Deutsch Talmud 1869

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Emanuel Deutsch*, Der Talmud.

Aus der siebenten englischen Auflage


ins Deutsche übertragen. Autorisirte Ausgabe. Zweite Auflage. (Ferd.
Dümmler’s Verlagsbuchhandlung [Harrwitz und Großmann]) Berlin 1869.1

* [Bibliothekar am Britischen Museum in London, Mitglied der Deutschen


Morgenländischen Gesellschaft, der K. Asiatischen Gesellschaft u.s.w.]

(1) Der Talmud

Was bedeutet der Talmud?

Was ist das Wesen und die Beschaffenheit jenes eigenthümlichen


Erzeugnisses, dessen Name fast unmerklich seine Stelle unter den
Alltagsworten Europas einzunehmen beginnt? Wohin immer auf den Gebieten
zeitgenössischer Forschung wir uns wenden mögen, überall scheint jenes
räthselhafte Wort uns entgegenzutreten. Nicht länger aus dem Bereiche der
Gottesgelehrtheit allein, wo Neologie wie Buchstabenglaube gleichmäßig sein
Zeugniß anrufen, nicht in den mannichfachen Disciplinen der Wissenschaft
im weitesten Sinne allein, sondern in der schönen Literatur selbst; auf den
Heerstraßen, wie auf den Nebenpfaden. Kaum giebt es ein nennenswertheres
Handbuch für irgend einen Zweig biblischer Forschung, als da sind
Geographie, Geschichte, Zeitrechnung, Münzkunde, das nicht Hinweisungen
auf den Talmud enthielte.

Noch auch sind es die Arbeiter aus dem Gebiete des Judenthums oder
Christenthums allein, die sich genöthigt sehen, in ihren Secirungen von
Dogma, Ceremonie und Legende zu jenem Buche ihre Zuflucht zu nehmen,
sondern es haben in gleicher Weise die Erforscher des Mohammedanismus
wie des Zoroastrismus begonnen, den Schlüssel zu manchem Räthsel darin
zu suchen: - wie ja eben die Zusammenhänge jener verschiedenartigen
Glaubensphasen sich am Schlagendsten grade aus dem Talmud ergeben.
Andrerseits nehmen wir kaum ein Heft neuerer archäologischer,

1 Die Rechtschreibung der Vorlage wurde vollständig beibehalten. Die Wiedergabe versteht
sich allerdings vorbehaltlich einer abschließenden Redaktion und Korrektur. Anmerkungen
wurden in den Text integriert. Angaben in Griechisch/Hebräisch verstehen sich vorbehaltlich
einer abschließenden Redaktion und Korrektur.
antiquarischer oder philologischer Abhandlungen zur Hand - gleichviel ob
wir auf eine Erklärung einer phönicischen Altar-Inschrift oder eines
Keilschrifttäfelchens, babylonischer Gewichte oder Sassaniden-Münzen
stoßen - ohne fort und fort, im Text wie in den Noten, vom Talmud reden zu
hören.

Und es sind nicht länger die Wiederhersteller der verlornen (2) Idiome
Canaans und Assyriens, Himjars und des zoroastrischen Persiens allein, die
sich im Talmud Rath zu holen kommen, sondern es hat auch die neue Schule
griechischer und lateinischer Philologie allmählich begonnen, sich der
reichen Schätze classischen Materials, das darin zerstreut liegt, bewußt zu
werden. Ebenso hat die Jurisprudenz einsehen gelernt, daß, abgesehen von
den mannichfachen und höchst interessanten Beziehungen zwischen
Pandecten und Institutionen und dem Talmud; den römischen und
alexandrinischen Rechtsschulen einerseits, und den palästinischen und
babylonischen andrerseits, sich auch Spuren mancher längst verschollenen
Rechtsanschauungen - so der jener sprüchwörtlich gewordnen „Perser und
Meder" - in diesem Buche ausfinden lassen.

Medizin, Astronomie, Mathematik, Philosophie: die Geschichte all dieser


Disciplinen während des Zeitraums, der die Abfassung des Talmud in sich
schließt, - ein Jahrtausend etwa - läßt sich eben nicht länger mit
Gründlichkeit behandeln, ohne jene urgewaltige Encyklopädie in Betracht zu
ziehen. Denn Fremdes und Eigenstes, Größtes und Kleinstes, das aus der
Erinnerung aller Geschichte geschwunden, liegt still, seiner Auferstehung
harrend, darin geborgen.

Aber außer jenen Dingen, an welche die speciellen Fachwissenschaften


unmittelbar ein Anrecht haben, enthält der Talmud andere noch, vielleicht
von noch höherer Wichtigkeit - Dinge, welche die menschliche Cultur im
allerweitesten Sinne angehen. Tag für Tag tauchen aus jenen Tiefen neue
Bilder ans Licht herauf. Bilder aus Hellas und Byzanz, Aegypten und Rom,
Persien und Palästina; von Tempel und Forum, von Krieg und Frieden, Freude
und Trauer, Bilder voll Lebenskraft und Farbengluth.

Ecce signum temporis! - Eine gewaltige Wandlung hat sich mit uns
begeben. Wir, die Kinder dieser Zeit, huldigen vor Allem dem
Nützlichkeitsprinzip. Wir lesen den Koran, die Zend-Avesta, die Bedas nicht
länger in der ausschließlichen Absicht, sie theologisch zu widerlegen. Wir
betrachten vielmehr alle und jegliche Literatur, welcher Art und Gestalt
immer, wann und wo immer hervorgebracht, als ein Stück Menschheit, ein
Stück unserer selbst. Wir fühlen ein Anrecht darauf, eine Verantwortlichkeit
dafür. Und darum suchen wir vor Allem die Culturstufe, der wir irgend einen
Theil dieser unserer großen Erbschaft verdanken, zu erfassen, den Geist, der
darüber schwebt, zu begreifen. Mit ehrfurchtsvoller Pietät senken wir wieder
ein, was darin der Verwesung gehört, (3) aber wir begrüßen freudig was
darin lebt. Wir bereichern den Schatz unsers Wissens und Könnens aus dem
ihren, uns erschüttert ihre Poesie, und hohe und heilige Gedanken werden
wach in unseren Herzen, wenn sie die göttliche Saite darin berühren.

In demselben rein menschlichen Geiste sprechen wir nunmehr auch von


dem Talmud. Ja fast liegt die Gefahr schon nahe, daß jenes ritterliche Gefühl
- eines der rührendsten Zeichen unserer Zeit - das uns fort und fort dazu
treibt, den Manen derer, denen frühere Geschlechter Unbilden zugefügt,
stets neue Versöhnungsopfer darzubringen, uns zur Ueberschätzung jenes
Buches verleiten möchte. Wie diese immer neuen Zeugnisse seines Werthes
sich vor uns häufen, dürften wir fast dahinkommen, seine Bedeutung für die
Geschichte der Menschheit selbst einigermaßen zu überschätzen.

Doch sein eigener Lieblingsspruch lautet: „Vor Allem lerne. Sei es um des
Studiums selbst willen, oder aus irgend welchem Beweggrunde - lerne. Denn
gar bald wirst du das Studium, aus welcher Rücksicht immer begonnen, um
seiner selbst willen lieben." - Und solchergestalt dürften selbst allzu straff
gespannte Erwartungen von den Schätzen, die im Talmud zu heben, ihren
Werth haben - so sie nämlich zur Erforschung des Werkes selber führen.

Denn, daß wir es nur gleich sagen, jene vielfältigen Zeichen seines Daseins,
die sich in gar manchem neueren Werke breit machen, sind zumeist
Irrwische. Auf den ersten Blick möchte man meinen, es habe nie ein Buch
gegeben, daß sich größerer Popularität erfreute, das mehr ausschließlich das
Centrum der Studien unserer Gelehrten, namentlich der Theologen oder
Orientalisten bildete. Wie steht es in Wahrheit damit?

So paradox es klingen mag, so müssen wir doch entschieden behaupten,


daß nie ein Buch zugleich allgemeiner citirt und allgemeiner vernachlässigt
worden. Gern mögen wir es Heine verzeihen, wenn wir die phantastisch-
gemüthvolle Schilderung des Talmud in seinem Romanzero lesen, daß er
diesen Gegenstand seiner Schilderung wohl nie mit leibhaftigen Augen
gesehen. Gleich Schiller, der sein Lebelang vergebens nach einem einzigen
Blick auf die Alpen geschmachtet, und doch das glänzendste und treueste
Gemälde jener Bergwelt hinterlassen, so ahnte Jener mit des Poeten
göttlichem Instinkt die Wahrheit aus wahren und selbst aus falschen
Mittheilungen heraus.

Wohl aber möchten wir die Frage stellen, wie viele jener allerwärts
zerstreuten gelehrten Citate wirklich den talmudischen Quellen selber
entfließen? Allzu oft (4) und leider allzu handgreiflich sind es eben - um uns
Simson's landwirthschaftlichen Gleichnisses zu bedienen - jene
langverjährten und abgearbeiteten Kälber, die „Tel ignea Satanae", die
„Abgezogenen Schlangenbälger" und all ihr giftiges Gelichter, die aufs Neue
von manchem unserer Gelehrten an den Pflug geschleppt werden. „Unsrer
Gelehrten" sagen wir, denn was das Publikum im Allgemeinen betrifft, so
zweifeln wir keinen Augenblick daran, daß, wie oft auch das Wort in diesen
Tagen genannt werde, es doch keine geringe Zahl von Leuten giebt, die noch
immer der Ansicht jenes gelehrten Kapuziners, Henricus Seynensis, leben: -
der Talmud sei nicht ein Buch, sondern ein Mann. Ut narrat Rabbinus
Talmud. „Wie der Rabbiner Talmud erzählt", ruft er aus, und bekräftigt
solchergestalt triumphirend sein Argument.

Aber gehen selbst unter denen, die da wissen, daß wir es mit einem Buche
und nicht mit einem Manne zu thun haben, nicht die allerabenteuerlichsten
Begriffe über das Werk um? Wer hat es geschrieben? Welches ist sein Inhalt?
Sein Umfang? Welches die Zeit, der Ort seiner Abfassung? Vor nicht Langem
erst nannte es eines unserer bedeutendsten Organe „eine Sphinx, aus die
sich Aller Augen in dieser unserer Zeit richteten, die Einen mit gespannter
Neugier, die Andern mit unklarer Aengstlichkeit." Warum in aller Welt aber
brechen wir dieser Sphinx die Lippen nicht aus? Wie lange noch sollen wir
dazu verdammt sein, von Citaten zu leben, Citaten, tausendmal gebraucht,
tausendmal gemißbraucht?

Wo jedoch suchen wir selbst elementare Belehrung darüber? Wo sollen wir


die Geschichte des Buches suchen gehen, seine Stellung in der Literatur,
seinen Sinn, seinen Zweck und vor Allem sein Verhältniß zu uns selber?
Wenden wir uns an die altehrwürdigen „Autoritäten", so werden wir meist
finden, daß in ihrem Eifer, einer sogenannten „Sache" zu dienen, sie ein Paar
Stücke aus diesem lebendigen Riesenleibe gerissen und uns diese
grauenvollen anatomischen Präparate, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt,
dargereicht haben, sprechend: Siehe da das Buch! - Oder sie sind noch
schlimmer verfahren. Sie haben nicht Proben zurechtgemacht, sondern
gewisse Dinge gewählt und sie uns getreulich vorgelegt, genau wie sie sie
gefunden. Dann seitwärts tretend, haben sie mit höhnischen Grimassen auf
sie hingewiesen. Und fürwahr, ihre Musterstücke waren unsäglich grotesk. -

Allen diesen weisen und einsichtsvollen Forschern ist das Unglück


begegnet, daß sie die (5) Wasserspeier, jene grinsenden Steincaricaturen, die
der frommen Meister Hand zur tausendjährigen Wacht auf unsere gothischen
Dome gestellt, mit den schimmernden Heiligengebilden darin verwechselt
haben. Und mit wildem Hohnlachen sie emporhaltend, riefen sie aus: Dies
sind deine Götter, o Israel! . . .

Man mißverstehe uns nicht. Wenn wir über den Mangel an Führern zum
Talmud klagen, so kann uns nichts auf der ganzen Welt ferner liegen, als
Undank gegen jene ernsten Denker, ganz besonders unsrer Zeit, die sich
diesem Gebiete zugewandt, Männer, deren Namen nie ohne Verehrung
genannt werden: die Zunz, Geiger, Graetz - um nur einige der Spitzen zu
nennen - deren tiefe und bahnbrechende Forschungen uns stets
gegenwärtig gewesen.

Denn obschon es im ganzen Bereiche der Gelehrsamkeit kaum einen


einzigen Forschungszweig giebt, der an Schwierigkeit mit dem Talmud zu
wetteifern vermöchte, so ist doch, falls Jemand Zeit und Geduld und
Kenntnisse hätte, durchaus kein Grund vorhanden, weshalb er nicht in
hundert alten wie neuen Bibliotheken vortreffliche Winke aus Abhandlungen,
Monographieen und Skizzen, aus Büchern und Zeitschriften ohne Zahl
schöpfen sollte, vermittelst deren er, mit Hülfe des Werkes selbst, über
dessen Wesen und Ziele, Ursprung und Entwickelung zu einer gewissen
Klarheit gelangen könnte.

Doch so viel wir wissen, ist diese Arbeit - wobei, wir müssen es gestehen,
jeder Schritt mit Fallen belegt ist - für die große Welt noch nicht
unternommen worden. Aus sehr gutem Grunde haben wir nichts als den
bloßen Namen des Talmud an die Spitze unserer Arbeit gestellt. Wir haben
uns weit und breit nach einem besondern Buch über den Gegenstand
umgesehen, das wir zum Thema unserer Bemerkungen und Variationen
hätten machen können, nach einem Buche, welches nicht blos eine aus dem
Zusammenhang gerissene Uebersetzung einer wohlbekannten „Einleitung",
mit Schmähungen vermengt und mit Schnitzern erweitert, wäre, sondern
vielmehr sich vom Standpunkte moderner Cultur unparteiisch über ein Werk
ausspräche, dessen hohes Alter, wenn nichts Anderes, Achtung gebietet: -
nach einem Buche, das uns durch die gigantischen Labyrinthe von Facten,
Gedanken und Phantasiegebilden, aus welchen der Talmud besteht, als
Faden dienen möchte; das sich selbst hieroglyphischer Märchen, seltsam
dunkler Argumentationen und Syllogismen erfreute, jähen Ausbrüchen der
Leidenschaft vergeben könnte, und nicht hart und voreilig über Dinge ab- (6)
urtheilte, deren wahrer Sinn sich oft aus gar guten Gründen unter klingelnder
Schellenkappe bergen dürfte.

Wir haben kein dergleichen Buch gefunden, nichts das ihm nahe käme. Mit
diesem Umstande jedoch hängt auch jener andere zusammen, daß wir gern
oder ungern die ersten Auflagen dieses Talmud anzuführen hatten, obschon
Dutzende seitdem gedruckt worden und an die zwanzig sich in diesem
Augenblick unter der Presse befinden. Selbst jene ersten Auslagen wurden in
aller Eile und ohne gebührende Sorgsalt gedruckt, und jede folgende bietet,
mit einer oder zwei unbedeutenden Ausnahmen, einen typographisch
widrigeren Anblick dar.

In der Baseler Ausgabe von 1578 - die dritte der Zeit nach und seitdem fast
ausschließlich die Musterausgabe - trat jene wunderliche Creatur, der
Censor, auf die Bühne. In seiner Angst um den „Glauben" , den er vor aller
und jeder Gefahr zu schützen hatte - denn man meinte, der Talmud berge
unter den allerunschuldigst aussehenden Worten und Wendungen allerlei
Bitteres gegen das Christenthum - führte dieser gewissenhafte Beamte
merkwürdige Dinge aus. Fand er z. B., daß irgend ein alter Römer im Buche
beim Capitol oder Jupiter „Roms" schwor, so witterte er sofort Gefahr.
Sicherlich, dieser Römer mußte ein Christ, das Capitol der Vatikan, Jupiter
der Papst sein. Und sofort strich er Rom aus und substituirte dafür irgend
einen Namen, der ihm grade gut gefiel.

Persien scheint ihn besonders angemuthet zu haben; bisweilen jedoch


Aram oder Babel. So daß man diesen würdigen Römer bis zur Stunde beim
Capitol von Persien, oder beim Jupiter von Aram und Babel schwörend finden
mag. Wo aber gar das Wort „Heide" vorkam, da überkam es den Censor mit
wildem Schrecken. Ein „Heide" konnte unmöglich etwas Andres sein als ein
Christ, gleichviel ob er in Indien oder Athen, in Rom oder in Canaan lebte; ob
er ein guter Heide war - und es giebt deren im Talmud - oder ein schlechter.
Sofort taufte er ihn um und zwar, wie eben ihn die Phantasie bewegte, zu
einem „Aegypter", „Aramäer", „Amalekiter", „Araber", „Neger", ja zuweilen zu
einem ganzen „Volk". Wir sprechen strict nach dem Sachverhalt. All das
findet sich in unseren allerletzten Ausgaben buchstäblich vor.

Ein- oder zweimal ist es versucht worden, den Text von seinen häßlichsten
Flecken zu säubern. Vor etwa zwei Jahren wurde sogar ein Anlauf zu einer
„kritischen" Ausgabe genommen, wie (7) es deren nicht blos für griechische
und römische, sanskritische und persische Classiker giebt, sondern wie man
sie für den reinsten Schund in diesen Sprachen längst veranstaltet haben
würde. Auch fehlt es, trotz Renans unglücklicher gegentheiliger Bemerkung
*),
*) „On sait qu'il ne reste aucun manuscrit du Talmud pour contrôler les éditions
imprimées.'' Les Apôtres, p. 262.

durchaus nicht an talmudischen Handschriften, wie fragmentarisch sie auch


zumeist seien. Unzählige Lesarten, Zusätze und Berichtigungen wären aus
den Codices der Bodleiana und des Vatikans, der Bibliotheken von Odessa,
München und Florenz, Hamburg und Heidelberg, Paris und Parma
heranzubringen.

Allein ein böses Auge scheint auf diesem Buche zu ruhen. Jene berichtigte
Ausgabe bleibt ein Trümmerstück, gleich den beiden ersten Bänden von
Talmudübersetzungen - zu verschiedenen Zeiten begonnen, deren zweite
Bände nie das Licht der Welt erblickt haben. Es schien daher rathsam auf die
Editio princeps zu verweisen, als diejenige, welche zum Wenigsten von den
Censur-Unbilden späterer Zeitalter frei geblieben.

Wohl mag der Talmud das alte Habent sua fata libella durch die Worte
ergänzen: „Selbst die heiligen Rollen in der Bundeslade". Wir wundern uns in
der That kaum darüber, daß der obenerwähnte gute Kapuziner ihn für einen
Menschen gehalten. Seitdem er existirt, ja fast noch ehe er in faßbarer
Gestalt existirte, ist er so ziemlich wie ein menschliches Wesen behandelt
worden. Hundertmal hat man ihn verbannt, eingekerkert und verbrannt. Von
Justinian, der ihn wahrscheinlich schon 553 n. Chr. mit einer besondern
Novella **) beehrte,
**) Novelle 146, περί Έβραί ν (an den Praefectus Praetorio Areobindus gerichtet).

bis auf Clemens VIII. herab und noch später - ein Zeitraum von über
tausend Jahren - haben weltliche wie geistliche Mächte, Könige und Kaiser,
Päpste und Gegenpäpste in Bannflüchen, Bullen und Edicten, in
Confiscations- und Verbrennungsdecreten gegen dieses unglückselige Buch
mit einander gewetteifert. So wurde es innerhalb eines Zeitraums von
weniger als fünfzig Jahren - und zwar in denen, welche die letzte Hälfte des
sechszehnten Jahrhunderts bilden - nicht weniger als sechs verschiedene
Male öffentlich verbrannt, und nicht etwa in einzelnen Exemplaren, sondern
im Großen und Ganzen fuhrenweise.

Julius III. erließ sein Manifest gegen das, was er (8) possirlich genug das
„Gemaroth Talmud" nennt, in den Jahren 1553 und 1555, Paul IV. 1559, Pius
V. 1565, Clemens VIII. 1592 und 1599. Selbst Pius IV., indem er die
Erlaubniß zu einer neuen Auflage ertheilte, machte es zur ausdrücklichen
Bedingung, daß sie ohne den Namen Talmud erscheine. Si tamen prodieret
sine nomine Talmud tolerari deberet. Ja es scheint zu einer Art von
Schiboleth geworden zu sein, mit welchem jeder neue Herrscher die Strenge
seines Glaubens zu beweisen hatte. Und sehr streng muß dieser Glaube
gewesen sein, nach der Sprache zu urtheilen, welche selbst die höchsten
Würdenträger der Kirche in Bezug darauf zu führen nicht verschmähten. So
schreibt Honorius IV. im Jahre 1286 an den Erzbischof von Canterbury in
Betreff dieses „verdammungswerthen Buches" (liber damnabilis), und warnt
ihn ernstlich und verlangt „vehementer" von ihm, darauf zu sehen, daß es
von Niemandem gelesen werde, da „alle anderen Uebel daraus flössen".

Wahrlich sie bilden eine traurige Lectüre, diese Urkunden! - Jezuweilen nur
stiehlt sich ein unwillkürliches Lächeln aus des Lesers Lippen, wenn eine
mehr als gewöhnlich krasse Albernheit den ganzen großen Abgrund
feindlicher Unkenntniß auf Momente blitzhell erleuchtet.

Einer bemerkenswerthen Ausnahme in diesem Babel von Manifesten


erinnern wir uns jedoch. Clemens V., im Begriff ein neues
Verdammungsdecret zu erlassen, wünschte zum Mindesten etwas von dem
Buche zu wissen, das er zu verdammen im Begriff stand. Allein Niemand
schien ihm Auskunft geben zu können. Worauf er vorschlug - freilich in so
dunklen Ausdrücken, daß sie viele Deutungen zuließen - drei Lehrstühle fürs
Hebräische, Chaldäische und Arabische, als die drei Sprachen, welche dem
Idiome des Talmud am nächsten ständen, zu gründen. Die von ihm dazu
gewählten Universitäten waren Paris, Salamanca, Bologna und Oxford. Mit
der Zeit hoffte er, würde eine dieser Universitäten im Stande sein, eine
Uebersetzung dieses geheimnißvollen Buches zu produziren. Bedarf es der
ausdrücklichen Erwähnung, daß dieser Plan niemals zur Ausführung kam?
Aber - und aber- und abermals wurde vielmehr jener andere, leichtere und
schnellere Prozeß der Verbrennung ins Werk gesetzt, und nicht in den
einzelnen Städten Frankreichs und Italiens allein, sondern in Süd und Nord,
in Ost und West - durch das ganze heilige römische Reich.

Endlich begab sich eine Wandlung. Ein gewisser Pfeffer- (9) korn, eine gar
erbärmliche Creatur, begann zur Zeit des Kaisers Maximilian für eine neue
Verordnung zur Vernichtung des Talmud zu wühlen. Der Kaiser lag mit
seinem Heer vor Pavia, als der böszüngige Bote, mit freundlichen Briefen von
Kunigunde, Maximilian's schöner Schwester, versehen, im Lager eintraf.
Maximilian, abgespannt und arglos, erneuerte bereitwillig genug die
altehrwürdige Verordnung der Confiscation, der naturgemäß eine
Verbrennung folgen sollte. Die Confiscation wurde sehr gewissenhaft
ausgeführt, denn Pfefferkorn wußte genau, wo seine früheren
Glaubensgenossen ihre Bücher verwahrt hielten.

Allein ein Autodafé gar anderer Art sollte folgen. Stunde für Stunde, Schritt
für Schritt nahte die Reformation. Reuchlin, der hervorragendste Hellenist
und Hebraist seiner Zeit, war ins Comité ernannt worden, welches des
Kaisers Verordnung mit seiner gelehrten Autorität unterstützen sollte. Allein
diese Aufgabe mundete ihm nicht. „Es gefalle ihm Pfefferkorn's Aussehen
nicht", meinte er. Zudem war er ein gelehrter und ein ehrlicher Mann, und,
Schöpfer des deutschen Hellenismus, mochte er kaum an dem elenden
Morde dieses „von Christi nächsten Verwandten geschriebenen" Buches Theil
haben.

