einheitlichen Entwurf
berücksichtigt und wo es möglich ist, zum Vorteil genutzt. Diese Verfahren gehen über
den Stoffumfang dieser Vorlesung hinaus.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 500


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Dezentrale Regelung
Gegeben sei folgende Regelstrecke:

Die Kopplung von Eingang u2 auf Ausgang y1 wird durch die Verstärkung k12 bestimmt; die
Kopplung von Eingang u1 auf Ausgang y2 durch die Verstärkung k21.
Bei der dezentralen Regelung wird jeder Regler ohne direkte Berücksichtigung der
Kopplung entworfen. Die Kopplungenseinflüsse werden als Störungen aufgefasst, die der
jeweilige Regler auszuregeln hat. Diese Sicht der Dinge ist natürlich falsch, weil Störungen
immer unabhängige Größen sind, während die Kopplungen von den Größen des Regelkreises
beeinflusst werden. Daher kann es bei der dezentralen Regelung zu Stabilitätsproblemen
kommen, insbesondere für starke Kopplungen. Für schwache Kopplungen ist dies aber i.a.
eine akzeptable Vorgehensweise.
Die Regler werden als Kompensationsregler so gewählt, dass für beide Regelkreise folgende
Führungsübertragungsfunktion entsteht:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 501


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entwurf der dezentralen Regler
Dieses Führungsverhalten wird unter Ignorierung der Kopplungen (k12 = k21 = 0) mit
folgenden Reglern R1(s) und R2(s) für die Strecken G11(s) und G22(s) erreicht:

Gilt nun wirklich k12 = k21 = 0, dann wird das gewünschte Regelverhalten erreicht.

Regelverhalten bei schwacher Kopplung (k12 = k21 = 0.1)


Einflüsse der Kopplungen werden schnell ausgeregelt.

Regelverhalten bei starker Kopplung (k12 = –1, k21 = 0.5)


Die Güte der Regelungen leidet spürbar, aber die Regelkreise sind noch stabil.

Regelverhalten bei sehr starker Kopplung (k12 = –2, k21 = –1)


Regelkreise werden instabil. Spätestens an diesem Punkt, müssen die Kopplung mit in den
Reglerentwurf integriert werden!
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 502


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Simulationsergebnisse
Die Simulationsergebnisse zeigen, dass das einfache Konzept der dezentralen Regelung für
schwach gekoppelte Systeme durchaus erfolgreich sein kann. Für starke Kopplungen wird
hingegen ein Ansatz benötigt, der diese Kopplungen explizit mit in den Entwurf einbezieht.

Schwache Kopplung (k12 = k21 = 0.1) Starke Kopplung (k12 = –1, k21 = 0.5)
1.5 1.5

1 1

0.5 0.5

0 0

-0.5 -0.5

-1 -1

-1.5 -1.5
0 2 4 6 8 10 12 0 2 4 6 8 10 12
Zeit [sec] Zeit [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 503


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Grundidee der Entkopplung
Der Reiz der Entkopplung besteht darin, mittels der gleichen Idee wie bei der Störgrößen-
aufschaltung, die Kopplungen zwischen den Regelkreisen zu eliminieren oder zumindest so
weit abzuschwächen, dass die Mehrgrößenregelung zu mehreren Eingrößenregelungen
vereinfacht werden kann. Diese können dann separat mit Hilfe der bekannten Methoden
behandelt werden.

Mehrgrößenregelkreis

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 504


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Aufbau des Reglers
Der Regler enthält 2 Entkopplungsregler R12(s) und R21(s):
• R12(s) soll den Einfluss von U2(s) auf Y1(s) eliminieren.
• R21(s) soll den Einfluss von U1(s) auf Y2(s) eliminieren.
Des Weiteren enthält der Regler 2 Hauptregler R11(s) und R22(s):
• R11(s) soll mit der Stellgröße U1(s) die Regelgröße Y1(s) regeln.
• R22(s) soll mit der Stellgröße U2(s) die Regelgröße Y2(s) regeln.

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 505


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung des 1. Regelkreises
Um den Einfluss des 2. Regelkreises auf den 1. zu eliminieren, muss die Übertragungs-
funktion von E2(s) → Y1(s) entlang des blauen gestrichelten und roten Pfades identisch sein.
Weil der rote Pfad mit negativem Vorzeichen wirkt löschen sich die beiden Einflüssen dann
aus:

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 506


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung des 2. Regelkreises
Um den Einfluss des 1. Regelkreises auf den 2. zu eliminieren, muss die Übertragungs-
funktion von E1(s) → Y2(s) entlang des blauen gestrichelten und roten Pfades identisch sein.
Weil der rote Pfad mit negativem Vorzeichen wirkt löschen sich die beiden Einflüssen dann
aus:

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 507


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Realisierbarkeit der Entkopplung
Bezüglich der Realisierbarkeit der Entkopplungsregler gelten im Wesentlichen die gleichen
Überlegungen wie bei der Störgrößenaufschaltung. Lässt sich eine perfekte Entkopplung
nicht erreichen, dann sollte man eine näherungsweise Entkopplung versuchen. Einfachstes
Mittel ist die rein statische Entkopplung, bei der die Übertragungsfunktionen auf ihre
Verstärkungen reduziert werden.
Im Allgemeinen ist eine gute Entkopplung umso leichter zu realisieren, je langsamer die
Kopplung zwischen den Regelkreisen ist. Die ist physikalisch unmittelbar einsichtig, ergibt
sich aber auch aus der Entkopplungsgleichung:

Kopplung
Entkopplungsregler = Hauptregler
Hauptstrecke

Da der Hauptregler (wie jeder Regler) typischerweise "Zählergrad = Nennergrad" aufweist,


muss der Polüberschuss der Kopplungsübertragungsfunktion größer gleich dem
Polüberschuss der Hauptstrecke sein, damit der Entkopplungsregler realisierbar ist. Daneben
gelten die bekannten Einschränkungen für Totzeiten und instabile Pol- und Nullstellen.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 508


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppelter 1. Regelkreis
Für den Fall der perfekten Entkopplung bleibt für den 1. Regelkreis folgender Teil der
Mehrgrößenregelung übrig:

Damit ergibt sich die Übertragungsfunktion des 1. offenen Regelkreises:

GS1(s)
Wenn man die Gleichung für den Entkopplungsregler einsetzt, erhält man:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 509


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppelter 2. Regelkreis
Für den Fall der perfekten Entkopplung bleibt für den 2. Regelkreis folgender Teil der
Mehrgrößenregelung übrig:

Damit ergibt sich die Übertragungsfunktion des 2. offenen Regelkreises:

GS2(s)
Wenn man die Gleichung für den Entkopplungsregler einsetzt, erhält man:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 510


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung mittels Matrix/Vektorrechnung
Der Zusammenhang zwischen Regelfehler E(s) und Stellgröße U(s) und zwischen Stellgröße
U(s) und Regelgröße Y(s) lässt sich wir folgt beschreiben:

Damit ergibt sich für den offenen Mehrgrößenregelkreis:

Eine Entkopplung bedeutet, dass wir eine Matrix in Diagonalgestalt fordern, d.h. E1(s) wirkt
nur auf Y1(s) und E2(s) wirkt nur auf Y2(s). Alle anderen Matrixelemente müssen = 0 sein.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 511


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Äquivalenz der beiden Vorgehensweisen
Wir haben also die Forderungen:
=0

=0
Das sind genau die selben Entkopplungsgleichungen, die wir zuvor über die Blockschaltbild-
betrachtungen erhalten haben. Wenn die Blockschaltbilder komplizierter werden, ist die
Matrix/Vektorrechnung vorzuziehen, da dabei weniger Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.

Problem bei dieser Art der Entkopplung:


Der Entwurf des Haupt- und des Entkopplungsreglers hängen voneinander ab. Es wäre
wünschenswert, wenn der Entkopplungsregler unabhängig vom Hauptregler entworfen
werden könnte. Bei einer späteren Änderung (Adaption, Optimierung, etc.) des Hauptreglers
wäre dann der Entkopplungsregler gar nicht tangiert.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 512


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung: Alternative Vorgehensweise
Die im Blockschaltbild dargestellte Art der Entkopplung ermöglicht den Entwurf des
Entkopplungsreglers unabhängig von der Wahl des Hauptreglers. Von einer nachträglichen
Änderung (Adaption, Optimierung, etc.) des Hauptreglers ist der Entkopplungsregler nicht
betroffen.
Die Entkopplungsregler haben nun die jeweiligen Stellgrößen als Eingangssignale:

Mehrgrößenregelkreis

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 513


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Alternative Entkopplung des 1. Regelkreises
Der blaue gestrichelte und der rote Pfad müssen sich kompensieren:

Dieser Entkopplungsregler hängt nur von der Regelstrecke ab! Er wird zuerst entworfen und
ist dann Basis für den Entwurf des Hauptreglers.

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 514


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Alternative Entkopplung des 2. Regelkreises
Der blaue gestrichelte und der rote Pfad müssen sich kompensieren:

Dieser Entkopplungsregler hängt nur von der Regelstrecke ab! Er wird zuerst entworfen und
ist dann Basis für den Entwurf des Hauptreglers.

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 515


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Alternativ entkoppelter 1. Regelkreis
Für den Fall der perfekten Entkopplung bleibt für den 1. Regelkreis folgender Teil der
Mehrgrößenregelung übrig:

Damit ergibt sich die Übertragungsfunktion des 1. offenen Regelkreises:

GS1(s)
Wenn man die Gleichung für den Entkopplungsregler einsetzt erhält man:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 516


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Alternativ entkoppelter 2. Regelkreis
Für den Fall der perfekten Entkopplung bleibt für den 2. Regelkreis folgender Teil der
Mehrgrößenregelung übrig:

Damit ergibt sich die Übertragungsfunktion des 2. offenen Regelkreises:

GS2(s)
Wenn man die Gleichung für den Entkopplungsregler einsetzt erhält man:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 517


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entwurf des Hauptreglers
Ist der Mehrgrößenregelkreis entkoppelt, egal nach welcher Methode(!), dann können also die
einzelnen Hauptregler für folgende Strecken separat entworfen werden:

Den folgenden Ausdruck nennt man

Koppelfaktor:

Ist der Koppelfaktor gleich Null, so können die Hauptregler ohne Berücksichtigung der
Kopplungen entworfen werden, d.h. R11(s) für G11(s) und R22(s) für G22(s). Das ist dann der
Fall, wenn G12(s) oder G21(s) gleich Null sind.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 518


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Beispiel: Dampferzeuger Frischwasser

Die beiden Volumenströme für


Frischwasser und Brennstoff sind Dampfdruck
die Eingangsgrößen. Dampftemperatur

Der Druck und die Temperatur


des Dampfes sind die Ausgangs- Brennstoff
größen.

In [Lunze 2] wird für den Dampferzeuger folgendes Modell angegeben:

Die negative Verstärkung der Übertragungsfunktion G21(s) vom Frischwasservolumenstrom


u1 zur Dampftemperatur y2 lässt sich so erklären: Bei einer erhöhten Menge an Frischwasser
muss die zur Verfügung stehende Heizenergie auf eine größere Dampfmenge verteilt werden,
was ein Absinken der Dampftemperatur zur Folge hat.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 519


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Sprung in Sprung in
2.5 0.035

0.03
2
0.025

15.5
0.02

0.015
1

0.01
0.5
0.005

0 0
0 50 100 150 0 50 100 150
Zeit (sec) Zeit (sec)
0 0.09

0.08
-0.05
0.07
-0.1
0.06
-0.15 0.05

-0.2 0.04

0.03
-0.25
0.02
-0.3
0.01

-0.35 0
0 50 100 150 0 50 100 150
Zeit (sec) Zeit (sec)

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 520


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung des Dampfdruckregelkreises

→ realisierbar!

Stationäre Entkopplung:

Frischwasser
Dampfdruck

Dampftemperatur
Brennstoff
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 521


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung des Dampftemperaturregelkreises

→ realisierbar!

Stationäre Entkopplung:

Frischwasser
Dampfdruck

Dampftemperatur
Brennstoff
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 522


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppelte Regelkreise

Dampfdruckregelkreis

Dampftemperaturregelkreis

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 523


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Simulationsergebnisse
Mit den oben berechneten Entkopplungsreglern und PI-Hauptreglern, die jeweils den
langsameren Streckenpol kürzen, erhält man folgendes Einregelverhalten der Regelgrößen für
einen Einheitssprung im Sollwert des Dampfdruckes w1 (links). Ohne Entkopplung würde
sich der Dampfdruckregelkreis auf die Dampftemperatur auswirken (rechts).
mit Entkopplung ohne Entkopplung
1.2 1.2

1 1

0.8 0.8

0.6 0.6

0.4 0.4

0.2 0.2

0 0

-0.2 -0.2
0 50 100 150 200 250 300 0 50 100 150 200 250 300
Zeit [sec] Zeit [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 524


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung: Weitere alternative Vorgehensweise mit V-kanonischem Regler
Die im Blockschaltbild dargestellte Art der Entkopplung mit Hilfe einer V-kanonischen
Reglerstruktur ermöglicht wie zuvor einen Entwurf des Entkopplungsreglers unabhängig von
der Wahl des Hauptreglers. Außerdem wird der Koppelfaktor , d.h. im entkoppelten
Regelkreis 1 muss kein Anteil des 2. Regelkreises berücksichtigt werden und umgekehrt.

Mehrgrößenregelkreis

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 525


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkopplung des 1. Regelkreises mit V-kanonischem Regler
Der blaue gestrichelte und der rote Pfad müssen sich kompensieren:

Die Entkopplungsbedingung ist identisch mit dem zuvor behandelten P-kanonischen Regler!

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 526


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Alternative Entkopplung des 2. Regelkreises mit V-kanonischem Regler
Der blaue gestrichelte und der rote Pfad müssen sich kompensieren:

Die Entkopplungsbedingung ist identisch mit dem zuvor behandelten P-kanonischen Regler!

Mehrgrößenregler und Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 527


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppelter 1. Regelkreis mit V-kanonischem Regler
Für den Fall der perfekten Entkopplung bleibt für den 1. Regelkreis folgender Teil der
Mehrgrößenregelung übrig:
Mehrgrößenregelkreis

Da sich die Wirkung von U2(s) nach Y1(s) aufhebt, bleibt nur noch der 1. Regelkreis übrig:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 528


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppelter 1. Regelkreis mit V-kanonischem Regler
D.h. der entkoppelte 1. Regelkreis entspricht exakt einem Eliminieren des 2. Regelkreises,
also:

Entsprechendes gilt für den entkoppelten 2. Regelkreis:

Damit ist der Koppelfaktor bei dieser Anordnung gleich Null:

Die Kombination aus P-kanonischer Strecke und V-kanonischem Regler liefert also ein
besonders einfaches entkoppeltes Ergebnis, bei dem die Ersatzregelstrecken GS1(s) und
GS2(s) identisch mit den ursprünglichen Regelstrecken G11(s) und G22(s) sind!

