1 Essay Hermann Kurzke
1 Essay Hermann Kurzke
1 Essay Hermann Kurzke
Vierzig Jahre lang hat Thomas Mann den Plan mit sich herumgetragen. Einen Faust wollte er
schreiben, wie Goethe. Bereits 1904 trägt er die Ur-Idee in sein Notizbuch ein:
Figur des syphilitischen Künstlers: als Dr. Faust und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch,
Stimulans, Inspiration; er darf in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel
führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse. Die Sache mit dem reinen jungen
Mädchen, mit dem er es bis zur Hochzeit treibt, geht vorher.
Dieses Programm hat er im Roman treulich ausgeführt, viele Jahre später. Der Held, der
Komponist Adrian Leverkühn, hat sich bei einer Prostituierten, die später als „Hetaera
Esmeralda“ chiffriert durch seine Werke geistert, mit Syphilis angesteckt. Die Krankheit
stimuliert seine künstlerische Genialität und schenkt ihm Phasen begeisterter Schaffenskraft.
Nach 24 Jahren „holt ihn der Teufel“: es kommt, verlaufstypisch für bestimmte Formen der
Syphilis, zum paralytischen Schock mit nachfolgender geistiger Umnachtung.
Daß ein Künstler, um produktiv sein zu können, immer mehr oder weniger krank sein müsse,
gehört zu den Grundüberzeugungen Thomas Manns, die er mit verbreiteten Anschauungen
des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts teilt. Obgleich er selbst gesund war (wenn auch
hypochondrisch) und achtzig Jahre alt wurde, hielt er am Zusammenhang von Genie und
Krankheit fest. Es ist ja auch etwas Richtiges daran. Krankheit separiert von den Gesunden
und Gewöhnlichen, verfeinert deshalb die Sinne für das Außerordentliche, macht empfänglich
und empfindlich, schärft den Blick für Leben und Tod.
Aber was hat das mit dem Teufel zu tun? Thomas Mann legt eine zweite Schicht über die
erste (die medizinische), und sie erweist sich als erstaunlich paßgenau. Die
Krankengeschichte vertieft sich zur Faustgeschichte. Die syphilitische Ansteckung bedeutet
nun den Abschluß des Pakts mit dem Teufel, die 24 Jahre sind die vereinbarte Laufzeit, der
paralytische Schock bedeutet das Geholt-Werden. Die Grundidee des Teufelspakts übernimmt
Thomas Mann nicht von Goethe, bei dem Faust ja am Schluß gerettet wird, sondern aus dem
frühneuzeitlichen Volksbuch vom Doktor Faust aus dem Jahr 1587. Dort ist Faust ein
„fürwitziger“ Kopf, das heißt, er ist neugierig und hochmütig, unruhig und getrieben, er will
wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält und auch, wie es in der Hölle zugeht. Der
Teufel verspricht ihm alles das, und magische Kräfte und Wohlleben dazu. Er verlangt dafür
im wesentlichen zweierlei: Liebesverzicht und, nach Ablauf der Frist, Fausts Seele.
Der Künstler darf nicht lieben: Auch das gehörte schon früh zu den Grundüberzeugungen
Thomas Manns – biographisch fundiert durch die Unmöglichkeit, die eigenen homoerotischen
Neigungen auszuleben. Das Motiv des Liebesverrats findet sich deshalb ebenfalls schon in
den frühesten Plänen. Eine zweite Notiz von 1904 lautet:
Der syphilitische Künstler nähert sich von Sehnsucht getrieben einem reinen, süßen jungen Mädchen,
betreibt die Verlobung mit der Ahnungslosen und erschießt sich dicht vor der Hochzeit.
Im fertigen Roman wird das allerdings ein wenig anders durchgeführt. Nicht der Künstler
erschießt sich, sondern die Geliebten müssen sterben. Die Idee des Liebesverzichts speist drei
Handlungsstränge: Adrians Werbung um Marie Godeau (das „reine, süße junge Mädchen“),
seine homoerotisch getönte Freundschaft mit dem hübschen Geiger Rudi Schwerdtfeger und
seine späte Zuneigung zu dem Kind Echo. Der Teufel rächt sich jedes Mal, wenn Faust zu
lieben versucht. Rudi und Echo müssen sterben, und Marie geht ihm verloren – sie verlobt
sich mit seinem Nebenbuhler, den als Brautwerber zu schicken er die unglückselige Torheit
hatte.