Vielleicht sah er die schlau gelegte Falle. Er war schon lange vielen seiner
Zeitgenossen ein Dorn im Auge gewesen. Auf seine hebräischen Leistungen
hatte man mit bitterer Eifersucht, wo nicht mit Furcht geblickt. Man
beabsichtigte in jenen Tagen nichts Geringeres - die theologische Facultät in
Mainz verlangte es sogar offen - als eine gänzliche „Durchsicht und
Berichtigung" der hebräischen Bibel „in sofern sie von der Vulgata abwich" -
in naiver Unkenntniß der Thatsache, daß Hieronymus' gelehrte Arbeit grade
von sogenannten „rabbinischen Eingebungen und Deutungen" strotzt, wie
kaum eine andre. Reuchlin seinerseits verabsäumte nie eine Gelegenheit, die
hohe Wichtigkeit der „hebräischen Wahrheit", wie er es nachdrucksvoll
nannte, zu verkünden.

Seine Feinde meinten, es werde eines von zweien Dingen erfolgen. Wenn er
sich günstig über das Buch erklärte, so müsse er sich gefährlich
compromittiren, und dann würde man gar bald mit ihm fertig sein. Im
andern Falle würde er gewissermaßen seine eigenen früheren Urtheile zu
Gunsten dieser Studien rückgängig machen. Er lehnte indessen den
Vorschlag entschieden ab, indem er ehrlich genug sagte, er verstände nichts
von dem Buche. Er glaube überhaupt nicht, daß es Viele gebe, die etwas
davon verständen. Am allerwenigsten dessen wei- (10) land jüdische
Verläumder. „Es sei ihm kein jüdischer Täufling bekannt in teutschen Landen,
ders hab kinden weder verston noch gar lesen. Ußgenommen der
Hochmeister zu Ulm, der gleich danach bald wieder ain Jud in der Türkey
worden ist, als sie sagen."

Allein, fährt er fort, selbst wenn es Angriffe auf das Christenthum enthielte,
wäre es nicht besser, sie zu widerlegen? „Mit der Faust darin schlagen wan
einer nichtz mehr dazu reden kan und ist alls ungelehrt" - das seien
„Bachanten Argument." Woraus sich ein rasendes Geschrei gegen ihn erhob:
als einen Juden, einen Judaizanten, einen bestochenen Renegaten u. s. w.
Unbeirrt jedoch begab sich Reuchlin an das Buch selber in seiner stillen
fleißigen Weise, und das Resultat war eine, für ihn, glänzende Vertheidigung
desselben. Auf des Kaisers Anfrage um seine Meinung, wiederholte er
Clemens' Vorschlag, talmudische Lehrstühle zu gründen. An jeder deutschen
Universität sollten zwei Professoren zu dem ausschließlichen Zwecke
angestellt werden, es den Studirenden zu ermöglichen, mit diesem Buche,
diesem „stolzen Hirsch mit vielen Enden", bekannt zu werden. Was das
Verbrennen angehe, meint er ferner in der berühmten Denkschrift an den
Kaiser, so sei der Talmud eben nicht dazu geschaffen, „das jederman mit
ungewaschnen füssen drüber lauff und sag, er känds auch. Wan nun yetz ein
unverstendiger keme und sprech aller großmechtigster keyser aller
gnedigster herr ewer mayestat sol die bücher der alkimie (argumentum ad
hominem!) unterdrukken und verbrennen für die weil in denselben büchern
stond lesterliche schandliche und auch narrechtige farliche ding geschrieben
wider unsern christlichen Glauben . . . Was sollt die keys. may. einem
sollichen biffel oder esel zu antwurt geben anders als das er sagte Du bist
ein schlechter Mensch vil mer zu verlachen dan zu willfaren . . . Die weil nun
ain so kleinsinniger Kopf nit mag ergreiffen und fassen die heimlichkeit
ainiger kunst und ist dero nit wirdig und verstat die ding anders dan sie an in
selber sind, wollten ir raten das man solliche bücher verbrennen solte, darum
das sue ain ungelerter man nit kändt recht verston. Ich glaub wol nain! . . ."

Wilder und wilder wurde das Geheul, und Reuchlin, der friedliche Forscher,
wurde aus einem Zeugen ein Delinquent. Was er für und durch den Talmud
gelitten, soll hier nicht erzählt werden. Weit und breit, über ganz Europa,
entbrannte der Streit. Eine ganze Literatur von Brochüren, Flugschriften,
Caricaturen flog (11) auf. Nicht weniger als zwei und vierzig Sitzungen
wurden von der theologischen Facultät zu Paris in dieser Sache gehalten. Sie
endeten damit, daß Reuchlin in aller Form verurtheilt wurde.

Doch blieb er nicht allein im Kampfe. Denn um ihn schaarten sich, Einer
nach dem Andern, Herzog Ulrich von Würtemberg, der Kurfürst Friedrich von
Sachsen, Ulrich von Hutten, Franz von Sickingen, - Derselbe dem die Kölner
schließlich ihre Kosten im Reuchlinprozeß zu zahlen hatten, - Erasmus von
Rotterdam und jene ganze glänzende Phalanx der „Ritter vom heiligen
Geist", der „Heerschaaren der Pallas Athene", der „Talmudphili", wie die
Urkunden jener Zeit sie verschiedentlich bezeichnen: - sie, die wir die
Humanisten nennen. Und ihr Palladium und ihr Kriegsgeschrei war - o
wunderbare Wege der Geschichte! - der Talmud! Reuchlin vertheidigen
bedeutete ihnen „das Gesetz" vertheidigen; für den Talmud kämpfen hieß für
die Kirche kämpfen! „Non te”, schreibt Egidio de Viterbo an Reuchlin, „sed
legem: non Talmud, sed ecclesiam!”

Der Rest steht in den Epistolae Obscurorum Virorum und in den ersten
Blättern der Reformation verzeichnet. Der Talmud wurde diesmal nicht
verbrannt. Im Gegentheil: seine erste Gesammt-Ausgabe ward gedruckt. Und
in dem nämlichen Jahre der Gnaden 1520, da diese erste Ausgabe durch die
Presse zu Venedig ging, verbrannte Martin Luther die päpstliche Bulle zu
Wittenberg.

Was ist der Talmud? -

Abermals erhebt sich die Frage vor uns in ihrer ganzen furchtbaren Gestalt;
eine Frage, die ihrer erschöpfenden Lösung zur Stunde noch vergeblich
harrt. Und wir befinden uns an dieser Stelle in mehr als einem Nachtheil.
Denn ganz abgesehen von der Schwierigkeit, ein so durch und durch
morgenländisches, antikes und völlig eigenartiges Werk unseren modernen
abendländischen Lesern auf dem Raume weniger Seiten zu erklären, leiden
wir auch noch unter der anderen Schwierigkeit, daß wir sie nicht auf das
Werk selbst verweisen können. Denn wäre es nicht in der That Affectation,
mehr als die alleroberflächlichste Bekanntschaft mit seiner Sprache, ja selbst
seinem Namen, bei der überwiegenden Mehrzahl unserer Leser
vorauszusetzen!

Und während wir uns gern über Punkte, wie eine Vergleichung zwischen
(12) dem darin niedergelegten Recht und dem unseren, oder dem
zeitgenössischen griechischen, römischen und persischen, oder dem des
Islam, oder selbst seinem eignen Grundcodex, dem mosaischen, verbreiten
möchten; während wir eine Anzahl seiner ethischen, ceremoniellen und
doctrinellen Punkte im Zoroastrismus, im Christenthum, im
Mohammedanismus, einen großen Theil seiner Metaphysik und Philosophie
im Plato, Aristoteles, den Pythagoräern, den Neuplatonikern und Gnostikern,
- Spinoza's und der Schellinge unserer Zeit nicht zu gedenken, - viel von
seiner Arzneilehre im Hippokrates und Galen und in dem Paracelsus von vor
einigen Jahrhunderten erst, nachweisen möchten, werden wir kaum im
Stande sein, unsern Lesern einige wenige disjecta membra dieser Dinge
vorzulegen.

Ja wir können kaum jene gewaltige Bewegung, welche die besten Geister
einer ganzen Nation, allen Unbilden zum Trotz, drängte, ein Jahrtausend
hindurch alle ihre Kräfte auf die Abfassung und ein anderes Jahrtausend auf
die Erläuterung dieses einen Buches zu concentriren, in ihren verschiedenen
Beziehungen andeuten. Und solchergestalt alle Einzelheiten übergehend, die
zusammenzutragen uns nicht geringe Mühe gekostet, und nicht geringere,
bei Seite zu legen, werden wir uns darauf beschränken, von der Entwicklung
des Talmud zu reden, von den Schulen, in denen er entstand, von den
Gerichtshöfen, welche danach Recht gesprochen, und von einigen der
Männer, die ihm ihren Stempel aufgedrückt. Auch werden wir versuchen,
sein Jus gedrängt zusammenzufassen, seine Metaphysik und Moral zu
berühren und werden einige seiner Sprüchwörter und Sentenzen - die besten
Maßstäbe einer Zeit - anführen.

Wir werden vielleicht genöthigt sein, uns hie und da auf einige der oben
erwähnten, außerhalb liegenden, Gegenstände zu berufen. Um den Talmud
zu verstehen, muß man ihn eben gleich jeder andern Erscheinung nur im
Zusammenhang mit Dingen ähnlicher Art betrachten: ein Gesetz, das man
bisher fast gänzlich übersehen zu haben scheint. Da er vor allen Dingen ein
Corpus juris, eine Encyklopädie des Civil- und Criminal-, des Kirchen-und
internationalen, menschlichen und göttlichen Rechts ist, so ist er am besten
nach Analogie und durch Vergleichung mit andern Gesetzbüchern,
insbesondere aber mit dem Justinianischen Codex und seinen Commentaren
zu beurtheilen.

Die Pandecten und Institutionen, die Novella und die Re- (13) sponsa
Prudentium müssen auf Schritt und Tritt befragt und verglichen werden.
Nicht minder - zumal von englischen Lesern - das englische Gesetz, wie es
im Blackstone niedergelegt ist, aus welchem sie entnehmen mögen: „wie die
verschiedenartigsten Ansichten über Recht und Unrecht schließlich mit dem
Geiste unserer Zeit verschmolzen und in Uebereinstimmung gebracht worden
sind."

Allein der Talmud ist mehr als ein Gesetzbuch. Er ist ein Mikrokosmus und
umfaßt, wie die Bibel selbst, Himmel und Erde. Es ist, als ob die ganze Prosa
und die ganze Poesie, die Wissenschaft, der Glaube und die Spekulation der
alten Welt, in wie schwachen Reflexen immer, in nuce hier
zusammengedrängt lägen. Und da er die Zeit vom Anfang bis zum
Untergang der antiken Welt und ein gut Stück ihres Nachschimmers umfaßt,
so müssen die Geschichte und Cultur dieser antiken Welt in verschiedenen
Stadien vergleichend betrachtet werden. Vor Allem aber ist es nöthig, daß wir
uns, Goethe's Worte folgend, nach den Geburtsstätten jenes Buches,
Palästina und Babylon, dem wandelbaren Osten selber versetzen, wo Alles in
leuchtenderen Farben glüht, zu phantastischen Gebilden sich gestaltet:

"Wer den Dichter will verstehen,

Muß in Dichter's Lande gehen!" -

Der Ursprung des Talmud fällt mit der Rückkehr aus der babylonischen
Gefangenschaft zusammen. Eine der geheimnißvollsten und wichtigsten
Perioden in der ganzen Geschichte der Menschheit ist dieser kurze Zeitraum
des Exils. Welches die Einflüsse gewesen sein mögen, die während jener Zeit
auf die Verbannten eingewirkt - wir wissen es nicht. Das aber wissen wir, daß
der wilde, gesetz- und gedankenlose Haufe in eine Schaar von Puritanern
verwandelt zurückkehrte.

Die Religion Zoroasters, die allerdings ihre Spuren dem Judenthum (und
Christenthum) unverwischbar aufgeprägt, erklärt diese Veränderung nicht.
Ebensowenig das Exil selbst. Wie lebhaft auch die Erinnerung an seine
Bitterkeit, wie innig die Ausdrücke der Sehnsucht nach der Heimath, deren
Spuren sich in Gebet und Lied erhalten - wir wissen gleichwohl, daß, als die
Stunde der Freiheit schlug, die gezwungenen Colonisten nur ungern nach
dem Lande ihrer Väter zurückkehren.

Und doch ist die Verwandlung da, greifbar, unerkennbar - eine (14)
Verwandlung, radikal wie keine in der Geschichte. Vorher kaum des
Vorhandenseins seiner glänzenden National-Literatur sich bewußt, fing das
Volk jetzt an, sich um die aus dem Feuer geretteten Scheite - die
trümmerhaften Urkunden seines Glaubens und seiner Geschichte - mit einer
heftigen und leidenschaftlichen Liebe zu drängen; eine Liebe, mächtiger
selbst als die zu Weib und Kind. Wie diese Urkunden sich allmählich zu einem
Kanon gestalteten, wurden sie der unveränderliche Mittelpunkt seines Lebens,
seiner Handlungen, seiner Gedanken, seiner Träume. Von jener Zeit an
blieben die scharfsinnigsten sowohl wie die poetischsten Geister der Nation
fast ununterbrochen auf sie gerichtet. „Wende sie um und um", sagt der
Talmud in Bezug auf die Bibel, „denn Alles ist in ihr". „Forschet in der Schrift"
ist der apodiktische Ausspruch des Neuen Testaments.

Die natürliche Folge trat ein. Allmählich, unmerklich fast, erzeugte diese
Thätigkeit des bloßen Auslegens und Untersuchens behufs Erbauung oder
Belehrung über irgend einen besondern Punkt eine Wissenschaft, welche bald
zum weitesten Umfange heranwuchs. Ihr technischer Name ist bereits im
Buche der Chronik enthalten. Er ist „Midrasch" (von darasch, forschen,
auslegen), ein Ausdruck, welchen Luther mit „Historie" wiedergiebt.

Es giebt kaum eine ergiebigere Quelle von Mißverständnissen über diesen


Gegenstand, als die eigenthümlich flüssige Beschaffenheit seiner
Kunstausdrücke. Sie bedeuten eben Alles und Jedes: zugleich zur
Bezeichnung des Allgemeinsten und des Besondersten dienend. Beinahe alle
Kunstausdrücke aus diesem Gebiete bedeuten zunächst einfach Studium.
Daneben werden sie jedoch für einen durchaus speciellen Zweig dieses
Studiums gebraucht. Dann wiederum deuten sie einmal eine eigenthümliche
Methode, ein anderes Mal die Werke selbst an, welche aus diesen -
allgemeinen oder besonderen -Forschungen hervorgegangen. So wurde
„Midrasch" vom abstracten „Auslegen" zuerst auf die „Auslegung" selbst
angewandt - grade so wie unsere Ausdrücke „Arbeit", „Untersuchung",
„Forschung" u. dgl. sowohl Prozeß als Product bezeichnen, und schließlich, da
ein besonderer Zweig der Auslegung - der allegorisch-homiletische -
beliebter war als die übrigen: auf diesen einen Zweig allein und auf die Werke,
die ihm hauptsächlich entsprungen waren.

(15) Es waren nämlich unzählige Arten, die „Schrift zu erforschen",


entstanden. In der naiv geistvollen Weise der Zeit fand man vier der
Hauptmethoden in dem persischer Worte Paradies - PRDS in vokallos
semitischer Schrift. Jeder der vier geheimnißvollen Buchstaben galt
mnemonisch für den Anfangsbuchstaben eines Kunstausdruckes, welcher
eine dieser vier Methoden andeutete.
Die mit P (Peschat) bezeichnete erstrebte das einfache Verständniß der
Worte und Dinge, dem ersten exegetischen Grundgesetze des Talmud gemäß,
daß kein Vers der heiligen Schrift je über seinen buchstäblichen Sinn
hinausgebe", obschon er zu homiletischen oder anderen Zwecken auf
unzählige andere Weisen erklärt werden könne.

Der zweite Buchstabe R (Remes) bedeutet Wink, d. h. die Entdeckung der in


gewissen scheinbar überflüssigen Buchstaben und Zeichen in der Schrift
enthaltenen Andeutungen. Diese wurden auf solche nicht speciell erwähnte
Gesetze bezogen, die sich entweder traditionell vorfanden oder neuerdings
rechtskräftig promulgirt waren. Diese Methode, allgemeiner angewandt,
erzeugte eine Art von memoria technica, eine dem Notarikon der Römer
ähnliche Stenographie. Den biblischen Handschriften fügte man am Rande
Punkte und Noten bei, und solchergestalt wurde der Grund zur Maßora oder
diplomatischen Erhaltung des Textes gelegt.

Der dritte, D (Derusch) war homiletische Anwendung dessen was gewesen,


auf das, was da war und sein würde, d. h. historischer und prophetischer
Aussprüche auf die momentane Sachlage. Es war das eine eigenthümliche Art
von Predigt, halb Dialektik halb Poesie, getragen von Parabel, Gnome,
Sprüchwort, Sage - ähnlich denen des Neuen Testaments.

Der vierte (S) stand für Sod, Mysterium. Dies war die Geheimwissenschaft, in
welche nur Wenige eingeweiht wurden. Es war Theosophie, Metaphysik,
Engellehre, eine Fluth von schwärmerischen und glühenden Visionen über die
Dinge des Jenseits. Schwache Wiederhalle dieser Wissenschaft haben sich im
Neuplatonismus, im Gnosticismus, in der Kabbala, im „Hermes Trismegistus"
erhalten. Nur Wenige wurden in diese Dinge von der „Schöpfung" und dem
„Wagen" - wie man diese „Wissenschaft" mit Anspielung auf Ezechiels Vision
auch nannte - eingeweiht.

Und auch hier wieder bethätigte sich die Gewalt des Dunkeln und
Geheimnißvollen so mächtig, daß das Wort Paradies allmählich nur diesen
letzten Zweig, die Geheimwissenschaft allein, (16) bezeichnete. Später, im
Gnosticismus, erhielt es die Bedeutung des „geistigen Christus".

Es findet sich eine unheimliche Legende im Talmud, welche zu den


seltsamsten Auslegungen Anlaß gegeben hat, die jedoch durch das
Vorangehende klarer erscheinen dürfte. „Vier Männer", heißt es, „traten ins
Paradies ein". Der Eine schaute und starb. Der Andere schaute und kam von
Sinnen. Der Dritte vernichtete die jungen Pflanzen. Einer allein trat ein in
Frieden und kam heraus in Frieden." Die Namen aller vier find genannt. Sie
sind sämmtlich hohe Meister des Gesetzes. Der Vorletzte, der nämliche,
welcher die jungen Pflanzen vernichtete, ist Elischa ben Abujah, der Faust des
Talmud, der, in der Akademie zu den Füßen seiner Lehrer sitzend, um das
Gesetz zu studiren, die „profanen Bücher" - des „Homeros" nämlich - in
seinem Gewande verborgen hielt und „aus dessen Munde griechische Lieder
zu fließen nie aufhörten."

Wie er, trotz seines früheren Skepticismus, rasch zur Auszeichnung in


demselben Gesetze emporsteigt, eidlich davon abfällt, zum Verräther und
Ausgestoßenen, ja sein bloßer Name zu einem Dinge unaussprechlichen
Abscheus wird - wie er eines Tages (es war der Versöhnungstag) an den
Trümmern des Tempels vorübergeht und Eine Stimme im Innern „gleich einer
Taube" vornimmt: „Allen Menschen sei heut vergeben - außer Elischa ben
Abujah, der mich erkannt und doch verrathen hat" - wie nach seinem Tode
die Flammen nicht aufhören über seinem Grabe zu schweben, bis sein
einziger treu gebliebener Schüler, das „Licht des Gesetzes", Meïr, sich darüber
hinwirft und einen heiligen Eid schwört, daß er nicht an den Freuden der
künftigen Welt ohne seinen Meister Theil nehmen und nicht von dieser Stätte
weichen wolle, bis dessen Seele Gnade und Heil vor dem Throne der
Barmherzigkeit gefunden habe: - all dies zusammt einer Reihe anderer Züge
bildet eins der ergreifendsten poetischen Gemälde des ganzen Talmud.

Der letzte der vier ist Akiba, der großartigste, romantischste und
heldenmüthigste Charakter vielleicht in der ganzen großen Gallerie der
Gelehrten seiner Zeit; derselbe welcher in der letzten Empörung unter Trajan
und Hadrian seinen Patriotismus unter der Hand des römischen Henkers
büßte und, fügte die Sage hinzu, dessen Seele in dem Momente entfloh, da er
im Todeskampfe das letzte Wort des Bekenntnisses der Einheit Gottes
himmelan rief: - "Höre, o Israel, der Herr unser Gott ist Einig. . . ."

(17) Der Talmud ist die Schatzkammer des „Midrasch" im allerweitesten


Sinne und in allen seinen Zweigen. Was wir von den Schwankungen der
betreffenden Kunstausdrücke gesagt haben, bezieht sich ganz besonders
auch auf dieses Wort Talmud. Es bedeutet zuvörderst nichts als „Studium"
(von lamad lernen), demnächst eine besondere Methode dieses „Lernens"
oder Argumentirens, und so ward es schließlich der Name des großen Corpus
juris des Judenthums.

Wenn wir vom Talmud als einem Gesetzbuche reden, so hoffen wir, man
werde es nicht allzu buchstäblich nehmen. Er gleicht dem, was wir
gewöhnlich unter dem Worte begreifen, etwa so, wie ein Urwald einem
Harlemer Garten gleicht. Nichts in der That vermag diesem Zustande völliger
Verwirrung gleichzukommen, in welchen der moderne Forscher beim ersten
Anblick dieser üppigen talmudischen Wildnisse stürzt.

Geschult in den harmonischen, methodischen Systemen des Westens,


Systemen, welche zusammenfassend ordnen, regelrecht classificiren, jedem
Dinge seinen geeigneten Platz und seine geeignete Stellung auf diesem Platze
anweisen, fühlt er sich hier wie betäubt. Die Sprache, der Stil, die Methode,
die Aufeinanderfolge der Dinge (eine Aufeinanderfolge, die oft ebenso logisch
scheint, wie unsere Träume), die fabelhaft wechselvolle Natur dieser Dinge -
alles das scheint ineinandergewirrt, konfus, chaotisch.

Nach geraumer Zeit erst lernt der Forscher zwischen zwei mächtigen
Strömungen in dem Buche unterscheiden, Strömungen, die zuweilen parallel
neben einander herlaufen, zuweilen auf einander einzudringen und ihren Lauf
gegenseitig zu hemmen scheinen: die eine dem Haupte, die andere dem
Herzen entspringend; die eine Prosa, die andere Poesie, die eine im Vollbesitz
aller jener geistigen Fähigkeiten, die sich im Urtheilen, Untersuchen,
Vergleichen, Entwickeln, im Beziehen von tausend Punkten auf einen und
eines auf tausend bethätigen; die andere dem Bereich der Phantasie, der
Einbildungskraft, des Gefühls, der Laune und vor Allem jener wunderbaren
Mischung stillen, fast schwermüthigen Sinnens mit innigsten, allumfassenden
Sympathieen entstammend, die man im Deutschen Gemüth nennt.

Diese beiden Strömungen lenkte der Midrasch in seinen verschiedenartigen


Gestaltungen aus die Bibel hin, und in ihr fanden sie in der That gar bald zwei
große Felder für die Entfaltung all ihrer Kraft und Energie. Die logische
Thätigkeit wandte sich den gesetzlichen (18) Theilen im Exodus, Leviticus
und Deuteronomium zu, und entwickelte, suchte und löste darin tausend
wirkliche oder scheinbare Schwierigkeiten und Widersprüche mit dem, was als
Ueberlieferung im Herzen und Munde des Volkes seit undenklichen Zeiten
gelebt hatte.