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 529


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppung mit V-kanonischem Regler
Eine Rechnung ist möglicherweise leichter verständlich als obige Blockschaltbildumformung:
Reglergleichungen:

In Matrixform umgerechnet:

Mit der Regelstrecke

ergibt sich der offene Regelkreis („s“ entfällt aus Platzgründen):

Damit erhält man die Entkopplungsbedingungen (Nebendiagonalelemente = 0!):


University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 530


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.6 Mehrgrößenregelung
Entkoppung mit V-kanonischem Regler

Diese Entkopplungsbedingungen sind identisch mit den zuvor aus Blockschaltbild-


umformungen berechneten! Bei größeren Mehrgrößensystemen ist i.a. die Matrix/Vektor-
Rechnung effektiver und weniger fehleranfällig und damit vorzuziehen.
Einsetzen der Entkopplungsbedingungen führt auf:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 531


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Stellgrößenbeschränkungen
In der Realität ist kein Regelkreis wirklich linear. Die vorhanden Nichtlinearitäten können
aber in vielen Fällen vernachlässigt werden, zumal ein Regelkreis ja robust ausgelegt ist, so
dass kleine Abweichungen zwischen Modell und Realität verkraftet werden können.
Eine wesentliche Nichtlinearität sollte man allerdings bei der Analyse und Synthese von
Regelkreisen immer im Hinterkopf haben: die Beschränkungen des Stellglieds. Jedes
Stellglied hat eine untere und obere Begrenzung (Anschlag) über den hinaus die Stellgröße
nicht verändert werden kann: Ventil (offen / geschlossen), Drosselklappe (offen /
geschlossen), Motor oder Pumpe (Stillstand / Maximalleistung), etc. D.h. die Stellgröße
bewegt sich immer in einem vorgegebenen Intervall [umin, umax]. Im einfachsten Fall ist die
Charakteristik dazwischen linear, so dass sich eine Kennlinie folgenden Typs ergibt:

umax

umin Regler Strecke


umax

umin
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 532


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Behandlung von Stellgrößenbeschränkungen beim Reglerentwurf
Wenn der Stellgrößenwunsch u(t), den der Regler ausgibt, außerhalb des Intervalls [umin, umax]
liegt, entsteht eine Abweichung zwischen dem Stellgrößenwunsch und der tatsächlich vom
Stellglied ausgegeben Stellgröße . Die Wirkung des Reglers ist dann nicht so stark
(aggressiv) wie ursprünglich gedacht und beim Reglerentwurf geplant. Es gibt drei Strategien,
dieser Tatsache beim Reglerentwurf Rechnung zu tragen:
1. Man entwirft den Regler so vorsichtig, dass die Wunschstellgröße u(t) niemals das
Intervall [umin, umax] verlässt. Dies führt zu sehr langsamen Regelungen mit geringen
Kreisverstärkungen und ist daher oft nicht akzeptabel.
2. Man entwirft den Regler aggressiver als nach 1. und überprüft die Auswirkungen der
Stellgrößenbeschränkung per Simulation. Im Reglerentwurfsverfahren (Parameter—
optimierung) selbst bleibt die Stellgrößenbeschränkung aber unberücksichtigt. Ihre
Auswirkungen werden erst im Nachhinein überprüft. Das ist die Standardstrategie. Hier
kann es zu Wind-up-Effekten kommen, siehe nächste Folie.
3. Man berücksichtigt die Stellgrößenbeschränkungen schon während des Reglerentwurfs
(prädiktive Regelung). Das erfordert den Einsatz von Optimierungsverfahren mit
Nebenbedingungen. Solche Ansätze sind komplizierter und werden hier nicht behandelt.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 533


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Erklärung des Wind-up-Effekts
Ein mögliches Beispielszenario wäre folgendes:
1. Ein PI-Regler gibt steigende Stellgrößen aus. Der I-Anteil wächst, solange die
Regelbabweichung positiv ist (Regelgröße < Führungsgröße).
2. Die Wunschstellgröße überschreitet umax, d.h. es gibt eine Abweichung zwischen der
Wunschstellgröße u(t) und tatsächlich vom Stellglied ausgegebenen Größe umax.
3. Weil ein kleineres Stellsignal auf die Regelstrecke gegeben wird als eigentlich vom
Regler gewünscht, baut sich die Regelabweichung langsamer ab, als es für ein lineares
Modell (ohne Beschränkungen) zu erwarten wäre.
4. Der I-Anteil, und damit die Wunschstellgröße, steigt weiter an, weil die
Regelabweichung aufintegriert wird. Erst beim Verschwinden der Regelabweichung
bleibt der I-Anteil stehen.
5. Während der Zeit, die die Stellgröße an ihrer oberen Beschränkung hing, hat sich durch
den steigenden I-Anteil die Wunschstellgröße immer weiter nach oben entfernt. Wenn
nun die Regelabweichung negativ wird, braucht der I-Anteil lange Zeit, bis er wieder auf
"Normalmaß" (nämlich entsprechend einer Wunschstellgröße u(t) ≤ umax) gesunken ist.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 534


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Illustration des Wind-up-Effekts
Je schärfer die Begrenzung wirkt (d.h. je kleiner umax ist), desto schlechter wird die
Regelgüte. Das liegt an zwei Faktoren:
• Die Stellgröße kann nicht mehr so stark eingreifen.
• Durch den Windup-Effekt hängt die Wunschstellgröße lange über umax fest.
1.4 4.5
umax = 3,2 reale Stellgröße
1.2 umax = ∞ umax = 3,5 4
umax = 3,2 Wunschstellgröße
1 3.5
Regelgröße y

Stellgröße u,
0.8 3
umax = ∞ umax = 3,5
0.6 2.5

0.4 2

0.2 ab hier wird die Regel- 1.5 ab hier wird der über Wind-up
abweichung negativ aufgebaute I-Anteil wieder abgebaut
0 1
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
t [sec] t [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 535


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Anti-Wind-up-Methode
Der P-Anteil bleibt mit KP unverändert. Der I-Anteil KI kann durch geeignete Anti-Wind-up-
Methoden abgeschwächt werden:
Eine Rückkopplung der Abweichung zwischen Wunschstellgröße u(t) und realer Stellgröße
auf den Integrator wirkt dem Wind-up Effekt entgegen.

Wunschstellgröße simulierte Stellgröße reale Stellgröße

PI-Regler mit Anti-Wind-up Strecke mit


Stellglied

Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 536


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.7 Anti-Wind-up-Methoden
Illustration der Anti-Wind-up-Methode
• Zur Rückführung wird das simulierte , nicht das gemessene reale Signal verwendet,
um Verzögerungen, Verzerrungen und Rauschen des Sensors zu vermeiden.
• Verstärkung der Anti-Wind-up-Rückführung zu 1/KI gewählt (grobes Ausprobieren).
• Je größer die Verstärkung gewählt wird, desto mehr wird der Wind-up-Effekt unterdrückt.

1.4 4.5

1.2 4
ohne Anti-Wind-up ohne Anti-Wind-up
1 3.5
mit Anti-Wind-up
Regelgröße y

Stellgröße u,
0.8 3
mit Anti-Wind-up
0.6 2.5
Überschwingen lässt sich beliebig
0.4 2 reduzieren, indem man
Rückführverstärkung erhöht.
0.2 1.5

0 1
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
t [sec] t [sec]
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 537


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.8 Stoßfreies Umschalten (Bumpless Transfer)
In der Praxis kommet es häufig vor, dass ein Regler auf Handbetrieb umgeschaltet werden
muss, bzw. vom Handbetrieb wieder zurück auf den automatischen Regler. Auch kann es
sinnvoll sein, z.B. während der Weitentwicklungsphase des Reglers, zwischen zwei Reglern
hin- und herzuschalten oder ein komplexer adaptiver Regler schaltet automatisch auf einen
einfacheren Backup-Regler um, wenn die Überwachungsebene erkennt, dass z.B. bei der
Adaption etwas schief gelaufen ist. Evtl. stehen auch verschiedene Regler zur Verfügung, die
für unterschiedliche Betriebsbereiche optimiert worden sind und zwischen denen
umgeschaltet werden soll.
In all diesen Situationen stellt sich die Frage: Wie schaltet man stoßfrei um?
D.h. zum Umschaltzeitpunkt ts wird gefordert:

Handbetrieb

ts
Regler Strecke

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 538


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.8 Stoßfreies Umschalten (Bumpless Transfer)
Schauen wir uns dieses Problem für die Umschaltung von Handbetrieb auf einen PID-Regler
genauer an. Der PID-Regler liefert zum Zeitpunkt ts die Stellgröße:

wenn sein Integrator zum Zeitpunkt t = 0 mit der Anfangsbedingung 0 initialisiert wurde.
Wenn zuvor, d.h. für t < ts, der Regler jedoch gar nicht aktiv war, man nicht einmal sicher
sein kann, dass der Prozess überhaupt geregelt wurde, dann ist die Integration des Fehlers
über diese Zeit total sinnlos. Der Integrator muss also zum Zeitpunkt t = ts neu initialisiert
werden, und zwar mit der Anfangsbedingung, die ein stoßfreies Umschalten sicherstellt:

Aus dieser Bedingung lässt sich die Anfangsbedingung uinit berechnen. Für t ≥ ts berechnet
sich die Stellgröße dann zu: = 0 für t = t
s

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 539


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.8 Stoßfreies Umschalten (Bumpless Transfer)
Stoßfreies Umschalten bei Reglern höherer Ordnung
Enthält der Regler mehr als einen Integrator, wie dies bei Reglern höherer Ordnung der Fall
ist, so müssen mehrerer Anfangswerte bestimmt werden. Dann kann man wie folgt vorgehen:
Zuerst zeichnet man das Blockschaltbild des Reglers auf. Darin muss eine Integratorkette
vorkommen (der Rest des Blockschaltbildes ist hier unerheblich):

...

Man sieht, dass sich der Anfangswert des Integrators ganz rechts sofort auf u(t) auswirkt.
Deshalb muss dieser Anfangswert so gewählt werden, dass die Stellgröße nicht springt:

Der Anfangswert des Integrators links davon beeinflusst die Ableitung von u(t). Er muss
deshalb so gewählt werden, dass die Ableitung der Stellgröße nicht springt:

usw.... So bekommt man für jeden Anfangswert eine Gleichung zu dessen Bestimmung.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 540


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Regelung von Strecken mit Totzeit
Totzeiten erschweren die Regelung. Einerseits senken sie im Frequenzgang die Phase ab
(Betrag bleibt unverändert), was zur Destabilisierung beiträgt und damit die maximal
mögliche Kreisverstärkung und Bandbreite beschränkt. Andererseits basieren viele
regelungstechnischen Methoden auf gebrochen rationalen Übertragungsfunktionen und lassen
sich auf Systeme mit Totzeit nicht, jedenfalls nicht direkt, anwenden: z.B. das Hurwitz-
Kriterium oder der Polvorgabe-Regler.
Die erstgenannte Einschränkung ist prinzipieller Art und kann durch nichts aufgehoben
werden. Der zweitgenannte Nachteil soll durch den Smith-Prädiktor umgangen werden.

Zunächst wird die Regelstrecke in ihren Totzeit-Anteil und den Rest zerlegt:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 541


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Grundidee des Smith-Prädiktors
Die Totzeit behindert den Reglerentwurf, weil jede Regelabweichung ja schon um die Zeit Tt
früher feststeht, als sie sich am Streckenausgang y(t) messen lässt. Wenn sich messen
ließe, könnte diese schädliche Verzögerung vermieden werden, und der Regler könnte sofort
auf den Ausgang des ersten Streckenteils reagieren.
Wenn man nun schon nicht messen kann, dann sollte es doch möglich sein, es
auszurechnen und dann anstelle der wirklichen, gemessenen Regelgröße y(t) die virtuelle,
berechnete Regelgröße rückzuführen. Das ist die Grundidee des Smith-Prädiktors.
Dadurch lässt sich die Totzeit zwar nicht vermeiden (das geht nicht), aber sie stört den
Reglerentwurf nicht mehr.
Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen dem Smith-Prädiktor-Regler und dem
Standardregler GR(s)?

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 542


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Berechnung des Smith-Prädiktor-Reglers
Dazu setzen wir die Führungsübertragungsfunktionen beider Regelkreis gleich:

Es wird zuerst der Regler für die Strecke (also ohne Totzeit) mit irgendeinem
Standardverfahren entworfen. Dann verwendet man obige Formel, um den äquivalenten
Regler im Standardregelkreis für die Strecke GS(s) (also mit Totzeit) auszurechnen.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 543


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Blockschaltbild des Smith-Prädiktor-Reglers
Die Übertragungsfunktion des Smith-Prädiktor-Reglers hat die Form eines geschlossenen
"Regelkreises". Man kann den Regler selbst also als eine Art Regelkreis interpretieren.
Dabei liegt im Vorwärtszweig

und der offene Kreis G0(s) ist

Damit ergibt sich folgendes Blockschaltbild:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 544


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Beispiel: Regelung eines Totzeitprozesses mit dem Smith-Prädiktor
Als Beispielprozess nehmen wir ein PT1-System mit Totzeit mit K = 1, T = 1 sec, Tt = 3 sec:

Wir wollen dafür einen PI-Regler entwerfen, der die Prozessverstärkung und den Prozesspol
wegkürzt. Ignorieren bzw. vernachlässigen wir die Totzeit des Prozesses ergibt sich damit
folgender Regler:

Berücksichtigen wir die Totzeit und entwerfen nach dem Smith-Prädiktor-Prinzip ergibt sich:

Dies entspricht nach der Smith-Prädiktor-Formel dem komplizierten konventionellen Regler:


KR (1 + T s)
K(s + KR (1 − e−Tt s ))
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 545


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Beispiel: Regelung mit Standard-PI-Regler
Als einziger freier Parameter des Reglers bleibt nun noch KR einzustellen bzw. zu tunen.
Die relative große Prozesstotzeit von Tt = 3 sec, macht den Vorteil des Smith-Prädiktors
besonders deutlich. Die Führungsgröße w ist ein Einheitssprung.

1.5 2
Regelgröße y

1
1.5
1
1
0.5
0.5
0.5

0 0 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec] Zeit t [sec]


1.5 2.5
Stellgröße u

1 2

1 1.5
1
0.5
0.5 0.5

0
0 0 -0.5
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec] Zeit t [sec]

super langsam Kompromiss kurz vor Stabilitätsgrenze


Sehr schlechte Performance! Die Einschwingzeit des geschlossenen Regelkreises ist viel
größer als die des offenen, da die Reglerverstärkung sehr klein gewählt werden muss.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 546


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Beispiel: Regelung mit Smith-Prädiktor-PI-Regler
Da mit dem Smith-Prädiktor die Totzeit explizit berücksichtigt wird, kann die Reglerver-
stärkung KR wesentlich größer gewählt werden. Der Regelkreis ist um den Faktor 10 schneller.
In der Praxis ist dies aber wegen Stellgrößenbeschränkungen und Modellfehlern begrenzt.
Regelgröße y

1 1 1

0.5 0.5 0.5

0 0 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec] Zeit t [sec]


2
Stellgröße u

1 1
1.5

1
0.5 0.5

0.5

0 0 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec] Zeit t [sec]

schnell sehr schnell super schnell


Im perfekten Fall, d.h. keine Stellgrößenbeschränkungen und Modellfehler, wird die
Performance mit wachsendem KR immer besser. Aber die Regler werden auch weniger robust!
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 547


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.9 Smith-Prädiktor
Beispiel: Regelung mit Smith-Prädiktor-PI-Regler bei Modellfehlern

Regelgröße y
1.5 2

1.5
1

1
0.5
0.5

0 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec]


2 3

Stellgröße u
Ist die modellierte
1.5 2

1 1

Totzeit 2 sec bzw. 0.5 0

4 sec lang statt der 0


0 5 10 15 20 25 30 35 40
-1
0 5 10 15 20 25 30 35 40
Zeit t [sec] Zeit t [sec]
korrekten Tt = 3 sec, 1.5
Regelgröße y

1.5

reagiert der Regler 1 1

sehr empfindlich! 0.5 0.5

0 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec]


1.5 2.5
Stellgröße u

1 1.5
1

0.5 0.5
0

0 -0.5
0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40

Zeit t [sec] Zeit t [sec]


University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 548


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Grundidee
Internal Model Control (IMC) ist eine moderne Regelstrategie, die ein Modell der
Regelstrecke voraussetzt. Der Standardregelkreis wird dabei wie folgt erweitert:
• Parallel zur Strecke wird ein Modell der Strecke geschaltet.
• Statt der Regelgröße wird die Abweichung zwischen Streckenausgang und
Modellausgang rückgekoppelt.
• Im Idealfall, d.h. ohne Störungen (d = 0) und mit perfektem Modell, ist .
Dann ist die Rückkopplung inaktiv und der Regelkreis wird zu einer Steuerung!