Der Brautwerber, der seinen Auftraggeber verrät und die Braut selber heimführt, ist keine
Erfindung Thomas Manns. Er bezog das Motiv aus der Biographie Friedrich Nietzsches. Eine
dritte Schicht – der Nietzsche-Roman – legt sich über die medizinische und die faustische.
Aus Nietzsches Biographie (oder aus den Legenden, die sie umranken) stammen die
Atmosphäre der Geburtsstadt Kaisersaschern (bei Nietzsche Naumburg), das Bordell-Erlebnis
mit der Ansteckung, die verfehlte Brautwerbung, der paralytische Schock und viele
Einzelheiten aus der Umnachtungszeit. Auch das Datengerüst folgt dem Leben Nietzsches:
Infektion mit 21, Zusammenbruch mit 45, Tod mit 55 Jahren an einem 25. August.
Thomas Mann gelingt es, noch eine vierte, fünfte und sechste Ebene darüber zu errichten, so
daß aus der linearen Erzählfläche ein mehrstöckiger Raum mit weitgespannten Dimensionen
wird und jede erzählte Einzelheit horizontal und vertikal in ein dicht geknüpftes
Beziehungsnetz eingebunden ist. Die vierte Schicht ist die autobiographische und damit
zugleich die zeitgeschichtliche, mit Elementen eines Gesellschaftsromans, der aus intimer
Kenntnis ein Panorama der im Vorfeld des Nationalsozialismus kulturell führenden Schichten
zeichnet. Für den Künstler, der nicht lieben darf, verwendet Thomas Mann zahlreiche
Aufzeichnungen aus der Zeit einer frühen, wie stets unerfüllt gebliebenen homoerotischen
Schwärmerei (Rudi Schwerdtfeger „ist“ Paul Ehrenberg). Er verknüpft diese Geschichte
ferner mit den Selbstmorden seiner Schwestern Julia und Carla, die als Ines und Clarissa
Rodde in den Roman eingegangen sind, und nötigt seinen geliebten Enkel Frido Mann in die
Rolle des so ergreifend traurig sterbenden kleinen Echo. Sein politisches Leben gibt er dem
Erzähler Serenus Zeitblom mit, der, so wie Thomas Mann selbst, 1914 an der nationalen
Aufwallung teilhat, 1919 die Münchener Räterepublik vor der Haustür miterlebt und zu
Beginn der Weimarer Republik nach einer neuen Orientierung sucht. Er wird wie Thomas
Mann zu einem Gegner Hitlers, aber während der Autor ins Exil getrieben wurde – er schreibt
den Roman in Kalifornien –, verbleibt seine Figur in Deutschland in der inneren Emigration.
Dort denkt Zeitblom freilich, wie Übernahmen aus Essays bezeugen, Gedanken des Exilautors
Mann.
Die fünfte Schicht ist die des Deutschlandromans, und sie würde das überladene Schiff zum
Kentern bringen, wäre da nicht die überragende Kompositionskunst Thomas Manns, die auch
dieser Schicht erstaunliche Stimmigkeiten zu verleihen weiß. Ihr Tenor lautet: „Deutschland
ist Faustus“. Sie beschreibt die Geschichte Deutschlands, die in den Nationalsozialismus
mündet, als Teufelspakt und das Jahr 1945 als donnernde Höllenfahrt. Der Teufel bietet
Deutschland die Weltherrschaft an und verlangt dafür die Seele. Deutschland hat den Pakt
abgeschlossen, als es aus dem unpolitischen Land der Dichter, Denker und Musiker zum
Machtreich werden wollte, und es hat die Versuchung nach kurzen, rauschenden Triumphen
mit dem Untergang bezahlt.
Freilich rückt damit der Teufelspakt des Künstlers in eine allzu enge Parallele mit dem
Teufelspakt Deutschlands. Dadurch entsteht ein Problem, denn Adrian Leverkühn ist ja kein
Nationalsozialist. Was hat der einsame, künstlerisch radikale Komponist, der im Roman die
unter Hitler als „entartet“ verfemte Zwölftonmusik des Juden Arnold Schönberg entwickelt,
mit dem machtlüsternen Deutschland zu schaffen? Worum geht es ihm selbst eigentlich bei
seinem Pakt?