Die andere, die Phantasie, nahm Besitz von den prophetischen, ethischen,
historischen und, eigenthümlich genug, zuweilen sogar von den gesetzlichen
Partieen der Bibel und verwandelte das Ganze in eine große Reihe von
Themen, fast musikalisch in ihren wunderbaren und kapriziösen Variationen.

Die erstgenannte heißt „Halachah" (Gang, Weg = ὂδος im N. T., allgemeiner:


Regel, Norm) von halach, gehen, ein Ausdruck der sowohl auf die Evolution
gesetzlicher Verordnungen als auf diese selbst angewandt wird. Die andere,
„Haggadah" - Legende, Sage, nicht sowohl in unserm modernen Sinne des
Wortes, obschon ein großer Theil ihres Inhaltes unter diese Kategorie fällt, als
vielmehr, weil sie eben nur ein „Gesagtes" war, ein Ding ohne Autorität, ein
Spiel der Phantasie, eine Allegorie, eine Parabel, eine Mär, vermittelst deren
eine Moral angedeutet, eine Frage aufgehellt wurde. Sie glättete die Wogen
stürmischer Debatte, weckte die schlummernde Aufmerksamkeit und war
überhaupt, um es mit ihrem eigenen Worte zu sagen, „eine Tröstung, - eine
Segnung".

Der aus diesen beiden Elementen, dem gesetzlichen und dem poetischen,
zusammengesetzte Talmud zerfällt in die Mischnah und die Gemara:
wiederum zwei Ausdrücke unsichrer, schwankender Bedeutung. Ursprünglich
beide, gleich den bereits erwähnter Kunstausdrücken, nichts weiter als
„Studium" bedeutend, wurden sie später zu Bezeichnungen für specielle
Studien und specielle Werke. Die Mischnah, von schanah (tana), lernen,
(wiederholen) ist von Alters her durch ὂεντέρωι , Zweites Gesetz,
wiedergegeben worden.

So richtig jedoch diese Ableitung dem Buchstaben nach zu sein scheint, so


ist sie es doch kaum dem Ursprunge nach. Das Wort bedeutet „Studium",
ganz wie Gemara, das außerdem „Ergänzung" bedeutet - zur Mischnah
nämlich, die selber wieder eine Ergänzung des mosaischen Codex darstellt,
dergestalt jedoch, daß sie, indem sie ihn fortbildet und erweitert,
gewissermaßen an seine Stelle tritt. Die Mischnah selbst bildet ihrerseits eine
Art Text, zu welchem die Gemara nicht sowohl ein Scholion als eine kritische
Erweiterung bietet.

Der Pentateuch bleibt in allen Fällen der Hintergrund und die, mehr oder
weniger latente, Quelle der Mischnah; aber es ist (19) die Sache der Gemara,
die Authentizität und Rechtmäßigkeit dieser Fortbildung der Mischnah in den
einzelnen Fällen zu prüfen. Der Pentateuch blieb unter allen Umständen die
unveränderliche, von Gott gegebene Verfassung, das geschriebene Gesetz.
Zum Unterschied davon wurde die Mischnah nebst der Gemara, nicht
unähnlich dem umgeschriebenen griechischen Ρήται, dem römischen Lex non
scripta, der mohammedanischen Sunna oder dem englischen Common Law,
das „mündliche" oder „ungeschriebene" Gesetz genannt.

Es giebt wenige Partieen in der gesammten Geschichte der Jurisprudenz, die


dunkler wären, als der Ursprung und die allmähliche Entwickelung dieses
„mündlichen Gesetzes". Es kann indeß absolut keinem Zweifel unterliegen,
daß schon vom Beginn des mosaischen Gesetzes an eine Anzahl von
Supplementar-Verordnungen vorhanden gewesen sein müssen, welche die
meisten der darin im Großen und Ganzen niedergelegten Vorschriften - über
Sabbath, Opferdienst u. dgl. - im Einzelnen erläuterten.

Abgesehen von diesen ist es nicht minder selbstverständlich, daß die


Verfügungen jenes primitiven Großen Rathes der Wüste - der Aeltesten - und
ihrer jeweiligen Nachfolger in jeder folgenden Generation, zusammt den
Aussprüchen der späteren „Richter innerhalb der Thore", auf die der
Pentateuch ausdrücklich hinweist, zu Präcedenzfällen wurden und als solche
sich traditionell fortpflanzten. Apokryphische Schriften, zumal das vierte Buch
Esra, - Philo's und der Kirchenväter nicht zu gedenken, - reden von einer
fabelhaften Zahl von Büchern, welche dem Moses mit dem Pentateuch
zusammen übergeben worden: ein Umstand, der deutlich genug auf einen
allgemein verbreiteten Glauben an den göttlichen Ursprung jener
Nebengesetze hindeutet, die seit undenklichen Zeiten in dem Volke gelebt.

Die jüdische Ueberlieferung verfolgt die Spur dieser Lehren durch eine Kette
ausdrücklich genannter Autoritäten hindurch bis zum „Sinai". Sie erzählt in
realistischen Zügen, wie Moses jene eingehenderen Bestimmungen seiner
Gesetzgebung, in denen er während der geheimnißvollen vierzig Tage und
Nächte auf dem Berg selbst unterrichtet worden, den auserwählten Führern
des Volkes derart mittheilte, daß sie für immerdar auf den Tafeln ihrer Herzen
eingegraben blieben.

Ein langer Zeitraum liegt zwischen der mosaischen Periode und der
Mischnah. Die stets wachsenden Bedürfnisse jenes ewig (20) unstäten
Gemeinwesens erheischten neue Gesetze und neue Verordnungen auf Schritt
und Tritt. Allein eine Schwierigkeit, anderen Gesetzgebungen unbekannt,
machte sich hier fühlbar. In despotischen Staaten verkündet ein Dekret eine
neue Verordnung. In constitutionellen Staaten wird eine Bill eingebracht.
Dünkt es der höchsten Staatsgewalt gut und recht, dieses neue Gesetz zu
erlassen, so erläßt sie es kraft der ihr innewohnenden Autorität. Innerhalb des
jüdischen Gemeinwesens jedoch, namentlich in den nachexilischen Zeiten, lag
die Sache anders.

Zu den mit dem ersten Tempel unwiederbringlich verloren gegangenen


Dingen gehörten die „Urim und Thummim" des hohen Priesters - das Orakel.
Mit Malachi war der letzte Prophet gestorben. Sowohl für die Verkündigung
eines neuen Gesetzes wie für die Abschaffung eines alten war eine höhere
Sanction erforderlich, als eine bloße Majorität des gesetzgebenden Körpers.
Das neue Gesetz mußte mittel- oder unmittelbar aus dem „Worte Gottes",
dem von der höchsten Macht selbst verkündigten, abgeleitet, in dem
Buchstaben des göttlichen Ausspruchs gewissermaßen nachgewiesen werden
- in dem es, vom Urbeginn, geistig verborgen und enthalten sein mußte. Und
dies nachzuweisen war nicht in allen Fällen leicht, zumal nachdem eine
gewisse Zahl hermeneutischer Regeln aufgestellt worden war, nicht unähnlich
den in den römischen Schulen üblichen, als da sind: Folgerungen, Analogieen
von Ideen oder Dingen, Schlüsse vom Leichteren aufs Schwerere, vom
Allgemeinen aufs Besondre und umgekehrt u. s. w.

Außer solchen neuen, für neue Fälle erforderlichen Gesetzen, gab es viele
jener alten, „überlieferten", für welche der point d’appui gefunden werden
mußte, wenn sie als althergebrachte Verordnungen vor das kritische Auge der
Schulen kamen. Und diese Schulen selbst entwickelten oft, in ihrer rastlos
emsigen Thätigkeit, neue Gesetze nach Maßgabe ihrer logischen
Grundregeln: selbst wenn diese Gesetze weder für den Moment erforderlich,
noch auch je bestimmt waren, in praktischen Gebrauch zu kommen, lediglich
aus wissenschaftlichem Antriebe und als Objecte abstract juridischer Studien.

Dergestalt wird eine Doppelwirkung in dieser Fortbildung des Gesetzes


bemerkbar. Entweder es bildet der biblische Vers den terminus a quo, oder
den terminus ad quem. Er ist entweder der Ausgangspunkt für eine
Erörterung, welche in der Erzeugung einer neuen Verordnung endet, oder
eine neue - oder früher (21) nie untersuchte - Verordnung wird vermittelst
jenes eigenthümlichsten aller Inductionsprocesse in einem äußern, wenn auch
noch so unbedeutenden „Wink" des Urquells, der Schrift selbst, entdeckt.

Dieser Vorgang, neue Verschriften aus alten durch „Zeichen" zu entwickeln,


mag in einigen Fällen vielleicht allzufrei angewandt worden sein. Indeß,
während der talmudische Codex vom mosaischen praktisch ebenso sehr sich
unterscheidet, wie der neuerdings vorgeschlagene englische „Digest" einst
von den Gesetzen der Zeit König Canuts sich unterscheiden wird, oder wie
der justinianische Codex sich von den zwölf Tafeln unterscheidet - so läßt
sich doch trotz Allem nicht läugnen, daß die mosaischen Grundgesetze in
allen Fällen überaus sorgfältig und unparteiisch - was ihren Geist angeht - zu
Rathe gezogen sind. Ihr Buchstabe selbst war für diese Entwickelung eben
nichts als das Gefäß oder äußere Symbol.

Die oft unerbittliche Strenge des Pentateuchs, besonders auf dem Gebiete
des peinlichen Rechts, war zweifelsohne unter den Einflüssen der Kultur
späterer Zeiten bedeutend gemildert worden. Manche seiner unausführbar
gewordenen Verordnungen wurden durch die Einführung ausnahmsweiser
Förmlichkeiten beschränkt oder beinahe verfassungsmäßig aufgehoben.
Manche seiner Zweige hatten sich auch nach einer andern Richtung hin, als
auf den ersten Blick zu erwarten schien, entwickelt. Fest steht in jedem Falle,
daß von der dem „Richter jener Tage" verliehenen Freiheit im Allgemeinen nur
höchst sorgsam und gewissenhaft Gebrauch gemacht wurde.

Diese ganze Thätigkeit der Gesetzesfortbildung lag in den Händen der


„Schriftgelehrten", welche, nach den Worten des Neuen Testaments, „auf dem
Sessel Mosis sitzen". Ehe wir von den „Pharisäern" sprechen, mit denen jenes
Wort oft zusammen genannt wird, müssen wir noch einmal zwischen den
verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes „Schriftgelehrter" in verschiedenen
Perioden unterscheiden. Denn es giebt in der (mündlichen) Compilation des
talmudischen Gesetzbuches drei Phasen, deren jede ihren Namen nach einer
besondern Classe von Gelehrten führt.

Die Aufgabe der ersten Classe dieser Lehrer - der vorzugsweise


sogenannten „Schriftgelehrten", welche in die Zeit von der Rückkehr aus der
babylonischen Gefangenschaft bis herab zu den griechisch-syrischen
Verfolgungen (220 v. Chr.) fallen - bestand vor Allem darin, über die
Erhaltung des Schrift-Textes zu wachen, wie er nach so vielen Mißgeschicken
sich bewahrt hatte. Sie zähl- (22) ten nicht bloß die Gesetze, sondern auch
die Wörter, die Buchstaben, die Zeichen der h. Schrift, und bewahrten sie
dadurch vor allen künftigen Einschiebseln und Corruptelen. Sie hatten ferner
diese Gesetze nach der nebenher laufenden Ueberlieferung, deren Wächter sie
waren, zu erklären.

Ihnen lag ob das Volk zu unterweisen, in den Synagogen zu predigen, in den


Schulen zu lehren. Sie errichteten ferner gewisse „Zäune", d. h. sie erließen
kraft eigener Machtvollkommenheit neue Verordnungen, wie sie solche zur
besseren Aufrechthaltung der alten Gesetze für nothwendig erachteten. Die
ganze Arbeit dieser Männer ("Männer der großen Synagoge") liegt in ihrem
Spruche: „Seid vorsichtig in richterlichen Entscheidungen, stellet viele Schüler
aus und errichtet einen Zaun ums Gesetz" in nuce zusammengefaßt. Noch
prägnanter ist das Motto ihres letzten Vertreters - des einzigen fast, dessen
Name, außer denen Efra's und Nehemiah's, den traditionellen Begründern
dieser Körperschaft, auf uns gekommen ist - Simons des Gerechten: „Aus drei
Dingen steht die Welt: auf dem Gesetz, auf Gottesverehrung und ans
Mildthätigkeit."

Nach diesen „Schriftgelehrten" (Soserim) κατ’ εξοχήν kamen die „Lerner" oder
„Wiederholer" (Tanaim) - auch Banaim, „Meister, Bauleute" benannt - etwa
220 v. Chr. bis 220 n. Chr. In diese Periode fällt die makkabäische Revolution,
die Geburt Christi, die Zerstörung des Tempels durch Titus, die Empörung Bar
Kochbas unter Hadrian, die abermalige und schließliche Zerstörung
Jerusalems und die gänzliche Expatriierung des Volkes. Im Laufe dieses
Zeitraums wurde Palästina der Reihe nach beherrscht von Persern, Aegyptern,
Syrern, Römern. Die gesetzlichen Studien jedoch vermochte während dieses
ganzen Zeitraums nichts dauernd zu unterbrechen. Wie furchtbar immer die
Ereignisse ringsum, die Schulen fuhren in ihren Studien fort.

Ob auch die Lehrer einer nach dem andern das Martyrium erlitten, ob die
Akademieen dem Boden gleich gemacht wurden, ob endlich aus die
praktische wie aus die theoretische Hingabe an das Gesetz der Tod stand -
die Kette der lebendigen Ueberlieferung fügte ruhig Glied an Glied. Mit ihrem
letzten Athemzuge ernannten und weihten die sterbenden Lehrer ihre
Nachfolger; für eine Akademie, die in Palästina in einen Aschenhaufen
verwandelt wurde, erstanden drei neue in Babylon, und fort rollte das Gesetz,
tausendfachem Morde trotzend.

(23) Die Hauptträger und Vertreter dieser theologisch-juridischen Studien


waren der Präsident (Nasi, Fürst) und der Vicepräsident (Ab-Beth-Din, Vater
des Gerichtshauses) der höchsten richterlichen Versammlung, des Synedrion,
aramäisirt in Sanhedrin. Es gab drei Sanhedrins: ein „großes Sanhedrin" und
zwei „kleinere". So oft das Neue Testament die „Priester, die Aeltesten und die
Schriftgelehrten" zusammen nennt, hat es das „große Sanhedrin" im Sinne.
Dieses bildete den höchsten geistlichen und staatlichen Gerichtshofs. Er
bestand aus 71 Mitgliedern, die aus der Mitte der obersten Priester, der
Stammes- und Familienhäupter und der „ Schriftgelehrten" oder
Gesetzeskundigen gewählt wurden.

Es war nichts Geringes, zum Mitglied dieses Obersten Rathes gewählt zu


werden. Der Bewerber mußte ein geistig uud körperlich ausgezeichneter
Mann sein. Er durfte weder in zu jugendlichem noch in zu hohem Alter
stehen. Vor Allem aber mußte er eben im „Gesetz" erfahren sein.
Gar wenige Bibelleser, däucht uns, sind sich, wenn sie von „Gesetz",
„Meistern" oder „Lehrern des Gesetzes" lesen, vollkommen bewußt, was das
Wort „Gesetz" in der Redeweise des Alten oder vielmehr des Neuen
Testaments eigentlich in sich faßt. Wie wir bereits angedeutet, schließt es alle
und jede Wissenschaft ein, da eben alle und jede Wissenschaft zum
Verständniß desselben erforderlich war. Das mosaische Gesetzbuch enthält
Gebote über den Sabbatherweg: es mußte demnach die Entfernung
abgemessen und berechnet werden - und dazu bedurfte man der
Mathematik. Pflanzen und Thiere mußten in Verbindung mit den mancherlei
sie betreffenden Vorschriften genauer studirt werden, und so ward die
Naturgeschichte herangezogen. Andrerseits fanden sich rein hygienische
Paragraphen vor, welche zu ihrer stricten Feststellung eine Kenntniß der
ganzen zeitgenössischen medicinischen Wissenschaft erforderten.

Die „Zeiten" und die „Feste" waren durch die Phasen des Mondes geregelt,
und solchergestalt mußte die Astronomie, wenn auch nur in ihren Anfängen,
ins Bereich gezogen werden. Und wie das Gemeinwesen allmählich - zuerst
allerdings sehr wider seinen Willen - mit Griechenland und Rom in Berührung
kam, so trat die Geschichte, die Geographie und die Sprache dieser Länder als
ein weiterer Unterrichtsgegenstand zu den schon früher hergebrachten von
Persien und Babylon hinzu.

Es war eben nur eine Handvoll wohlmeinender, aber beschränkter Männer,


wie die Essäer (24) welche von dem Widerruf gewisser zeitweiliger
„Gefahrdekrete" nichts hören wollten. Als während der syrischen Unruhen der
hellenische Skepticismus in seiner verführerischsten Gestalt begonnen hatte,
seine Opfer inmitten des „heiligen Weinbergs" selbst zu suchen und alle
Vaterlandsliebe und allen Unabhängigkeitssinn zu untergraben drohte, da
ward ein Fluch über den Hellenismus ausgesprochen - etwa wie deutsche
Patrioten im Anfang dieses Jahrhunderts den Klang selbst der französischen
Sprache verabscheuten, oder wie, vor noch nicht allzu langer Zeit, alles
„Fremde" mit einem gewissen Argwohn in England betrachtet wurde.

Die Gefahr einmal vorüber - und griechische Sprache und Kultur traten
sofort in der Schule wie im Hause in ihre frühere hohe Stellung ein. In der
That wurde auf die Einheit des Hebräischen und Griechischen, des „Talith"
und des „Pallium", „Sems und Japhets, die zusammen von Noah gesegnet
worden waren und die in ihrer Eintracht stets gesegnet bleiben würden"
bedeutendes Gewicht gelegt. Der polyglotte Charakter jener Zeit deutet in der
That auf nichts weniger als auf jene landläufig gewordene „starre
Abgeschlossenheit". Die Volkssprache Judäas bestand aus einem gar
wunderlichen Gemisch von Griechisch, Lateinisch, Aramäisch, Syrisch und
Hebräisch.

Das Mitglied des Sanhedrin - um zunächst daraus zurückzukommen -


mußte demnach auch ein guter Sprachkenner sein. Er durfte nicht von der
möglicherweise gefärbten Uebertragung eines Dolmetschers abhängen. Allein
nicht nur Wissenschaft im weitesten Sinne ward von ihm gefordert, sondern
eine gewisse Kenntniß selbst ihrer phantastischen Schatten, Astrologie, Magie
und dgl., auf daß er, als Gesetzgeber wie als Richter, im Stande sei, auch in
die Volksanschauungen über diese weit verbreiteten „freien Künste"
einzugehen.

Proselyten, Eunuchen und Freigelassene waren von der Versammlung streng


ausgeschlossen. Ebenso diejenigen, welche sich nicht als die gesetzmäßigen
Abkömmlinge von Priestern, Leviten oder Israeliten aufweisen konnten.
Desgleichen Spieler, Wettende, Geldausleiher, Händler mit ungesetzlichen
Erzeugnissen. Zu der Bestimmung über das Alter, daß nämlich der Senator
weder zu weit vorgerückt in Jahren, „damit sein Urtheil nicht geschwächt",
noch zu jung sei, „damit er nicht ungereift und übereilt urtheile" und zu den
erforderlichen Beweisen seiner umfangreichen theoretischen und praktischen
Kenntnisse - denn er wurde nur sehr langsam von einer obscuren
Richterstelle in seinem Geburtsorte zu der Senator- (25) würde befördert -
kam noch jene andre psychologisch feine hinzu, daß er verheirathet sein und
eigene Kinder haben müsse. Tiefes Familienweh würde vor ihm blosgelegt
werden, und dazu sollte er ein Herz voll Mitgefühl mitbringen.

Ueber die praktische Rechtsverwaltung des Sanhedrins haben wir noch zu


sprechen, wenn wir zum Corpus juris selbst kommen. Für jetzt müssen wir
einen Augenblick bei jenen „Schulen und Akademieen" verweilen, deren wir
wiederholt gedacht haben, und deren Krone und höchste Spitze gleichsam
das Sanhedrin bildete.

Achtzig Jahre vor Christus blühten Schulen durch die ganze Länge und Breite
des Landes: - man hatte den Schulzwang eingeführt. Während sich vor der
Gefangenschaft nicht ein einziger Ausdruck für „Schule" finden läßt, waren
um diese Zeit etwa ein Dutzend im gewöhnlichen Gebrauch *).
*) Einige dieser Ausdrücke sind griechisch, wie ἄλσος ίλεός; andere, die dem
durchsichtigen Volksidiom, dem Aramäischen, angehörten, deuten poetisch genug
zuweilen die specielle Rangordnung der kleinen und großen Schüler an, z.B. „Reihe”,
„Weinberg” (“wo sie in Reihen saßen, wie die Reben stehn in Blüthe”); während wieder
andere von so unsicherer Ableitung sind, daß sie beiden Sprachen angehören können.
So hat der Ausdruck für die höchste Schule der Etymologen viel Kopfzerbrechen
gemacht. Er heißt Kallah. Dies ist entweder das hebräische Wort für „braut”, ein
wohlbekannter allegorischer Ausdruck für die Wissenschaft, „um die man emsig zu
werben habe, die sich nicht leicht gewinnen lasse und die man sich leicht entfremde”;
oder es ist eine Verstümmelung des griechischen οχολή = Schule - wenn es nicht gar
buchstäblich unser eigenes Wort „Universität” ist; von kol, Alles, universus: in
modernem Sinne eine allumfassende Anstalt für sämmtliche Lehrzweige.

Die überwiegende Bedeutung, welche der öffentliche Unterricht im Leben der


Nation gewonnen hatte, ergiebt sich am besten aus Volkssprüchen, wie die
folgenden: „Jerusalem ward zerstört, weil der Unterricht der Jugend
vernachlässigt wurde"; „die Welt wird nur durch den Athem der Schulkinder
erhalten"; „selbst wenn es sich um den Wiederaufbau des Tempels handelt,
dürfen die Schulen nicht gestört werden"; „Lernen ist verdienstlicher denn
Opfern"; „ein Gelehrter ist größer als ein Prophet"; „verehre deinen Lehrer
mehr als deinen Vater selbst. Der Letztere hat dich in diese Welt gebracht, der
Erstere zeigt dir den Weg in die nächste. Heil dem Sohne aber, welcher von
seinem Vater gelernt hat; er wird ihn doppelt verehren: als seinen Vater wie
als seinen Lehrer, und Heil dem Vater, der seinen Sohn selber unterweisen
mag." (26)

Die „Hochschulen" oder „Kallahs" traten nur während einiger Monate im


Jahre zusammen. Drei Wochen vor der bestimmten Zeit bereitete der Dekan
die Studirenden auf die von dem Rector zu haltenden Vorlesungen vor, und
die Aufgabe wurde in dem Maße als die Zahl der Schüler wuchs, allmählich so
schwierig, dass zu Zeiten nicht weniger als sieben Dekane angestellt werden
mußten.

Die Art des Lehrens war jedoch nicht die unserer Universitäten. Die
Professoren hielten keine Vorlesungen, welche die Hörer „Schwarz auf Weiß
getrost nach Hause tragen" konnten, wie der Student im „Faust". Hier war
Alles Leben, Bewegung, Debatte, aus Frage folgte Gegenfrage, Antworten
wurden, in Gleichnisse oder Parabeln gehüllt, ertheilt, der Fragsteller wurde
veranlaßt, den betreffenden Punkt durch Analogie selbst zu lösen: - eine
Methode, der Sokratischen so ähnlich als möglich. Das Neue Testament liefert
zahlreiche Beispiele jener zeitgenössischen Unterrichtsweise.