Regler
IMC-
Strecke
Regler

Bedingt durch Modell- Modell


fehler und Störungen.
Im Idealfall = 0.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 549


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
IMC-Regler
Der IMC-Regler lässt sich wie unten gezeigt in die Standardregelkreisform bringen. Mit
Strecke GS(s), Modell GM(s), Regler GR(s) und IMC-Regler GIMC(s) gilt für den Regler:

Und für den geschlossenen Regelkreis:

Regler GR(s)
IMC-Rgl. Strecke
GIMC(s) GS(s)

Modell
GM(s)

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 550


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Idealfall: Modell = Strecke
Beim Reglerentwurf geht man zunächst davon aus, dass die Regelstrecke und ihr Modell
gleich sind. Dann gilt für den geschlossenen Regelkreis:

GIMC(s) ist eine Steuerung! Das hat bemerkenswerte Konsequenzen:


• Für den Reglerentwurf kann im 1. Schritt eine optimale (oder näherungsweise optimale)
Steuerung entworfen werden, siehe Kapitel 15.2 und Kapitel 12. Im 2. Schritt wird dann
dieser IMC-Regler GIMC(s) in den Standardregler GR(s) umgerechnet.
• Jedes stabile GIMC(s) führt bei stabiler Strecke auch auf einen stabilen Regelkreis Gw(s)!
Man kann zeigen, dass mit einer entsprechenden Wahl von (stabilem) GIMC(s) jeder
beliebige Regler GR(s) erzeugt werden kann, der den Regelkreis stabilisiert. Deshalb
nennt man die Formel GR(s) = f (GIMC(s)) die Parametrierung aller stabilisierenden
Regler oder eine Q-Parametrierung (weil GIMC(s) oft auch mit Q(s) benannt wird) bzw.
Youla-Parametrierung (nach dem Entdecker dieses Zusammenhangs für
Mehrgrößensysteme).
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 551


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Youla-Parametrierung
Also noch mal: Jeder stabile IMC-Regler GIMC(s) führt bei stabiler Strecke auf einen stabilen
geschlossenen Regelkreis Gw(s).
Das ist eine sehr bemerkenswerte Eigenschaft. Machen wir uns zunächst klar, dass dies für
den Standardregler nicht gilt:

Die Frage, für welche Regler GR(s) der geschlossene Regelkreis Gw(s) stabil ist, kann man
nicht einfach beantworten. Wir haben viele Stabilitätstests kennen gelernt, um diese Frage für
konkrete Beispielfälle möglichst einfach zu beantworten. Aber es gibt dafür keine einfache
allgemeine Lösung.
Beim IMC-Regler hingegen müssen wir nur die stabilen GIMC(s) untersuchen und wissen für
stabile Strecken damit automatisch, dass auch Gw(s) stabil ist. Das erleichtert den Regler-
entwurf. Auch die Tatsache, dass die Führungs- und Störübertragungsfunktion (im Gegensatz
zum Standardregler) linear von GIMC(s) abhängen, erleichtert die Optimierung des Reglers
sehr. Viele moderne Reglerentwurfsverfahren basieren daher auf der Youla-Parametrierung.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 552


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
IMC-Reglerentwurfsverfahren
Beim Entwurf eines IMC-Reglers für eine stabile Strecke geht man wie folgt vor:
1. Entwurf einer idealen optimalen Steuerung . Das ist einfach die Inverse
der Strecke GS(s). Falls die Strecke nicht phasenminimal ist, wird zur Behandlung der
instabilen Nullstellen nach Methode 2 in Kapitel 12.2 vorgegangen, d.h. es wird der
Amplitudeneinfluss der instabilen Nullstellen bei der Inversion durch Spiegelung
dieser Nullstellen kompensiert.
2. Falls die optimale Steuerung nicht realisierbar ist, weil der Zählergrad höher ist als der
Nennergrad, wird ein PTn -Filter der Form

ergänzt, wobei dessen Ordnung l so gewählt wird, dass für die Steuerung gilt:
Zählergrad = Nennergrad. Damit wird die Realisierbarkeit sichergestellt.
4. Der Parameter T ist der einzige Tuningfaktor des Reglers. Mit ihm wird zwischen Band-
breite (Geschwindigkeit) und Robustheit des geschlossenen Regelkreises abgewogen.
5. Der entsprechende Standardregler GR(s) kann aus berechnet werden.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 553


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Erklärungen zum IMC-Reglerentwurfsverfahren
Optimale Steuerung:
Als Optimierungskriterium wird üblicherweise die H2-Norm, d.h. das Integral über die
quadratische Regelabweichung e(t), herangezogen:

Bei Anregung mit einem Impuls w(t) = !(t), d.h. W(s) = 1, werden alle Frequenzen gleich
gewichtet. Im Frequenzbereich erhalten wir wegen E(s) = W(s)–Y(s) dann die Beziehung:

Für phasenminimale Strecken gelingt die (ideale) Inversion perfekt, d.h.

Dann ist der Fehler exakt = 0 und die Verlustfunktion J = 0.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 554


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Erklärungen zum IMC-Reglerentwurfsverfahren
Optimale Steuerung:
Für nicht phasenminimale Strecken wird die Strecke in eine phasenminimalen Anteil und
einen Allpass aufgeteilt (siehe Kapitel 7.5):

Für die (ideale) optimale Steuerung wird dann nur der phasenminimale Teil invertiert:

Das ist genau die in Kapitel 12.2 beschriebene Methode 2:


• Totzeiten werden für die Inversion ignoriert (sie wandern in den Allpass-Teil).
• Für instabile Nullstellen muss im Allpass-Teil eine gespiegelte Polstelle erzeugt werden.
Deshalb entsteht dieser gespiegelte Term im Nenner von und im Zähler von
und damit durch die Inversion wieder im Nenner von .
Diese optimale Steuerung wird im Folgeschritt durch das Hinzufügen eines PTn-Filters
suboptimal. Der endgültige Regler hat also keine Optimalitätseigenschaften.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 555


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Erklärungen zum IMC-Reglerentwurfsverfahren
Wahl der Zeitkonstanten T im PTn-Filter:
• Diese Zeitkonstante T ist der einzige freie Parameter im Reglerentwurf. Das gilt völlig
unabhängig von der Komplexität (Ordnung) der Strecke und des Reglers. Im Gegensatz
dazu müssen schon für simple PID-Regler 3 Parameter gleichzeitig eingestellt werden
und für Regler höherer Ordnung noch mehr. Das Tuning von T ist also eine sehr einfache
und übersichtliche Aufgabe; außerdem lässt sich T unmittelbar interpretieren.
• Weil der IMC-Regler den phasenminimalen Teil der Strecke wegkürzt, berechnet sich die
Übertragungsfunktion des geschlossenen Regelkreises zu:

Für phasenminimale Strecken gilt vereinfachend . D.h. mit der Zeit-


konstante T des Filters F(s) wird direkt das dynamische Verhalten des Regelkreises
eingestellt. Hier muss man, wie üblich, einen guten Kompromiss zwischen Bandbreite
und Robustheit finden.
• T entspricht damit in etwa der Stellgrößenbestrafung in einer Verlustfunktion, ist also
ein Meta-Parameter (T → 0: max. Performance, T → ∞ : max. Robustheit).
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 556


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
IMC-Reglerstruktur
Das IMC-Reglerentwurfsverfahren liefert einen Regler, dessen Struktur und Parameter
sich automatisch aus der Regelstrecke ergeben. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied zu
vielen anderen Ansätzen, die eine bestimmte Reglerstruktur vorgeben (z.B. PID-Regler) und
dann bloß noch die zugehörigen Parameter einstellen.
Ein IMC-Regler ist deswegen viel mächtiger als solche strukturfixen Ansätze und kann daher
auch ohne Erweiterung direkt auf Prozesse mit Totzeit (ergibt automatisch(!) eine Smith-
Prädiktor-ähnliche Struktur) und auf nichtlineare Prozesse angewandt werden.

Ordnung des IMC-Reglers


Wir gehen von einer stabilen Streckenübertragungsfunktion mit Nennergrad n aus. Da der
Nennergrad immer größer gleich dem Zählergrad ist, hat die Strecke auch die Ordnung n. Da
alle Pole stabil sind, werden sie durch die Inversion im Zähler des IMC-Reglers auftauchen.
D.h. der IMC-Regler hat einen Zählergrad n. Der Nennergrad wird durch das Filter F(s)
ebenfalls auf Grad n gebracht. D.h. die Ordnung des Reglers beträgt auch n und ist damit
identisch zur Streckenordnung. Der Regler hat also die gleiche Komplexität wie die Strecke.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 557


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine PT1-Strecke

Die Strecke ist phasenminimal. Der ideale optimale IMC-Regler ist deshalb die Inverse:

Um diesen Regler realisierbar (und robuster) zu machen, wird ein PT1-Filter mit einstellbarer
Zeitkonstante T ergänzt, um für den Regler "Zählergrad = Nennergrad" zu erreichen:

Daraus ergibt sich für den geschlossenen Regelkreis:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 558


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine PT1-Strecke
Mit dem Streckenmodell GM(s) = GS(s) ergibt sich der äquivalente Standardregler:

D.h. es ergibt sich folgender PI-Standardregler:

Aus dem IMC-Entwurf resultiert ein PI-Regler, dessen Nullstelle den Pol der Strecke kürzt;
ein Verfahren das wir intuitiv schon öfters zuvor gewählt haben wird hier also automatisch
erzeugt! Mit der einstellbaren Zeitkonstante T wird antiproportional nur noch die Regler- und
damit die Kreisverstärkung bestimmt.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 559


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine PT2-Strecke

Die Strecke ist phasenminimal. Der ideale optimale IMC-Regler ist deshalb die Inverse:

Um diesen Regler realisierbar (und robuster) zu machen, wird ein PT2-Filter mit einstellbarer
Zeitkonstante T ergänzt, um für den Regler "Zählergrad = Nennergrad" zu erreichen:

Daraus ergibt sich für den geschlossenen Regelkreis:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 560


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine PT2-Strecke
Mit dem Streckenmodell GM(s) = GS(s) ergibt sich der äquivalente Standardregler:

Dies ist ein mit einem PT1-Glied gefilterter PID-Regler. Dessen beide Nullstellen werden
wieder zur Kürzung der Streckenpole verwendet. Mit der einstellbaren Zeitkonstante T wird
antiproportional die Regler- und damit die Kreisverstärkung bestimmt und proportional die
Zeitkonstante des PT1-Filters.

Allgemein ergibt sich für eine PTn-Strecke ein Standardregler mit n Nullstellen, welche die
n Streckenpole kürzen. Außerdem hat der Regler einen I-Anteil und wird durch ein PTn–1-
Filter ergänzt.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 561


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine nicht phasenminimale PDT2-Strecke mit Totzeit

Zunächst muss die nicht phasenminimale Strecke in einen phasenminimalen Anteil und einen
Allpass zerlegt werden.

phasenminimaler Allpass
Anteil
Der ideale optimale IMC-Regler ist die Inverse des phasenminimalen Anteils. D.h. Totzeiten
der Originalstrecke werden ignoriert und Nullstellen werden gespiegelt invertiert:

gespiegelte
instabile Nullstelle
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 562


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine nicht phasenminimale PDT2-Strecke mit Totzeit
Um diesen Regler realisierbar (und robuster) zu machen, wird ein PT1-Filter mit einstellbarer
Zeitkonstante T ergänzt, um für den Regler "Zählergrad = Nennergrad" zu erreichen:

Daraus ergibt sich für den geschlossenen Regelkreis:

D.h. der geschlossene Regelkreis zeigt das Allpassverhalten mit der Totzeit ergänzt um den
PT1-Filter zur Realisierbarkeit des Reglers.
Auch hier sehen wir wieder, dass ein Regler –egal welcher Struktur– nichts an instabilen
Nullstellen und an Totzeiten verändern kann.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 563


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Beispiel: IMC-Regler für eine nicht phasenminimale PDT2-Strecke mit Totzeit
Mit dem Streckenmodell GM(s) = GS(s) ergibt sich der äquivalente Standardregler:

Dieser Ausdruck lässt sich nicht mehr sinnvoll vereinfachen. Für den Spezialfall ohne Totzeit
ergibt sich:

Das ist ein ähnliches Ergebnis wie für die PT2-Strecke: Ein PID-Regler ergänzt durch einen
PT1-Filter.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 564


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.10 Internal Model Control
Eigenschaften des Internal Model Control
• Sehr allgemeines Verfahren. Lässt sich auf alle Arten von Prozessen anwenden, sofern
ein geeignetes Streckenmodell zur Verfügung steht.
• Die Anwendung auf instabile Prozesse ist möglich, jedoch aufwändiger und wurde
deshalb hier nicht behandelt.
• Es wird keine Reglerstruktur vorgegeben, sondern die Reglerstruktur ergibt sich aus der
Regelstrecke und den Realisierbarkeitsbedingungen.
• Es ist nur ein Parameter T einzustellen, der einen Kompromiss zwischen Bandbreite des
geschlossene Regelkreises und dessen Robustheit ermöglicht.
• Im Gegensatz zur prädiktiven Regelung (siehe nächstes Kapitel), die ähnliche Vorteile
aufweist, ist der Entwurfs- und Rechenaufwand für IMC gering!
• IMC kann als Entwurfsverfahren gesehen werden, um Standardregler zu entwerfen.
Alternativ kann man aber auch den IMC-Regelkreis implementieren. Letzteres bietet
gewisse Vorteile, wenn Nichtlinearitäten in der Strecke und im Modell vorhanden sind,
denn solange diese sowohl in der Strecke als auch im Modell enthalten sind, entstehen
keinerlei Stabilitätsprobleme, da (im idealen Fall) das rückgekoppelte Signal = 0 ist.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 565


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Einführung
Die prädiktive Regelung verallgemeinert das Internal Model Control Konzept. Sie basiert
daher auch auf einem Modell der Regelstrecke. Auch wird zunächst das Problem der
optimalen Steuerung gelöst und anschließend durch die Einbeziehung der gemessenen
Regelgröße zur Regelung erweitert.
Am Einfachsten lässt sich die prädiktive Regelung für zeitdiskrete (d.h. digitale bzw.
abgetastete) Systeme erklären. Wir wollen dies hier tun, ohne auf die Theorie der digitalen
Regelung im Allgemeinen näher einzugehen. Siehe dazu Kapitel 17.
Wir gehen also davon aus, dass alle Signale zu synchronen Zeitpunkten t = kT0 abgetastet,
eingelesen, ausgegeben und verarbeitet werden. Dabei ist k = 0, 1, 2, ... ein Laufindex und
T0 die Abtastzeit. Abkürzend schreiben wir x(k) statt x(kT0). Die Signalamplitude wird als
kontinuierlich angenommen.
x(t)
Amplitude

x(k)