Nicht um Macht, Genuß und Wohlleben, sondern um künstlerische Inspiration. Damit
befinden wir uns auf der sechsten und höchsten Ebene, der des Künstlerromans im engeren,
also nicht im psychologischen, sondern im ästhetischen Sinne. Der Teufel verkauft Inspiration
und Schaffensrausch, also die Überwindung der lähmenden Skrupel und Zweifel, die das
Komponieren so schwer machen in einer Spätzeit, in der es alles schon gibt, in der es
unmöglich erscheint, noch einen originellen Einfall zu haben, den nicht schon irgendeiner
vorher gehabt hat, in dem die Kunst also zum Zitat oder zur Parodie verurteilt ist und steril zu
werden droht. Alle melodischen, harmonischen und klanglichen Mittel der Tonalität scheinen
ausgeschöpft, das Ende der Kunst scheint bevorzustehen. Der Teufel aber liefert (mit Hilfe
der Syphilis) rauschhafte Begeisterungszustände (die mit Worten aus Nietzsches
Autobiographie Ecce Homo beschrieben werden), in denen die Verstandeskontrolle
ausgeschaltet erscheint, das Espressivo wieder möglich ist, das Gefühl wieder künstlerisch
erlaubt ist und der Einsame sich fühlt, als sei er mit der Menschheit auf du und du. Mit diesem
Motiv schlägt Thomas Mann eine Brücke zum Deutschlandroman. Der Durchbruch zu neuem
Gefühl, der dem teufelsbündlerischen Komponisten gelungen vorkommt, ist so vergiftet wie
Deutschlands Durchbruch zur Welt unter Hitler.
***
Der Roman ist selbst das, wovon er spricht: ein Kunstwerk über das Ende der Kunst. Er ist
ohne jede erzählerische Naivität durchkonstruiert bis ins Letzte. Thomas Mann selbst sprach
von „Montagetechnik“. Er hat fast nichts erfunden, er hat fast alles aus Quellen bezogen und
aufs Raffinierteste zusammengebaut. Für die Musiktheorie (im Kretzschmar-Kapitel, im
Teufelsgespräch, in der Beschreibung der fiktiven Kompositionen) bezog er zahlreiche
Informationen von Theodor W. Adorno. Für die Schlafstrohgespräche der Hallenser
Studenten verwendete er Zeitschriften der bündischen Bewegung, die Münchener
Gesellschaft karikierte er mit vielen Details aus eigenem Erleben, Kaisersaschern ist nicht nur
Naumburg, sondern auch Lübeck, für die altdeutschen Sprachelemente griff er auf Martin
Luthers Briefe zurück (und natürlich auch auf das Faustbuch), die Schilderung der Münchener
Räterepublik bezog er aus seinem eigenen Tagebuch. Dazu kommt medizinische, biologische,
philologische Literatur aller Art. Noch die ergreifendsten Stellen erweisen sich als Zitat. Der
letzte Satz des Romans, Zeitbloms inniges Gebet: „Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein
Freund, mein Vaterland“, ist nicht aus eigener Ergriffenheit erwachsen, sondern übernommen
aus einem Nietzsche-Buch. Generell steht gerade die reiche religiöse Welt des Romans, das
Reden vom Teufel, von Sünde und Gnade, Buße und Erlösung, Himmel und Hölle, fast
immer im Zitat. Eine Art religiöser Schamhaftigkeit hindert Thomas Mann, in diesem Bereich
direkt zu sprechen. Er möchte von Gott und vom Teufel sprechen, aber er will kein Prediger
sein, nichts Peinliches sagen und niemandem die Freiheit nehmen. Daher redet er mit fremder
Stimme, läßt er andere für sich reden. Das Zitieren gilt einer mythologischen Welt, an die
Thomas Mann zwar nicht mehr wörtlich glaubt, die er aber literarisch braucht und für die er
andere als die mythologischen Vokabeln nicht zur Verfügung hat. So rettet er sich ins Zitat,
und so bewahrt das Zitat den Mythos auch, indem es ihn ironisch behandelt. Der Teufel hat
zweifellos keine wirkliche, sondern nur eine literarische Existenz, aber das ist nicht wenig,
sondern viel, und erlaubt Thomas Mann, von Gegenständen zu reden, für die es eine andere
Sprache nicht gibt.