Den höchsten Rang in der Achtung des Volkes nahmen nicht die „Priester"
ein, über deren wirkliche Stellung noch zur Stunde gar seltsame Ideen im
Schwunge sind, noch auch die „höheren Stände", sondern eben diese Lehrer
des Gesetzes, die „Weisen", die „Jünger der Weisen".

Es liegt etwas fast Deutsches in der tiefen Verehrung, welche man diesen
Vertretern der Wissenschaft und Gelehrsamkeit allzeit zollte, wie arm und
unbedeutend an Person und Rang sie immer sein mochten. Viele der
ausgezeichnetsten Gelehrten waren nur bescheidene Handwerker. Sie waren
Zeltmacher, Sandalenverfertiger, Weber, Zimmerleute, Gerber, Bäcker, Köche.
Einen neuen Präsidentschaftskandidaten fand der wegen seines anmaßenden
Benehmens abgesetzte Vorgänger rauchgeschwärzt inmitten seiner
Werkstatt.

Müßiggang und Askese waren von allen Dingen die verhaßtesten;


Frömmigkeit und Gelehrsamkeit selbst erhielten nur dann die gebührende
Achtung, wenn sie mit rüstiger körperlicher Arbeit verbunden waren. „Es ist
gut deinen Studien ein Gewerbe zuzugesellen; du bleibst dann von Sünde
frei." „Der Arbeiter an seinem Werke braucht vor dem größten Gelehrten nicht
aufzustehen." „Größer ist der, welcher seinen Lebensunterhalt durch Arbeit
verdient, als der, welcher Gott fürchtet" - dies sind einige der gewöhnlichsten
Aussprüche jener Zeit.

Die hohe Stelle, die so der Arbeit eingeräumt wurde, verhinderte einerseits
ebensowohl eine allzu sklavische Vergötterung der Gelehrsamkeit, wie sie
andererseits die Masse des Volkes von allen ascetischen Ueberspanntheiten
fern hielt. Und es war nach dieser Richtung hin stets Gefahr im Verzuge.

Als der Tempel in Asche lag, begannen sich Viele unter dem Volke des
Fleisches und des Weines zu enthalten. Ein Weiser stellte sie deshalb zur
Rede, sie erwiederten weinend: „Einst brannten unsre Opfer auf Gottes Altar.
Der Altar ist niedergeworfen. Einst wurden Trankopfer von Wein dargebracht.
Sie sind nicht mehr." „Ihr esset ja aber Brod, und es gab Brodspenden." „Wohl,
erwiederten sie, wir werden fortan nur Früchte essen." „Aber die
Erstlingsfrüchte wurden dargebracht." „So werden wir nur Spätfrüchte
genießen." „Ihr trinkt Wasser - vergeßt ihr der Wasserspenden?"

Da schwiegen sie - sie wußten nicht mehr, was sie antworten sollten. Jener
aber mahnte daran, dass Der, welcher Jerusalem zerstört, auch verheißen es
wieder aufzubauen, dass rechte und echte Trauer aber nicht darin bestehe,
den Körper für die Arbeit untüchtig zu machen. Dass vielmehr ein düstres
Zeichen, am Hause wie an der Tafel, ja in des Lebens weihevollster Stunde
selbst fortan und zu allen Zeiten an das verlorene Heiligthum mahnen möge.
- Und also ist's geblieben.

Eine andere höchst charakteristische Erzählung ist die von jenem Weisen,
der mitten im Marktgewühl plötzlich dem Propheten Elias begegnet und ihn
frägt, wer aus dieser ganzen großen Menge wohl des Jenseits theilhaftig
werden würde. Worauf der Prophet zuerst auf einen wüstblickenden Gesellen
- einen Kerkermeister - deutet, „weil er barmherzig sei gegen seine
Gefangenen", und dann aus zwei schlichte Handwerker, die vergnügt
schwatzend durch die Menge streiften. Der Weise stürzte auf sie zu, sie um
ihre Lebensweise und ihre guten Werke befragend. Sie erwiederten aber gar
verlegen: „Wir sind bloß arme Arbeiter und leben von unsrer Hände Werk.
Alles was sich von uns etwa sagen ließe, wäre, dass wir stets heitern Sinnes
und gegen Jedermann freundlich sind. Begegnen wir Jemandem, der traurig
scheint, so schließen wir uns ihm an und plaudern mit ihm und versuchen so
lange ihn aufzuheitern, bis er endlich sein Weh vergißt. Und wenn wir von
zweien hören, die ein Streit getrennt hat, so lassen wir im Zureden nicht
nach, bis sie wieder Freunde sind wie vordem. Das ist unser ganzes Leben" . .
..

Ehe wir diese Periode der Mischnah-Entwickelung verlassen, (28) haben wir
noch einen oder zwei Punkte zu berühren. - Es ist dies die Zeit, in welcher
das Christenthum entstand. Es scheint darum geboten, an dieser Stelle ein
Wort über das Verhältniß zwischen dem Christenthum und dem Talmud,
einen in letzter Zeit viel besprochenen Gegenstand, zu sagen.

Wären nicht die landläufigen Ansichten über den Unterschied zwischen dem
Judenthum und dem Christenthum so über alle Maßen konfus, so würde man
kaum über die frappante Aehnlichkeit von Dogma und Parabel, von Allegorie
und Sprüchwort, wie sie das Evangelium und die talmudischen Schriften
aufweisen, so gar gewaltig in Erstaunen gerathen. Das Neue Testament,
welches, um uns des Wortes des frommen Lightfoot zu bedienen, „unter
Juden, von Juden, für Juden" geschrieben worden, kann eben nichts Anderes
als die Sprache der Zeit, sowohl was die Form als auch - im Allgemeinen -
den Inhalt betrifft, reden.

Es giebt noch viel wesentlichere Berührungspunkte zwischen dem Neuen


Testament und dem Talmud, als sich bis jetzt die Theologen dessen ganz
bewusst geworden sind; denn Ausdrücke wie „Erlösung", „Taufe", „Gnade",
„Glaube", „Heil", „Wiedergeburt", „Menschensohn", „Gottessohn",
„Himmelreich" - deren manche ja auch schon im Alten Testament
vorkommen - sind nicht, wie man aus den hergebrachten Aeußerungen
schließen sollte, vom Christenthum erfunden, sondern sind Alltagsworte des
talmudischen Schriftenthums.

Nicht minder laut und bitter sind die Proteste im Talmud gegen
„Lippendienst", gegen diejenigen, so „das Gesetz zu einer Bürde für das Volk
machen möchten" gegen „Gesetze, die an einem Haare hängen", gegen
„Priester und Pharisäer". Die Fundamentalmysterien des Christenthums als
eines neuen Glaubens sind Dinge gänzlich für sich, auf die wir, als unserer
Aufgabe völlig fernliegend, hier nicht eingehen können. Aber die Sittenlehre
ist in beiden, ihren allgemeinen Umrissen nach, identisch. Jener große
Ausspruch: „Thue Andern, wie du willst, daß man dir thue", gegen welchen
Kant sich vom philosophischen Gesichtspunkte aus so energisch erklärte,
wird von Hillel, dem Synedrialpräsidenten, bei dessen Tode Jesus zehn Jahre
alt war, nicht als etwas Neues, sondern als ein alter und wohlbekannter
Ausspruch, „welcher das ganze Gesetz in sich schließe", angeführt.

Der gröbste Irrthum ist allzeit der gewesen, daß erstens einzelne Individuen
oder Classen mit einem ganzen Volke verwechselt und zweitens das
Judenthum zu Christi Zeit mit dem zur Zeit der (29) Wüste, der Richter, oder
selbst Abrahams, Isaaks und Jakobs identifizirt worden sind. Das Judenthum
zur Zeit Christi (welchem das unserer Tage, gerade durch den Einfluß des
Talmud, sehr nahe steht) und das des Pentateuchs gleichen sich genau so,
wie das heutige England dem unter Wilhelm Rufus oder das Griechenland
Platons dem der Argonauten.

Der Ruhm des Christenthums bleibt es, daß es jene goldnen, in den Schulen
und in der „stillen Gemeinde" der Gelehrten gehegten Keime auf den Markt
der Menschheit hinaus getragen hat. Es hat jenes „Himmelreich", von
welchem der Talmud von der ersten bis zur letzten Seite redet, der Heerde,
den Aussätzigen selber, mitgetheilt. Die Früchte, welche daraus auf der
ganzen weiten Welt entsprungen sind, haben wir hier nicht zu betrachten.

Gegen jenes krasse Mißverständniß aber, als ob auf einen Gott der Rache
plötzlich ein Gott der Liebe gefolgt sei, kann nicht oft und energisch genug
Verwahrung eingelegt werden. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst" ist eine Vorschrift des Alten Testaments, wie das Christus selbst seine
Jünger gelehrt hat. Das „Gesetz", wie wir gesehen haben und noch ferner
sehen werden, wurde bis zu einem wunderbar, - vielleicht drückend -
minutiösen Grade ausgebildet, jedoch nur als Leiter und Ordner der äußeren
Handlungen.

Der „Glaube des Herzens" -- das von Paulus vornehmlich betonte Dogma -
war etwas, was den Pharisäern viel höher stand als dieses äußere Gesetz. Es
sei etwas, sagten sie, was sich von keinem Gesetze gebieten lasse, doch
größer sei als sie alle. „Alles", so lautet einer ihrer Sprüche, „ist in den Händen
Gottes, ausgenommen die Gottesfurcht". -

„Sechshundert und dreizehn Gebote", heißt es ferner im Talmud, „wurden


Moses für das Volk übergeben. David faßte sie alle in elf zusammen, im
fünfzehnten Psalm: „Herr, wer darf in deinem Zelte weilen, wer auf deinem
heiligen Berge wohnen: Der untadelig wandelt" u. s. w.

„Der Prophet Jesaia führt sie auf sechs zurück (XXXIII. 15): „Wer in
Gerechtigkeit wandelt" „ u. s. w. „Der Prophet Micha auf drei (VI. 8): „Was
fordert der Ewige von dir, als: auf Recht halten, Liebe üben und demüthig
wandeln vor deinem Gotte?" „ „Jesaia beschränkte sie abermals: - auf zwei
(LVI. 1): „Wahret das Recht und übet Gerechtigkeit.""

(30) „Amos (V. 4) sämmtlich auf das Eine: „Suchet mich und lebet." „

Hiernach möchte man jedoch schließen, daß Gott eben nur in der Erfüllung
seines ganzen Gesetzes gefunden werden könne und darum sagt Habakuk (II.
4): „Der Fromme lebt in seinem Glauben." Was nun diese „Pharisäer" oder
„Separatisten" selbst betrifft, so giebt es keinen größern oder verjährtern
Irrthum, als den, daß sie eine bloße, von Christus und den Aposteln gehaßte
„Sekte" waren. Sie waren keine Sekte, - so wenig wie die Katholiken eine
„Sekte" in Rom oder die Protestanten eine „Sekte" in England bilden.

Ebenso wenig waren sie Christus und den Aposteln so radikal verhaßt, als es
nach einigen allgemein gefaßten Stellen im Neuen Testament auf den ersten
Blick scheinen möchte. Denn die „Pharisäer" als solche waren zu jener Zeit -
trotz Josephus - einfach das Volk: als von dem „Sauerteig Herodis"
unterschieden. Jener „obern Klassen" freidenkender Sadducäer, welche, den
Pharisäern entgegen, auf der hohen Wichtigkeit der Opfer und Zehnten
bestanden, deren Empfänger sie waren, die Unsterblichkeit der Seele jedoch
mehr oder weniger anzweifelten , wird im Neuen Testament kaum gedacht.

Es will uns in der Tat bedünken, als seien jene etwas vagen Anklagen gegen
„Schriftgelehrte und Pharisäer" arg mißverstanden worden. Es kann das
absolut keinem Zweifel unterliegen, daß sich unter den echten Pharisäern die
patriotischsten, edelgesinntesten und am Weitesten vorgeschrittenen Führer
der Fortschrittspartei befanden. Jene Fortbildung des Gesetzes selbst war in
ihren Händen nichts als ein Mittel, den Geist, als dem Worte, dem äußern
Rahmen, entgegengesetzt, in vollem Leben und voller Flamme zu erhalten
und jeder Zeit ihr Recht unverkürzt zu wahren, die zeitlichen Verordnungen
nach ihren eigenen Bedürfnissen und Einsichten zu modeln.

Daß es viele räudige Schafe in ihrer Heerde gab , Viele welche mit dem
hohen Rufe der ganzen Körperschaft Handel trieben, ist Gegenstand
wiederholter Anklagen in der ganzen zeitgenössischen Literatur. Der Talmud
tadelt in noch viel bitterer und kaustischerer Weise als das Neue Testament
jene sogenannte „Pest des Pharisäismus", die „Gefärbten", „welche
Frevelthaten verüben wie Simri und eine Belohnung dafür ansprechen wie
Phineas", Jene, „welche zwar schön predigen, aber keineswegs schön
handeln". Ihre logische Manirirtheit, ihre affektirt-scrupulösen Abtheilungen
und Unterabtheilungen fein parodirend, unterscheidet (31) der Talmud sieben
Klassen von Pharisäern, von denen nur eine des Namens würdig sei.

Dies sind 1) die, welche Gottes Willen aus irdischen Beweggründen erfüllen;
2) die, welche kleine Schritte machen oder sagen: warte ein klein wenig auf
mich; ich habe eben noch ein gutes Werk zu verrichten; 3) die, welche mit
ihren Köpfen gegen Mauern rennen, um den Anblick eines Weibes zu
vermeiden; 4) Amtsheilige; 5) die, welche ihre Bekannten beschwören, ihnen
doch noch einige Pflichten zu nennen, die sie erfüllen könnten; 6) die, welche
fromm sind, weil sie Gott fürchten.

Der wahre und einzige Pharisäer ist der, „welcher den Willen seines Vaters im
Himmel übt, weil er ihn liebt." Unter diesen hauptsächlich „pharisäischen"
Lehrern der Mischnah-Periode, deren Namen nebst Bruchstücke von ihrem
Leben auf uns herabgekommen find, finden sich die ausgezeichnetsten
Männer, Männer, zu deren Füßen die ersten Christen saßen, deren Sprüche -
Alltagsworte im Munde des Volkes - es klar genug darthun, daß sie mit nicht
gewöhnlicher Weisheit, Frömmigkeit, Güte und hohem und edlem Muthe
ausgerüstet gewesen: einem Muthe und einer Frömmigkeit, welche sie oft
genug Gelegenheit hatten, mit ihrem Leben zu besiegeln.

Von diesem flüchtigen Umriß der geistigen Atmosphäre der Zeit, in welcher
die Mischnah sich allmählich aufbaute, wenden wir uns jetzt zu dem Buche
selbst. Die Masse von Verordnungen, Verfügungen, Vorschriften, Geboten
und Verboten, alten und neuen, überlieferten, abgeleiteten oder für den
Moment erlassenen, war nach etwa achthundert Jahren zu so riesenhaftem
Umfange angewachsen, daß sie in ihrer zerstreuten und, man vergesse es
nicht, hauptsächlich ungeschriebenen Gestalt kaum mehr zu bewältigen
waren.

Dreimal, zu verschiedenen Zeiten, wurde die Arbeit, sie zu systematisiren


und in Ordnung zu bringen, von drei hervorragenden Meistern versucht; erst
dem dritten gelang das Werk. Zuerst von Hillel I, unter dessen Präsidentschaft
Christus geboren ist. Dieser Hillel, auch der zweite Esra genannt, stammte
aus Babylon. Wissensdurst trieb ihn nach Jerusalem. Er war so arm, erzählt
uns die Sage, daß als er einst nicht Geld genug hatte, dem Pförtner der
Akademie die geringen Einlaß-Gebühren zu zahlen, er in einer bitterkalten
Winternacht aufs Fenstersims hinauf kletterte. Wie er dort lauschend lag,
erstarrte ihn allgemach der Frost, und der Schnee deckte ihn zu. Erst die
Dunkelheit des Zimmers lenkte die Auf- (32) merksamkeit der Disputirenden
auf die regungslose Gestalt draußen. Er wurde wieder ins Leben
zurückgerufen.

Beiläufig sei hier erwähnt, dass dies an einem Sabbath geschah, da nach
dem Talmud die Gefahr den Sabbath stets verdrängt. Selbst für den
winzigsten Säugling muß er ohne die geringste Beanstandung gebrochen
werden, „denn der Säugling", so wird hinzugesetzt, „wird dereinst gar
manchen Sabbath für den, der seinetwegen entweiht worden, feiern."

Und hier können wir nicht umhin, gegen die vulgäre - und specifsch
englische - Ansicht, als ob der „jüdische Sabbath" ein grimmig starrer
Bußetag wäre, entschieden Verwahrung einzulegen. Er ist genau das
Gegentheil, ein „Tag der Freude und des Ergötzens", ein „Festtag", durch
schöne Gewänder, die beste Kost, Wein, Licht, Gewürze und andere leibliche
Genüsse zu ehren - und der höchste Ausdruck des Selbständigkeits- und
Unabhängigkeitsgefühls ist in dem talmudischen Spruche enthalten: „Lebe
eher am Sabbath, wie du es an einem Wochentage gewohnt bist, als dass du
von Anderen abhängest." Doch dies nur beiläufig.

Um 30 v. Chr. wurde Hillel Präsident. Die talmudischen Urkunden sind voll


seiner Sanftmuth, seiner Frömmigkeit, seines Wohlwollens. Seine Sprüche
kennzeichnen ihn besser, als irgend welche biographische Skizze es
vermöchte. „Sei ein Jünger Aarons, ein Freund des Friedens, ein Förderer des
Friedens, ein Freund aller Menschen und führe sie dem Gesetze zu." „Glaube
nicht eher an dich, als an deinem Todestage." „Beurtheile deinen Nächsten
nicht eher, als bis du an seiner Stelle gestanden." „Wer in seinen Kenntnissen
nicht zunimmt, nimmt darin ab." „Wer da versucht, von der Krone der
Gelehrsamkeit Gewinn zu ziehen, der geht unter."

Gleich nach der Vorlesung pflegte er heim zu eilen. Einst befragten ihn seine
Schüler um den Grund solcher Hast. Er habe nach seinem Gaste zu sehen,
entgegnete er. Als sie ferner in ihn drangen, ihnen doch des Gastes Namen zu
nennen, erwiederte er endlich, er meine nur seine Seele, „welche heute hier
und morgen dort sei". Eines Tages ging ein Heide zu Schammai, dem Haupte
der Rival-Akademie, und bat ihn spöttisch, ihn zum Gesetze zu bekehren,
während er auf einem Bein stünde. Der erzürnte Meister wies ihn von der
Thür. Darauf ging er zu Hillel, der ihn freundlich empfing und ihm jene,
seither so weit verbreitete Antwort gab: „Was du nicht willst, dass man dir
thue, das thue einem Andern nicht. Dies ist das ganze Gesetz, alles Uebrige
ist nur Commentar."

Sehr charakteristisch ist auch die Antwort, die er einem jener „Witzbolde"
gab, die ihn mit ihren einfältigen Fragen zu belästigen pflegten. „Wie viele
Gesetze giebt es?" fragte er Hillel. „Zwei", erwiederte Hillel, „ein geschriebenes
und ein mündliches." Worauf jener, „ich glaube an das erste, begreife aber
nicht, warum ich an das zweite glauben soll." „Setze dich", sagte Hillel. Und er
schrieb das hebräische Alphabet nieder. „Was für ein Buchstabe ist das?"
fragte er dann, indem er auf den ersten wies. „Dies ist ein Aleph." „Gut, und
der nächste?" „Beth." „Wieder gut. Wie weißt du aber, dass dies ein Aleph und
dies ein Beth ist?" „Das", erwiederte jener, „haben wir von unsern Vorältern
überkommen." „Nun denn", sagte Hillel, „da du dieses auf Treu' und Glauben
hingenommen hast, so glaube auch das Andere."

Seinem Geiste scheint sich die Nothwendigkeit, diese ungeheure Masse von
mündlichen Ueberlieferungen zur Ordnung und Klarheit zu bringen, zuerst in
all ihrer überwältigenden Kraft dargestellt zu haben. Waren doch zu jener Zeit
nicht weniger als etwa sechshundert im Unbestimmten schwebende
Abtheilungen davon vorhanden. Er versuchte, sie auf sechs zu reduciren.
Allein er starb, und das von ihm begonnene Werk blieb ein ganzes
Jahrhundert lang unberührt.

Akiba, der arme Schäfer, dessen Liebe zu der Tochter des reichsten und
stolzesten Mannes in Jerusalem ihn aus einem rohen Gesellen zu einem der
hervorragendsten Gelehrten seines Zeitalters, ja zu einem „zweiten Moses"
machte, kam zunächst. Aber auch ihm gelang es nicht. Seine juridischen
Studien wurden vom römischen Henker unterbrochen.
Doch wird der Tag seines Märtyrerthums als der Tag der Geburt dessen
genannt, der endlich das Werk vollbrachte, - Jehuda, des heiligen, auch
vorzugsweise „Nabbi" genannt. Um 200 n. Chr. wurde die Redaction des
ganzen Gesetzbuches (wenn auch immer noch in ungeschriebener Form)
nach den ungeheuren Anstrengungen nicht einer Schule, sondern aller, nicht
durch eine, sondern durch die mannichfachsten Methoden der Sammlung,
Vergleichung und Condensirung vollendet.

Als das Gesetzbuch niedergeschrieben war, war es bereits in vielen Stücken


antiquirt. Mehr als eine Generation vor der Zerstörung des Tempels hatte
Rom dem Sanhedrin die peinliche Gerichtsbarkeit entzogen. Die unzähligen
Verordnungen in Betreff (34) des Tempeldienstes , der Opfer und dgl. hatten
nur noch einen ideellen Werth. Die agrarischen Gesetze hatten meistens nur
auf Palästina Anwendung, und nur ein unbedeutender Bruchtheil des Volkes
war dem entweihten Boden treu geblieben.

Nichts desto weniger wurde der ganze Codex von vielen Akademieen sowohl
in Palästina als in Babylon mit Eifer als Textbuch aufgenommen, und zwar
nicht als eine Sammlung alter und veralteter Gesetze, sondern solcher
Gesetze, welche zu einer oder der andern Zeit mit der Wiederherstellung des
Gemeinwesens wieder in volle Kraft treten würden, wie vordem.

Die Mischnah besteht aus sechs Abtheilungen. Diese theilen sich wiederum
in je 11, 12, 7, 9 (oder 10) 11 und 12 Abschnitte, welche ihrerseits in 524
Paragraphen zerfallen. Und folgendes, in gedrängter Kürze, ist ihr Inhalt.

Abtheilung I. Saaten, oder: von dem agrarischen Gesetze, beginnend mit


einem Abschnitt über das Gebet. In dieser Abtheilung werden die
verschiedenen den Priestern, den Leviten und den Armen vom Ertrag des
Bodens zukommenden Zehnten und Schenkungen, ferner das Sabbath-Jahr,
die verbotenen Mischungen von Pflanzen, Thieren und Stoffen behandelt.

Abtheilung II. Bestimmte Zeiten: über Sabbathe, Fest- und Fasttage, die an
denselben verbotenen Arbeiten, vorgeschriebenen Ceremonieen und
darzubringenden Opfer. Besondere Capitel sind dem Erinnerungs-Feste des
Ausgangs aus Aegypten, dem Neujahrs-, dem Versöhnungstage (einer der
eindrucksvollsten Theile des ganzen Buches), dem Laubhütten- und
Hamansfeste gewidmet.

Abtheilung III. Frauen: über Verlobung, Ehe, Scheidung u. s. w. , auch über


Gelübde.
Abtheilung IV. Schadenersatz, einen großen Theil des Civil- und
Criminalrechts umfassend. Diese Abtheilung enthält die Bestimmungen über
Funde, Kauf und Verkauf und den gewöhnlichen Handelsbetrieb. Ferner über
das größte, dem Gesetze bekannte Verbrechen, den Götzendienst. Zunächst
handelt sie von Zeugen, Eiden, gesetzlichen Strafen und dem Sanhedrin
selbst. Dieser Abschnitt schließt mit den sogenannten „Sprüchen der Väter" ,
die wohl zu den erhabensten ethischen Aussprüchen im Bereiche der
gesammten Religionsphilosophie gehören.