0 T0 2T0 3T0 4T0 5T0 6T0 7T0 Zeit t


University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 566


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Prädiktion
Gehen wir von einer nicht sprungfähigen Strecke und daher einem nicht sprungfähigen
Modell aus, dann bestimmt u(k) und die alten Ein-/Ausgängswerte den nächsten
Ausgangswert . Dies ist eine Vorhersage oder Prädiktion um einen Zeitschritt in
die Zukunft (Zeitpunkt k+1) auf Basis der Informationen zum Zeitpunkt k (deshalb die
Schreibweise "|k". Benutzt man diese Ein-Schritt-Prädiktion zusammen mit dem nächsten
Eingangswert u(k+1) kann man die Zwei-Schritt-Prädiktion berechnen usw. So
kann für jeden möglichen Verlauf der Eingangsgröße der Verlauf der Ausgangsgröße
(Regelgröße) prädiziert werden. Vergangenheit Zukunft
Zustand

Modell

k–2 k–1 k k+1 k+2 k+3 k+4 k+N Zeit


University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 567


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Grundidee der prädiktiven Regelung
Eine prädiktive Regelung läuft folgendermaßen ab:
1. Zum Zeitpunkt k wird basierend auf den vergangenen Ein- und Ausgangssignalen der
Strecke mit Hilfe des Streckenmodells für einen zukünftigen Stellgrößenverlauf u(k+i|k),
i = 0, 1, ..., N–1, der zugehörige Regelgrößenverlauf , i = 0, 1, ..., N,
berechnet.
2. Von allen möglichen Stellsignalverläufen u(k+i|k), i = 0, 1, ..., N–1, wird durch ein
Optimierungsverfahren derjenige bestimmt, der eine gegebene Verlustfunktion minimiert.
D.h. die Stellgrößen sind für das Optimierungsverfahren die zu optimierenden Parameter.
3. Der optimalen Stellsignalverlauf, repräsentiert die optimale Steuerungsfolge. Hiervon
wird allerdings nur der erste Wert u(k|k) an das Stellglied ausgegeben. Dann wird ein
Zeitschritt gewartet und die daraus entstandene Regelgröße y(k+1) gemessen.
Mit Hilfe der neu gemessenen Regelgröße wird erneut die Optimierung aus 2. durch-
geführt. Von dieser wird wieder der erste Wert u(k+1|k+1) an das Stellglied ausgegeben.
Danach wird wieder ein Zeitschritt gewartet und die daraus entstandene Regelgröße
y(k+2) gemessen usw.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 568


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Erklärungen zum Ablauf der prädiktiven Regelung
• In 2. wird mit den Informationen zum Zeitpunkt k die optimale Stellgrößenfolge oder
Steuerungsfolge berechnet. Diese N Schritte in die Zukunft basieren auf den Vorhersagen
des Modells über den Verlauf der Regelgröße. Es handelt sich um eine reine Steuerung.
Die zukünftige Regelgröße kann ja nicht gemessen werden.
• Um aus Steuerungsfolge eine Regelung zu machen, wir nur die erste Stellgröße der Folge
u(k|k) an das Stellglied ausgegeben. Die nächste Stellgröße wird dann nicht aus dieser
Folge genommen, also nicht u(k+1|k). Statt dessen wird auf der Basis der neu gemessenen
Regelgröße y(k+1) eine neue optimale Stellgrößenfolge berechnet und deren erste
Stellgröße u(k+1|k+1) an das Stellglied ausgegeben.
Der Unterschied zwischen u(k+1|k) und u(k+1|k+1) besteht darin, dass erstere mit der
prädizierten Regelgröße optimiert wurde, während letztere mit der
gemessenen Regelgröße y(k+1) optimiert wurde. Und u(k+1|k+1) ist also neue
Information enthalten. Auf diese Weise wird die Steuerung zur Regelung, denn mit der
gemessenen Regelgröße finden Modellfehler und Störungen in der Optimierung
Berücksichtigung.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 569


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Erklärungen zum Ablauf der prädiktiven Regelung
• Eine solche Strategie, nämlich eine optimale Folge zu berechnen, den ersten Wert davon
zu verwenden und dann einen Schritt später, basierend auf neuer Information, wieder eine
optimale Folge zu berechnen usw. nennt man "receding horizon"-Strategie.
• Als Verlustfunktion in 2. wir üblicherweise auf uns schon bekannte quadratische Formen
zurückgegriffen, nur jetzt in zeitdiskreter Schreibweise, d.h. mit Summen statt Integralen:

wobei die quadratische Stellgrößenänderung mit dem


Faktor ! gewichtet wird. Ist die Regelstrecke nicht nur nicht sprungfähig sondern hat
zusätzlich eine Totzeit von dT0, dann bestimmt u(k–1) ja nicht y(k) sondern erst den
Ausgang y(k+d). Dann ändert sich die Verlustfunktion zu:

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 570


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Erklärungen zum Ablauf der prädiktiven Regelung
• Damit die prädiktive Regelung gut funktionieren kann, muss N hinreichend groß gewählt
werden. Es sollte sich an der langsamsten Zeitkonstante der Strecke orientieren. Wenn
z.B. bei nicht phasenminimalen Strecken ein zu kleines N gewählt wird, kann der Regler
instabil werden, weil nur das gegenphasige Unterschwingen einer Sprungantwort in die
Verlustfunktion eingeht, was dann fälschlicherweise als negative Verstärkung
interpretiert werden würde.
• Da N also typischerweise relativ groß gewählt wird, ist es sinnvoll die Anzahl an freien
Stellgrößen (also die Anzahl der Parameter der Optimierung) einzuschränken, um die
Optimierung schneller und robuster zu machen. Normalerweise schränkt man die Anzahl
der Freiheitsgrade auf Nu = 1, 2 oder 3 ein. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen,
dass man den Stellgrößenverlauf ab u(k+Nu|k) konstant hält. D.h. statt der N freien
Stellgrößen:
u(k), u(k+1|k), u(k+2|k), ..., u(k+N–1|k)
gibt es nur noch Nu Freiheitsgrade:
u(k), u(k+1|k), ..., u(k+Nu–1|k) = u(k+Nu|k) = u(k+Nu+1|k) =... = u(k+N–1|k)
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 571


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Erklärungen zum Ablauf der prädiktiven Regelung
• Damit ergibt sich dann auch eine leicht abgewandelte Verlustfunktion:

• Anstelle des Konstanthaltens der Stellgröße ab Zeitpunkt k = Nu während der


Optimierung gibt es auch andere Möglichkeiten die Freiheitsgrade des
Stellgrößenverlaufs einzuschränken. Z.B. kann man den Verlauf als Polynom mit Zeit t
als Eingangsgröße beschreiben. Auch andere Basisfunktionen sind denkbar.

• Der hier beschriebene prädiktive Regler existiert gar nicht in Form einer
Übertragungsfunktion o.ä. Vielmehr wird in jedem Abtastschritt eine Optimierung
durchgeführt und daraus die ausgegebene Stellgröße abgeleitet. Für lineare Systeme und
Verlustfunktionen vom oben angegebenen quadratischen Typ lässt sich allerdings eine
geschlossene Lösung berechnen. Für nichtlineare Systeme oder wenn Nebenbedingungen
wie z.B. Stellgrößenbeschränkungen in die Optimierung einbezogen werden sollen, dann
muss man iterative numerische Optimierungsverfahren einsetzen.

University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 572


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Optimierungsverfahren bei der prädiktiven Regelung
Das Bild veranschaulich den entscheidenden Schritt eines prädiktiven Regelungsverfahrens:
die Optimierung des Stellgrößenverlaufs. Der Optimierer variiert die Nu freien Stellgrößen so
lange, bis der optimale Stellgrößenverlauf gefunden ist. Der optimale Stellgrößenverlauf ist
durch den minimalen Verlustfunktionswert gekennzeichnet. In diese Verlustfunktion geht
wesentlich die vorhergesagte Regelabweichung ein, die sich aus dem mittels des Modells
vorhergesagten Regelgrößenverlaufs und dem vorgegebenen Führungsgrößenverlauf ergibt.
Kennt man den zukünftigen Führungsgrößenverlauf nicht, so werden darüber realistische
Annahmen getroffen, z.B. w(k+i) = konstant für alle i ≥ 0.

alte Ein-/
Führungsgrößenverlauf
Ausgangswerte
vorhergesagter Regel-
Modell
größenverlauf

Stellgrößenverlauf vorhergesagte
Optimierer
Regelabweichungen
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 573


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Optimierungsverfahren bei der prädiktiven Regelung
Abhängig vom Prozess sind folgende drei Klassen von prädiktiven Reglern typisch:
• Linearer Prozess ohne Nebenbedingungen: Der einfachste Fall. Es existiert ein einziges
Optimum. Kann geschlossen mit der Methode der kleinsten Quadrate (Least Squares,
LS) gelöst werden. Erfordert eine Matrixinversion der Größe Nu x Nu. Bekannte
prädiktive Regelungsverfahren dieser Klasse sind Generalized Predictive Control (GPC),
Dynamic Matrix Control (DMC), Model Algorithmic Control (MAC) und Predictive
Functional Control (PFC).
• Linearer Prozess mit Nebenbedingungen: Lässt sich auch relativ schnell lösen. Es
existiert ebenfalls ein einziges Optimum. Die Optimierung erfordert aber ein iteratives
Vorgehen mit dem Verfahren der Quadratischen Programmierung (QP). Da das
globale Optimum in vertretbarer Zeit garantiert gefunden wird, sind auch diese Verfahren
recht weit verbreitet.
• Nichtlinearer Prozess mit oder ohne Nebenbedingungen: Der schwierigste Fall. Das
Auffinden des globalen Optimums kann nicht garantiert werden. Hoher Rechenaufwand
ist erforderlich. Kann daher nur bei langsamen Prozessen eingesetzt werden. Ein Backup-
Regler sollte implementiert sein, für den Fall, dass bei der Optimierung etwas schief läuft.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 574


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
15.11 Prädiktive Regelung
Eigenschaften der prädiktiven Regelung
• Sehr allgemeines Verfahren. Lässt sich auf alle Arten von Prozessen anwenden, sofern
ein geeignetes Streckenmodell zur Verfügung steht.
• Es wird keine Reglerstruktur vorgegeben, sondern die optimale Reglerstruktur ergibt sich
aus der Regelstrecke und den Freiheitsgraden für den Stellgrößenverlauf Nu.
• Es ergibt sich aus der Optimierung automatisch eine Kombination aus Vorsteuerung und
Regelung.
• Nebenbedingungen wie z.B. Stellgrößenbeschränkungen aber auch Grenzen für andere
modellierte Größen, lassen sich leicht in die Optimierung direkt einbauen. Damit ist die
prädiktive Regelung das wichtigste Verfahren für Anwendungen, die durch Neben-
bedigungen wesentlich geprägt sind.
• Die Optimierung ist rechenaufwendig. Für nichtlineare Optimierungen ist es schwierig
Konvergenz und Auffinden eines guten lokalen Optimums sicherzustellen. Daher wird
die prädiktive Regelung häufig bei langsamen Prozessen in der Verfahrenstechnik
eingesetzt.
• Die Einstellung der Meta-Parameter (N, Nu, !, ...) ist schwierig und kann langwierig sein.
University

15. Vertiefungen und Erweiterungen Seite 575


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16. Nichtlineare Regelung

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 576 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 16
16. Nichtlineare Reglung

16.1 Kennlinien und Kennfelder

16.2 Nichtlineare Effekte

16.3 Stabilität nichtlinearer Systeme

16.4 Kennlinienregler

16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze


– Beschreibungsfunktionen (Harmonische Balance)
– Phasenebene und zeitoptimale Regelung
– Direkte Methode von Ljapunow
– Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 577


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Eigenschaften nichtlinearer Systeme
• Für nichtlineare Systeme gilt das Superpositionsprinzip i.a. nicht! D.h.
f (x1) + f (x2) ≠ f (x1 + x2)
• Für nichtlineare Systeme gilt das Verstärkungsprinzip i.a. nicht! D.h.
K·f (x) ≠ f (K·x)
• Es ist sehr schwer alle nichtlinearen Systeme in bestimmte allgemein gültige Klassen
einzuteilen. Jedes nichtlineare System ist in gewisser Weise einzigartig. Deshalb gibt es
keine geschlossene Theorie nichtlinearer Systeme, so wie wir sie für lineare Systeme
kennen.
• Nichtlineare Differentialgleichungen lassen sich i.a. nur numerisch lösen. Das ist einerseits
aufwändig und vermittelt andererseits meist keine tieferen Einsichten. (So wie z.B. die
numerische Berechnung des Hurwitz-Kriteriums zwar eine Ja/Nein-Aussage über die
Stabilität liefert, aber nichts Konstruktives zum Reglerentwurf beisteuert).
• Deshalb sollte man wenn möglich versuchen, durch Vereinfachung, Transformation,
Kompensation, o.ä. das nichtlineare System auf ein lineares abzubilden.
• Kennlinien spielen für die Betrachtung nichtlineare Systeme eine große Rolle.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 578


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Kennlinien
Kennlinien beschreiben einen nichtlinearen statischen Zusammenhang zwischen einer
Eingangsgröße und einer Ausgangsgröße.

Oft lassen sich nichtlineare dynamische Systeme in Teilblöcke zerlegen, die entweder linear
dynamisch oder nichtlinear statisch sind. Gelingt es, ein nichtlineares dynamisches System in
genau einen linear dynamischen (symbolisiert durch eine Übertragungsfunktion) und einen
nichtlinear statischen Block zu zerlegen, so sind die folgende beiden Strukturen typisch:
Hammerstein-Struktur Wiener-Struktur

Beide Strukturen können in ihrem statischen Verhalten und im dynamischen Verhalten mit
kleinen Auslenkungen um einen Arbeitspunkt herum durchaus identisch sein; sie weisen aber
anderes Großsignalverhalten auf: Im Nichtlinearen gilt das Kommutativgesetz nicht!
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 579


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Beispiele für Kennlinien
Masse-Feder-Dämpfer-System mit nichtlinearer Feder- und Dämpfercharakteristik

Nichtlinearitäten hängen
von der Art der Feder und
des Dämpfers ab.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 580


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Beispiele für Kennlinien
Freie Schwingung eines ungedämpften Pendels

! l
l
m
Nichtlinearität ist durch die
Physik des Problems definiert.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 581


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Beispiele für Kennlinien
Längsdynamik eines Fahrzeuges

Luftwiderstand viskose Reibung trockene Reibung


(quadratisch) (linear) (nichtlinear)

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 582


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Beispiele für Kennlinien
Fremderregter Gleichstrommotor

Feldkreis:

Ankerkreis:

Gegen-EMK:

Antriebsmoment:

Antriebsgleichung:

Magnetisierungs-
Kennlinie:

inverse
Kennlinie:
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 583


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder

Keine Kennlinien!
Produkte sind auch
nichtlineare Elemente!

inverse Kennlinie

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 584


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Kennfelder
Wenn eine Größe auf nichtlineare statische Weise von mehr als einer anderen Größen abhängt,
muss die Kennlinie zum Kennfeld erweitert werden. Für mehr als 2 Eingangsgrößen lassen
sich allerdings nur noch Schnitte graphisch darstellen.

250

Engine torque [Nm]


200
150
100
50
0
-50
-100
80
60 7000
6000
40 5000
4000
20 3000
Throttle angle 1000
2000 Engine speed
0 0
[degree] [rpm]

Ein typisches Kennfeld aus dem Bereich 250

Engine torque [Nm]


200
der elektronischen Steuerung von 150
Verbrennungsmotoren stellt die 100
50
Abhängigkeit des Motordrehmoments 0
von den Eingangsgrößen Motordrehzahl -50

und Drosselklappenstellung (beim -100


80

Ottomotor) bzw. Einspritzmenge (beim 60


40 5000
6000
7000
4000
Dieselmotor) dar. Throttle angle 20
1000
2000
3000
Engine speed
0 0
[degree] [rpm]

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 585


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
y
Rasterkennfelder
Klassischerweise werden Kennlinien/Kennfelder als Tabelle gespeichert: u2 u1
u 0 1 3 4 6 7 y
y 1 4 5 4 2 –1 5
4
Ausgangswerte für Eingangswerte zwischen den
3
tabellierten Eingangswerten werden durch Interpolation 2
berechnet, typischerweise durch lineare Interpolation,
1
d.h. indem man die Punkte mit Geraden (gestrichelt) 0
verbindet. –1 1 2 3 4 5 6 7 u

Ausgangswerte für Eingangswerte außerhalb des


tabellierten Bereichs (hier [0, 7]) müssen entweder u2
geraten oder durch Vorwissen über die Zusammenhänge
sinnvoll bestimmt werden. Typische Extrapolationsverläufe
sind: auf Null abklingend, konstant, linear.
Für Kennfelder müssen die Punkte rasterförmig auf einem
Gitter im u1-u2-Eingangsraum verteilt werden. u1
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 586


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.1 Kennlinien und Kennfelder
Andere Realisierungen von Kennfeldern
Die Anzahl zu tabellierender Punkte steigt bei Rasterkennfeldern exponentiell mit der Anzahl
der Eingänge an. Außerdem ist der Ausgang nur stetig, aber nicht differenzierbar (Ableitung
springt an den tabellierten Eingangswerten). Wichtige Alternativen zur Repräsentation von
Kennfeldern sind:
• Polynome
• Splines (lokal gültige Polynome)
• Fuzzy-Logik (es existieren viele verschieden Typen)
• Neuronale Netze (es existieren viele verschieden Typen)
• Assoziativspeicher
Diese nichtlinearen Modelle haben Parameter, welche mit einem Optimierungsverfahren an
Messdaten angepasst werden. Bei Rasterkennfeldern geschieht diese Anpassung meist durch
das einfache Abspeichern der Messwerte in einer Tabelle. Das ist aber auch nur dann so
einfach möglich, wenn die Daten rasterförmig vermessen werden. Ansonsten ist für die
Bestimmung der Kennfeldpunkthöhen auch eine Optimierung notwendig.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 587


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Das Superpositions- und Verstärkungsprinzip gilt nicht:
• Blöcke in einem Blockschaltbild dürfen i.a. nicht vertauscht werden.
• Betrachtungen im Frequenzbereich nicht mehr (so einfach) möglich.
• Laplace-Transformation nicht mehr anwendbar.
• Analyse wird wesentlich erschwert.
• Komplexität der Betrachtungen wird wesentlich erhöht.

Nichtlinearitäten verändern die Frequenzen:


• Ein lineares System antwortet auf eine Schwingung mit einer Frequenz !1, immer auch
mit einer Schwingung der selben Frequenz (im eingeschwungenen Zustand). Lediglich
die Amplitude und die Phase der Schwingung wird verändert. Um wie viel, lässt sich am
Frequenzgang des linearen Systems ablesen.
• Für nichtlineare Systeme gilt das Alles nicht! Sie können das Spektrum des
Eingangssignals beliebig verändern.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 588


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Nichtlinearitäten verändern die Frequenzen:
• Beispiel: Quadratische Kennlinie

D.h. aus einem Eingangssignal mit der u(t) y(t)


Frequenz !1 ist ein Ausgangssignal mit
einem Gleichanteil (Frequenz 0) und einem t t
periodischen Anteil doppelter Frequenz 2!1
geworden.
Beispiel: Exponentielle Kennlinie
Der sinusförmige Verlauf des Eingangssignals
ist im Ausgangssignal überhaupt nicht mehr zu u(t) y(t)
erkennen. Es enthält ein sehr breites Spektrum
an Frequenzen. t t

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 589


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Hysterese
Hysterese (gr. hysteros: hinterher) ist das Fortdauern einer Wirkung nach Wegfall der
Ursache. Sie bezeichnet eine Erscheinung, die durch eine Hysteresekurve gekennzeichnet
wird (siehe Bild). Typisch für die Hysterese ist das Auftreten von bistabilem Verhalten. Bei
gleichen Umgebungsbedingungen ist der Zustand von der Vergangenheit abhängig.
Man kann zwischen zwei Typen von Hysterese unterscheiden:
• Hysterese, bei welcher der durchlaufene Ast neben der Eingangsgröße nur noch von der
Änderungsrichtung (also dem Vorzeichen der Ableitung) der Eingangsgröße abhängt.
Bei einem Richtungswechsel springt der Arbeitspunkt von einem Ast auf den anderen.
Beispiel: Komperatorschaltungen mit Operationsverstärkern.
B
• Hysterese, bei welcher der durchlaufene Pfad von der
gesamten Vergangenheit der Eingangsgröße abhängt.
Der Pfad verläuft auch im Inneren der Hysteresefläche
und springt nicht. Beispiel: Magnetisierung ferro- H
magnetischer Stoffe (Eisen).
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 590


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Lose oder "Spiel" (backlash)
Lose oder "Spiel" kann bei zwei bewegten Teilen auftreten, zwischen denen eine Kraft oder
ein Drehmoment übertragen werden soll. Zwischen ineinander greifenden Zahnrädern tritt
z.B. typischerweise Lose auf. Bei einem Getriebe addieren sich dann die Loseeffekte der im
Kraftfluss liegenden Zahnräder auf und die Gesamtlose kann evtl. nicht mehr vernachlässigt
werden.
Die Schwierigkeit bei der Modellierung von Lose besteht darin,
dass die beiden Auslenkungen x1 und x2 innerhalb des Lose-
bereichs unabhängig voneinander sind.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 591


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Stabile Dauerschwingungen:
• Ein lineares System, das Dauerschwingungen ausführt ist grenzstabil; es weist ein (oder
mehrere) konjugiert komplexe Polpaar(e) auf der imaginären Achse auf.
• Ein lineares System, das Dauerschwingungen ausführt, schwingt immer rein sinusförmig.
Die Frequenz hängt von dem Imaginärteil des konjugiert komplexen Polpaars ab.
• Bei einem nichtlinearen System ist das nicht so! Dauerschwingungen treten
typischerweise bei schaltenden Systemen auf, z.B. Systeme mit Zweipunktreglern. Aber
auch nicht schaltende Systeme können Dauerschwingungen ausführen.
Dauerschwingungen nichtlinearer Systeme sind normalerweise auch nicht sinusförmig.
• Beispiel: Räuber/Beute-Modell (Volterra-Lotka-Modell)
Beute:
Räuber:
D.h. Beute und Räuber vermehren sich proportional zu ihrem Bestand, also je mehr Tiere
es gibt, desto mehr werden neu geboren.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 592


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Stabile Dauerschwingungen:
Gäbe es keine Räuber, würde sich die Beute ungehemmt exponentiell vermehren. Gäbe es
genug Beute, so würden sich die Räuber ungehemmt exponentiell vermehren. Eine große
Anzahl Räuber x2 reduziert die Beuteanzahl, weil sie gefressen wird. Aber eine große Anzahl
Beute x1 erhöht die Räuberanzahl, weil sie mehr zu fressen hat.
Beute:
Räuber:
Wobei f (x2) monoton fallend und g (x1) monoton steigend ist. Im einfachsten Fall nehmen wir
lineare Funktionen an:
Beute:
Räuber:
Für jede Anfangsbedingung x1 > 0, x2 > 0 ergeben diese nichtlinearen
Differentialgleichungen eine stabile Dauerschwingung.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 593


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
2
Anfangsbedingungen 1

1.8

1.6

1.4
Zustandsraum
4
1.2

0.8
3
0.6

0.4 2
0 5 10 15 20

4
2
Anfangsbedingungen 2

3.5

3
1
2.5
1
2

1.5
0
1 0 1 2 3 4
0.5

0
0 5 10 15 20

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 594


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.2 Nichtlineare Effekte
Besondere Eigenschaften nichtlinearer dynamischer Systeme
Chaos:
Nichtlineare dynamische Systeme können sich chaotisch verhalten, d.h. sie zeigen scheinbar
zufälliges Verhalten, obwohl sie theoretisch deterministisch sind. Es gelingt nicht, chaotische
Systeme über einen längeren Zeitraum zu simulieren, da sich kleinste Fehler (z.B. in den
Anfangsbedingungen) drastisch auswirken.
Beispielsweise wiederholt sich die Bewegung eines chaotischen Systems wie eines doppelten
Pendels unter gewissen Voraussetzungen (Anfangsbedingungen) niemals, sondern verändert sich
stetig, so dass sein Verhalten zufällig und ungeordnet erscheint. Man spricht von chaotischen
Systemen, wenn man nicht vorhersagen kann, wie sich ein System entwickeln wird. Formal ist ein
deterministisches System dann chaotisch, wenn unter nur minimalen Veränderungen der
Anfangsbedingungen die zeitliche Entwicklung des Systems nicht berechenbar ist und zu deutlich
unterschiedlichen Endzuständen führt. Andernfalls (kleine Ursache, kleine Wirkung oder große
Ursache, große Wirkung) spricht man von stetigem Verhalten. Chaotische Systeme, wie z.B. das
Wetter, sind nicht weit in die Zukunft vorhersagbar, kleine Änderungen können enorm
(insbesondere exponentiell) verstärkt werden, große Änderungen können gedämpft werden. Ein
Prozess wird als chaotisch bezeichnet, wenn Zustände des Prozesses zu einem beliebigen
Zeitpunkt mit exponentieller Geschwindigkeit divergieren.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 595


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.3 Stabilität nichtlinearer Systeme
Unterschiede zwischen der Stabilität linearer und nichtlinearer Systeme
Die Stabilität nichtlinearer Systeme ist eine wesentlich kompliziertere Eigenschaft als bei
linearen Systemen. Bei linearen Systemen unterscheiden wir zwischen:
1. Stabile Systeme: Die Zustände klingen von jeder Anfangsbedingung exponentiell schnell
auf den Ruhezustand ab.
2. Grenzstabile Systeme: Die Zustände nähern sich weder dem Ruhezustand noch streben
sie gegen unendlich.
3. Instabile Systeme: Mindestens ein Zustand strebt betragsmäßig gegen unendlich.
Die Untersuchung der Gewichtsfunktion g(t) oder der Pole der Übertragungsfunktion des
Systems gibt Aufschluss darüber, welcher Fall vorliegt. Folgende Fakten sind dabei besonders
bemerkenswert und gelten nicht für nichtlineare Systeme:
• Stabilität ist ausschließlich eine Eigenschaft des Systems; sie hängt von nichts anderem ab.
• Insbesondere gilt die Stabilitätseigenschaft im gesamten Zustandsraum.
• Es gibt nur einen einzigen Ruhezustand, typischerweise der Ursprung des Zustandsraums.
• Stabilität garantiert exponentiell schnelles Abklingen.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 596


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.3 Stabilität nichtlinearer Systeme
Zur Stabilität nichtlinearer Systeme
• Stabilität ist keine globale Eigenschaft. Es kann stabile und instabile Bereiche des
Zustandsraums geben.
• Da es verschiedene Stabilitätsbereiche geben kann, ist es offensichtlich, dass es auch
verschiedene Ruhelagen geben kann. Zu jedem Stabilitätsbereich gehört eine Ruhelage.
• Ruhelagen können stabil, grenzstabil oder instabil sein. Das kann man durch
Linearisierung der nichtlinearen Zustandsgleichungen herausfinden:
Nichtlineare Zustandsgleichungen für u(t) = 0:

Linearisierung um x0:

mit !x = x – x0. Ist die durch Linearisierung gefundene Systemmatrix stabil, so gilt dies
auch für die zugehörige Ruhelage x = x0. Diese Aussage gilt aber nur für den Punkt x0
selbst. Über die Größe des Stabilitätsgebiets rund um diesen Punkt ist damit noch nichts
ausgesagt. Daher ist das Ergebnis aus der Linearisierung für die Praxis nicht besonders
hilfreich.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 597


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.3 Stabilität nichtlinearer Systeme
Ruhelagen für nichtlineare dynamische Systeme
Im Gegensatz zu linearen Systemen können nichtlineare Systeme mehrere Ruhelage haben.
Mittels Linearisierung lässt sich zwar die Stabilität einer Ruhelage bestimmen, aber sie erlaubt
keine Aussage über die Größe des Einzugsgebiets (region/domain/basin of attraction). Ist
das Einzugsgebiet winzig (stabile Ruhelage ganz links), dann können schon kleine Störungen
das System destabilisieren und eine solche stabile Ruhelage ist praktisch instabil! Im Idealfall
ist das Einzugsgebiet unendlich groß (Bild rechts) und damit das System global stabil.
Die Bestimmung der Größe des Einzugsgebiets ist eine schwierige Aufgabe. Oft wird man nur
ein Teilgebiet des wahren Einzugsgebiets finden.

stabil

instabil

instabil
(Sattelpunkt)
stabil stabil stabil

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 598


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.3 Stabilität nichtlinearer Systeme
Beispiel: Ruhelagen eines Pendels stabile
Ruhelage
Ein Pendel hat 2 Ruhelagen:
• Stabile Ruhelage bei ! = 0° mit dem Einzugsbereich (–180°, 180°) instabile
• Instabile Ruhelage bei ! = 180° Ruhelage
offenes Intervall

Stabile und instabile Dauerschwingungen


Wie das Räuber/Beute-Beispiel zeigt, sind Dauerschwingungen auch ein typisches
Phänomen nichtlinearer Systeme. Eine Dauerschwingung kann genau wie Ruhelagen stabil
oder instabil sein. Eine stabile Dauerschwingung ist
dadurch gekennzeichnet, dass sie sich durch eine kleine stabile instabile
Störung nicht aus der "Bahn werfen" lässt. Das System Dauerschwingung Dauerschwingung
strebt nach Störungen immer wieder dieser Dauer-
schwingung zu. Instabile Dauerschwingungen brechen
bei einer Störung zusammen und das System strebt
einer anderen Dauerschwingung oder einer Ruhelage zu.
Sie können daher in der Realität nicht beobachtet werden.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 599


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Kennlinien als Regler
Neben Nichtlinearitäten im Prozess, die oft unerwünscht oder zumindest für den Regler-
entwurf unbequem sind, werden Nichtlinearitäten auch in Reglern verwendet. Breite
Anwendung finden dabei einfache schaltende Regler z.B. realisiert durch Zweipunktschalter.

Anwendungsbeispiele für Kennlinienregler


Zweipunktschalter
• Bügeleisen, Elektroherd.
• Kühlschrank, Gefrierschrank. Oft gilt:

• Thermostat an der Heizung.


Oder:
Eigenschaften von Kennlinienreglern
• Einfach und leicht zu implementieren.
• Zweipunktregler nutzt meist die maximal mögliche Stellenergie aus (oberer und unterer
Anschlag [umin, umax]), d.h. ist bei geschickter Schaltstratgie zeitoptimal.
• Starke Beanspruchung des Stellglieds (Hin- und Herschalten zwischen den Anschlägen).
• Dauerschwingungen.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 600


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Zweipunktregler ohne und mit Hysterese
Betrachten wir zunächst einen Zweipunkt-
Strecke
regler ohne Hysterese zur Regelung einer
I-Strecke. Andere (phasenminimale)
Strecken zeigen ein kompliziertes aber nicht
grundsätzlich unterschiedliches Verhalten.
Deshalb wollen wir uns hier mit einer I-Strecke begnügen.
Ist der Regelkreis eingeschwungen, also y = w, dann führt die Stellgröße u = umax zu einem
sofortigen kleinen Anstieg der Regelgröße y. Dadurch wird die Regelabweichung e leicht
negativ und der Zweipunktregler schaltet um auf u = umin. Das führt wiederum zu einer
Reduktion von y und damit zu einer positiven Regelabweichung e und es folgt wieder ein
Umschalten des Reglers auf u = umax.
Ein reiner Zweipunktregler führt also zu einem (theoretisch unendlich schnellen) ständigen
Hin- und Herschalten des Reglers (Rattern, chattering). Die Folge ist eine enorme
Beanspruchung des Stellglieds. Um die zeitlichen Abstände zwischen dem Hin- und
Herschalten zu vergrößern, verwendet man deshalb in der Regel einen Zweipunktregler mit
Hysterese.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 601


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Zweipunktregler mit Hysterese für I-Strecke
Eine Hysteresebreite von b bedeutet, dass
der Zweitpunktregler erst dann schaltet,
wenn die Regelabweichung e betragsmäßig
größer als b geworden ist.

Amplitude und Frequenz der Dauerschwingung Zweipunktschalter mit Hysterese


Auch mit dem Zweipunktregler mit Hysterese stellt sich nach
dem Erreichen des Sollwertes eine Dauerschwingung ein. Die
Amplitude der Dauerschwingung ist durch die Hysteresebreite
gegeben, da die Regelgröße y bei e > b bzw. e < –b jeweils die
Richtung wechselt. Die Frequenz der Dauerschwingung ist pro-
portional zu umax, wenn umin = –umax, weil umax die Steigung des
Anstiegs von y bestimmt. Und die Frequenz der Dauerschwingung ist antiproportional zu b,
weil b die Zeit des Anstiegs und Abfalls von y und damit die Periodendauer bestimmt.
Dauerschwingung: Amplitude ~ b Frequenz ~

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 602


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
3.5 3.5
3 3
2.5 2.5
2 2
1.5 1.5
1 1
0.5 0.5
0 0
-0.5 -0.5
-1 -1
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10

3.5 3.5
3 3
2.5 2.5
2 2
1.5 1.5
1 1
0.5 0.5
0 0
-0.5 -0.5
-1 -1
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 603


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Zweipunktregler mit toter Zone
Wie auf der Folie zuvor zu sehen ist, lässt sich zwar durch die Wahl der Hysteresebreite und
maximalen Stellgröße die Amplitude und Frequenz der Dauerschwingung beeinflussen, eine
Dauerschwingung tritt aber in jedem Fall auf. Das ist häufig aus zahlreichen Gründen
unerwünscht (Abnutzung, Energieverbrauch, Akustik, etc.). Eine tote Zone im Zweipunkt-
regler kann die Dauerschwingung auf Kosten einer verminderten stationären Genauigkeit
verhindern. Solange sich die Regelabweichung innerhalb der toten Zone befindet (–d < e < d),
gibt ein solcher Regler die Stellgröße Null aus. Deshalb funktioniert dies auch nur bei Strecken
mit I-Verhalten, weil dort stationär u = 0 ist.
3.5

Zweipunktschalter 3

mit toter Zone 2.5 d


2
1.5
1
0.5
0
-0.5
-1
0 2 4 6 8 10

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 604


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Zweipunktregler für PT1-Strecke
Wenn mit einem Zweipunktregler nicht
eine I-Strecke sondern eine andere (phasen-
minimale) Strecke geregelt wird, ergibt sich
ein prinzipiell ähnliches Verhalten. 3.5
3
Im Unterschied zu Strecken mit I-Verhalten, kommt 2.5
es bei proportionalen Strecken nicht auf den absoluten 2

Wert der Stellgröße an, sondern auf deren Abwei- 1.5


1
chung vom Arbeitspunkt. Liegt der Arbeitspunkt
0.5
Mittelwert
bei w = y = 3, u = 0.6 (Streckenverstärkung ist 5), 0
dann bedeutet ein Sprung auf umax = 1 ein !u = +0.4 -0.5

und ein Sprung auf umin = –1 ein !u = –1.6. D.h. die -1


0 2 4 6 8 10
Sprunghöhe nach unten ist 4 Mal so groß wie die Sprung-
höhe nach oben. Daher dauert die Anstiegsphase ca. 4 Mal so lang und hat eine ca. 4 Mal
kleinere Steigung als die Abstiegsphase. Weil die Amplitude der Dauerschwingung recht
klein ist, erkennt man kaum einen Unterschied zwischen integralem Verhalten (linearer
An/Abstieg) und proportionalem Verhalten (1 − exponentieller An-/Abstieg).
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 605


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Kompensation von Nichtlinearitäten
Die Kompensation unerwünschter Effekte ist eine häufig angewandte Idee in vielen
Disziplinen. Wir haben Beispiele in Form der Vorsteuerung, Störgrößenaufschaltung und
Entkopplung von Mehrgrößenregelkreisen gesehen, wo unerwünschtes dynamisches
Verhalten durch Kompensation (näherungsweise) eliminiert wurde.
Diese Idee lässt sich auch auf Nichtlinearitäten anwenden. Prinzipiell kann man dabei
zwischen einer Kompensation mittels Reihen- und mittels Parallelschaltung unterscheiden.
Bei der Reihenschaltung muss die inverse Nichtlinearität berechnet werden, bei der Parallel-
schaltung reicht ein direkte Modellierung der Nichtlinearität. Die 1. Methode wird auf der
nächsten Folie demonstriert; die 2. wird bei dem Verfahren Feedback Linearization genutzt.

Kompensation durch Reihenschaltung Kompensation durch Parallelschaltung

NL–1 NL NL

^
NL

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 606


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.4 Kennlinienregler
Regelung mit inverser Kennlinie
Viele Regelstrecken haben eine Hammerstein-Struktur, weil die wesentliche Nichtlinearität
oft im Stellglied (also am Streckeneingang) steckt. Dann kann diese Nichtlinearität leicht
durch eine inverse Kennlinie kompensiert werden. Gelingt diese Kompensation perfekt ist
jeglicher nichtlinearer Einfluss aus dem Regelkreis eliminiert. Es kann dann mit Hilfe der
linearen Regelungstheorie ein linearer Regler GR(s) für den linearen Streckenanteil GS(s)
entworfen werden. Die Analyse und Synthese des Regelkreises ist genauso einfach wie im
rein linearen Fall.

Regler Strecke

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 607


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
In der nichtlinearen Regelungstechnik gibt es keine allgemeine und ausgereifte Theorie wie
für lineare Systeme. Vielmehr kommt ein Bündel an verschiedenen Methoden zum Einsatz,
die jeweils für eine bestimmte Klasse von Systemen oder Anwendungen besonders geeignet
sind. Da viele der Methoden auch mathematisch recht aufwändig sind und einige Übung und
teilweise Kreativität im effizienten Umgang erfordern, beschränken wir uns hier auf eine
Kurzübersicht über die wichtigsten Ansätze:
• Beschreibungfunktionen (Harmonische Balance): Besonders für die Analyse von
Dauerschwingungen geeignet.
• Zustandsebene: Für die Analyse und Reglersynthese für Systeme 2. Ordnung geeignet.
Die zeitoptimale Regelung lässt sich gut behandeln.
• Direkte Methode von Ljapunow: Sehr allgemeiner Ansatz zur Stabilitätsuntersuchung.
Lässt sich auch für die Reglersynthese einsetzen. Sehr breites Anwendungsfeld.
• Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme: Besonders für die experimentelle Modellierung
nichtlinearer Systeme (Identifikation) aber auch für die Reglersynthese (direkt als Regler
oder als Zwischenschritt zu einem "klassischen" Regler) geeignet. Sehr breit anwendbar
und mit relativ wenig mathematischem Aufwand zu verstehen.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 608


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Beschreibungsfunktionen (Harmonische Balance)
Grundidee:
NL
• Es wird angenommen, dass sich der
geschlossener Regekreis im Schwingungs-
gleichgewicht befindet. Die sich einstellenden Dauerschwingungen sollen analysiert
werden, d.h. man möchte Amplituden, Frequenzen und Stabilitätseigenschaften der
möglichen Dauerschwingungen bestimmen.
• Jede Schwingung lässt sich als Fourier-Reihe schreiben, also in eine Summe aus einem
Gleichwert A0 und Sinus-Signalen der Grundfrequenz A1sin(!0t+"1) und Ober-
schwingungen (Vielfache der Grundfrequenz) Aksin(k!0t +"k) zerlegen:

• Wenn das nichtlineare dynamische System genügend stark gedämpft ist (siehe Bild),
werden die hohen Frequenzen im Vergleich zu den
niedrigeren sehr stark unterdrückt. Dann kann man die stark
gedämpft
Signale mit ihren Grundschwingungen approximieren:

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 609


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
"Phasenver-
"Verstärkung" schiebung"
Beschreibungsfunktionen (Harmonische Balance)
• Die statische Nichtlinearität wird durch einen NL
Verstärkungsfaktor K und eine Phasen-
verschiebung ! beschrieben, die in Bezug auf die Grundschwingung definiert sind. Alle
höheren Frequenzen werden vernachlässigt, weil ihre Amplituden sehr stark durch das
dynamische System gedämpft werden (Annahme!). Die Gleichwerte werden zuvor über
eine Transformation der Variablen eliminiert, so dass man mit Kleinsignalgrößen
rechnet. Daher gilt im Folgenden auch w = 0.
• Die Nichtlinearität wird durch ihre sog. Beschreibungsfunktion N(A) dargestellt:

Die Beschreibungsfunktion ist also etwas Ähnliches wie eine Übertragungsfunktion; sie
hängt aber nicht von der Frequenz "0 des Signals, sondern von dessen Amplitude A ab!
Die Beschreibungsfunktion kann aber nur genutzt werden, um die (näherungsweise)
Antwort auf ein Sinus-Signal zu berechnen; sie hat nicht den universellen Charakter der
Übertragungsfunktion, mit deren Hilfe man ja die Antwort auf jedes beliebige Eingangs-
signal berechnen kann.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 610


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Beschreibungsfunktionen (Harmonische Balance)
• Für eindeutige Kennlinien (für jedes e gibt es nur ein u) ist die Beschreibungsfunktion
reell, d.h. ! = 0.
• Die Beschreibungsfunktion z.B. für ein Zweipunktglied lautet:

(aus Tabelle entnommen)

• Zur Berechnung der Dauerschwingungseigenschaften erhalten


wir für w = 0 folgende charakteristische Gleichung für den geschlossenen Regelkreis:
1
e = −GS (i!0 )N (A)e GS (i!0 ) = −
N (A)
Im
• Dies sind in Wirklichkeit 2 Gleichungen, eine für den Realteil, eine
für den Imaginärteil. Daraus können die beiden Unbekannten A und GS (i!0 )
"0 bestimmt werden. Geometrisch sind sie durch den Schnitt-
punkt der Ortskurven GS (i") und –1/N(A) gegeben. So können die Re
Amplitude und die Frequenz der Dauerschwingung berechnet werden.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 611


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
In der Zustandsebene (manchmal auch als Phasenebene bezeichnet) können nichtlineare
dynamische Systeme 2. Ordnung behandelt werden, die folgender DGL genügen:

Führt man neben dem Zustand x den Zustand ein, erhält man:

In vielen Anwendungen bezeichnet x einen Weg und v eine Geschwindigkeit. Die Bahnen
oder Trajektorien eines solchen Systems 2. Ordnung lassen
sich in der Zustandsebene, d.h. dem 2-dimensionalen
Zustandsraum, anschaulich darstellen.
Weil der 2. Zustand v gleich der Ableitung des 1. Zustands x
ist, sind die Bewegungsrichtungen der Trajektorien in der
Zustandsebene nicht völlig frei, sondern durch die mit den
Pfeilen gekennzeichneten Richtungen in den 4 verschiedenen
Quadranten vorgegeben.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 612


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Um die Trajektorien in der Zustandsebene zu berechnen, geht man wie folgt trickreich vor,
um die explizite Zeitabhängigkeit zu eliminieren und damit eine DGL 2. Ordnung in der
Zeit t umzuformen in eine DGL 1. Ordnung im Zustand x:

Die sich daraus ergebende Trajektorienschar lässt sich meist leicht über Trennung der
Variablen bestimmen. Dazu muss allerdings angenommen werden, dass die Stellgröße u
stückweise konstant ist, damit die Zeit t nicht explizit in der Gleichung vorkommt. Damit
kann man also die homogene Lösung (u = 0) berechnen und alle Fälle behandeln, wo u aus
einer Schaltkennlinie (wie bei einem Zweipunktregler) erzeugt wird.

Beispiel: Zweipunktschalter mit Doppelintegrator


Ein doppelter Integrator beschreibt z.B. die einfachst mögliche Bewegungsgleichung,
nämlich die ungedämpfte beschleunigte Bewegung: . Das kann z.B. für Steuerung
der Antriebe (nur Ein/Aus) eines Satelliten im Weltall verwendet werden.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 613


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Die Antriebe des Satelliten
können nur in Flugrichtung
oder in Gegenflugrichtung gefeuert
werden. Das lässt sich durch einen
Zweipunktschalter modellieren u = umax oder u = umin = –umax . Damit ergibt sich (m = 1). :

mit einer Integrationskonstanten c. Interpretiert als x(v) sind das nach oben (für u = umax)
bzw. nach unten (für u = –umax) geöffnete Parabeln.
Liefert der Zweipunktregler die Stellgröße u = umax,
–umax umax
dann bewegt sich das System entlang der blauen, durch-
gezogenen Parabeln; bei der Stellgröße u = –umax,
bewegt es sich entlang der roten, gestrichelten Parabeln.
Auf welcher Parabel der ganzen Parabelschar das System
startet, hängt vom Anfangszustand (x0, v0) ab.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 614


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Wann bewegt sich das System nun auf welcher Parabel? Der Zweipunktregler schaltet nach
folgender Strategie um:
e > 0 → x < 0: umax
e < 0 → x > 0: –umax
D.h. in der linke Halbebene (x < 0) bewegt sich das System entlang der blauen, durch-
gezogenen Parabeln und in der rechten Halbebene (x > 0) entlang der roten, gestrichelten.
D.h. der einfache Zweipunktregler ist nicht in der Lage den Regelkreis zur Ruhe zu bringen.
Das System führt Schwingungen aus, deren Amplitude von dem Anfangszustand (x0, v0)
abhängt.
Übrigens sind die Schwingungen nicht sinusförmig, sonst
müssten die Kurven in der Zustandsebene Halbkreise oder –umax
-ellipsen statt Parabeln sein. umax
Wie kann der Regler verbessert werden?
Eine nahe liegende Idee ist, nicht auf der senkrechten Achse (x = 0)
umzuschalten, sondern die grüne dicke Schaltgerade zu drehen!
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 615


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Drehen der Schaltgeraden nach rechts Drehen der Schaltgeraden nach links

Dauerschwingung wird instabil! Dauerschwingung klingt gegen Null ab!

Offensichtlich klingt die Dauerschwingung gegen die Ruhelage im Ursprung ab, wenn die
Schaltgerade nach links geneigt wird, und dieses Abklingen geschieht um so schneller je
stärker die Schaltgerade nach links geneigt wird. Diese stabilisierende Schaltgerade folgt der
Gleichung:

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 616


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Um diese Schaltgerade zu realisieren, müssen wir
die aktuelle Umschaltstrategie:
e > 0 → x < 0: umax
e < 0 → x > 0: –umax
ändern, indem wir e = – x durch e = – (v + k x) ersetzen.
Damit ändert sich das Blockschaltbild des Regelkreises:

Lässt sich v nicht messen, so kann


dieser Zustandsregler auch als PD-
Regler realisiert werden:

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 617


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Zustandsebene und zeitoptimale Regelung
Diese Umschaltstrategie funktioniert sehr gut und ist recht robust. Es kommt gar nicht auf
den exakten Verlauf der Trajektorien an, sondern nur auf deren prinzipielle Form.

Wie muss die Umschaltstrategie geändert werden, damit der Systemzustand möglichst
schnell in den Ursprung gezwungen wird?
Es zeigt sich, dass bei optimaler Gestaltung der Schaltkurve (dann keine Gerade mehr!) ein
einziges Mal Umschalten ausreicht, um den Systemzustand in den Ursprung zu regeln, und
zwar für jede beliebige Anfangsbedingung. Dies ist möglich, wenn man die Trajektorien
durch den Ursprung als Schaltkurven definiert:

Das ist die zeitoptimale Regelung. Generell erhält man


eine zeitoptimale Regelung, wenn man zwischen den
Stellgrößenextrema (umax und –umax) (Pontrijaginsches
Maximumsprinzip) "geschickt" n–1 Mal umschaltet, bei
einer Systemordnung von n (Satz von Feldbaum).
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 618


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Direkte Methode von Ljapunow
Mit der direkten Methode von Ljapunow wird ein i.a. sehr schwieriges Problem angegangen,
nämlich die Stabilitätsuntersuchung nichtlinearer dynamischer Systeme. Die Grundidee ist
dabei, eine Funktion zu finden, die z.B. die Gesamtenergie des betrachteten Systems
repräsentiert. Wenn man dann zeigen kann, dass diese Funktion (Gesamtenergie) ständig
abnimmt, dann ist auch die Stabilität des Systems bewiesen. Denn bei ständig abnehmender
Funktion (Gesamtenergie) muss das System einer Ruhelage zustreben.
Dem System wird
Beispiel: Feder-Dämpfer-Masse-System keine Energie von
Außen zugeführt!
Kinetische Energie:
c
Potentielle Energie: m

Gesamtenergie: d x(t) F(t) = 0

Modell des Systems:


Zustands-
Mit den Zuständen und : gleichungen:
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 619


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Direkte Methode von Ljapunow
Mit den Zuständen ergibt sich folgende Gleichung für die Gesamtenergie:

Wie verändert sich die Gesamtenergie über die Zeit?

Das gleiche Ergebnis erhält man auch, wenn man mit einer beliebigen nichtlinearen
Federkennlinie statt der Federkonstanten c rechnet.
Die Änderung der Gesamtenergie ist eine negativ semidefinite Funktion, d.h. sie ist für alle
x1 und x2 negativ; erlaubt ist nur die Ausnahme x2 = 0 (und auch x1 = 0), wo sein darf.
Das bedeutet, dass dem System so lange Energie entzogen (im Dämpfer in Wärme
umgewandelt) wird bis x2 = 0 ist. Dann ist aber auch und damit x1 = 0. D.h. das
System strebt unaufhaltsam dem Ursprung des Zustandsraums (x1 = 0, x2 = 0) zu. Da dies für
jeden beliebigen Anfangszustand (x1(0), x2(0)) gilt, ist das System global asymptotisch
stabil! Diese Argumentation funktioniert nur für Systeme mit Dämpfer, also d > 0! Bei d = 0
verändert sich die Gesamtenergie nicht und das System oszilliert für immer.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 620


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Direkte Methode von Ljapunow
Diese Idee mit der Gesamtenergie kann auf beliebige positiv definite Funktionen (müssen
überall positiv sein) erweitert werden. Eine positiv definite Funktion deren zeitliche
Ableitung negativ semidefinit ist (und noch einige weitere Bedingungen erfüllt) nennt man
Ljapunow-Funktion. Die Gesamtenergie ist nicht immer eine gute (oder auch nur mögliche)
Wahl für eine Ljapunow-Funktion, weil:
• Die Gesamtenergie kann zeitlich schwingen (also zwischendrin auch zunehmen) aber
dennoch im Mittel abnehmen. Dann ist die Gesamtenergie keine Ljapunow-Funktion.
• Es kann sehr aufwändig sein, die Gesamtenergie eines komplexen Systems zu berechnen.
Vereinfachend kann man 2 Situationen unterscheiden:
1. Eine Ljapunow-Funktion existiert im gesamten Zustandsraum, also für alle Werte von
x1, x2, .... Dann ist das System global asymptotisch stabil.
2. Eine Ljapunow-Funktion existiert nur in einem Teilraum des gesamten Zustandsraums.
Das kann passieren, weil z.B. die positive Definitheit der Funktion oder die negative
Semidefinitheit von deren Ableitung außerhalb verloren geht. Dann gehört dieser
Teilraum zum Einzugsgebiet der Ruhelage. (Das Stabilitätsgebiet kann aber größer sein!)
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 621


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Direkte Methode von Ljapunow
Das bisher Gesagte war nur ungefähr richtig. Feinheiten wurden der Einfachheit halber weg-
gelassen. Mathematisch exakt lautet das Stabilitätskriterium nach Ljapunow wie folgt:

Das dynamische System


besitze die Ruhelage x = 0. In einem Gebiet S des Zustandsraums sei V(x) stetig
differenzierbar, und es gelte dort:
(i) V ist positiv definit.
(ii) ist negativ semidefinit.
(iii) Die Punktmenge, auf der ist, enthält außer x = 0 keine Trajektorie.
B sei ein Gebiet aus S, in dem V(x) < c gilt und dessen Rand durch V(x) = c gebildet wird,
wobei c eine positive Konstante darstellt. B sei beschränkt und enthalte die Ruhelage x = 0.
Dann ist die Ruhelage x = 0 asymptotisch stabil, und B gehört zu ihrem Einzugsgebiet.
Gelten die Bedingungen (i), (ii) und (iii) im gesamten Zustandsraum und strebt zusätzlich
V(x) → +∞ für |x| → +∞, so ist die Ruhelage global asymptotisch stabil.

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 622


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Direkte Methode von Ljapunow
Die Anwendung des Ljapunow-Stabilitätskriteriums auf lineare Systeme liefert einen neuen
Stabilitätstest als Alternative zur Berechnung der Eigenwerte der Systemmatrix A.
Untersuchen wir die Stabilität der linearen Zustandsgleichungen (externe Signale haben
keinen Einfluss auf die Stabilität; wir können daher u = 0 setzen)

Üblicherweise setzt man hierfür eine quadratische Ljapunow-Funktion an:

mit einer positiv definiten konstanten Matrix P. Die zeitliche Ableitung von V(x) ist:

Setzt man nun die Zustandsgleichungen ein, erhält man:

Daraus folgt, dass für Stabilität die Ljapunow-Gleichung mit einer positiv definiten Matrix
Q erfüllt sein muss:

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 623


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme
Oft ist es nicht möglich die nichtlinearen DGLs, die einen Prozess beschreiben, oder die
einen Regler beschreiben sollen, geschlossen herzuleiten. Dann sind Ansätze gefragt, mit
denen nichtlineare Zusammenhänge näherungsweise beschrieben werden können. Die
wichtigsten sind:
• Kennlinien und Kennfelder.
• Polynome und Splines.
• Neuronale Netze.
• Fuzzy-Systeme.
Kennlinien und Kennfelder sind die einfachste und weit verbreitetste Weise, nichtlineare
Zusammenhänge zu beschreiben. Messwerte können direkt als Stützstellen gespeichert
werden. Polynome und Splines bieten sich an, wenn der nichtlineare Zusammenhang
möglichst kompakt, d.h. mit wenigen Parametern (Polynomkoeffizienten), beschrieben
werden soll. Wenn hochdimensionale Probleme (d.h. viele Eingänge) vorliegen, sind
besonders gut neuronale Netze geeignet. Und wenn man nichtlineare Zusammenhänge mit
Hilfe von Regeln qualitativ beschreiben möchte, kommen Fuzzy-Systeme ins Spiel.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 624


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme
Grundsätzlich muss in der Regelungstechnik zwischen 2 Anwendungsklassen für neuronale
Netze und Fuzzy-Systeme unterschieden werden:

Direkter Einsatz als Regler Indirekter Einsatz als Modell

NN Strecke Optim. NN

Regler Strecke
• Neuronales Netz oder Fuzzy-System wird
direkt als Regler eingesetzt.
• Besonders für Fuzzy-Systeme beliebt, da • Neuronales Netz oder Fuzzy-System wird
man das gewünschte Verhalten des Reglers als Modell der Regelstrecke eingesetzt.
in Wenn-Dann-Regeln vorgeben kann. • Standardverfahren der modellbasierten
• Einfach und schnell für erste "brauchbare" Regelung können dann eingesetzt werden.
Lösung, aber sehr schwer zu optimieren. • Reglertyp kann frei gewählt werden: von
einfachem PID bis zu prädiktiver Regelung.
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 625


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme
Viele Modellarchitekturen lassen sich als eine Summe von M Basisfunktionen Fi darstellen.
Bei neuronalen Netzen sind diese Basisfunktionen alle vom gleichen Typ. Der bekannteste
neuronale Netz Typ heißt Multilayer-Perzeptron (MLP) und verwendet eindimensionale
sigmoide Basisfunktionen. Die vielen Eingänge eines Neurons werden durch ein Skalar-
produkt mit einem Parametervektor zu einer skalaren Größe umgewandelt.

Neuronales Netz i-tes Neuron


...

University

16. Nichtlineare Regelung Seite 626


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
16.5 Übersicht wichtiger nichtlinearer Regelungsansätze
Neuronale Netze und Fuzzy-Systeme
Die unscharfe Logik (Fuzzy-Logik) erlaubt die Beschreibung nichtlinearer Zusammenhänge
zwischen Ein- und Ausgangsgrößen mit Hilfe von Regeln. Dies kann nützlich sein, um
Expertenwissen möglichst direkt umzusetzen bzw. um aus Daten gewonnene Modelle auf
Stimmigkeit zu überprüfen.
Z.B. kann der sog. Wind-Chill-Effekt durch eine solche Regel beschrieben werden:
WENN Temperatur = niedrig UND Wind = stark DANN Überlebenschance = klein
Um solche Regeln auswerten zu können, müssen zunächst für die beiden Eingangsgrößen
Temperatur und Wind und die Ausgangsgröße Überlebenschance Zugehörigkeits-
funktionen definiert werden, welche die genaue Bedeutung der Fuzzy-Mengen bestimmen.
Dann können die Regeln einzeln auswertet werden und anschließend deren Ergebnisse zum
Ausgangswert zusammengefasst werden.
! niedrig mittel hoch ! schwach stark ! klein mittel groß
1 1 1

0 0 0
5°C 15°C 30°C Temp. 5m/s 20m/s Wind 20% 40% 80% Chance
University

16. Nichtlineare Regelung Seite 627


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17. *Digitale Regelung

University
Prof. Dr.-Ing.
Seite 628 Oliver Nelles
of Siegen
Inhalt Kapitel 17
17. *Digitale Regelung

17.1 *Zeitdiskrete Systeme


17.2 *Differenzengleichungen
17.3 *Digitaler Regelkreis
17.4 *Digitaler PID-Regler
17.5 *Faltungssumme
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing

University

17. Digitale Regelung Seite 629


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.1 *Zeitdiskrete Systeme
Digitale Regelung
Mit dem Begriff "Digitale Regelung" bezeichnet man die Regelung zeitabgetasteter Systeme.
Synonym werden auch die Begriffe zeitdiskrete Regelung oder Abtastregelung verwendet.

Hauptvorteile der digitalen gegenüber der analogen Regelung


• Realisierung in Software statt Hardware ist kostengünstiger und flexibler.
• Größerer Funktionsumfang kann realisiert werden (komplexere Regelalgorithmen,
Identifikation, Adaption, Überwachung, Diagnose, Lernfähigkeiten, ...).

Aus diesen Gründen sind heute fast nur noch digitale Regler im Einsatz. Die Behandlung
digitaler Regelsysteme unterscheidet sich von den analogen wie folgt:
• Differenzengleichungen statt Differentialgleichungen. Summen statt Integralen.
Differenzen statt Ableitungen.
• Z-Transformation statt Laplace-Transformation.
• Andere Stabilitätskriterien. Einfachere Behandlung von Totzeiten. Einfachere Simulation.
• Ganz neue Möglichkeiten (Deadbeat-Regler) und Einschränkungen (Abtasttheorem).
University

17. Digitale Regelung Seite 630


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.1 *Zeitdiskrete Systeme
Digitale oder analoge Regelung?
Beispiel: Stromregler für elektrische angesteuerte Ventile in einem elektronischen Motor-
oder Getriebesteuergerät für Pkws (2005)

Analoge Realisierung
• Regler wird mit Operationsverstärkern, Widerständen und Kondensatoren als Hardware
auf der Platine des Steuergeräts realisiert.
• Baueile und Platz auf der Platine kosten eine bestimmte Summe pro gebautem
Steuergerät. → Stückzahlabhängige Kosten.
• Hohe Regelgüte, da kein Informationsverlust durch Abtastung.
• Für beliebig schnelle Prozesse geeignet (keine Rechenleistung notwendig).
• Nur für einfache Reglerstrukturen (wie PID) sinnvoll.
• Reglerstruktur und Reglerparameter können nach Abschluss des Hardware-Designs nicht
mehr verändert werden. → Frühzeitige Festlegung, wenig zeitliche Flexibilität.
• Kein Update ohne Austausch (oder Änderung) der Hardware möglich.
University

17. Digitale Regelung Seite 631


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.1 *Zeitdiskrete Systeme
Digitale Realisierung
• Regler wird in Software realisiert; typischerweise in C programmiert.
• Einmalig fällt ein Entwicklungsaufwand an; Hardwareaufwand entsteht nicht
(vorausgesetzt es ist noch genügend Rechenleistung des Mikrocontrollers frei).
Entwicklungsaufwand kann evtl. auf mehrere Projekte umgelegt werden→ Fixkosten.
• Benötigte Rechenleistung steigt linear mit der Abtastfrequenz an.
• Beliebig komplexe Reglerstrukturen können leicht realisiert werden. Auch beliebige
Nichtlinearitäten lassen sich umsetzen.
• Reglerstruktur lässt sich durch Umprogrammieren ändern.
• Reglerparameter lassen sich durch Kalibration, d.h. auch nach Freigabe der Hard- und
Software des Steuergerätes ganz kurzfristig (auch noch in der Fertigung) ändern.
→ Sehr große zeitliche Flexibilität (Änderung am Ende erhöhen allerdings das Risiko).
• Updates lassen sich leicht durchführen, sowohl während der Fertigung ab einer
bestimmten Seriennummer als auch (im Notfall) als Rückruf. → Geringe Kosten.
• Verschiedene Varianten für verschiedene Baureihen lassen sich leicht erzeugen.

University

17. Digitale Regelung Seite 632


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.1 *Zeitdiskrete Systeme Digitale Regelung

1.4 1.4

1.2 1.2

1 1

0.8
Abtastung 0.8

0.6 Zeit: kontinuierlich 0.6 Zeit: diskret (abgetastet)


0.4
Amplitude: kontinuierlich 0.4
Amplitude: kontinuierlich
0.2 0.2
Quantisierung

Quantisierung
0 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10

1.4 1.4

1.2 1.2

1 1

0.8
Abtastung 0.8

0.6 Zeit: kontinuierlich 0.6 Zeit: diskret (abgetastet)


0.4 Amplitude: diskret 0.4 Amplitude: diskret
0.2
(quantisiert) 0.2
(quantisiert)

0 0
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10

University

17. Digitale Regelung Seite 633


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.1 *Zeitdiskrete Systeme
Abkürzung: u(k) = u(kT0)
Analog/Digital- und Digital/Analog-Wandlung y(k) = y(kT0)

A/D-Wandlung u(t) us(t) u(kT0)


Sensor T0 A/D Computer
• Abtastzeit T0 liegt zwischen
!sec (Signalverarbeitung)
und Stunden (thermisch, u(t) us(t) u(kT0)
biologische Prozesse)
• Amplitudenauflösung
von 8, 12 oder 16 Bit. t t t

D/A-Wandlung y(kT0) y*(t) y(t)


Computer D/A Halteglied
• Computer rechnet mit
zeitdiskreten Folgen.
y*(t) y(t)
• Halteglied 0. Ordnung y(kT0)
erzeugt stückweise
konstante Signale.
t t t
University

17. Digitale Regelung Seite 634


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.2 *Differenzengleichungen
Beziehung zwischen Differential- und Differenzengleichungen
Der Computer verarbeitet Signalfolgen, die zeitsynchron mit der Abtastzeit T0 abgetastet
werden. Aus der Eingangsfolge u(k) berechnet der Computer die Ausgangsfolge y(k).

Beispiele für die zeitkontinuierliche und zeitdiskrete Beschreibung dynamischer Systeme:


zeitkontinuierlich zeitdiskret
nicht
P sprungfähig!

PT1

PT2

I
University

17. Digitale Regelung Seite 635


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.3 Digitaler Regelkreis
Aufbau eines digitalen Regelkreises

Analoger Regelkreis

Regler Strecke

Digitaler Regelkreis

A/D Computer D/A Halteglied Strecke

Die Führungsgröße wird normalerweise im Computer direkt erzeugt und dort wird auch der
Soll/Istwert-Vergleich durchgeführt:

Regel-
algorithmus

Computer
University

17. Digitale Regelung Seite 636


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.3 *Digitaler Regelkreis
Beispiel: P-Regler mit PT1-Glied
Regler Strecke
Zeitkontinuierlicher Fall:
P-Regler:
PT1-Strecke:
Geschlossener Regelkreis:

Der geschlossene Regelkreis hat also auch PT1-Verhalten. Und zwar mit einer Zeitkonstanten
von T/(KR+1), die umso kleiner wird, je größer die Reglerverstärkung ist und einer
Verstärkung von KR/(KR+1), die umso weniger von 1 abweicht (also eine umso kleinere
bleibende Regelabweichung aufweist), je größer KR ist.
Der geschlossene Regelkreis ist strukturstabil, d.h. KR kann gegen unendlich gehen und die
Stabilität ist (theoretisch) nicht gefährdet. (Mit Hilfe der Laplace-Transformation hätten wir
das schneller herleiten können. Aber da wir die z-Transformation als deren zeitdiskretes
Äquivalent noch nicht kennen, beschränken wir uns hier auf den Zeitbereich.)
University

17. Digitale Regelung Seite 637


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.3 *Digitaler Regelkreis
Beispiel: P-Regler mit PT1-Glied
Zeitdiskreter Fall:
P-Regler:
PT1-Strecke:
Geschlossener Regelkreis:

= . Muss betragsmäßig < 1 sein, damit Stabilität gesichert ist!


Für w = 0 gilt:
Der geschlossene Regelkreis ist stabil für:

Im Gegensatz zum analogen Regelkreis, ist


der digitale Regelkreis nicht strukturstabil!

Dieser Ausdruck strebt nur gegen 0, wenn ist.


University

17. Digitale Regelung Seite 638


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.4 *Digitaler PID-Regler
PID:
Zeitdiskretisierung des PID-Reglers
Es gibt viele Möglichkeiten, ein zeitkontinuierliches System in ein zeitdiskretes System
umzuwandeln. Am einfachsten ist die Approximation mittels Differenzenquotienten. Eine
solche Approximation hat aber den schwerwiegenden Nachteil, dass sie nur für sehr kleine
Abtastzeiten eine gute Näherung darstellt:

Approximation mittels Differenzenquotienten (nur für sehr kleine T0)


P-Anteil:

D-Anteil:

I-Anteil:

PID-Regler:

University

17. Digitale Regelung Seite 639


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.4 *Digitaler PID-Regler
Übliche Variante des digitalen PID-Reglers
Die obigen Näherungen werden sehr schlecht, wenn die Abtastzeit nicht sehr kein gegenüber
den relevanten Prozesszeitkonstanten gewählt wird. Darüber hinaus ist nicht gewährleistet,
dass stabile Prozesse nach dieser Approximation auch im Zeitdiskreten stabil sind. Eine
wesentlich bessere Transformation führt auf folgenden Regler:

Digitaler PID-Regler:

Die 3 Parameter des digitalen PID-Reglers q0, q1 und q2 können, wie im obigen Kasten
angegeben, zu den Parametern des analogen PID-Reglers in Beziehung gesetzt werden. Das
ist wichtig, wenn man einen analogen in einen digitalen Regler umwandeln möchte oder die
Interpretation in Form eines P-, I- und D-Anteils benötigt.
Ansonsten können die 3 Parameter q0, q1 und q2 auch als unabhängige Werte gesehen werden
und direkt durch beliebige Reglerentwurfsverfahren bestimmt werden.
University

17. Digitale Regelung Seite 640


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.5 *Faltungssumme
Faltungsintegral und Faltungssumme

zeitkontinuierlich zeitdiskret

• Die Gewichtsfunktion g(t) enthält alle • Die Gewichtsfunktion g(k) enthält alle
Informationen über das lineare System. Informationen über das lineare System.
• Leichter rechnet es sich im Frequenzbereich • Leichter rechnet es sich im Frequenzbereich
mit der Laplace-Transformierten G(s). mit der z-Transformierten G(z).
University

17. Digitale Regelung Seite 641


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.5 *Faltungssumme
Eigenschaften der Faltungssumme
• Ausgeschrieben liest sich die Faltungssumme wie folgt:

• Wie im Zeitkontinuierlichen ist die Gewichtsfunktion identisch mit der Systemantwort


auf einen (zeitdiskreten) Dirac-Impuls am Eingang u(k) = !(k):
u(0) = 1, u(1) = 0, u(2) = 0, ... → y(k) = g(k).
• Nur für sprungfähige Systeme existiert g(0). Im Normalfall gilt also g(0) = 0.
• Hat die Gewichtsfunktion die Länge l+1, ist also endlich, d.h. alle g(i) = 0 für i > l, dann
hat das System eine endliche Impulsanwort (finite impulse response, FIR). Man
spricht dann auch davon, dass y(k) ein gleitender Mittelwert (moving average, MA) ist.
• Ist die Gewichtsfunktion unendlich lang, dann hat das System eine unendliche
Impulsantwort (infinite impulse response, IIR). Ähnlich wie im Zeitkontinuierlichen
kann dann der Ausgang aber über eine endliche Gleichung aus vergangenen (im
Zeitkontinuierlichen: abgeleiteten) Ausgangswerten berechnet werden:

University

17. Digitale Regelung Seite 642


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Abtastung zeitkontinuierlicher Signal
Jeder hat schon einmal drehende Speichenräder einer losfahrenden Kutsche im Film gesehen.
Zuerst sieht man das Rad beschleunigen. Ab einer gewissen Drehzahl scheint das Rad
plötzlich seine Drehrichtung zu ändern und schnell rückwärts zu drehen (obwohl die Kutsche
weiter beschleunigt). Dann scheint das Rad immer langsamer zu werden bis es sogar stehen
bleibt. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch zur immer schneller fahrenden Kutsche.
Diese komischen Effekte werden durch das sog. Aliasing verursacht und treten bei allen
abgetasteten Systemen auf. Offensichtlich gibt es Probleme, wenn wir Signale abtasten,
deren Frequenz in den Bereich der Abtastfrequenz kommt. Der Film spielt dabei die Rolle
des Abtasters mit einer Bildwiederholrate bzw. Abtastfrequenz von f0 = 25 Hz.
Was passiert, wenn wir ein Signal der Frequenz f = 1 Hz mit f0 = 1 Hz abtasten?
1 1

0 0

-1 -1
0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6

University

17. Digitale Regelung Seite 643


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Aliasing
Offensichtlich geht die Schwingung komplett verloren. Wir erhalten ein Signal der Frequenz
null (einen Gleichwert). Diese Tatsache ist unabhängig von der Phasenlage des Abtasters
(nur die Höhe des Gleichwertes hängt davon ab). Zur Illustration noch ein paar weitere
Beispiele mit f = 0.9 Hz, 0.7 Hz, 0.5 Hz und 0.3 Hz und jeweils f0 = 1 Hz.
f = 0.9 Hz f = 0.7 Hz
1 1

0 0

-1 -1
0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6
f = 0.5 Hz f = 0.3 Hz
1 1

0 0

-1 -1
0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6
University

17. Digitale Regelung Seite 644


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Abtasttheorem
Aus den Beispielen der vorangegangenen Seite erkennen wir empirisch, dass wir mindestens
mit der doppelten Signalfrequenz abtasten müssen (f = 0.5 Hz, f0 = 1 Hz), um das Signal nach
der Abtastung noch richtig wiedergeben zu können. Reale Signale bestehen aus einem
Gemisch vieler Frequenzen. Dann bezieht sich die Forderung nach der doppelten
Abtastfrequenz auf den Signalanteil mit der höchsten Frequenz fmax.

Shannonsches Abtasttheorem
Das Signal x(t) soll abgetastet werden. Die höchste Frequenzkomponente von x(t) sei fmax.
Dann muss die Abtastfrequenz mindestens doppelt so groß gewählt werden, wie die höchste
Frequenzkomponente von x(t):

Ist dies nicht gewährleistet, kommt es zu Aliasing, d.h. die Frequenzkomponenten mit
f > ½ f0 werden in den Bereich niedrigerer Frequenzen gespiegelt. Auf diese Weise können
hochfrequente Störsignale großen Schaden anrichten und niederfrequente Nutzsignale
überlagern.
In der Praxis wählt man ca. f0 = 5…10 fmax
University

17. Digitale Regelung Seite 645


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Veranschaulichung des Abtasttheorems und des Aliasing-Effekts
Wenn das Abtasttheorem eingehalten wird, kann das Originalsignal aus dem abgetasteten
Signal rekonstruiert werden, d.h. es findet durch die Abtastung kein Informationsverlust statt.
In Realität sind aber die meisten Signale nicht bandbegrenzt, haben also gar keine Kompo-
nente maximaler Frequenz fmax bzw. fmax = ∞. Vielmehr sind in vielen typischen Signalen
(Sprünge, Rampen, Rechtecke, ...) alle Frequenzen von 0 bis unendlich enthalten. Solche
Signale lassen sich daher aus dem abgetasteten Signal nicht perfekt rekonstruieren.

University

17. Digitale Regelung Seite 646


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Veranschaulichung des Abtasttheorems und des Aliasing-Effekts

Spektrum des kontinuierlichen Signals Spektrum des abgetasteten Signals

bandbegrenztes
Signal

Spektrum des abgetasteten Signals Spektrum des abgetasteten Signals

University

17. Digitale Regelung Seite 647


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Aliasing bei der Abtastung einer Sinus-Schwingung mit Kreisfrequenz !1

Jede Signalkomponente der Frequenz !1 wird durch das Abtasten an folgende Frequenzen
gespiegelt:

Solange !1 im roten Bereich bleibt, also das Abtasttheorem nicht verletzt, liegen die
gespiegelten Komponenten außerhalb des roten Bereichs (linkes Bild).
Sobald !1 den roten Bereich verlässt, wandert eine gespiegelte Komponente hinein und
verursacht Aliasing (rechtes Bild)!
Wandert !1 bis !0, so entsteht eine Alias-Komponente bei ! = 0 (stehendes Speichenrad).
University

17. Digitale Regelung Seite 648


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Anti-Aliasing-Filter
Um Aliasing zu verhindern, muss das analoge Signal vor der Abtastung mit einem Anti-
Aliasing-Filter gefiltert werden. Dieses Filter ist notwendigerweise ein analoges Filter, denn
nach dem Abtasten kann das Aliasing nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Typischerweise werden sehr steile Filter mit einer Grenzfrequenz bei !0 eingesetzt, um die
niederfrequenten Signalanteile möglichst wenig zu verzerren aber alle Frequenzen oberhalb
von !0 sehr stark zu dämpfen.

A/D Computer D/A Halteglied Strecke

Anti-Aliasing-Filter

Mit einem Trick kann auch ein digitales Anti-Aliasing-Filter eingesetzt werden. Dazu muss
zunächst mit viel höherer als der geplanten Abtastrate abgetastet werden, z.B. mit 8!0
(8-fach Oversampling). Die Frequenz muss so hoch sein, dass dort keine signifikanten
Signalkomponenten mehr existieren. Die gespiegelten Frequenzen liegen dann weit
außerhalb des Bereichs |!| < !0/2. Danach wird digital gefiltert und downgesamplet.
University

17. Digitale Regelung Seite 649


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen
17.6 *Abtasttheorem und Aliasing
Aliasing in der Bildverarbeitung
Die Signalverarbeitung taucht nicht nur im Zusammenhang mit zeitlichen Signalen auf. Auch
für räumliche Signale wie z.B. Bilder (2-dim. räumliche Signale) gelten die selben Gesetze.
So wie man zeitliche Signale filtern kann, ist Gleiches auch mit räumlichen Signalen
möglich. In der Bildverarbeitung tritt deshalb ebenfalls der Aliasing-Effekt auf. Eine hohe
(räumliche) Frequenz entspricht einer dichten Abfolge von abwechselnd hellen und dunklen
Punkten. Wenn bei der Reduzierung der Auflösung (entspricht der Abtastung) kein Anti-
Aliasing-Filter verwendet wird,
spiegeln die hohen Frequenzen Ohne Anti-Aliasing Mit Anti-Aliasing
in die niederfrequenten Bereiche
und stören das Bild. Ähnliches
kennt man vom Fernsehen, wenn
jemand Kleidung mit kleinem Karo-
muster trägt. In der Bildverarbeitung
nennt man dies Moiré-Effekt.

University

17. Digitale Regelung Seite 650


Prof. Dr.-Ing.
Oliver Nelles
of Siegen

Das könnte Ihnen auch gefallen