Ob der Leser die Montagen merkt oder nicht, hängt von seinem Bildungsstand ab. Man darf
den Roman auch lesen, ohne irgend etwas zu „merken“, ohne irgend etwas von seinen
Quellen zu wissen. Es kann heute geschehen, daß diejenige Bildung, die Thomas Mann zitiert
und parodiert hat, durch den Roman gerade erst gewonnen wird. Man kann das Buch deshalb
auch lesen oder hören als Kompendium der Musikgeschichte, als Historie der deutschen
Identität, als Nietzsche-Biographie, als Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, und das ist
alles nicht falsch. Man kann es auch als einfache Lebensbeschreibung eines Musikers
auffassen und allzu ausufernde Theoriedebatten überblättern. Aber wer einmal eingedrungen
ist, wird von diesem Buch nicht mehr loskommen, weil es so reich, so komplex, so vieltönig
ist, daß jede Lektüre die Faszination erweitert und vertieft.
***
Die Entstehung des Romans läßt sich anhand der erhaltenen Tagebücher minutiös
rekonstruieren. Immer wieder hat Thomas Mann daran gedacht, den im Notizbuch von 1904
entworfenen Plan auszuführen, hat ihn aber immer wieder zugunsten anderer Pläne
zurückgestellt. Die richtige Zeit war gekommen, als er endlich, nach sechzehnjähriger Arbeit,
mit dem riesigen Romanwerk Joseph und seine Brüder fertig geworden war. Im Tagebuch
hält er am 24. Oktober 1942 fest: „Neuerdings Gedanken an Dr. Faust.“ Aber erst im Frühjahr
1943 wird es ernst. Am 14. März notiert Mann: „Gedanken an den alten Novellenplan ,Dr.
Faust‘. Umschau nach Lektüre.“
Schon am folgenden Tag verschafft er sich eine Ausgabe des Volksbuches vom Doktor Faust.
Eine kleine Arbeitsbibliothek wird gebildet, zwei Monate Studien, Entwürfe und Notizen
folgen. Am 23. Mai 1943 fängt er an zu schreiben – am gleichen Tag wie im Roman sein
Erzähler Serenus Zeitblom. Während dieser aus künstlerischen Gründen bereits im Mai 1945,
in der Zeit der „Höllenfahrt“ Deutschlands, fertig ist, hat der wirkliche Autor zwei Jahre
länger gebraucht: Erst im Februar 1947, nach knapp vierjähriger, zäher und trotz vieler
Unterbrechungen (unter anderem einer schweren Lungenkrebsoperation) erstaunlich
kontinuierlicher Arbeit, legt er letzte Hand an das Manuskript. Am 6. Februar vermeldet das
Tagebuch:
Champagner-Abendessen zur Feier der Beendigung des ,Faustus‘ und Verlesung der Echo-Kapitel.
Sichtliche Ergriffenheit. Die Gestalt des Kindes zweifellos das Beste und Dichterischste in dem Buch.
Weiterer Champagner.
Ein Rechenschaftsbericht wird noch nachgeschoben: Die Entstehung des Doktor Faustus.
Roman eines Romans, einerseits geschrieben, um Theodor W. Adorno für seine Mitwirkung
öffentlich Dank abzustatten, andererseits aber auch, um die Lektüre in die vom Autor
erwünschten Bahnen zu lenken. Er wird Ende Juni 1948 begonnen, ist Ende Oktober fertig
und wird 1949 publiziert.
Der Roman selbst erscheint im Oktober 1947 in Stockholm, ist aber in Deutschland noch
nicht erhältlich, sondern verbreitet sich erst einmal hauptsächlich in den Ländern und den
Leserkreisen des Exils. „Die Reaktion der großen Schweizer Presse ist hoch-positiv“, schreibt
Thomas Mann am 27. November 1947 befriedigt an den Kritiker Julius Bab. Bis zum
Sommer 1948 werden 19.000 Exemplare verkauft. Der Verkaufserfolg in den USA, wo der
Roman bereits im Herbst 1948 in englischer Übersetzung erschien, war bedeutend größer
(über 200.000 Exemplare), obgleich Mann die Rezensionen trostlos fand. Auf eine Wiener
Ausgabe im Sommer 1948 folgt Ende 1948 bei Suhrkamp in Berlin und Frankfurt endlich
eine Lizenzausgabe für den deutschen Markt, die es bis Ende 1949 auf 30.000 Exemplare
brachte. Der Roman zeigt auch in der Folgezeit eine relativ hohe und kontinuierliche Präsenz.