AbtheilungV. Heiligthümer: über Opfer, die Erstgeburt, auch über die Maße
des Tempels.

(35) Abtheilung VI. Reinigungen: über die verschiedenen levitischen und


andere hygienische Gesetze, unreine Dinge und Personen, etc.

Es unterliegt absolut keinem Zweifel, dass in der Mischnah mehr Symmetrie


und Methode herrscht, als in den Pandecten, obschon wir nicht jene genaue
logische Folgerichtigkeit in ihrer Anordnung gefunden haben, von der
Maimonides und Andere reden. In der That glauben wir kaum, dass sie uns
noch in ihrer ursprünglichen Gestalt vorliegt. Ebenso ist, was die einzelnen
Abhandlungen angeht, die Mischnah zum großen Theile frei von den Fehlern
des römischen Gesetzbuches. Es standen sich unverhältnismäßig weniger sich
widersprechende Gesetze, weniger Wiederholungen, weniger Einschiebsel in
der Mischnah als in den Digesten, welche trotz Tribonian's Anstrengungen
von sogenannten Geminationes, Leges fugitivae, errativae u. s. w. strotzen.
Was zudem eine gewisse Freiheit in sexuellen Dingen angeht, so ist endlich
von allen befugten Autoritäten anerkannt worden, dass ihre Sprache
unendlich reiner ist als z. B. die der mittelalterlichen Casuisten.

Die in diesen sechs Abtheilungen enthaltenen Verordnungen sind sehr


verschiedener Art. Sie sind von fundamentaler Wichtigkeit oder scheinbar
unbedeutend, für alle Zeit, oder nur für den Moment gegeben. Sie sind
entweder deutliche Erweiterungen biblischer Vorschriften, oder unabhängige,
mit der Schrift nur auf hermeneutischem Wege in Verbindung gebrachte
Ueberlieferungen. Sie sind „Entscheidungen", „Umzäunungen", „Gebote",
„Verordnungen" oder einfach „Mosaische Halachah vom Sinai" - etwa das was
die römischen Gesetze Senatus consulta, Pleciscita, Edicta, Responsa
Prudentium etc. sind.

Außer bei streitigen Punkten sagt die Mischnah nicht, wann und wie ein
besonderes Gesetz gegeben worden. Nur ausnahmsweise lesen wir die
einleitende Formel „N. N. ist Zeuge gewesen", „ich habe von N. N. gehört"
etc., denn nichts wurde in den Codex aufgenommen, als was durch
zweifellose Tradition durchaus verbürgt war. Die Mischnah kennt keinen
Unterschied zwischen großen und kleinen Gesetzen, zwischen alter und neuer
Halachah. Jede von der Majorität überlieferungsmäßig angenommene oder
erlassene Vorschrift wird gleichsam zu einer religiösen, göttlich
sanctionierten, wiewohl es späteren Autoritäten stets frei stand, sie in neue
Erwägung zu ziehen und aufzuheben; wie in der That einer der Hauptgründe
gegen das Niederschreiben des Gesetzbuches selbst nach seiner Redaction
eben der war, (36) dass es nie in allen seinen Einzelnheiten unveränderlich
und stabil werden sollte. Daß man sich für alle praktischen Zwecke lieber auf
die Mischnah als auf das „mosaische" Gesetz berief, scheint einfach und
natürlich genug. Beruft man sich etwa in englischen Gerichtshöfen stets auf
die Magna Charta?

Die gleichmäßige Autorität, die diesem mannichfachen Inhalt der Mischnah


innewohnt, findet sich am Schlagendsten in des Redactors eignen Worten -
dem Motto zur ganzen Sammlung -ausgedrückt: „Sei ebenso gewissenhaft in
der Ausführung kleiner wie großer Vorschriften; denn du kennst nicht ihren
Lohn. Wäge gegen den irdischen Verlust, der dir durch die Erfüllung eines
Gebotes entsteht, den dadurch erworbenen himmlischen Lohn ab und den
durch eine Uebertretung erlangten Gewinn gegen die ihm folgende Strafe.
Bedenke ferner drei Dinge, und du wirst nicht in Sünde verfallen: Wisse was
über dir ist - ein Auge, das sieht, ein Ohr, das hört, und all deine Thaten
werden in ein Buch verzeichnet."

Der Ton und die Haltung der Mischnah ist, mit Ausnahme der einen,
besonders der Ethik gewidmeten Abtheilung, durchaus praktisch. Sie
beschäftigt sich nicht mit Metaphysik, sondern strebt einfach danach, eine
Rechtsquelle und nichts Anderes zu sein. Gleichwohl verabsäumt sie nie eine
Gelegenheit, jene höhern sittlichen Motive einzuschärfen, welche über den
strengen Buchstaben des Gesetzes hinaus liegen. Sie sieht mehr auf die
„Absicht", den animus bei der Erfüllung eines Gebotes, als auf die Erfüllung
selbst.

Ein Mann, der dem Geiste der Humanität entgegen, auf den Buchstaben des
Gesetzes gestützt, gewisse Vortheile beansprucht, ist nicht „vor Gott und
Menschen wohlgefällig." Wer andererseits aus freiem Antriebe Ansprüche
befriedigt, welche das Gesetz nicht hätte erzwingen können, der, wie sie es
ausdrückt, nicht bei „der Pforte (Grenzscheide) der Gerechtigkeit" stehen
bleibt, sondern ins Innere der „Linie der Gnade" schreitet, an ihm hat der
„Geist der Weisen" Gefallen. Gewisse Pflichten bringen „Früchte" (Zinsen) in
dieser Welt; der rechte Lohn aber, das „Capital", wird in der künftigen Welt
zurückerstattet. Solche Pflichten sind: Vater und Mutter ehren, Mildthätigkeit
üben, frühe Beflissenheit im Studium, Gastfreiheit, den Todten die letzte Ehre
erweisen, Frieden stiften.

Die Mischnah weiß nichts von einer „Hölle". Für alle und jegliche
Uebertretung giebt es eben nur die bestimmten gesetzlichen (37) Strafen
oder eine geheimnißvolle plötzliche „Heimsuchung Gottes" - die biblische
„Ausrottung". Der Tod sühnt alle Sünden. Geringere Uebertretungen werden
durch Reue, Mildthätigkeit, Opfer und den Versöhnungstag gesühnt. Gegen
Menschen begangenes Unrecht wird nur dann als gesühnt betrachtet, wenn
dem Gekränkten voller Ersatz geleistet worden und er selbst sich versöhnt
erklärt. Die höchste Tugend liegt im Studium des Gesetzes. Es ist nicht allein
ein Zeichen hoher Bildung (wie ja früher auch in England), sondern es ist
damit ein besonderes Verdienst verbunden, das dem Menschen, wie in dieser,
so in jener Welt, zum Beistand gereicht. Ein Bastard, gelehrt im Gesetze, steht
höher als der Hohepriester selbst, der darin unwissend ist.

Diese Gesetze und ihren Geist, - im Ganzen wie im Einzelnen, - hier zu


erörtern können wir nicht unternehmen. So viel aber können wir sagen, dass
es von je die einstimmige Meinung von Freund und Feind gewesen, dass ihr
Charakter ein durch und durch humaner ist: trotz gewisser und
ausnahmsweiser, in Zeiten der Gefahr und Noth, der Revolution und Reaction
erlassenen harten Gesetze, welche überdies nie in Praxis traten oder auch nur
treten konnten.

Eine fast moderne Freisinnigkeit der Anschauung in Betreff der Erfüllung


dieses „Gesetzes" selbst ist durch häufige Sprüche ausgedrückt, wie: die
Schrift sagt: „auf dass er durch sie lebe" - „lebe, heiße es, nicht sterbe". Sie
sollen nicht zum Fallstrick oder zur Bürde für ihn werden, die ihm das Leben
verhaßt machen. Wer sie in ihrer Gesammtheit ausführt, wird für nichts
Geringeres als einen „Heiligen" erklärt. Ferner: „das Gesetz ist den Menschen
gegeben worden, nicht den Engeln." -

Hinsichtlich der praktischen Gerichtsverwaltung macht die Mischnah einen


einschneidenden Unterschied zwischen dem civilen und peinlichen Recht. In
beiden wird die sorgfältigste und gewissenhafteste Untersuchung gefordert;
allein, während im Civilprozeß drei Richter competent sind, sind nicht minder
als dreiundzwanzig für den Criminalprozeß erforderlich. Die erste Pflicht des
Civilrichters ist es stets - wie klar auch der Rechtsfall sei - auf einen gütlichen
Vergleich hinzuarbeiten. „Wann" , fragt der Talmud, „begegnen sich
Gerechtigkeit und Wohlwollen? Wenn die streitenden Parteien zum friedlichen
Vergleich gebracht werden."

Neben den bestimmten Ortsrichtern wurden gelegentliche „Friedensrichter"


von den Parteien ad hoc gewählt. Zahlung für eine Entscheidung macht
dieselbe (38) ungültig. Zeitverlust durfte ausnahmsweise nur dann ersetzt
werden, wenn die Richter zugleich Gewerbtreibende waren. Hatte der Kläger
erwiesenermaßen mehr als ihm zukam beansprucht, um so das Seinige desto
leichter zu erlangen, so wurde er mit seiner Klage abgewiesen. Drei
Theilhaber in einer Prozeßsache durften sich nicht in einen Kläger und zwei
Zeugen theilen.

Der Richter hatte darauf zu sehen, dass beide Parteien gleichmäßig gekleidet
waren, d. h. nicht der Eine in Prachtgewändern, der Andere in Lumpen; und
der Richter wird besonders davor gewarnt, nicht zu Gunsten des Armen
parteiisch gegen den Reichen zu sein. Der Richter durfte nichts von dem
Rechtsfall hören; es sei denn in Gegenwart beider Parteien.

Zahlreich und eindrucksvoll sind die Mahnungen für den Richter. „Derjenige,
welcher eines Mannes Eigenthum ungerechterweise einem Andern überweist,
der wird Gott dafür mit seiner eigenen Seele zahlen." „Zur Stunde, wenn der
Richter über seine Nebenmenschen zu Gericht sitzt, müsse er gleichsam ein
Schwert auf sein eignes Herz gerichtet fühlen." „Wehe dem Richter, welcher,
in seinem Innern von der Ungerechtigkeit einer Sache überzeugt, es versucht,
sein Urtheil mit dem Ausspruch der Zeugen vor sich selbst zu beschönigen.
Von ihm wird Gott Rechenschaft fordern." „Wenn die Parteien vor dir stehen,
betrachte sie beide als schuldig, wenn sie aber entlassen sind, so seien sie
beide in deinen Augen frei von Fehle, denn der Spruch ist über sie ergangen."

Schwerlich ließe sich von den Tagen der alten Welt bis auf die unseren herab
ein peinliches Recht aufweisen, durchweht von gleich tiefer Humanität, gleich
feinem Zartgefühl fast. Während in Civilfällen, immer wenn ein größeres
Tribunal (Jury) zugezogen werden mußte, eine Majorität von einem Votum
sowohl für Freisprechung wie Verurtheilung genügt, spricht in Criminalfällen
die Majorität von einer Stimme frei, während eine Majorität von zweien zur
Verurtheilung erforderlich wird. In jenem werden Alle - ausgenommen Spieler
(mit χυβεία = Würfeln), Wettende ("welche Tauben zum Wettfluge halten"),
Wucherer, Händler mit ungesetzlichem (des siebenten Jahres) Ertrag, und
Sklaven, die sämmtlich unfähig sind „zum Urtheilsspruch wie zum Zeugniß" -
sei es für den Kläger oder Verklagten als Zeugen zugelassen; für die
Vertheidigung in Criminalfällen aber werden Alle ohne Unterschied
vernommen.

Das Zeugenverhör war äußerst streng. Die Formel (nicht ohne


stillschweigende Beziehung auch (39) auf den Richter selbst), mit welcher die
Zeugen in Criminalfällen ermahnt wurden, war so ehrfurchtgebietender und
eindrucksvoller Art, dass „eines Menschen Leben hinwegzuschwören" zu
einem fast unerhörten Geschehniß ward. -„Wie soll man", fragt die Mischnah,
„die Zeugen in Fällen, wo es sich um Leben und Tod handelt, mit der rechten
Ehrfurcht erfüllen?

Wenn sie in den Gerichtssaal gerufen werden, werden sie folgender Weise
angeredet: „Vielleicht möchtet ihr nach Vermuthung oder einem Gerücht,
etwa als ein Zeuge nach dem Bericht eines Andern - der es von „irgend einem
zuverlässigen Manne" gehört hat - sprechen; oder vielleicht wisset ihr nicht,
dass wir euch mit scharfen Fragen und genauer Prüfung ausforschen und
verhören werden. Wisset, dass ein Urtheil über das Mein und Dein nicht dem
über Leben und Tod gleicht. Hat Einer durch falsches Zeugniß ungerecht Gut
erwerben lassen, so sühnt er reuemüthig seine Schuld, leistet Rückerstattung
und Ersatz und es mag ihm Vergebung werden. Wo es sich aber um ein Leben
handelt, da wird nicht allein das Blut dessen, der falsch verurtheilt worden,
über dem falschen Zeugen hängen, sondern auch das der Nachkommen
seiner Nachkommen, bis zum Ende der Welt; denn also finden wir, dass, als
Kain seinen Bruder erschlug, es heißt:

„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit auf zu mir von der Erde." Das
Wort Blut steht dort in der Mehrzahl (Demē), um damit anzudeuten, dass der,
welcher ein einziges Leben vernichtet, dafür zur Rechenschaft gezogen
werden wird, als hätte er eine ganze Welt zerstört . . . . Doch möchtet ihr
etwa sagen: was haben wir mit all diesem Elend hier zu schaffen? Erinnert
euch darum ferner, daß es in der Schrift heißt (Lev. V. 1): „Wenn ein Zeuge
gesehen oder erfahren hat und zeigt nicht an, so ladet er eine Schuld auf
sich." Oder ihr könntet sagen: Warum sollen wir uns des Blutes dieses Mannes
schuldig machen? Gedenket denn des andern Wortes der Schrift (Spr. XI. 10):
„Im Untergang der Frevler ist Sieg".
Die Lex Talionis ist dem Talmud unbekannt. „Maß für Maß" zu vergelten
steht nach ihm in Gottes Hand allein. Körperverletzungen sind durch Geld zu
sühnen, und hier wiederum hatten die Pharisäer den Sieg über die Sadducäer,
welche auf der buchstäblichen Auslegung des betreffenden Verses (Auge für
Auge, Zahn für Zahn u. s. w.) bestanden, davon getragen.

Die schwersten Strafen, „Geißelung und Tod," wie solche im mosaischen


Gesetzbuche (40) verordnet, wurden, wie bereits gesagt, auf so humane
Weise gehandhabt, wie sie nicht nur den gleichzeitigen Gerichtshöfen des
Alterthums, sondern selbst den europäischen bis auf die letzte Generation
herab unbekannt geblieben.

Neununddreißig war die höchste Zahl von Geißelschlägen, die verhängt


werden durfte. Allein das „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" wird fort
und fort vom Strafgesetzbuch selbst gegen die schwersten Verbrecher urgirt.
Und darum, wenn das Leben des Inculpaten auch nur im Geringsten gefährdet
schien, wurde die Zahl sofort beschränkt. Wie zahlreich auch des Angeklagten
Vergehen, es konnte immer nur eine Strafe für sie alle verfügt werden. Ja,
nicht einmal Geldstrafe und Geißelung zugleich konnte bei derselben
Gelegenheit verhängt werden.

Die Schonung, mit der man das menschliche Leben behandelte, war in der
That über die Maßen groß. Die Richter, welche ein Todesurtheil zu fällen
hatten, mußten den ganzen Tag hindurch sich der Speise und des Tranks
enthalten. Das Urtheil wurde nicht an demselben Tage, an dem es
gesprochen, vollstreckt, sondern am folgenden Tage nochmals vom
Sanhedrin einer genauen Prüfung unterzogen. Bis zum letzten Momente
harrte man irgend eines günstigen Umstandes, welcher die Wagschale zu
Gunsten des Gefangenen sinken machen könnte.

Die Richtstätte befand sich in ziemlicher Entfernung vom Gerichtshofe,


damit dem Zeugen wie dem Angeklagten noch immer Zeit bliebe, irgend eine
neue, zu seinen Gunsten sprechende Thatsache vorzubringen. Am Eingange
zum Gerichtshofe stand ein Mann mit einer Signalfahne, und in einiger
Entfernung saß ein anderer zu Pferde, um die Hinrichtung stracks zu
unterbrechen, falls etwa irgend ein günstiger Umstand plötzlich zu Tage trat.

Dem Verurtheilten selbst wurde es gestattet, den Zug vier- oder fünfmal
zum Stehen zu bringen und sich neuerdings vor den Richter führen zu lassen,
wenn sich ein neuer Vertheidigungsgrund seinem Geiste darstellte. Vor ihm
her schritt ein Herold, ausrufend: „Der Mann N. N., Sohn des N. N., wird zur
Hinrichtung hinausgeführt, weil er dies und dies Verbrechen begangen hat;
dies und dies sind die Zeugen gegen ihn; wer immer etwas zu seinen Gunsten
weiß, der komme und verkünde es."

Zehn Ellen vor der Richtstätte sagte man zu ihm: „Bekenne deine Sünden.
Wer reuig bekennt, hat Antheil an der künftigen Welt; denn so heißt es von
Achan, zu dem Josua sagte: „Mein Sohn, erweise Ehre dem Ewigen, dem (41)
Gotte Israels." Vermochte er es nicht ein förmliches Geständniß abzulegen, so
brauchte er nur zu sagen: „Möge mein Tod eine Sühne sein für alle meine
Sünden."

Bis zum letzten Momente begleiteten den Verurtheilten Zeichen tiefster,


erschütterndster Theilnahme. Die Frauen Jerusalems bildeten unter sich einen
frommen Verein, dem die Bereitung eines Trankes von Myrrhe und Essig
oblag, eines Trankes, der, einem Opiate gleich, des Mannes Sinne umfing,
während er zum Tode geführt wurde.

Es gab vier Arten von Todesstrafen: Steinigung, Verbrennung, Köpfung und


Erdrosselung.

Kreuzigung ist dem jüdischen Gesetze gänzlich unbekannt.

"Das Haus der Steinigung" war zwei Stock hoch, - „steinigen" in der
Mischnah bedeutet nämlich nichts Anderes, als das Hinabstürzen des
Verbrechers von einer Höhe. Es war Sache des Hauptzeugen, den Verbrecher
mit eigener Hand hinabzustürzen. Fiel er auf die Brust, so wurde er auf den
Rücken gekehrt; hatte ihn der Sturz nicht auf der Stelle getödtet, wie das in
der Absicht der Verordnung lag, so mußte der zweite Zeuge ihm einen Stein
aufs Herz werfen; blieb er dann noch am Leben, dann und nur dann
beschleunigte das ganze Volk seinen Tod durch Steinwürfe.

Die Art der Verbrennung und Erdrosselung war fast identisch: in beiden
Fällen wurde der Sträfling bis zum Oberleibe in weichen Lehm gestellt, und
zwei Männer, die ein in ein weiches Tuch gehülltes Seil um seinen Hals
zusammenzogen, brachten augenblickliche Erstickung zu Wege. Bei der
„Verbrennung" wurde ein angezündeter Docht in seinen Mund geworfen,
wenn er ihn beim letzten Athemzuge öffnete. Der Leichnam wurde an einer
besonderen, für Verbrecher bestimmten Stätte beerdigt. Nach einiger Zeit
jedoch wurden die Gebeine gesammelt und nach dem Begräbnißplatz der
Verwandten des Gerichteten übertragen.

Diese besuchten dann die Richter und Zeugen, „wie um dadurch


stillschweigend anzudeuten: wir tragen euch keinen Groll nach, denn ihr habt
ein gerechtes Urtheil gesprochen". Die gewöhnlichen Ceremonieen äußerer
Trauer wurden in solchen Fällen nicht beobachtet; doch war die übliche Klage
während der ersten Zeit des Schmerzes nicht verboten, „denn das Weh
kommt vom Herzen". Des Verbrechers Besitzthum wurde nicht confiscirt.

Die Todesftrafe war de facto bereits abgeschafft, als die (42) Römer die
peinliche Gerichtsbarkeit den Händen des Sanhedrin entzogen. Auch hier
wiederum machte sich der mildernde Einfluß jener „Ueberlieferungen"
geltend, im Gegensatz zu der unerbittlichen Strenge des mosaischen Codex.
Die Zeugenvernehmung war so verschärft worden, dass ein Todesurtheil fast
zur Unmöglichkeit ward. Selbst wenn die Schuld trotz aller Weitläufigkeiten
und Schwierigkeiten unausweichlich erwiesen war, so fand sich schließlich
gewiß noch irgend ein Formfehler vor, und das Urtheil wurde in lebenslanges
Gefängniß verwandelt.

Die Gelehrten der spätern Zeit, namentlich Akiba, welcher, inmitten seiner
revolutionären Träume von einer neuen Unabhängigkeit, die Reform der
ganzen Gerichtsverwaltung unverrückt im Auge behielt, zögerte nicht, sich
offen für die Abschaffung der Todesstrafe zu erklären. Ein Gerichtshof,
welcher ein Todesurtheil in sieben oder selbst in siebzig Jahren gefällt, erhielt
den Namen eines „Mördertribunals".

So weit die Mischnah, diese gedrängte Summe ungefähr achthundertjähriger


legislatorischer Entwickelung. Jehudah, der „Redactor" hatte alle
Ueberlieferungen, die nicht durchaus zu den bestverbürgten gehörten, wie
alle Erörterung und Exegese, - bis auf unausweichliche Fälle, -
ausgeschlossen. Die große Masse auch dieser Materialien wurde jetzt als eine
Art von apokryphischem (mündlichem) Codex gesammelt.

Wir haben demnach eine sogenannte äußere Mischnah (Boraita), welche


einige Generationen nach der Redaction der officiellen Mischnah datirt; ferner
die von Rechts wegen zur Mischnah gehörigen Erörterungen und Zusätze,
Tosefta (Ergänzung) genannt; und endlich die Exegese und Methodologie der
Halachah (Sifri, Sifra, Mechilta), von denen Vieles später dem Talmud
einverleibt wurde: - ein Gegenstand, über den wir namentlich auf Frankels
lichtvolle Untersuchungen verweisen möchten.

Nachdem die Mischnah zu einem Codex gestaltet worden, wurde sie


ihrerseits, was die Schrift gewesen war, eine Basis zur Fortbildung und
Erörterung. Sie mußte mit der Bibel in Verbindung gesetzt werden, neue
Gedankenprozesse und Speculationen entwuchsen ihr, nicht selten ihren Text
und ihre Tragweite weit überschattend, neue Ueberlieferungen tauchten auf,
neue Methoden brachen sich Bahn und die Casuistik trat ihre Herrschaft an:
genau wie in den zeitgenössischen Rechtsschulen Roms, Alexandriens,
Berytus' - und die Gemara entstand.

Eine doppelte Gemara: die (43) eine, der Ausdruck der Schulen in Palästina,
die „von Jerusalem" genannt, um 390 n. Ch. zu Tiberias redigirt und in einer
Mundart geschrieben, die man als die „ostaramäische" bezeichnet; die andere
zu Syra in Babylonien unter R. Aschi (365 - 427 n. Ch.) redigirt.

Den Abschluß dieses Codex jedoch, dessen Sammlung und Sichtung siebzig
Jahre währte, verdanken wir der Schule der Saboraïm, am Ende des fünften
Jahrhunderts der gewöhnlichen Zeitrechnung. Die babylonische Gemara ist
der Ausdruck der Akademieen zu Syra, Nehardea, Pum-Veditha, Machusa und
anderer Lehrorte, im Laufe von sechs oder sieben Generationen
ununterbrochener Entwickelung. Dieser „babylonische" Talmud ist im
„westaramäischen" Dialekt abgefaßt.

Keiner von beiden Codices wurde Anfangs niedergeschrieben und keiner von
beiden hat sich in seiner Vollständigkeit erhalten. Ob es je eine doppelte
Gemara zu allen sechs oder selbst den ersten fünf Sectionen der Mischnah (da
die sechste schon früh außer Gebrauch gekommen war) gegeben, ist zum
Mindesten sehr zweifelhaft. Viel indessen von dem, was vorhanden war, ist
verloren gegangen.

Der babylonische Talmud ist ungefähr viermal so groß als der


jerusalemische. Seine 36 Abtheilungen füllen in unseren gegenwärtigen
Ausgaben, denen die hervorragendsten Commentare (Raschi und Tosafoth)
beigefügt sind, genau 2947 Folioblätter, in I2 Folianten, deren Paginirung in
fast allen Ausgaben gleichförmig gehalten ist. Sieht man indessen von dem
außerhalb des eigentlichen Gegenstandes liegenden Stoff darin ab, so ist er
nur etwa zehn- oder elfmal so groß als die Mischnah, welche genau ebenso
viele Generationen vor dem Talmud redigirt worden.

Wie der Talmud der späteren Zeit selbst allmählich das geworden, was die
Mischnah der Gemara, und was die Schrift den ältesten Schriftgelehrten
gewesen war, nämlich ein Text; wie die „Amoraim" (Sprecher), die „Saboraim"
und „Geonim", diese Epigonen der „Schriftgelehrten" (Sofrim) ihn Jahrhunderte
lang zum Centrum ihrer Thätigkeit gemacht; welch' endlose Erläuterungen,
Abhandlungen, Auslegungen, Responsen, Novellen, Auszüge u. s. w. daraus
hervorgegangen, können wir hier nicht des Weiteren auseinander setzen.

Das jedoch müssen wir erwähnen, dass der Talmud, als solcher, niemals von
der Nation, weder durch ein allgemeines noch durch ein specielles Concil
angenommen worden. Seine gesetzlichen Entscheidungen, als von den
höchsten Autoritäten (44) hergeleitet, bildeten allerdings die Grundlage des
religiösen Gesetzes, die Norm aller künftigen Entscheidungen, wie der
Talmud auch unzweifelhaft der zuverlässigste Canon jüdischer
Ueberlieferungen ist.

Allein es geschah während der Verfolgungen der Juden im persischen


Reiche, unter Jesdegerd II, Firuz und Kobad, daß die Schulen auf etwa achtzig
Jahre lang geschlossen wurden. Die lebendige Fortbildung des Gesetzes ward
solchergestalt gewaltsam gehemmt und das Buch erlangte dadurch ein
Ansehen, das seine Verfasser wahrscheinlich nie geahnt hatten. Brauchen wir
hinzuzufügen, dass die ihm stillschweigend beigelegte Autorität
ausschließlich seinem gesetzlichen Theil zugehörte?

Der andere, der „haggadistische" oder sagenhafte Theil, war „Poesie", geliebt
von Frauen und Kindern und jenen stillen und gedankenvollen Gemüthern, die
sich am Gesang wilder Vögel, an Blumenduft und Farbe erfreuen. Die
„Autoritäten" selbst haben sich ihm, in weiser Rücksicht auf die philiströse au
pied de la lettre Kritik und den hämisch-gehässigen, absichtlichen
Mißverstand, oft genug widersetzt, ihn abgewiesen und hinwegerklärt. Das
Volk aber, froh und unbekümmert, hing fest daran und gab ihm und ihm
allein im Laufe der Zeit den allumfassenden Namen Midrasch.

Wir haben nun einige Worte in Bezug auf die Sprache, in welcher diese
Urkunden geschrieben sind, zu sagen, dadurch einen Schlüssel mehr zum
Verständniß der Lebens- und Denkweise jener Zeit bietend.

Die Sprache der Mischnah ist ein so reines Hebräisch, wie es sich in jener
Zeit eben erwarten läßt. Das Volk selbst sprach damals, wie wir das oben
erwähnt haben, ein corruptes, mit Griechisch und Latein vermengtes
Chaldäisch oder Aramäisch. Viele Gebete jener Zeit, die Targumim und die
Gemara, sind in diesem Idiom verfaßt. Selbst die Mischnah konnte jene alles
durchdringenden fremden Elemente nicht ganz ausschließen.

Viele juristische Ausdrücke, Namen von Produkten, heidnischen Festen, von


Hausgeräth, von Speise und Trank, Früchten und Gewändern sind den
classischen Sprachen entlehnt. Das Brod, welches die Semiten in den alten
phönicischen Zeiten „über die Wasser geworfen hatten", kam nach vielen
Tagen wieder zu ihnen zurück. Hatten sie den alten Griechen die Namen für
Maße und Gewichte, für Gewürze, (45) Pflanzen, Kräuter *) gegeben: hatten
sie ihnen den „Saphir", „Jaspis", „Smaragd", die feinen Stoffe zu Gewändern **)
und die Gewänder selbst zugeführt -- wie ja in der That das wohlbekannte
χιτῴν nur der hebräische Name für Josephs Rock in der Bibel ist - wenn die
musikalischen Instrumente ***), Gefäße, Schreibmaterialien, sowie unter
Anderem, - was keineswegs das Geringste ist - das „Alphabet" selbst von den
Semiten herrühren; so bezahlten ihnen dies die griechischen und lateinischen
Sprachen in der talmudischen Periode - zur großen Noth späterer Scholiasten
und Lexikographen - mit vollen Zinsen zurück.

Das Aramäische selbst war, wie bereits gesagt, die Sprache des gemeinen
Volkes. Es war ein an und für sich überaus durchsichtiges und pittoreskes
Idiom, das sich nicht nur für die epigrammatische Gedrungenheit der Gemara
prächtig eignete, sondern auch für jene tief poetischen Anschauungen selbst
der alltäglichsten Phänomene, welches bis in den Ruf der Wächter, die Parole
der Tempelwachen, die Alltagsformel des levitischen Hülfsbeamten selbst
gedrungen war. Leider war es bisweilen allzu poetisch.

Dinge rein metaphysischer Art, welche mit der Zeit zu Dogmen wurden,
nahmen, Dank dieser vag-poetischen Phraseologie, später gar abenteuerliche
Gestalten an. Und - Dank ferner den eigenthümlichen Verhältnissen der Zeit -
ward es in dem Munde des Volkes gar bald zum eigenthümlichsten aller
Misch-Idiome. Obschon mit einem feinen Gefühl für die unterscheidenden
Merkmale der verschiedenen gebräuchlichen Sprachen begabt („das
Aramäische eignet sich am besten für die Elegie, das Griechische für die
Hymne, das Hebräische fürs Gebet, das Römische für martialische
Dichtungen", heißt es im Talmud), mischte man sie doch alle durcheinander,
etwa in der Weise, wie es die heutigen Pennsylvanier mit Deutsch, Englisch
und Holländisch thun.

Am Ende war es auch nur der treue Reflex derjenigen, welche dieses Idiom
zu einer dauernden Sprache gemacht haben. Diese „Meister des Gesetzes"
bildeten die bunteste Versammlung in der Welt. Es waren nicht nur Bürger aus
allen Gegenden des weltweiten römischen Reiches unter ihnen, sondern auch
Bewohner von Arabien und Indien: eine Thatsache, welche manche selt- (46)
same Erscheinung im Talmud erklärt.

Und so giebt es kaum etwas, das zu häuslichen oder öffentlichen Zwecken


diente, das nicht neben seinem heimischen noch entweder mit seinem
griechischen oder lateinischen Namen oder mit beiden benannt wurde: -
allerdings in so fraglicher Gestalt und so veralteter Form, daß classische wie
semitische Forscher oft einen ganzen Cursus von Alterthumskunde
durchzumachen sich gemüßigt sehen, ehe sie das seltsame Alltagswort zu
enträthseln vermögen.

Griechisch oder Lateinisch, oder beides zugleich, waren beispielsweise - um


nur einige Tropfen aus dem Ocean zu schöpfen, - die üblichen Ausdrücke für
Speise und Trank (collyris, acraton, τρόξιμα, scutella, oenogarum), das Zimmer
(χοίτων, εὺνή, ἕξεδρα), das triclinum nebst dem Kissen (accubitum), der Tisch
(tabula, τραπέζα, τρίπους), der Sessel (sella), das Trinkgefäß (vasa, ampulla,
cyathus) u. s. w. u. s. w.

Und nicht bloß einzelne Worte, sondern Wortspiele, ja vollständige Sätze


finden sich in ihrer lateinischen und griechischen Ursprünglichkeit im Talmud
wieder. Unter den Kleidungsstücken finden wir u. A. στολή, sagum, dalmatica,
braccae, chirodeta. Auf dem Haupte trug man einen pileus und gürtete sich
mit einer ζῴνη. Die Worte sandalium, solea, solens, talaria, impilia bezeichnen
die Fußbekleidung. Damen schmückten sich mit catella, cochlear, πόρπη
(παρυϕή) und allerlei classisch benamten Ringen, Spangen und Armbändern,
- wie überhaupt mit Allem, was zur feinen Kleidung einer griechischen oder
römischen Dame gehörte. Unter den Waffen der Männer werden die λόγχη, die
μάχαιρα (ein im Pentateuch sich findendes Wort), pugio erwähnt.

Nur ein Gebiet blieb von dieser Sprachverwirrung frei: der Ackerbau. Dieser,
zusammt einigen andern Gewerben, hatte die alten schlichten semitischen
Benennungen beibehalten - nicht, wie Unwissenheit schließen möchte, weil
das Volk ihm abgeneigt war, sondern grade im Gegentheil, weil es seit den
Tagen Josuas nie aufgehört hatte den Gedanken, unter seinem eignen
Rebstock und Feigenbaume zu sitzen, hoch und werth zu halten. Wir
verweisen beispielsweise aus das idyllische Gemälde der Mischnah von der
Erstlings-Procession, die alljährlich unter Flötenklang gen Jerusalem zog, -
der Opferstier mit vergoldeten Hörnern, einen Olivenkranz ums Haupt, stolz
vorauf.

Der Talmud bietet uns in der That ein so vollkommnes Bild (47) von dem
Kosmopolitismus und Luxus der letzten Tage Roms, wie es nur wenige
classische oder nachclassische Schriften zu bieten vermöchten. Hier finden
wir Aepfel aus Kreta, Fische (kulis?) aus Spanien, Hülsenfrüchte aus Aegypten,
Knoblauch aus Baalbek, Kürbisse aus Griechenland, bithynischen Käse,
medisches Bier und welschen Wein.

Nicht minder wurden Gewänder von Pelusium und Indien, Hemden von
Cilicien, Schleier von Arabien eingeführt. Ein bloßer Hinweis auf die außerdem
noch in der Gemara enthaltenen, bisher kaum beachteten arabischen,
persischen und indischen Materialien genüge. Und wir wagen zu behaupten,
dass, wenn Archäologie und Sprach-Wissenschaft sich einmal diesem Felde
ernstlich und stetig zuwenden sollten, sie es nicht so schnell wieder verlassen
dürften. -

Wir hatten lange darüber gegrübelt, wie wir unsern Lesern die merkwürdige
Art, in welcher die Haggadah, diese zweite Strömung des Talmuds, von
welcher wir im Eingange sprachen, den Lauf der Halachah plötzlich
unterbricht, am besten erläutern möchten, als wir des Einfalls eines alten
Meisters gedachten.

Es war ein heißer Sommernachmittag, und während er eine gar verwickelte


Frage des Gesetzes des Weiteren erörterte, waren seine Zuhörer allmählich
sanft eingeschlummert. Da, urplötzlich, rief er aus, so laut er vermochte: „Es
war einmal eine Frau in Aegypten, die sechsmal-hunderttausend Männer mit
Eins zur Welt brachte". Wir überlassen es unsern Lesern, sich das Erstaunen
der plötzlich wach gewordenen Zuhörer zu denken. „Ihr Name, fuhr der
Meister ruhig fort, „war Jochebed, und sie war die Mutter Mosis, der allein
jene sechsmalhunderttausend bewaffneten Männer, welche aus Aegypten
hinaufzogen, aufwog".

Nach einer kurzen Abschweifung ins Gebiet der Legende setzte der
Professor dann seine juridischen Entwickelungen gelassen fort, und seine
Hörer schliefen den Nachmittag nicht mehr.

Der morgenländische Geist scheint eigenthümlich beschaffen. Seine fast


leidenschaftliche Vorliebe für Weises und Geistreiches, Tiefernstes und
Gemüthvolles, für Geschichten und Märchen, Parabeln und Apologe verläßt
ihn selbst inmitten seiner ernstesten Studien nicht. Sie sind unumgänglich
nöthig, so möchte es scheinen, den Strom seiner Gedanken fort und fort in
Fluss zu erhalten: sie sind das Spielzeug der großen Kinder des Orients. Auch
die Haggadah hat eine ihr eigne Exegese, ihr System und ihre (48) Methode.
Es sind das seltsam phantastische Dinge. Wir möchten ihren gelehrten
Eintheilungen in homiletische, ethische, historische, allgemeine und specielle
Haggadah nicht allzu genau folgen.

Die Haggadah im Allgemeinen verwandelt die Schrift, wie bereits erwähnt, in


tausend Themen für ihre wunderbaren und capriciösen Variationen. Alles -
der Anfang und das Ende - als in der Bibel enthalten vorausgesetzt, mußte
eben auch eine Antwort auf jegliche Frage in ihr geboten sein. Es ist nur der
Schlüssel zu finden und alle Räthsel sind gelöst. Die Personen der Bibel, die
Könige und die Patriarchen, die Helden und die Propheten, die Frauen und die
Kinder, was sie gethan und erfahren, ihr Wohl und Wehe, ihre Gedanken und
ihr ganzes Sein wurden, unbeschadet ihrer historischen Wirklichkeit, zum
Symbol und zur Allegorie.

Und was die Erzählung verschwieg, das ergänzte die Haggadah in


mannichfachen Weisen. Sie füllte diese Lücken aus, wie etwa ein
rückwärtsschauender Prophet es thun möchte; sie erklärte die Motive,
erweiterte die Erzählung, fand Beziehungen zwischen den entlegensten
Ländern, Zeitaltern und Völkern auf, oft mit schlagendem Realismus, und
schöpfte - ihrem ausschließlichen Zwecke gemäß - erhabene Lehren aus den
geringfügigsten Worten und Dingen. Alles dies geschah jedoch vermittelst
rascher und plötzlicher, uns durchaus fremdartiger Bewegungen, und daher
auch das häufige Mißverständniß ihrer seltsam phantastischen Weise.

Aeußerst seltsam in der That sind die Bewegungen dieser Prophetin des
Exils, welche erscheint, wo und wann es ihr gefällt, und ebenso plötzlich
wieder verschwindet. Wohl können wir uns die Bestürzung und Pein eines
mittelalterlichen Theologen oder selbst eines modernen Gelehrten denken,
welcher, inmitten der subtilsten Windungen einer wissenschaftlichen Debatte
im Talmud - geometrisch, botanisch, financiell, medicinisch, astronomisch,
wie sie sich um den Sabbatherweg, die Sämereien, den Zehnten, um Mitgift
oder Scheidebrief, um den Schaltmond, den Eid u. dgl. dreht - plötzlich den
Boden unter seinen Füßen wanken fühlt.

Die eben noch lauten Stimmen verhallen allgemach, Thüren und Mauern der
Akademie schwinden vor seinen leibhaftigen Augen, und herauf steigt an
ihrer Statt Rom, die Urbis et Orbis, sammt ihrem millionenstimmigen Leben.
Oder es werden die blühenden Weinberge um jene andre Hügelstadt, das
„goldne Jerusalem" selber, im Fernen sichtbar, und träumerisch wandeln
zwischen ihnen Jung- (49) frauen, weißgewandet. Bald heller, bald leiser
klingen ihre Liedergrüße herüber, wie der Rythmus ihres Reigens steigt und
fällt: - es ist der ahnungsvolle, tiefernste Versöhnungstag selbst, den in
hochpoetischem Contraste die „Rosen von Saron" zum Fest-und Freudentag
erwählt, um sich an ihm unter jenen wehenden Lilienfeldern und
rebenbekleideten Hängen zu ergehen.

Oder der Drommetenruf der Rebellion dröhnt scharf und schrill mitten in die
verwickelte Debatte hinein, und Belschazzar, dessen grauses Fest mit einer
Fülle neuer haarsträubender Schrecken neu erzählt wird, thut Dienst für Nero,
den Blutigen; oder Nebuchadnezzar, der babylonische Tyrann, sammt allen
seinen Schaaren, wird - bei Gelegenheit eines scheinbar durchaus
fernliegenden Gesetzpunktes - mit einem gellenden Fluche verflucht, -
während er für den Eingeweihten einfach Titus, diese endlich explodirte
„Wonne der Menschheit", vertritt. Sollten einmal jene Symbole und
Hieroglyphen der Haggadah völlig gelöst werden, so würden sie in der That
einen merkwürdigen Beitrag zu der ungeschriebenen Geschichte der
Menschheit bilden.

Oft, viel zu oft für die Interessen des Studiums und den Ruhm der
Menschheit, unterbricht der stetige Tritt der römischen Cohorten, das
Losungswort der Revolution, das Dröhnen und Klirren der blutigen Wahlstatt
diese Debatten - und die argumentirenden Meister und Jünger werfen sich
auf ihre Waffen und stürzen mit dem Rufe: „Jerusalem und Freiheit!" ins
Getümmel! -

Diejenigen, welche mit ungünstigem Auge auf all diese scheinbar nicht zur
Sache gehörigen Dinge schauen, wie sie die Haggadah im Talmud enthält -
die Feenmärchen und die Humoresken, die Legenden und Parabeln und jene
ganze Summe fremdartiger Dinge, wie sie sich um den Gesetzeskern
krystallisirt haben - sollten sich vor Allem einer Thatsache erinnern. So wie
diese wirre Masse jetzt vor uns liegt, stellt sie im besten Falle eine Reihe halb
zerbrochener, verstümmelter und verblaßter Lichtbilder dar, wenn auch das
was übrig geblieben, dem Original frappant gleicht. Wie der Jünger den Inhalt
einzelner Discussionen mit den Tausenden von Anspielungen ,
Reminiscenzen, Aperçus, Thatsachen, Citaten und allem Uebrigen vermengt,
in seinem Gedächtniß oder in flüchtigen Notizen behalten hatte, genau so
überlieferte er ihn, zuweilen gut, zuweilen schlecht.

Im ersteren Falle haben wir ein Gefühl, als ob wir nach langem, stillem
Sinnen es versuchten, den Lauf (50) unsrer Ideen rückwärts zu verfolgen -
und die seltsamsten Dinge, scheinbar ohne alle und jede Beziehung zu
einander, tauchen auf und verschwinden. Und doch liegt tiefe Bedeutung und,
fast möchten wir sagen, logischer Zusammenhang in ihnen. Kriechend oder
fliegend, melodisch oder mißtönig, ziehen sie uns mit sich fort.
Und der Unterschied in den talmudischen Abschweifungen ist eben der, dass
sie sich nie ins Wesenlose verlieren. Plötzlich, wenn am Wenigsten erwartet,
richtet sich die ursprüngliche Frage aufs Neue vor uns auf - diesmal begleitet
von der Antwort, aus jenen Tausenden von fremdartigen Dingen, deren
Zweck nicht immer einzusehen war, so zu sagen herausdestillirt. Im andern
Falle gleicht das Blatt einem unterbrochenen Traume, einem halb
durchschlagenden Palimpsest.

Wäre es vielleicht besser gewesen, wenn eine weise Discretion die Hand der
Redactoren geleitet hätte? Wir glauben nicht. Das kindischste, in einem
assyrischen Schutthügel entdeckte Spielzeug ist von Werth für den, der solche
Dinge versteht und der eine ganze Anzahl überraschend wichtiger Ergebnisse
daraus zu ziehen im Stande ist.

Wir werden den kurzen uns noch übrigbleibenden Raum dieser Haggadah
widmen, und um ein allgemeines Bild davon zu geben, wollen wir auf den
wohlbekannten frommen Bunyan verweisen, welcher, indem er von seinem
eignen Buche (Die Pilgerfahrt, das - mutatis mutandis - sehr haggadistisch
ist, redet, unbewußt, in seiner altväterischen Manier, die Haggadah treffend
schildert:

„Entledigest du dich der Schwermuth gern?

„Suchst heitre Laune, die von Thorheit fern?

„Liebst du's mit Räthseln auch die Lösung haben?

„Magst tief du in Betrachtung dich vergraben?

„Erfreut dich kräft'ge Speise? säh'st du nicht

"Gern einen Mann, der aus den Wolken spricht?

"Möcht'st weinen du und doch zugleich auch lachen?

"Und träumen, doch nicht schlafen und erwachen?

„Verirren dich, doch harm- und schadenfrei

"Dich wiederfinden - ohne Zauberei?

"Dich selber kennen lernen wie du bist,

"Beim Lesen, und nicht wissen, was du liest?

„Doch lesend seh'n, weil es dir tritt entgegen,

"Ob du im Segen stehst, ob nicht im Segen -


(51) „O dann komm her! - des Fragens sei's genug -

„Und leg' zusammen Haupt und Herz und Buch . . ."

Wir möchten denen keinen Vorwurf machen, welche mit der besten Absicht
in der Welt dieses ganze haggadistische Gebiet in Mißcredit gebracht haben.
Wir wundern uns wahrlich nicht, dass die sogenannten „rabbinischen
Erzählungen", die von Zeit zu Zeit vor das englische Publikum gebracht
worden, nicht immer die schmeichelhafteste Aufnahme gefunden haben. Der
Talmud, der für Alles und Jedes ein drastisches Wort hat, sagt: „Sie sind in
einen Ocean hinabgetaucht und haben eine Scherbe heraufgeholt."

Zunächst bilden diese Erzählungen nur einen kleinen Theil der großen Masse
von Allegorieen, Parabeln u. dgl., welche die Haggadah enthält. Dann waren
sie theils schlecht gewählt, theils schlecht wiedergegeben und theils gehörten
sie nicht einmal dem Talmud, sondern irgend einem neueren jüdischen
Geschichtenbuche an. Herder - um den hervorragendsten Kenner, den
Schöpfer der „Poesie der Völker" zu nennen - hat das, was er von echten
Proben gesehen, in überschwänglicher Weise gepriesen.

Und in Wahrheit ist nicht nur jene ganze Welt frommer biblischer Legende,
welche der Islam in seinen vielen Zungen, zum Ergötzen der Weisen
ebensowohl wie der Frauen und Kinder, seit nunmehr zwölf Jahrhunderten
gesagt und gesungen hat, entweder embryonisch oder völlig entwickelt in der
Haggadah zu finden, sondern auch vieles von dem, was unter uns aus den
mittelalterlichen Sagenkreisen, aus Dante, Boccacio, Cervantes, Milton
heimisch ist, bewusst oder unbewußt diesem wunderbaren Reiche entflossen.

Dass Vieles davon, selbst nach östlicher Anschauung, allzu transcendental


ist, leugnen wir nicht. Allein auch Homer und Shakespeare haben ihre
schwachen Stellen, und leider fehlt es nie an Leuten, die mit glücklichem
Instinct grade immer auf die schwächsten Seiten eines Werkes zuerst und mit
Vorliebe verfallen; - während andrerseits selbst die besten Stellen
Shakespeare's und Homers durch ungeschickte Manipulation verdorben
werden können.

Indeß sind wir sehr fern davon, eine vollständige Uebersetzung dieser
haggadistischen Leistungen anzurathen. Nichts Langweiligeres als eine
ununterbrochene Lectüre dieser Art, während gewählte Stellen selbst den
strengsten Kritiker befriedigen. Und solche Stellen, wie sie im Talmud
zerstreut liegen, sind über die Maßen köstlich und erfrischend.
(52) Es steht leider nicht in unserer Macht, an dieser Stelle auf ihre
schlagend scharfen Auslegungen, ihre glanzvollen Träume, ihre .

. . schönen alten Sagen,

Engelmärchen und Legenden,

Stille Märtyrerhistorien,

Festgesänge, Weisheitssprüche,

Auch Hyperbeln, gar possierlich,

Alles aber glaubenskräftig,

Glaubensglühend - o, das glänzt und

Quillt und sprießt so überschwänglich -,

wie das Heine ausdrückt, des Näheren einzugehen.

Es scheint uns wichtiger, die Aufmerksamkeit auf ein andres Gebiet, das der
talmudischen Metaphysik und Ethik, wie sie in der Haggadah vorliegt,
hinzulenken und, im Uebrigen auf die mancherlei bekannten und
verdienstvollen Studien auf diesem Gebiete verweisend, einen flüchtigen Blick
auf sie zu werfen.

Mit der Schöpfung anfangend, finden wir die allmähliche Entwickelung des
Kosmos vom Talmud vollständig anerkannt. Er nimmt Zerstörung nach
Zerstörung, Stufe auf Stufe an. Und in ihrer feinsinnigen Weise beziehen sich
die Meister auf den Vers: „Und Gott sah Alles, was er gemacht hatte, und
siehe, es war sehr gut", und auf den andern: „Gott schuf Alles zu seiner Zeit",
und schließen daraus: „Er schuf Welten auf Welten und vernichtete sie, eine
nach der andern, bis er diese Welt erschuf. Dann sagte er: „Diese gefällt mir,
die andern nicht;" - „zu seiner Zeit" -„es war erst jetzt an der Zeit, diese Welt
zu schaffen." Darum heißt es einfach: „Und es ward Abend", - wie vordem;
der Wechsel und die Reihe der Tagzeiten blieb wandellos von Schöpfung zu
Schöpfung, aus welcher allgemach sich unser Weltall gestaltete.

In Bezug auf den „Urstoff" merkt man eine Anlehnung an die


materialistischen griechischen Schulen der älteren Zeit. „Eines - oder drei -
Dinge waren vor dieser Welt: das Wasser, das Feuer und der Wind: das Wasser
erzeugte die Finsterniß, das Feuer erzeugte das Licht und der Wind erzeugte
den Geist der Weisheit", wie nach Sanchuniathon die phönicische Kosmogonie
Luft und Chaos als erste Prinzipien annimmt, aus denen, in liebendem
Verlangen geeint, der „Urschlamm" - die Erde - und die „Himmelswächter"
das Firmament mit seinem Lichterglanz - erwuchsen. Von dem Wie der
Schöpfung hielt sich die Speculation ehrfurchtsvoll fern.

(53) Die Mitwirkung der Engel, deren Vorhandensein von der Schrift verbürgt
war, deren volle Hierarchie jedoch erst unter persischen Einflüssen aufgebaut
worden war, wurde ausdrücklich in Abrede gestellt. In einer Erörterung über
den Tag ihrer Schöpfung kommen Aller Ansichten darin überein, dass die
Engel erst gegen das Ende der Woche erschaffen seien, „auf dass Niemand
meinen möge: Michael spannte das Firmament im Süden aus und Gabriel im
Norden." Für den gnostischen Demiurgos ("Aeon") - jenes alte
Verbindungsglied zwischen dem göttlichen Geiste und der Welt der Materie -
ist ein Prototyp im Talmud zu finden.

Was den frühen platonischen Schulen der Logos, d. h. „der Plan des Alls"
oder „die göttliche Vernunft", den späteren die „Hypostasis der Göttlichkeit"
oder allegorisch „der Sohn des Schöpfers" war, was Sirach die „Weisheit", Philo
den „göttlichen Geist" oder „Erzengel", der Targum das „Wort" (vergl. Joh. 1.
1.), die Gnostiker nachdrucksvoll die „Kraft" nennen, das nannte der Talmud
Metatron. Es ist dies ein gar dunkles Wort und hat zu mancherlei Erklärungen
Anlaß gegeben. Wir glauben indeß annehmen zu müssen, dass es weder das
römische Metator (etwa „Herold, der dem Heere voraufzieht, um ihm die
rechte Statt zu bereiten"), noch gar μετᾴϑρονος (?) ("Engel des Thrones"),
sondern der persische Mithra ist, dessen Functionen den seinen genau
entsprechen.

Die Engel, deren Namen, nach dem Talmud selbst, von den Heimgekehrten
aus Babylon mitgebracht worden, spielen nach dem Exil eine ganz andere
Rolle als vor demselben. Sie sind in der That mehr oder minder persisch, wie
es auch meistens jene Beschwörungsformeln, Zaubercuren, siderischen
Einflüsse und all die andern im Talmud enthaltenen „amoritischen" d. i.
fremdgläubigen, „heidnischen" Elemente sind. Selbst die Zahl der
Engelsfürsten ist gleich der der Amesha-Çpeñta, sieben, und ihre hebräischen
Namen und Functionen entsprechen gleichfalls so genau als möglich jenen
ihrer persischen Vorbilder, welche ihrerseits erst in unsern Tagen als rein
allegorische Bezeichnungen für die göttlichen Attribute Gottes erkannt
worden.

Indeß, so scharf auch die talmudischen Autoritäten gegen jene „heidnischen


Gebräuche", gegen die sympathetischen Curen, das Bannen der Dämonen und
all jenes Mirakelwesen - damals arg im Schwange - eiferten, so mußten sie
sich doch Selbst zu manchem Zugeständnisse in Bezug auf Engel und
Dämonen verstehen. Außer den sieben Engelsfürsten giebt es Schaaren von
dienenden Engeln - (54) die persischen Jazatas - deren doppelter Beruf es ist,
Diener Gottes und Beschützer der Menschen zu sein. In ihrer ersten
Eigenschaft werden sie täglich durch Gottes Hauch aus einem Lichtstrome
geschaffen, dessen Wogen unter dem göttlichen Throne dahinrollen.

Als Schutzengel (die persischen Fravaschis) begleiten ihrer zwei jeden


Menschen (die Römer hatten nicht zwei gute, sondern einen guten und einen
bösen Genius) und für jede neue gute That erlangt der Mensch einen neuen
Schutzengel, der für und für über seine Schritte wacht. Wenn der Gerechte
stirbt, so empfangen ihn drei Engelsschaaren. Die erste spricht (in den Worten
der Schritt): „Es komme in Frieden", die zweite nimmt den Vers auf und fährt
fort: „wer in Gerechtigkeit gewandelt" und die dritte schließt: „Er gehe ein in
Frieden und ruhe aus auf seinem Lager." Wenn der Frevler die Welt verläßt, so
empfangen ihn drei Schaaren böser Engel.

Ueberaus charakteristisch für die Tendenz des Talmud ist übrigens die
Weise, in der er diese Engel- und Dämonenlehre, wie sie das Volk zunächst
aus dem persischen, durchaus zoroastrischen Dualismus überkommen und
unter griechisch-römischen Einflüssen pantheistisch weiter entwickelt, in den
Dienst des strengsten Monotheismus zu pressen sucht. Die Engel werden ihm
einfach zu Trägern von Gedanken, Gefühlen, göttlichen Idealen.

Die Dämonen ihrerseits sind die unsichtbaren Schädiger, im Menschen mehr,


denn außer ihm. Satan (Sammael - die „Urschlange”) nimmt allerdings genau
die Stelle des „Bösen Geistes" der persischen Mythologie ein. Er ist Verführer,
Ankläger und Todesengel: allein der Talmud erklärt das Wort absolut als
„Leidenschaft", die da reizt, Gewissensbisse schafft und tödtet - und so ist
der Mythus philosophisch gelöst. Satan nimmt darum proteusartig allerlei
Gestalten an. Ihn zum „Gegner" Gottes zu machen, blieb der unchristlichen
Anschauung vorbehalten. Dem Talmud hätte dies nichts Geringeres als
Gotteslästerung geschienen.

Aehnlich verhält es sich übrigens auch mit all jenen dämonischen Gestalten,
die dem Talmnd vorzuwerfen man nimmer müde zu werden scheint - und die
sämmtlich der Zend-Avesta entnommen sind. Wir meinen die Lilith, den
Asmodeus (Aêschma), den Leviathan, den Hahn, den Stier u. dgl., die, dem
Bewußtsein des Volkes einmal eingepflanzt, von den Meistern mit feinem
Sinne verwandt wurden. Sie wurden entweder geschickt auf ihren
ursprünglichen allegorischen (55) Sinn zurückgeführt, oder es wird ihre
allegorische Natur durch ungeheuerliche Uebertreibung in so scharfes Licht
gesetzt, daß es nur wohlmeinenden Theologen hat gelingen können, ihre
Augen dagegen zu schließen.

Oder sie werden, wie ja auch jene berühmten, indischen Quellen


entflossenen, Seemärchen des Talmud zu politischen, vielleicht gar religiösen
Satyren verwandt. Nicht selten sind sie nichts als Volks- und Kindermärchen.
Und all dies hat man über ein Jahrtausend als „Religion" angeklagt und
verdammt! - Doch dies nur in Parenthese. -

Die providentielle Leitung des Weltalls liegt nach dem Talmud in Gottes
Hand allein. Wie Er alleiniger Schöpfer und höchster Richter ist, so ist auch Er
es ausschließlich , der die Geschicke bestimmt. „Jede Nation", sagt der
Talmud, „hat ihren besondern Schutzengel, ihre Horoskope, ihre Planeten und
Sterne. Israel hat keinen Stern. Israel schaut zu Ihm allein auf. Es giebt keinen
Mittler zwischen denen, die Seine Kinder genannt werden und ihrem Vater der
da ist im Himmel."

Dieses Bild von der Kindschaft ist überhaupt eines der beliebtesten und
erscheint in zahllosen Varianten. Zu den schönsten gehört wohl die
haggadistische Beantwortung der Frage, warum denn die verschiedenen
Ruhe- und Lagerstationen des Volkes auf der Wüstenreise -schon damals, wie
es scheint, gar schwer zu identificiren - mit so scrupulöser Genauigkeit in der
Schrift angegeben seien. Wozu den knappen geweihten Raum mit derlei
dunklen Namen füllen?

Man denke sich, lautet die homiletische Abweisung der naiven Volkskritik,
einen Vater, der mit seinem einzigen Sohne eine lange Reise durch Wüsten
und Meere und allerlei Fährlichkeiten unternimmt. Und der Vater, wenn er
heimkehrt, erzählt, wie an jener einen Station das Kind ihm arg erkrankt sei,
an jener andern er es einem Raubthier mit seinem eignen Leben abgerungen,
wie hier es vor Durst verschmachten wollte und wie dort ihm zuerst die
Heimathsberge in Sicht getreten und seine Seele im Tiefsten froh geworden,
und er gedenkt jedes noch so kleinen Ortes mit Namen, auf immer und alle
Zeit, und er schreibt ihn nieder zu des Kindes Gedächtniß.

Was ferner die Mittlerschaft betrifft, enthält der jerusalemische Talmud,


unter dem unmittelbaren Einfluß römischer Sitten und Gebräuche
geschrieben, die folgende Parabel: „Ein Mann hat einen Gönner „Patron". Stößt
ihm ein Unglück zu, so tritt er nicht plötzlich vor diesen seinen Patron hin,
sondern er geht und stellt sich vor die (56) Thür seines Hauses. Er frägt nicht
nach dem Gönner selbst, sondern nach dessen Lieblingssclaven oder Sohne,
der dann hinein geht und zu dem Herrn drinnen sagt: Der Mann N. N. steht
vor der Thür; soll er hereinkommen oder nicht? - Nicht also der Heilige,
gelobt sei Er. Wenn Unglück über einen Menschen kömmt, so rufe er nicht zu
Michael und nicht zu Gabriel, sondern zu Mir, und Ich will ihm schleunig
antworten, wie geschrieben steht: „Wer immer den Namen Gottes anrufen
wird, soll gerettet werden."

Zweck und Ziel der Schöpfung ist der Mensch, welcher daher zuletzt
geschaffen wurde, „als Alles zu seinem Empfange bereit war". Wenn er die
Vollkommenheit der Tugend erreicht hat, so „steht er höher als die Engel
selbst." Und ferner deuten die Meister seine Schöpfung am sechstenTage wie
folgt.

Am ersten, sagen sie, heiße es in der Schrift, erschuf der Herr Beides,
Himmel und Erde. Am zweiten schuf er am Himmel das Firmament. Am
dritten auf der Erde Gras, Kraut und Baum. Am vierten wieder am Himmel
Sonne, Mond und Sterne. Am fünften auf Erden alles Lebendige das Odem hat
und füllet die Luft und die See und das Land. Am sechsten aber schuf der
Herr den Menschen - nicht ganz vom Himmel, nicht ganz von der Erde - aber
von beiden: ein harmonisch Band zwischen Himmel und Erde. . . . Allein er
wurde auch zuletzt geschaffen - „selbst die Mücke ist älteren Hauses und
Geschlechts als der Mensch".

Er wurde ferner allein geschaffen: „dies deute dir, dass jedes einzelne
Menschenleben eine Welt aufwiegt" und dass jegliches Individuum das Recht
habe zu sagen: „die Welt ist meinetwegen erschaffen", d. h. dass die absolute
Gleichberechtigung aller Menschen sich auf der allerersten Seite der Schrift
angedeutet findet, und ferner, dass nicht Einer zum Andern spreche: „Mein
Vater war größer als der deine."

Die Pflicht der allgemeinen Menschenliebe - ohne allen und jeden


Unterschied - wird darum auch fort und fort mit Beziehung auf den
Schriftausdruck „Mensch" - „nicht Israelit, nicht Priester, nicht Leviter, sagt die
Schrift, sondern „Mensch" - urgirt. In einer Discussion über den wichtigsten
Schriftvers führt einer der Meister das ‘Du sollst deinen Nächsten lieben wie
Dich selbst' an, während der andre 'Und dies sind die Menschen-Geschlechter'
für den höchsten Ausspruch hält - nicht diese Nation und nicht jene, nicht
eine Classe oder die andere: Mensch heiße es. Sei ja die Offenbarung selbst
nicht im Dunkel und Schweigen der Nacht, (57) noch in irgend eines Volkes
Heimathstätte zu Israel gekommen - sondern in der Wüste, auf aller Völker
offener Heerstraße, im Glanze des Tages, unter Blitz und Donnerrollen, laut,
offenbar, frei, allen Menschenkindern zumal.

Doch, wird bezeichnend hinzugefügt, die erwählte Stätte war der Sinai,
dieweil er der geringsten, demüthigsten Berge einer ist, und Gottes Geist
allzeit nur auf denen ruht, die demüthigen Herzens sind. Ferner deuten die
Meister in ihrer sinnigen Weise bei der Einschärfung thätiger Liebesdienste
gegen alle Geschöpfe darauf hin, dass 'in den Wegen Gottes zu wandeln', Ihm
in seinen Werken nachzuahmen heiße: wie Er ja auf der ersten Seite des
mosaischen Buches als die Nackten (das Menschenpaar) kleidend und auf der
letzten die Todten (Moses) begrabend erscheint.

Statt aller ferneren Ausführung diene die folgende, in mehr als einer
Beziehung schlagende haggadistische Mär: Als die Aegypter in demselben
rothen Meere versunken waren, durch das die Kinder Israels eben trocknen
Fußes hindurchgeschritten, da wollten die Engel ein Siegeslied anstimmen.
Der Herr aber zürnte ihnen und sprach: 'Meine Kinder liegen im Meeresgrund
begraben und ihr fingt Siegeslieder? . . .'

Derselben Anschauungsweise von der radikalen Gleichheit aller Menschen,


so sie sich nur gewissen unerläßlichen Fundamentalbedingungen
menschlicher Cultur (den sogenannten sieben Grundgesetzen der Söhne
Noah's) unterordnen, entspricht auch consequenterweise die Abneigung des
Talmud gegen alle und jede Proselytenmacherei. Wer immer sich vom
Götzendienste frei halte, sei, sagt der Talmud ausdrücklich, ipso facto ein
Jude, möge er nur des Uebrigen seinem Hause und seiner Sippe treu bleiben.

Wie immer der bekannte Ausspruch des N. T. vom 'Land und See-Umfassen
eines Proselyten wegen' aufzufassen oder mit dem Sachverhalt in Einklang zu
bringen sein möchte, unleugbare Thatsache bleibt die große Masse von
Schwierigkeiten, die dem Täufling abschreckungshalber in den Weg zu legen
geboten werden - ganz abgesehen davon, dass solche, die aus Furcht oder
aus Gewinnsucht oder aus Liebe zu Mann oder Weib durch die Taufe in das
Judenthum einzugehen wünschen (denn die Taufe ist jüdisch), ohne Weiteres
abzuweisen sind.

Ans Ueberschwengliche fast streift die Liebe zu den 'Kleinen'. Wo die Schrift
von ' Blumengärten an Bächen' redet, da wird (58) das Wort auf die Kinder
und ihre Schulen gedeutet. Sie sind die 'Gesalbten Gottes', wie ihre Lehrer
bald 'Sterne', bald 'Propheten' genannt sind. Da Gott das Gesetz geben wollte,
fragte er das Volk, welche Bürgen sie ihm für dessen Heilighaltung stellen
könnten. Und sie wiesen auf Abraham, ihren Vater. 'Er hat gesündigt'. Auf
Isaak, Jakob - Moses selbst; ' Sie haben alle gesündigt'. Und sie sprachen: 'So
mögen unsere Kinder Bürgen für uns sein!' Und der Herr nahm sie an, wie
geschrieben steht: 'Auf das Lallen der Säuglinge hat Er Sein Reich gegründet'.
Nicht minder jedoch ist die Lehre des Pentateuchs von der Verehrung des
'grauen Hauptes' scharf betont. Nicht die neuen Gesetz-Tafeln allein, sondern
auch die von Moses zerbrochenen und unnütz gewordenen seien treu in der
Bundeslade aufbewahrt worden.

Wunder werden vom Talmud - etwa wie alle Bewegungen unseres Körpers
von Leibnitz - als nur durch eine Art „prästabilierter Harmonie „ möglich
betrachtet, d. h. der Lauf der Schöpfung wurde durch sie nicht zerstört,
sondern sie waren vom Urbeginn an. Sie wurden am Ende aller Dinge im
Abend-Dämmer des sechsten Tages „geschaffen". Zu diesen Wundern indeß -
und dies wird unsere Paläographen interessiren - gehört auch die
Schreibkunst, eine Erfindung, ans Wunderbare grenzend.

Die Schöpfung nebst diesen sogenannten Ausnahmen einmal festgestellt -


und nichts konnte in ihr verändert werden. Aussprüche ferner wie 'Was da
war, das war', - 'Das Wunder (?), das Esther widerfahren, war der Wunder
letztes' (und sie wird darum auch mit Beziehung auf den bekannten Psalm
'Hindin der Morgenröthe' genannt, weil es mit ihr Tag geworden), - 'Die
Heilung eines Kranken ist ein größeres Wunder als das der Männer im
Feuerofen', -'Wem ein Wunder geschieht, der weiß es oft selbst nicht', -
'Wahrung vor Sünde ist ein Wunder', -'Begieb dich nicht in Gefahr, nicht jeden
Tag geschehen Wunder', kennzeichnen die talmudische Sprech- und
Denkweise im Ganzen und Großen zur Genüge.

Die Naturgesetze wirken eben in unveränderlicher Kraft fort, wie viel Uebel
auch daraus erwachse. „Diese Gottlosen machen nicht nur meine Münze
gemein", sagt die Haggadah in Bezug auf die Fortpflanzung der Frevler und
ihrer Sippe, alle das göttliche Menschenantlitz tragend, „sondern sie zwingen
mich selbst falsche Münze mit meinem eigenen Stempel zu prägen".

Die Lehre von der Seele mahnt scharf an die Anschauungen der (59)
hellenischen Schulen. Namentlich schimmert die platonische Idee von der
Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Seele (als eines Denkenden) im
Gegensatz zum Körper stark durch, nur fehlt dem Talmud die Anschauung
eines „Dritten", die sich durch Plato's System hindurchzieht. Die Seele als
solche ist präexistirend, und alle Seelen, die je mit Körpern vereinigt werden
sollen, sind ein- für allemal geschaffen - vom ersten Moment der Schöpfung
an in guter Hut unter dem göttlichen Throne geborgen. Als Geschöpfe der
höchsten Reiche ist ihnen nichts verhüllt; in der Stunde aber, wo sie im
menschlichen Körper geboren werden, berührt ein Engel des Kindes Mund,
das Alles vergißt, was gewesen. Der Vergleich zwischen Gott und der Seele
hat einen fast pantheistischen Anstrich.

"Wie Gott das ganze Weltall erfüllt", sagt die Haggadah, „so erfüllt die Seele
den ganzen Körper; wie Gott sieht und nicht gesehen wird, so sieht die Seele
und wird nicht gesehen; wie Gott das ganze Weltall nährt, so nährt die Seele
den ganzen Körper; wie Gott rein ist, so ist die Seele rein."

Diese Reinheit wird im Gegensatz zur Theorie von der Erb-Sünde, welche
scharf verneint wird, besonders betont. „Es giebt keinen Tod ohne individuelle
Sünde, keinen Schmerz ohne individuelle Uebertretung. Derselbe Geist, der in
der Schrift aussprach: „Und Eltern sollen nicht für ihre Kinder, noch Kinder für
ihre Eltern sterben", hat bestimmt, dass „Niemand für eines Andern
Uebertretungen bestraft werde".

Bei Verurtheilung der Sünde wird der Animus vor Allem in Erwägung
gezogen, wie selbst der Wunsch, das Laster auszuüben, für frevelhafter
gehalten wird als das Laster selbst. - Die Seele ist Gottes Tochter und ihr wird
darum, wie es in der Schrift heißt, „auf Erden nie genug." Sie denkt stets jener
Sphären und härmt sich ob ihres irdischen Exils. Sie ist es auch, die der
Menschen Tugenden und Fehle zu Gottes Kunde bringt, und ihrer wie ihrer
Hülle harrt Lohn und Strafe.

Die Gottesfurcht oder ein tugendhaftes Leben, ausschließlich Zweck und Ziel
des Daseins, liegt gänzlich in des Menschen Hand. „Alles ist in Gottes Hand,
außer der Furcht Gottes." Allein „eine Stunde der Reue ist besser als die ganze
zukünftige Welt". Jedem menschlichen Wesen ist in dieser Hinsicht völlige
Freiheit gewährt, obschon die Hilfe Gottes zur Erreichung jenes Ziels nöthig
ist.

Gottes Name ist unaussprechlich ; es giebt aber viele Bezeichnungen, die


seine Eigenschaften andeuten, wie: der „Barmherzige", (60) Rachman - „Allah,
der Barmherzige, Rahman", wie ihn Mohammed nennt - der „Heilige", der
„Raum", die „Himmel", der „Herr", das „Wort", die „Kraft", der „Name", „unser
Vater im Himmel", der „Allmächtige", die „Schechinah" oder „heilige
Gegenwart".

Das in verschiedenen Theilen des Alten Testaments dunkel angedeutete


Dogma der Auferstehung und Unsterblichkeit ist vom Talmud fixiert und auf
mehrere biblische Stellen zurückgeführt und in ihnen begründet worden. Das
Verhältniß dieser Welt zur künftigen wird durch mannichfache Gleichnisse
angedeutet. Diese Welt verhält sich zur nächsten als eine „Prosdora": „Bereite
dich im Vorsaal vor, damit du in den Palast eingelassen werden mögest",
oder: „Diese Welt gleicht einer Herberge am Wege; die künftige aber ist das
rechte Daheim."

Die Gerechten werden als sich vervollkommnend und fort und fort ihre
höchsten Fähigkeiten selbst in der nächsten Welt entwickelnd dargestellt; „für
die Gerechten giebt es keine Ruhe, weder in dieser Welt noch in der nächsten;
denn sie schreiten, sagt die Schrift, von „Heer zu Heer", von Streben zu
Streben fort: „sie werden Gott in Zion sehen."

Wie alle ihre Thaten und die Stunde, in welcher sie begangen worden, dem
Blick der heimgegangenen Seele enthüllt werden, die Schrecken des Grabes,
das Zurückwälzen nach Jerusalem am Tage der großen Posaune, brauchen wir
hier nicht im Einzelnen zu erzählen. Diese halb metaphysischen, halb
mystischen Speculationen sind durchaus in der Manier der poetischeren
älteren Kirchenväter und der Bunyans, Miltons, Klopstocks späterer Zeiten.
Nur dass die Gluth der Phantasie und die Gedrängtheit der Sprache, in
welcher sie meistens im Talmud erzählt werden, vortheilhaft von dem
Wortschwall der Späteren abstechen. Die Auferstehung vermittelst der
mystischen Kraft des „Lebensthaues" wird in Jerusalem - auf dem Oel-Berge -
stattfinden.

Der Talmud kennt keine ewige Verdammniß. Selbst für die schlimmsten
Sünder giebt es nur eine vorübergehende Strafe. „Geschlechter auf
Geschlechter" soll die Verurtheilung der Götzendiener, Abtrünnigen und
Verräther dauern. Es ist aber nur ein Raum von „zwei Fingern" Breite zwischen
der Hölle und dem Himmel; der Sünder braucht nur aufrichtige Reue zu
empfinden und die Pforten der ewigen Seligkeit werden sich ihm öffnen. Kein
menschliches Wesen ist von der künftigen Welt ausgeschlossen.

Ein Jeder, (61) weß Glaubens oder welcher Nation immer, so er der
Gerechten einer ist, wird darin eingehen. Die Strafe der Gottlosen ist nicht
näher angegeben, wie in der That alle Schilderungen des Jenseits in
zweifelhaftem Dämmer gelassen sind; nur dass in Betreff des Paradieses die
Idee von unbegreiflich Herrlichem sich auf jedem Schritte darstellt. Die Stelle:
„Auge hat nicht gesehen, noch hat Ohr vernommen" wird auf dessen
unsagbare Seligkeit angewandt. „Im Jenseits ist nicht Speise, nicht Trank,
nicht Liebe und nicht Arbeit, nicht Neid, nicht Hass, nicht Zwist. Die
Gerechten sitzen mit Kronen auf ihren Häuptern, sich sonnend am Glanze der
Majestät Gottes."

Das Wesen der Prophezeihung giebt Anlaß zu mancherlei Betrachtungen. Ein


entscheidender talmudischer Ausspruch lautet dahin, dass Gott seinen Geist
nur auf einem starken, weisen, reichen und demüthigen Manne ruhen lasse.
Stark und reich wird in der Mischnah auf folgende Weise erklärt: „Wer ist
stark? Der, welcher seine Leidenschaft beherrscht. Wer ist reich? Der, welcher
mit seinem Loose zufrieden ist."

Es giebt verschiedene Grade unter den Propheten. Moses sah Alles in


Klarheit; die andern Propheten wie durch ein dunkles Glas (speculare) (nicht
„Spiegel" wie Luther u. A. vergl. 1.Kor. 13. 12.). Oder: Alle Propheten
schauten wie durch einen Schleier (velum), Moses allein 'von Angesicht zu
Angesicht' - in lichter Anschauung. Ezechiel und Jesaias sagen das Nämliche,
allein Ezechiel sagt es wie ein Dörfler, Jesaias wie ein Städter. Des Propheten
Wort soll in Allem befolgt werden, es sei denn dass er Götzenverehrung
befiehlt, und sollte er dann als Bürgschaft für seine Sendung „selbst der
Sonne Stillstand gebieten können."

Die Vorstellung, dass Elias oder Moses in Wirklichkeit „zum Himmel"


aufgestiegen seien, wird durchaus abgewiesen, ebensowohl, dass die Gottheit
mehr als „zehn Hände" breit vom Himmel herabgestiegen sei.

Der „heilige Geist" ist ein stehender Ausdruck des Talmud, wie
„Himmelreich". In welcher Weise indeß die talmudische Auffassung des Wortes
von der späteren, concreteren des Christenthums abweicht, erhellt am besten
aus Stellen wie den folgenden. „Mit zehn Namen ist der 'heilige Geist' in der
Schrift benannt, nämlich: - Parabel, Gleichniß, Räthsel, Rede, Spruch,
Abglanz, Befehl, Gesicht, Prophezeihung, Vision": - das der Begeisterung
entströmende Wort. Oder (und dies scheint der einzige Ueberrest essäischer
Literatur) die Stufenleiter menschlicher Vervollkommnung wird als beginnend
mit dem „Gesetze" dargestellt. Dieses (62) führt, allmählich aufschreitend von
den verschiedenen Graden körperlicher und geistiger Reinheit zur
Frömmigkeit hin, von Frömmigkeit zur Demuth, von Demuth zur
Sündenfurcht, von dieser zur Heiligkeit und endlich zum „heiligen Geist"
selbst. Dieser leitet zur Auferstehung hin.

Höchst bezeichnend für die Meister ist übrigens die


Meinungsverschiedenheit, die sich in Folge der betreffenden Stelle im Talmud
kundgiebt. Höher selbst als die letztgenannten Grade stehe die wahre
Frömmigkeit des Herzens, so lautet die eine Ansicht, während die andere
dafür hält und aus der Schrift beweist, daß Demuth höherstehe als selbst
diese und als der „heilige Geist".

Ein wissenschaftliches System der Ethik besitzt und kennt der Talmud nicht.
Allein es läßt sich seine „Moral" am besten aus jener „kleinen Münze", den
volksthümlichen und markigen Sprüchen, Gnomen, Sentenzen u. dgl., -
welche noch besser als Volkslieder eine Zeit kennzeichnen, - herauslesen. Mit
diesen wollen wir schließen. Wir hielten es für besser, sie aufs Gerathewohl,
wie wir sie eben fanden, zu geben, anstatt unsrerseits ein System der „Ethik"
oder „Herzenspflichten" aus ihnen aufzubauen.

Das Eine nur möchten wir hinzufügen - eine Bemerkung, die nicht ganz
überflüssig sein dürfte - daß die folgenden Proben, sowie alle in dieser Studie
enthaltenen Citate von uns so wörtlich als immer möglich aus dem Talmud
selbst übertragen worden sind. *)

*) (d.h. ins Englische, aus dem vorliegende Uebersetzung geflossen.) Anm. d.


Ueb.

Daß es uns übrigens nicht im Entferntesten in den Sinn kommen konnte,


Parallelen zwischen dem Talmud und dem Neuen Testament, - dem Ocean
und dem Binnensee - wie sie sich auf Schritt und Tritt darbieten, zu suchen
oder ihnen aus dem Wege zu gehen, brauchen wir kundigen Lesern wohl
kaum besonders zu erklären. - Ebensowenig warum wir ihrem gesunden
Menschenverstande durch ernsthafte Erörterungen einer sogenannten
'Prioritätsfrage' - wie sie wohl noch hie und da in obscuren Regionen
herumspuken mag - kein testimonium paupertatis ausstellen mögen.

Nur daran möchten wir erinnern, daß gewisse gar häufig als specistsch
christlich citirte neutestamentliche Stellen, wie das ' Segnet die, so euch
fluchen, thuet Gutes denen, die euch hassen' u. s. w. in den maßgebenden
Manuscripten des N. T. nicht existiren, weder im Codex Sinaiticus, noch im
Vaticanus, beide aus dem vierten Jahrhundert, wohl aber im Talmud in
zahllosen Varianten zu finden sind.
(63) „Sei du der Gefluchte, nicht der Flucher. Sei du von denen, die da
verfolgt werden, nicht von denen, die da verfolgen. Nimm dir ein Beispiel an
der Schrift: Es giebt keinen Vogel, der mehr von Häschern geängstigt würde
als die Taube; doch hat sie Gott erwählt, auf seinem Altar geopfert zu
werden. Der Stier wird vom Löwen verfolgt, das Schaf vom Wolf, die Ziege
vom Tiger. Und Gott sprach: „Bringt mir ein Opfer, nicht von denen, die da
verfolgen, sondern von den Verfolgten".

- „Wir lesen ferner in der Schrift, daß, so lange Moses im Kampfe mit Amalek
seine Arme emporhielt, Israel obsiegte. Haben etwa Mosis Hände den Krieg
geführt oder den Krieg gebrochen?

- Dies deute dir vielmehr, daß, so lange Israel aufblickt und sein Herz
demüthigt vor seinem Vater im Himmel, es obsiegen wird, wo nicht, so wird
es fallen. „ „Ebenso findest du: „Und Moses machte eine eherne Schlange und
setzte sie auf eine Stange, und es geschah, wenn eine Schlange Jemanden
gebissen hatte, und er schaute auf zu der ehernen Schlange, so blieb er am
Leben."

- Meinst du etwa, eine Schlange tödte oder mache lebendig? Dies deute dir
vielmehr: So lange Israel zu seinem Vater im Himmel aufblickt, wird es leben;
wo nicht, wird es untergehen."

- „Hat Gott Gefallen am Fleisch und Blut der Opfer?" fragt der Prophet. Nein,
er hat sie nicht sowohl verordnet, als gestattet. Es ist für euch, daß ihr opfert,
nicht für mich, spricht er. Gleich einem König, der seinen Sohn täglich mit
allerlei bösen Gesellen zechen sieht: Iß und trink du fortan an meiner eigenen
Tafel, ganz nach deinen eigenen Gelüsten, sagt er endlich zu ihm. Sie
opferten Dämonen und Teufeln, denn sie liebten das Opfern und vermochten
es nicht zu entbehren. Und der Herr sprach: „Bringet eure Opfer mir dar, ihr
werdet dann zum Wenigsten dem wahren Gotte opfern".

- „Die Schrift befiehlt, daß das Ohr des hebräischen Sclaven, welcher seine
Knechtschaft „liebt", an der Thürpforte durchbohrt werde. Warum? weil es
daßelbige Ohr ist, welches am Sinai vernommen hat: „Sie sind meine Diener,
sie sollen nicht als Leibeigene verkauft werden" - sie sind meine Diener, nicht
Diener von Dienern. Und dieser Mann wirft freiwillig seine Freiheit von sich -
durchbohrt sein Ohr!"

- „Der, welcher ein Ganzopfer darbringt, dessen Lohn wird gleich sein dem
eines Ganzopfers; wer ein Brandopfer darbringt, dessen Lohn ist der Lohn
eines Brandopfers; aber dem, welcher Gott und Menschen Demuth darbringt,
wird mit einem (64) Lohne gelohnt werden, als hätte er alle Opfer der Welt
dargebracht."

- „Das Kind liebt seine Mutter mehr als den Vater. Es fürchtet den Vater
mehr als die Mutter. Sieh, wie die heilige Schrift den Vater der Mutter voran
gehen läßt in dem Gebote: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben",
und die Mutter dem Vater, da, wo es heißt: „Ehre deine Mutter und deinen
Vater."

- „Segne Gott für das Ueble, wie für das Gute."

- „Wenn du von einem Tode hörst, so sprich: „Gebenedeit sei der gerechte
Richter."

- „Selbst wenn die Pforten des Gebets im Himmel geschlossen sind, die der
Thränen bleiben stets offen."

- „Das Gebet ist Israels einzige Waffe, eine Waffe, von seinen Vätern ererbt,
gefeit in zahllosen Kämpfen".

- „Wenn der Gerechte stirbt, so ist es die Erde, die verliert. Der verlorne
Juwel bleibt stets ein Juwel, der aber, der ihn verloren hat - wohl mag er
hingehen und weinen".

- „Das Leben ist ein flüchtiger Schatten, sagt die h. Schrift. Ist es der
Schatten eines Thurmes, eines Baumes? Ein Schatten, der eine Zeit lang weilt?
Nein, es ist der Schatten eines Vogels in seinem Fluge - hinweg fliegt der
Vogel, und es bleibt weder Vogel noch Schatten. „

- Thue Buße einen Tag vor deinem Tode. Es war einmal ein König, der alle
seine Diener zu einem großen Mahle lud, die Stunde aber nicht angab: Die
Einen gingen heim und legten ihre besten Gewänder an und stellten sich vor
die Thür des Palastes; die Anderen sagten: Es ist Zeit genug, der König wird
es uns vorher wissen lassen. Der König aber entbot sie plötzlich, und die
Klugen, welche sich in ihren besten Gewändern vorstellten, wurden gut
aufgenommen, die Thörichten aber in ihren Alltagsgewändern wurden
schmählich fortgewiesen: gehe du heute in dich; du möchtest morgen schon
abberufen werden.

- Ziel und Zweck aller Weisheit sind Reue und gute Werke.

- Selbst den Gerechtesten wird im Himmel kein so hoher Platz werden als
den wahrhaft Reuigen.

- Der Lohn der guten Werke ist gleich Datteln: spät reifend, aber süß.
- Der letzte Segen eines Weisen an seine Schüler war: Ich bete für euch, daß
ihr den Himmel eben so sehr fürchten möget wie den Menschen. Ihr
vermeidet die Sünde im Angesicht der letzteren: vermeidet sie im Angesicht
des Allsehenden.

- „Wenn euer Gott den Götzendienst haßt, warum zerstört er ihn nicht?"
fragte ein Heide. Und man antwortete ihm: Siehe, sie beten die Sonne, den
Mond, die Sterne an; möchtest du, daß er diese schöne Welt um der Thoren
willen zerstöre?

- Wenn euer Gott ein „Freund der Armen" ist, fragte ein Andrer, warum hilft
er ihnen nicht? Die Fürsorge für sie, antwortete ein Weiser, ist uns überlassen,
auf daß wir dadurch Verdienste und Verzeihung unsrer Sünden erlangen
mögen.

- Was für ein Verdienst das wohl ist! entgegnete Jener; denke dir, ich zürnte
einem meiner Sclaven und verböte ihm Speise und Trank, und es ginge Einer
hin und gäbe es ihm verstohlenerweise, würde mir das wohl gefallen? Nicht
also, erwiederte der Andere. Angenommen, du zürntest deinem eigenen
Sohne und schlössest ihn ohne Nahrung ein, und ein guter Mensch hätte
Mitleid mit dem Kinde und erlöste es vom nagenden Hunger, würdest du dem
Manne so gar sehr zürnen? Und wir, wiewohl wir Diener Gottes genannt
werden, heißen auch seine Kinder.

- Der, welcher mehr Wissen besitzt als gute Werke, ist gleich einem Baume
mit vielen Zweigen, aber wenig Wurzeln, welchen der erste Windstoß auf sein
Antlitz wirft; der aber, dessen Werke größer sind als sein Wissen, gleicht
einem Baume mit vielen Wurzeln und wenigen Zweigen; alle Winde des
Himmels vermögen nichts gegen ihn.

- „Liebe deine Frau wie dich Selbst, ehre sie mehr als dich Selbst.

- Wer unbeweibt lebt, der lebt ohne Freude, ohne Trost, ohne Segen.

- Steige eine Stufe hinab, wenn du eine Gattin wählst.

- Ist dein Weib klein, so bücke dich nieder zu ihr und flüstere ihr ins Ohr.

- Wer die Liebe seiner Jugend verläßt: um ihn weint der Altar Gottes.

- Der, welcher seine Gattin vor sich sterben sieht, ist gleichsam bei der
Zerstörung des Heiligthums selbst zugegen gewesen, - um ihn wird die Welt
dunkel.

- Durch die Frau allein wird Gottes Segen einem Hause gewährt. Sie lehret
die Kinder, fördert des Gatten Besuch im Gottes- und Lehrhaus,
bewillkommnet ihn, wenn er heimkehrt, hält das Haus fromm und rein, und
Gottes Segen ruht auf all diesen Dingen.

- Der, welcher um Geldes Willen heirathet, dessen Kinder werden ein Fluch
für ihn sein.

- Das Haus, welches sich nicht den Armen öffnet, wird sich dem Arzte
öffnen.

- Selbst die Vögel in der Luft verachten den Geizhals.

- Wer im Verborgenen Almosen giebt, ist größer als Moses selbft.

- Ehre die Söhne der Armen; von ihnen geht die Wissenschaft aus.

- Deines Nachbars Ehre sei dir ebenso werth wie deine eigene. Lasse dich
lieber in einen glühenden Ofen werfen, als daß du Jemanden öffentlich
beschämtest.

(66) - Die Gastfreundschaft ist der wichtigste Theil des thätigen


Gottesdienstes.

- Es giebt drei Kronen: die des Gesetzes, die der Priesterschaft und die des
Königthums ; die Krone eines guten Rufes aber ist größer denn sie alle.

- Das Eisen bricht den Stein, das Feuer schmilzt das Eisen, das Wasser löscht
das Feuer, die Wolken tragen das Wasser, der Sturm verjagt die Wolken, der
Mensch widersteht dem Sturme, die Furcht entmannt den Menschen, der Wein
verscheucht die Furcht, der Schlaf vertreibt den Wein und der Tod nimmt
Alles hinweg - selbst den Schlaf. Salomon der Weise aber spricht:
Mildthätigkeit rettet vom Tode.

- Wie kannst du der Sünde entrinnen? Denke an drei Dinge: woher du


gekommen, wohin du gehest, und wem du Rechenschaft von all deinen
Thaten abzulegen haben wirst: dem König der Könige, dem Allheiligen,
gepriesen sei er.

- Vier werden nicht ins Paradies eingehen: der Spötter, der Lügner, der
Heuchler und der Verleumder.

- Verleumden ist morden.

- Der Hahn und die Eule harren beide des Tageslichts. Das Licht, sagt der
Hahn, bringt mir Freude, doch du, wozu dir das Licht?

- Wenn der Dieb keine Gelegenheit zum Stehlen hat, so hält er sich für einen
ehrlichen Mann.

- Wenn deine Freunde dich einmüthig einen Esel heißen, so geh hin und lege
dir einen Sattel auf.

- Dein Freund hat einen Freund, und deines Freundes Freund hat einen
Freund: sei verschwiegen.

- Der Hund läuft dir wegen der Brosamen in deiner Tasche nach.

- In wessen Familie Einer gehängt worden ist, der sage nicht zu seinem
Nachbar: Bitte, hänge diesen kleinen Fisch für mich auf.

- Das Kameel wollte Hörner haben, und man schnitt ihm auch die Ohren ab.

- Die Söldner kämpfen, und die Könige sind die Helden.

- Der Dieb ruft beim Einbruch Gott an.

- Eine sechzigjährige Frau läuft der Musik ebenso nach wie ein sechsjähriges
Kind.

- Dem Diebe läuft der Diebstahl nach, dem Bettler die Armuth.

- Dieweil dein Fuß beschuht ist, zertritt den Dorn.

- Wenn der Ochs darniederliegt, giebt es der Metzger viele.

- Steige eine Stufe hinab, wenn du eine Gattin, steige eine hinauf, wenn du
einen Freund wählst.

- Hast du etwas Uebles an dir, so sage es nur selbst.

- Glück macht reich, Glück macht weise.

- Schlage die Götter, und die Priester werden zittern.

- Gäbe es keine Leidenschaften, so würde Niemand ein Haus bauen, ein


Weib nehmen oder irgend welche Arbeit verrichten.

- Die Sonne wird schon allein untergehen, ohne deinen (67) Beistand.

- Die Welt könnte nicht gut ohne Gewürzhändler und ohne Gerber
fortkommen: aber wehe dem Gerber! Heil dem Gewürzhändler!

- Narren sind kein Beweis.

- Niemand ist für Worte, die er im Schmerz ausstoßt, verantwortlich.

- Einer spricht das Tischgebet, der Andere ißt.

- Der, welcher schamhaft ist, wird nicht leicht sündigen.


- Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, der sich vor sich selbst
schämt, und dem, welcher sich bloß vor Andern schämt.

- Es ist ein gutes Zeichen für einen Menschen, wenn er sich schämen kann.

- Eine Zerknirschung des Herzens ist besser denn viele Geißelungen.

- Waren unsre Ahnen den Engeln gleich, so sind wir nur Menschen; waren
unsre Ahnen Menschen, so sind wir Eseln gleich.

- Wohne nicht neben einem frommen Narren.

- Wenn du dich hängen willst, so wähle einen hohen Baum.

- Iß lieber Zwiebeln und sitze im Schatten, als Gänse und Geflügel, wenn das
deinem Herzen Unruhe verursacht.

- Ein kleiner Stater (Münze) in einem großen Kruge macht einen gewaltigen
Lärm.

- Eine Myrte bleibt selbst in der Wüste eine Myrte.

- Fällt der Krug auf den Stein, wehe dem Krug; fällt der Stein auf den Krug,
wehe dem Krug; was immer geschehe, wehe dem Krug.

- Selbst wenn der Stier sein Haupt tief im Troge hat, eile aufs Dach und
ziehe die Leiter hinter dir nach.

- Erwirb deinen Lebensunterhalt damit, daß du Aesern auf der Straße die
Haut abziehest, wenn es nicht anders sein mag, aber hüte dich wohl zu
sagen: ich bin ein Priester, ich bin aus edlem Geblüt - diese Arbeit ziemt
meiner Würde nicht.

- Jugend ist ein Kranz von Rosen, Alter eine Dornenkrone.

- Benütze eine edle Vase, sei es auch nur für einen Tag: - mag sie morgen
zerbrechen.

- Der letzte Dieb wird zuerst gehängt.

- Lehre deine Zunge sagen: ich weiß nicht.

- Das Herz unsrer ersten Ahnen war weit wie die weiteste Tempelpforte, das
der späteren, wie das der nächst weiten; das unsre ist gleich dem Oehr einer
Nadel.

- Trinke nicht, so wirst du nicht sündigen.

- Nicht was du selbst über dich sagst, sondern was Andere sagen.
- Nicht die Stelle ehrt den Mann, sondern der Mann die Stelle.

- Katze und Maus schließen über einem Aase Frieden.

- Ein Hund von seiner heimathlichen Hütte entfernt, wagt es sieben Jahre
lang nicht zu bellen.

- Der, welcher täglich seine Besitzungen besichtigt, findet jedesmal eine


kleine Münze.

- Der, welcher sich demüthigt, wird erhoben werden; der, welcher sich
erhebt, wird gedemüthiget werden.

- (68) Wer der Größe nachläuft, vor dem flieht die Größe; wer die Größe
flieht, dem folgt sie nach.

- Der, welcher seinen Zorn überwindet, dessen Sünden werden ihm


vergeben werden.

- Wer nicht verfolgt die da ihn verfolgen, wer eine Kränkung still hinnimmt,
wer Gutes thut aus Liebe, wer getrost ist in seinem Leid - das sind Gottes
Freunde und von ihnen sagt die Schrift: Und sie werden leuchten gleich der
Sonne in ihrer Stärke.

- Begehe eine Sünde zweimal und sie wird dir erlaubt dünken.

- Wenn das Ende eines Menschen gekommen ist, hält sich Jeder zu seinem
Herrn berufen.

- Da unsere Liebe heiß war, fanden wir Raum auf der Scheide eines
Schwertes; nun sie erkaltet ist, ist ein sechzig Ellen breites Lager uns zu eng.

- Es sagt ein Galiläer: Wenn der Hirt seiner Heerde zürnt, so setzt er einen
blinden Leithammel über sie."

- „Der Tag ist kurz und der Arbeit ist viel, doch die Werkleute sind träge, ob
auch der Herr des Werkes dränge. Es liegt dir nicht ob das Werk zu vollenden:
doch darfst du dich ihm auch nicht entziehen. Hast du viel gethan, so wird
dein Lohn groß sein, denn der Meister deines Werkes ist gewissenhaft in
seiner Lohnung. Doch wisse, daß der wahre Lohn nicht von dieser Welt ist. . .
."

Feierlich, als Mahnung und als Trost, klingt uns das Wort: „Es liegt dir nicht
ob, das Werk zu vollenden." -

Wenn die Meister des Gesetzes ins Lehrhaus eingingen oder daraus
hervortraten, pflegten sie ein kurzes, inbrünstiges Gebet zu sprechen, -
dankend, „daß es ihnen vergönnt gewesen, ihr Werk bis dahin zu führen",
betend, „daß kein Unheil ihrer Hand entsprieße, daß sie nicht in Irrthum
gefallen seien, daß sie nicht rein erklärt was unrein, unrein was rein; und daß
ihr Wort und ihre That vor Gott und Menschen ein Wohlgefallen sei...."

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