Um 1960 sind in den verschiedenen Ausgaben des S. Fischer Verlags bereits weit mehr als
100.000 Exemplare verbreitet. Es folgen zahlreiche Buchclubausgaben in den
Sechzigerjahren, seit 1971 dann auflagenstarke Taschenbuchausgaben, so daß sich die
deutschsprachige Gesamtauflage heute wohl auf eine Million zubewegt.
Die Erstrezeption ist hochpolitisch und bezieht sich in erster Linie auf die Ebene des
Deutschlandromans und seine Verbindung mit dem Teufelspaktmotiv. Auf dem
internationalen Parkett wird Thomas Mann als Autor eines Romans gepriesen, der den Weg
Deutschlands in den Abgrund des Nationalsozialismus zeigt. Die innerdeutschen Lektüren
fallen sehr unterschiedlich aus. In der Ostzone (bzw. der DDR) muß der Roman gelobt
werden, weil er aus marxistischer Sicht den Untergang der bürgerlichen Welt im Faschismus
darstellt. In den Westzonen gibt es viel Verstimmung. Kulturell führend ist die ehemalige
innere Emigration. Für sie ist der Exilautor einer, der die deutsche Tragödie von den
Logenplätzen des Auslandes betrachtet hat und nicht wissen kann, wie es von innen aussah.
Hinter diesem Argument versteckte sich freilich viel Verdrängung der Hitlerzeit. National
denkende und konservative Kreise waren empört darüber, daß Thomas Mann das Heiligste
der deutschen Kultur, die deutsche Musik, in eine Verbindung mit dem Nationalsozialismus
gebracht hatte. Christlichen Kreisen, die ja nach 1945 sehr einflußreich waren, war der
Roman zu negativ; sie verlangten Aufbauendes und sahen dabei nicht die tiefe Christlichkeit
des Buches.
Es mußte viel Zeit vergehen, bis auch die subtileren Ebenen gesehen wurden. Obgleich
Thomas Mann in der Entstehung des Doktor Faustus schon die wichtigsten Hinweise gegeben
hatte, verbreitete sich das Wissen um die wichtigsten Montagen erst in den Sechzigerjahren.
Der erotische Subtext (Syphilis, verbotene Liebe, verdrängte Homosexualität), der in den
Fünfziger- und Sechzigerjahren infolge allgemeiner Verklemmtheit unerörtert geblieben war,
wurde erst in den Achtzigerjahren durch Thomas Manns Tagebücher zum Thema. Die
Probleme des Musiker- und Künstlerromans (Ende der Kunst, Verbrauchtheit aller Mittel)
wurden zwar im Kontext der Endzeitstimmungen nach dem Zweiten Weltkrieg schon
vereinzelt diskutiert, blieben aber immer und bis heute eine Domäne weniger Eingeweihter.
Das Autobiographische stößt hingegen heute auf großes Interesse und auch auf verbreitete
Kenntnisse, denn zur Biographie und zur Familiengeschichte Thomas Manns sind in den
letzten Jahren zahlreiche Bücher erschienen. Das Politische und Nationale, Faustisch-
Dämonologische, das die Anfangsrezeption so stark bestimmt hatte, war danach für lange Zeit
ins nur noch historisch zu Verstehende abgetaucht. Aber eine Wende scheint sich
anzubahnen. Während Fausts Magie und Deutschlands Höllenfahrt im liberaldemokratisch-
aufgeklärten Mainstream der letzten drei Jahrzehnte als nicht diskursfähig galten, scheinen
Themen dieser Art derzeit wieder an Faszination zu gewinnen. Die beste Lektüre aber ist
sicher die, die nicht nur einzelnen Interessen folgt, sondern auf den gesamten Klangraum
achtet, den Roman also nicht linear und nicht flächig, sondern stereophon zu hören versucht.
Hermann Kurzke ist leitender akademischer Direktor am Deutschen Institut der Universität
Mainz. Neben seinen zahlreichen Publikationen über Thomas Mann ist er regelmäßiger freier
Mitarbeiter im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, darüber hinaus der
Mitherausgeber einer kommentierten Ausgabe der Essays von Thomas Mann und der Großen
kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe.