Der Spiegel - 15 06 2019 PDF

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Nr. 25 / 15.6.2019
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Weniger Gefühl, mehr Politik –


wie sich die Grünen auf die Macht vorbereiten
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Charlotte Roche Joachim Gauck LITERATUR SPIEGEL


Ehe, Sex und »Ich hätte nicht gekonnt, Die Bücher
andere Probleme was Angela Merkel konnte« des Sommers
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UND

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Utz Claassen, Schicksale, katholische Kirche, Kommunen

Der Manager Utz Claassen gilt als schwieriger Charakter, als Mann mit überdimen-
sioniertem Ego und manchmal rustikalem Auftreten. Das bekamen auch die Redak-
teure Michaela Schießl und Frank Dohmen zu spüren, als sie die Geschichte um sein
Medizin-Start-up recherchierten. Claassen plant mit der Firma, die Implantate her-
stellt, den Börsengang. Die Journalisten fanden heraus, dass die Idee zum Produkt
nicht von ihm stammt; dass vielen Ärzten die Schrauben aus Claassens Haus suspekt
sind. Und dass das Unternehmen mit der millionenschweren Klage eines ehemaligen
Großinvestors kämpft. Zehn Stunden lang sprachen Schießl und Dohmen mit Claassen.
»Er war hochemotional, hielt lange Monologe«, sagt Dohmen. »Claassen fühlt sich
von bösen Mächten umzingelt, zu denen er auch den SPIEGEL zählt.« Seite 62

Wer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, hat


eine Überlebenschance von zwei Prozent. »Zu
diesen zwei Prozent gehöre ich nicht«, sagt der
FDP-Bundestagsabgeordnete Jimmy Schulz. Er
SLAVICA / DER SPIEGEL

hat eine Patientenverfügung geschrieben und sein


Testament gemacht. Die Redakteure Christoph
Schult und Severin Weiland trafen den 50-jährigen
Politiker in München zu einem Gespräch über das
Sterben, den Tod und den Umgang der Kollegen
Schult, Schulz, Weiland mit seinem Schicksal. Neulich zum Beispiel er-
tappte ihn Fraktionschef Christian Lindner beim
Rauchen, Jimmy Schulz meint dazu: »Na und? Ich hab ein Dreivierteljahr nicht
geraucht. Und die Ärzte haben gesagt, ich soll machen, was mir Spaß macht.« Schult
und Weiland waren beeindruckt von der Klarheit, mit der er die Krankheit angenom-
men hat. »Schulz nimmt jeden Tag ein wenig Abschied«, sagt Schult. »Man hatte das
Gefühl, auch das Gespräch ist Teil des Abschiednehmens.« Seite 54

In Indien ist ein katholischer Bischof angeklagt, Ein Leben


über Jahre eine Nonne missbraucht zu haben.
Dass es wohl zum Prozess kommt, ist das voller Liebe, Mut &
Werk von fünf Mitschwestern der Nonne: Die
gingen für sie auf die Straße und zettelten ei- Gemeinschaft.
nen Protest an. Hunderte Demonstranten folg-
ten ihnen, erzeugten Aufmerksamkeit. Maria
Stöhr hat die Zentrale dieser Rebellion be-
sucht, ein kleines Missionshaus, knapp zwei Stöhr, indische Ordensschwestern
Stunden mit dem Auto von der Großstadt
Kochi entfernt. Dort lebt die Nonne mit ihren fünf Unterstützerinnen – seit einem
Jahr unter Polizeischutz. Stöhr sagt: »Die Schwestern kämpfen für eine Kirche, in
der Frauen mehr Rechte haben.« Seite 84
MATTHIAS FERDINAND DÖRING

Wochenlang versuchte Christopher Piltz, einen Ter-


min bei Josef Rüddel zu bekommen, Deutschlands
dienstältestem Bürgermeister. Weil er immer wieder
vertröstet wurde, setzte Piltz sich irgendwann einfach
ins Auto und fuhr zu ihm. Rüddel ist 94 Jahre alt, seit
AB DONNERSTAG,
1963 regiert er die Gemeinde Windhagen in Rhein-
land-Pfalz: Politik ist sein Leben, sein Leben ist Politik. 20. JUNI
Piltz, Rüddel Piltz begleitete Rüddel unter anderem zum Maifest,
wo sie abends direkt neben den Lautsprechern stan- NUR IM KINO
den. Während Rüddel sich problemlos mit anderen Gästen unterhielt, hatte Piltz
Schwierigkeiten, die Gespräche zu verstehen. Nach zehn gewonnenen Wahlen in
Folge beendet Rüddel nun seine Karriere: Es sei Zeit, Rentner zu werden. Seite 48

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 3


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Inhalt
73. Jahrgang | Heft 25 | 15. Juni 2019

Titel Mobilität Die Verleiher von


Elektro-Tretrollern erobern die
Macht Von der Kleinpartei deutschen Innenstädte . . . . . . 45
zum Umfrageliebling – die
Grünen kämpfen mit Soziales Im Vorstand
den Herausforderungen der Bundesagentur für Arbeit
ihres eigenen Erfolgs . . . . . . . 10 tobt ein Machtkampf
um die einzige Frau an
Wirtschaftspolitik Unter- der Spitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
nehmer und Manager
entdecken ihre Liebe zu Kommunen Deutschlands
den Grünen . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 dienstältester Bürger-
meister tritt ab – nach
56 Amtsjahren . . . . . . . . . . . . . . 48
Deutschland
Behörden Der »Hutbürger«
Leitartikel Warum Seehofers von Dresden, Ex-Mitarbeiter

PETER RIGAUD / DER SPIEGEL


Pläne für die innere des Landeskriminalamts,
Sicherheit gefährlich sind . . . . 6 verlangt eine Entschädigung
vom ZDF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Meinung Der gesunde
Menschenverstand / So
gesehen: Friedrich Gesellschaft
Merz macht den Kevin ...... 8

Doppelspitzen bei der SPD? /


Die perfekte Welle Früher war alles schlechter:
Rassistische Einstellungen
Teure Leerflüge der Einige Umfragen sehen die Grünen derzeit an in den USA / Wo ist das
Regierung / Bürger lehnen Braunkehlchen? . . . . . . . . . . . . . 52
weitere Umsiedlungen in der Spitze. Die Stärke der Ökopartei liegt nicht nur
Kohlerevieren ab . . . . . . . . . . . . 22 an der Schwäche der Gegner. Längst arbeitet sie Eine Meldung und ihre
mit Unternehmen und Gewerkschaften zusammen – Geschichte Wie der
Parteien Die CDU beschäftigt und profiliert sich in der inneren Sicherheit. Ihr Diebstahl eines Ferrari
sich mit Personalquerelen und in der Garage endete . . . . . . . 53
sucht ihr Thema . . . . . . . . . . . . 26
Erfolg beschert aber auch viele Probleme. Seiten 10, 18
Leben SPIEGEL-Gespräch
EU Wie EVP-Chef mit dem FDP-Politiker
Joseph Daul erfolglos für Jimmy Schulz über die Folgen
CSU-Mann Manfred seiner Krebserkrankung . . . . 54
Weber als Kommissions-
präsident wirbt . . . . . . . . . . . . . 29 Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 59

Karrieren SPIEGEL-Gespräch
mit Joachim Gauck über das Wirtschaft
NICOLO LANFRANCHI / LAIF

Amt des Bundespräsidenten,


Toleranz und Intoleranz gegen Deutschland bei Stromexport
rechts und seine Sorge vor Weltklasse / BMW
wachsendem Nationalismus fordert E-Auto-Strategie der
in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 32 Bundesregierung . . . . . . . . . . . 60

»Gorch Fock« Die Bundes- Fehden Utz Claassen


wehr sieht sich von der Grenzen dicht will mit einem Start-up
Elsflether Werft betrogen . . . 39 groß rauskommen,
Die »Festung Europa« ist gebaut: In nur wenigen doch er sieht sich von
Strafjustiz Der Prozess Jahren hat sich die EU weitgehend gegen illegale Feinden umringt . . . . . . . . . . . . 62
um die tödliche Messerattacke
von Chemnitz
Migranten abgeschirmt. Die Seenotrettung Immobilien Der Berliner
bringt nicht die erhoffte wurde fast ganz eingestellt, die Mittelmeerroute Senat legt sich mit den
Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 ist damit praktisch blockiert. Seite 76 Wohnungsvermietern an ... 68

4 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Karrieren Arlan Hamilton Wissenschaft


war obdachlos – jetzt
unterstützt sie als Geldgeberin Worauf Menschen bei der
Gründerinnen im Silicon Partnerwahl wirklich achten /
Valley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Sind Eisenbahntunnel
schädlich fürs Klima? / Analyse:
Marktmacht Wie Google Die Gefahren der automatischen
Handy-Reparaturbetriebe Bilderkennung . . . . . . . . . . . . . . 94
in Existenznöte stürzt . . . . . . 73
Tiere Biologen präsentieren
einen Rettungsplan für die
Ausland Honigbiene . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Ein Oligarch will in der Algorithmen Der Direktor

MARINA WEIGL / DER SPIEGEL


Republik Moldau die des Max-Planck-Instituts für
Macht behalten / Hohes Bildungsforschung Iyad
Gericht von Botswana Rahwan warnt im SPIEGEL-
erklärt Homosexualität Gespräch davor, dass
für legal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Onlineplattformen mehr über
uns wüssten als die Stasi . . . 102
Migration Die Routen über
das Mittelmeer nach Geschichte Das grausame
Europa sind weitgehend Ehestreit als Entertainment Leben in mittelalterlichen
dicht – aber der Preis Bordellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
dafür ist hoch . . . . . . . . . . . . . . . 76 Die Bestsellerautorin Charlotte Roche und
ihr Mann Martin Keß wollen in einer Podcastserie Esoterik Liefern sich Aliens
Hongkong Die Opposition Verfolgungsjagden mit
rüstet sich für einen
öffentlich ihre Paarprobleme diskutieren. Im US-Kampfpiloten? . . . . . . . . 106
langen Konflikt mit Peking 80 SPIEGEL-Gespräch berichten sie über Eifersucht,
Brüllattacken und Altersängste. Seite 112
USA-Iran-Konflikt Wer steckt Kultur
hinter den Angriffen auf Schiffe
in der Straße von Hormus? 82 Ausstellung mit unbekannten
Fotos aus dem Amsterdam der
Katholische Kirche Ein Bis auf die Knochen NS-Zeit / Neue Staffel
indischer Bischof soll eine der deutschen Serie »Dark« /
Ordensschwester vergewaltigt Utz Claassen gehörte zur deutschen Managerelite. Kolumne: Zur Zeit . . . . . . . . . 110
haben – ein Protest von Nun sucht er sein Comeback mit einem Start-up,
Nonnen führte zur Anklage 84 Beziehungen SPIEGEL-
das neuartige Knochenschrauben herstellt. Aber Gespräch mit Charlotte Roche
Analyse Die Freilassung des nicht alles läuft wie geplant. Und es gibt Streit mit und Martin Keß über Ehe-
russischen Journalisten einem prominenten Ex-Investor. Seite 62 kräche, Untreue und Scham 112
Iwan Golunow ist für Putins
System eine Peinlichkeit . . . . 88 Pop Ein posthumes Album
präsentiert Aufnahmen aus
dem Nachlass von Prince 116
Sport
WOLFGANG SITTER / PANTHERMEDIA / ACPIX

Literatur Die britische Autorin


Berater der Fußballprofis Carys Davies schreibt über
machen in der Bundesliga den alten Westen Amerikas 118
besonders gute Geschäfte /
Magische Momente: Marko Intellektuelle Der Schriftsteller
Pešić, Geschäftsführer der Simon Strauß stellt in
Basketballer des FC Bayern Rom sein neues Buch vor 120
München, über den ersten
Titelgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Filmkritik In »Long Shot«
verknallt sich Charlize Theron
Leichtathletik Wie Kenia, in einen dicken Mann . . . . . 123
einstmals Land der Rettung für die Honigbiene
Laufwunder, sein Doping-
problem bekämpft . . . . . . . . . . 90 Wild lebende Bienen, die in Wäldern hausen, Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
werden erstaunlich gut mit verheerenden Parasiten Impressum, Leserservice . . . 124
Olympia Warum das IOC Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Probleme hat, Gast-
fertig. Eine naturnähere Haltung könnte auch Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
geber für die Winterspiele die geplagten Honigbienen der Imker retten – doch Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
zu finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 zuvor müssten viele Völker sterben. Seite 96 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfotos [M]: Florian Gaertner / Photothek / Getty Images; Getty Images (2); Marina Rosa Weigl für den SPIEGEL 5
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Gefährliches aus der Trickkiste


Leitartikel Horst Seehofer schafft mit »Sicherheitsgesetzen« neue Risiken für Firmen und Bürger.

M
an kann dieser Regierung wirklich nicht vorwer- Schutz seiner Kunden vor überbordender staatlicher Über-
fen, zu ambitioniert zu handeln oder allzu ideen- wachung und zum Schutz seiner Reputation.
reich. Nur in einer Sparte ist das anders, da Nun sollen die Firmen die Sicherheit ihrer Kunden auf
sprüht sie geradezu vor Ehrgeiz: bei der inneren staatliches Geheiß wieder schwächen. Das setzt sie und ihre
Sicherheit. Hier vergeht kaum eine Woche ohne Vorschlä- Kunden unnötigen Risiken aus. Denn bewusst eingebaute
ge, neue Vorhaben oder weitreichende Forderungen. Hintertüren oder »goldene Schlüssel« sind auch Einfallstore
Viele der Vorstöße stammen aus dem Haus von Bundes- für Hacker, Kriminelle oder Spione.
innenminister Horst Seehofer, die meisten haben derzeit Das ist leider keine Theorie. Die beiden bislang größten
mit dem Internet zu tun; also dem, was seine Beamten und und folgenreichsten Cyberangriffswellen vor rund zwei Jah-
auch Militärs und Geheimdienstler gern sinister den ren betrafen neben der Deutschen Bahn und Beiersdorf
»Cyberraum« nennen. Der CSU-Mann, der jüngst bekann- auch Energieversorger und Logistikfirmen und verursachten
te, Gesetze gern möglichst weltweit Milliardenschäden.
kompliziert zu gestalten, um Die Urheber nutzten dafür
sie möglichst unbemerkt eine Schadsoftware, deren
und störungsfrei durchzuset- wesentlicher Baustein zuvor
zen, hat tief greifende dem US-Geheimdienst NSA
Pläne. Nahezu alle sollen die abhandengekommen war.
Befugnisse der Sicherheits- Die geplante Gesetzes-
behörden erweitern und erweiterung ist nicht einmal
ihre Arbeit im Digitalen notwendig. Schon heute ist
erleichtern. es Behörden erlaubt, mit
Dagegen wäre nichts ein- richterlicher Erlaubnis Späh-
zuwenden, wenn diese Vor- programme (»Trojaner«)
haben denn zielgerichtet, auf die Smartphones Ver-
maßvoll oder auch nur erfolg- dächtiger aufzuspielen. Auch
versprechend wären. Doch so können sie mitlesen und
das sind sie in zu vielen Fäl- überwachen. Das Verfahren
len nicht. In der Gesamt- ist aufwendiger, entspricht
schau handelt es sich um den damit aber der Praxis in vor-
ZUMA PRESS / IMAGO

wohl umfassendsten Angriff digitalen Zeiten. Damals


auf Freiheits- und Bürger- mussten Ermittler noch in
rechte seit Rasterfahndung Wohnungen eindringen, um
und Großem Lauschangriff. Wanzen zu installieren.
Einige der Ideen drohen Seehofers Pläne sind
das Netz und digitale Dienste zudem das Gegenteil von
für die Nutzer sogar unsicherer zu machen, und da wird es verlässlichem politischen Handeln und schaden dem Wirt-
gefährlich. Denn hier wird Seehofer, der sich offenbar in schaftsstandort. Sie widersprechen den vor 20 Jahren erlas-
seinem letzten Amt vor seinem angekündigten Abschied aus senen Krypto-Eckpunkten ebenso wie der Ankündigung
der Politik noch als Heimatschutzminister profilieren will, seines Amtsvorgängers, Deutschland zum »Verschlüsse-
selbst zum Sicherheitsrisiko. lungsstandort Nummer eins« zu machen.
Ein Beispiel dafür ist sein Vorhaben, Anbieter verschlüs- Tatsächlich brauchen wir mehr Verschlüsselung, nicht
selter Chats und Telefonate wie WhatsApp, Threema oder weniger, denn sie gewährleistet Firmen und Bürgern
Apple mit Facetime und seinem iMessage künftig dazu zu das Grundrecht auf Vertraulichkeit ihrer Kommunikation.
zwingen, den Sicherheitsbehörden die Kommunikation Wenn der Staat für mehr Sicherheit sorgen will, darf er
ihrer Kunden im Klartext zu schicken – wenn die Ermittler dabei nicht neue Risiken schaffen.
einen richterlichen Beschluss vorlegen. Klingt nicht nach Horst Seehofer bemerkte bei seinem angeblich »leicht
einem Aufreger? Ist es aber. Denn bislang können diese ironischen« Einblick in seine Trickkiste bei der Massen-
Dienste die Inhalte selbst gar nicht erkennen, sie übertra- verfertigung neuer Sicherheitsgesetze neulich: »Notwendi-
gen die Signale Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Nur Absender ges wird ja oft unzulässig infrage gestellt.« Was für ein Satz
und Empfänger sind in der Lage, sie zu entziffern. von einem Mann, der qua Amt zugleich Verfassungsminis-
Ironischerweise hat beispielsweise WhatsApp diesen ter ist. Auch vermeintlich Notwendiges muss kritisiert
besonders sicheren Standard erst nach den Enthüllungen werden (dürfen), für Überflüssiges und potenziell sogar
von Edward Snowden vor sechs Jahren eingeführt – zum Gefährliches gilt das erst recht. Marcel Rosenbach

6 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Meinung So gesehen

Umverteilung,
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
aber richtig!
Konservative Hühner Friedrich Merz will uns alle
reich machen.
Nachdem die Sozialdemo- Mitgliedern gegründet werden. Auch G So ungerecht. Jahrelang hielten wir
kratisierung der CDU in- das war bislang eine Spezialität der Friedrich Merz (CDU) für einen kalt-
haltlich abgeschlossen wer- SPD. Dort gibt es Seeheimer, Netz- schnäuzigen Geldautomaten, tat-
den konnte, gibt es nun werker, Parlamentarische Linke, die sächlich jedoch hat der Reservekanz-
auch auf anderen Feldern Initiative #SPDerneuern, das Forum ler offensichtlich ein großes Herz
Fortschritte. Die Partei von Demokratische Linke 21 und allerhand für kleine Leute: In einem Gastbeitrag
Annegret Kramp-Karrenbauer andere Spezialformen von Sozial- für Zeit Online fordert Merz, »die
folgt der SPD nicht nur in Umfragen auf demokratie; der letzte Schrei ist die Arbeitnehmer mehr am wirtschaft-
ihrem Weg nach unten. Sie übernimmt Initiative »Die wahre SPD«, die vor lichen Erfolg der Unternehmen
jetzt auch deren Verhalten, den Hang allem deshalb gebildet wurde, um Juso- zu beteiligen, in denen sie arbeiten«.
zum Neurotischen. Chef Kevin Kühnert als Parteichef zu Zugegeben, was er danach
Das muss man der CDU lassen: Ner- verhindern. Es ist nur eine Frage der schreibt, klingt erst mal arg nach
vös oder aufgescheucht wirkte sie nie, Zeit, bis es mehr sozialdemokratische dem altbekannten Aktienheini:
all die Jahrzehnte war sie mit großer Initiativen als sozialdemokratische Der Gesetzgeber solle »eine Ver-
Gelassenheit unterwegs, der Buddha Wähler gibt. Die Arbeitsgruppe »Sozial-
unter den Volksparteien. Plötzlich aber demokraten in der SPD« wurde bis
präsentieren sich die Konservativen Redaktionsschluss indes noch nicht ins
wie ein Haufen hysterische Hühner. Leben gerufen.
So findet etwa die beliebte sozial- Die Union ist auch in dieser Hinsicht
demokratische Praxis, Vorsitzende bin- um Angleichung bemüht. In jüngerer
nen eines Jahres selbst zu erledigen, in Vergangenheit wurden unter ihrem
der CDU Anhänger, insbesondere im Dach mehr Untereinheiten entwickelt
Kreise der Möchtegernkanzler, innerpar- als Ideen zur Rettung des Klimas.
teilich auch als Laschet-Flügel bekannt. Es gibt jetzt die »WerteUnion«, die
Zudem entdecken immer mehr Christ- »Union der Mitte« und »Die Basis«.
demokraten den Reiz der Basisdemokra- Will die CDU ihre Rolle als Kanzler- pflichtung zur privaten, kapital-
tie und wollen den Kanzlerkandidaten wahlverein behalten, sollte sie den marktorientierten Vorsorge für das
per Mitgliederentscheid ermitteln. Geht neumodischen Trend zur Individuali- Alter ernsthaft prüfen«, und zwar
das so weiter, finden Vorstandssitzungen sierung und Fragmentierung schleu- »in welcher Form auch immer«.
bald im Sitzkreis auf dem Boden statt. nigst stoppen. Sonst kommt am Ende Doch halten wir kurz inne. So, wie
Schließlich sind da die immer neuen noch einer auf die Idee, eine christ- sich das anhört, kann Merz es nicht
Grüppchen, die nun auch von CDU- demokratische Volkspartei zu gründen. gemeint haben.
Denn das wäre doch ungeheuer-
lich: Der Staat zwingt seine Bürger,
privaten Unternehmen ihr Geld
auszuliefern und deren Verlust-
risiken zu tragen? Das wäre staat-
licher Raubritterkapitalismus.
Tatsächlich muss der gute Merz so
etwas nur sagen, weil er seinen Job
behalten will: Er arbeitet noch nicht
für das Land, sondern für Blackrock,
den größten Anbieter von index-
basierten Fonds. Große Teile der
zwangsangelegten Spargroschen wür-
den gewiss in dessen Anlageproduk-
ten landen. Merz macht Reklame für
seinen Arbeitgeber. Geschenkt.
Ist Merz aber endlich Kanzler,
dann wird sich zeigen, was sein omi-
nöser Nachsatz »in welcher Form
auch immer« wirklich bedeutet: Die
Bürger müssen zur Unternehmens-
beteiligung nämlich gar keine Aktien
kaufen. Enteignungen sind da viel
effektiver. Stefan Kuzmany

8 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Parteivorsitzende Habeck, Baerbock


Dass es großartig läuft, will keiner sagen
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Titel

Angst vor dem Hype


Macht Nach mehreren Umfragen sind die Grünen die derzeit stärkste Kraft, ein Einzug ins
Kanzleramt ist nicht mehr undenkbar. Doch der Erfolg stellt die Partei vor enorme
Herausforderungen: Es fehlt an Räumen, an Geld, an Experten – und manchmal an einer klaren Linie.

S
ie hat die Blümchen vom Vor- Schlusswort bei den mächtigsten Wirt- Die Grünen müssen sich darauf vorbe-
abend gegen Streifen getauscht. schaftsbossen des Landes. reiten, nach der nächsten Bundestagswahl
Hier, auf der Bühne des Bundes- Aufgeladener kann eine Szene kaum sein, in Regierungsverantwortung zu gelangen.
verbands der Deutschen Industrie wenn man den Aufstieg der Grünen zu Und das kann ganz schnell gehen. Selbst
(BDI), trägt die Schlussrednerin Annalena Wählerlieblingen und ihr bereits Monate an- die Vorstellung, dass es einen grünen Re-
Baerbock ein dunkles Streifenkleid. Und haltendes Hoch nun sieht. Schon im vergan- gierungschef geben könnte, ist nicht mehr
kommt, wie es so ihre Art ist, zügig auf genen Herbst konnte sich knapp die Hälfte so utopisch, wie sie vor Kurzem noch
den Punkt. der Bürger vorstellen, grün zu wählen. klang. Die Operation Kanzleramt ist längst
Tja, sagt die Grünenchefin, vor nicht all- Deutschland und die Grünen, es ist eine im Gange, auch wenn das in der Partei nie-
zu langer Zeit habe sie noch über »Karp- regelrechte Amour fou im Augenblick, mand offen sagt.
fen und Forellen in Fischteichen« sinniert, eine Wahnsinnsliebe. Frage an die beiden Vorsitzenden: Fällt
aber jetzt: »So schnell kann’s gehen.« Für die Grünen geht es nun darum, wie es Ihnen manchmal schwer zu glauben,
Gelächter aus dem Publikum, Szenen- eine Partei, ausgelegt für 8 Prozent, bisher wie gut das alles gerade läuft für die Partei
applaus, wohlwollend, neugierig auch. kleinste Oppositionsfraktion im Bundes- und für Sie selbst?
Diese Art von Selbstironie kommt an bei tag, damit klarkommt, dass sie plötzlich »Ha!«, sagt Baerbock. Sie sitzt neben
denjenigen, die sich selbst noch nicht si- auf an die 30 Prozent katapultiert wird ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck in
cher sind, wie sie mit dieser aufstrebenden und zur stärksten politischen Kraft des der Bundesgeschäftsstelle, es ist Dienstag-
Partei umgehen sollen, mit diesem neuen Landes mutiert. Wie sie das regelt, mit den abend, draußen duften die Linden, im
Selbstbewusstsein, das Baerbock so schön vielen neuen Fans, die Mitglied werden Raum steht die Luft. Sie klatscht ihre
zu kaschieren weiß. wollen, mit dem fehlenden Personal, mit Handflächen auf die Tischplatte, schaut zu
So schnell also kann’s gehen: Eine grüne den viel zu kleinen Räumen in der Partei- Habeck, der, wie oft, seinen leicht amü-
Vorsitzende, mit 38 Jahren in etwa so alt zentrale, in den Geschäftsstellen, den Orts- sierten Flunsch zieht. »Man kann jeden-
wie ihre Partei, schließt mit ihrer Rede die gruppen. Es ist wie bei einem Kind nach falls nicht sagen, dass es schlecht läuft.«
Veranstaltung eines Industrieverbands, die einem kräftigen Wachstumsschub: Alle Dass es großartig laufe für sie, will kei-
ein paar Stunden zuvor eröffnet wurde Kleider sind auf einmal viel zu eng. ner laut sagen. Demut heißt die Devise.
von: Angela Merkel. Es geht aber auch um die Inhalte, um Die Grünen sprechen jetzt lieber von »gro-
Umgeben vom Industrial Chic eines al- die vielen Fragen, auf die diese Partei nun ßen Chancen«. Sie sind vorsichtig, skep-
ten Fabrikgemäuers im Berliner Osten, sit- kluge Antworten haben muss. Im Klima tisch fast. Zu oft schon in ihrer Geschichte
zen hier auf engen Stuhlreihen Unterneh- ist sie firm, was aber ist mit Themen, die haben sie erlebt, dass Umfrageergebnisse
mer und Manager. Die Männer, deutlich bislang nicht als grüne Kernkompetenz gal- Luftschlössern gleichen können, die sich –
in der Überzahl, tragen Anzug und die ten? Die Außen- und Verteidigungspolitik hast du nicht gesehen – in Nichts auflösen.
Frauen weiße Blusen. Ein Blümchenkleid etwa, die sozialen Fragen, die innere Si- Nach Fukushima, Anfang 2011, zum
sieht man nicht.  cherheit? Beispiel war das so und nachdem Winfried
Anders als beim Frühsommerempfang Kretschmann in Baden-Württemberg zum
der Fraktion, wo Baerbock am Abend zu- ersten grünen Ministerpräsidenten ge-
vor in einem solchen Kleid Hof hielt, ist Grün ist die Hoffnung? wählt worden war. Prompt glaubte man,
der Auftritt beim Tag der deutschen Indus- »Welche Partei hat die besten Antworten auf die darin eine Blaupause für die gesamte Bun-
trie kein Heimspiel für sie. Fragen der Zukunft?« desrepublik entdeckt zu haben. Auch der
Wie hat sie die Veranstaltung empfun- Bundestagswahlkampf 2013 begann recht
den? Baerbock zieht die Luft durch die Grüne 27% aussichtsreich, entwickelte sich dann aber
Zähne und sagt, sie finde es lustig, wie da- zur großen Enttäuschung. Am Ende lan-
rauf jetzt abgehoben werde. Dabei habe Union 12% dete die Partei bei 8,4 Prozent.
sie dort auch im vergangenen Jahr gespro- Die Grünen, die so gern gefallen, waren
chen. Vielleicht höre man jetzt genauer zu.
Linke 4% damals die Unsympathen, die mit erhobe-
Das kann man so sagen. Die Wahr- AfD 4% nem Zeigefinger Verbote aussprechen. Sie
nehmung hat sich verändert. Es wird in- hatten Fehler gemacht, die Angst, es könnte
zwischen, von ganz unterschiedlichen FDP 3% jetzt genauso kommen, ist wieder da.
Seiten, genau hingehört, wenn die Grünen Doch der Lauf, den die Partei seit Mo-
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

sprechen. SPD 2% naten hat, der Zuspruch, den sie erfährt,


Vergangene Woche kletterte der Balken beschränkt sich nicht mehr auf ein kurzle-
der Grünenzustimmung nach Umfragen andere 3% biges Umfragehoch. Es scheint, als hätte
unaufhaltsam nach oben, erklomm die sich der Höhenflug verstetigt.
26 Prozent, dann die 27, überholte die 45 Prozent der Befragten gaben »keine Partei« an. Bei der Europawahl Ende Mai jedenfalls
Union – und dann sprach eine Grüne das Quelle: Infratest dimap, Deutschlandtrend vom 6. Juni 2019 lagen die Grünen nicht nur bei den Erst-

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Schüler auf Demo in Berlin


Außerparlamentarische Opposition mit Wucht

STEFAN BONESS / IPON


wählern vorn. Bis hinauf in die Altersgrup- fast alles richtig machen kann, einfach so. und konstruktiv. Bisher zahlt sich das
pe der unter 60-Jährigen konnten die Grü- Und sich der Satz von Fraktionschefin aus, die Grünen sind damit so erfolgreich,
nen knapp an der Union vorbeiziehen. Mit Katrin Göring-Eckardt aus dem Frühjahr dass der Christsoziale Markus Söder sie
20,5 Prozent sammelten sie fast doppelt 2017 verkehrt: Grüne Themen sind der- zum politischen Hauptgegner erkor, genau
so viele Stimmen ein wie bei der Europa- zeit in der Tat der »heiße Scheiß der Re- wie der AfD-Parteivorsitzende Alexander
wahl 2014. Erstmals wählten auch Arbeits- publik«. Gauland.
lose lieber die Grünen als die SPD. Zum Dürresommer, dem Hambacher Trotzdem ist der Erfolg der Partei nicht
Bei den Kommunalwahlen am selben Forst, der Artenvielfalt und dem Plastik- allein den günstigen Umständen geschul-
Tag lag die Ökopartei in etlichen deut- müll in den Meeren kam mit einer ganz det. Sondern auch der Tatsache, dass man
schen Großstädten vorn. eigenen Wucht eine Art außerparlamen- hart an sich gearbeitet hat.
Es gibt einige Gründe, warum die Grü- tarische Opposition, die sich die Grünen An jenem hochsommerlichen Dienstag-
nen jetzt so stark sind. Die langen Jahre selbst nicht schöner hätten ausmalen kön- abend erzählen die beiden Vorsitzenden,
an der Macht haben die Regierungspartei- nen. »Fridays for Future«. In einer Umfra- wie unklar alles begann. »Wir sind beide
en ausgezehrt. Während Union und SPD ge zur Europawahl stimmten 57 Prozent unabhängig voneinander angetreten«, sagt
immer graugesichtiger wurden, tüftelten der Wähler der Aussage zu, dass die Grü- Baerbock. Sie, Abgeordnete aus Branden-
die Grünen in ihrer Komfortzone, den Op- nen »die Werte verteidigen, die mir per- burg, er, Landwirtschaftsminister aus
positionsreihen, an ihrem Auftritt – als Par- sönlich wichtig sind«. Schleswig-Holstein.
tei und als Projektionsfläche. Und noch etwas mag man im Land mitt- An ihren Landesverbänden haben sie
Die Grünen sind zum Beispiel die Ein- lerweile sehr: die etwas andere Art und sich auch beim Umbau ihrer Partei orien-
zigen im deutschen Parteienspektrum, die Weise der Grünen, Politik zu machen oder tiert. Sie haben eine Grundsatzabteilung
einen nennenswert kuratierten Instagram- zumindest, Politik zu verkaufen. eingerichtet, Anfang vergangenen Jahres,
Account betreiben. Im Wahlkampf ver- Kurz nach der Rücktrittserklärung von sechs Leute, die sie nur einstellen konnten,
schickten sie GIFs als digitale Plakate, Andrea Nahles verschicken Habeck und weil sie ihre Büros als Vorsitzende zusam-
Bienen wuselten da über einen Blüten- Baerbock eine Pressemitteilung, in der sie mengelegt und zwei Stäbe zu einem zu-
stängel. der scheidenden SPD-Vorsitzenden ihren sammengeführt hatten.
Sie verdanken einiges dem Phänomen, Respekt aussprechen und »hoffen, dass die Als Grundstein für den Erfolg sehen vie-
das manche in der Partei jetzt Momentum SPD rasch ihre Personalfragen klärt und le in der Partei die Jamaikasondierungen.
nennen, andere Zeitgeist. Das ureigene sich dann mit neuer Kraft auf ihre Auf- Die Partei habe damals bewiesen, regieren
Thema, das ganz früher in der Nische der gaben konzentrieren kann«. zu können – und zu wollen. Dass es die
Birkenstockträger groß war, wird auf ein- Die Taktik haben die beiden Parteivor- FDP war, die die Verhandlungen am Ende
mal zum Mainstream. Es ist die Erfahrung, sitzenden so verabredet: nicht auf den an- abbrach, hat diesen Eindruck noch ver-
dass man als politische Kraft auf einmal deren rumhacken, sich konziliant zeigen stärkt.

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Titel

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF


Kanzleramt an der Spree
Fähigkeit bewiesen, regieren zu wollen

Den unbedingten Willen zu regieren at- die Treffen institutionalisiert. Einen Som- Hotel im Berliner Bezirk Friedrichshain.
testiert man auch den Vorsitzenden. Sie mer lang hat Andreae herumtelefoniert Anschließend ging man feiern – auf den
haben geschafft, was noch keinem Füh- und eingeladen. Der Vorstandschef von Frühsommerempfang der Fraktion.
rungsduo vor ihnen so recht geglückt ist: BASF ist dabei und der vom Pharmakon- Da begrüßte dann die Altlinke Claudia
Flügelkämpfe zu unterbinden, aber auch zern Roche. Roth den BASF-Vorstandschef Martin Bru-
überflüssige Eifersüchtelei. »Raus aus der Andreaes Kriterium: Sind das Personen, dermüller, der sich ihr höflich als »der von
Nische«, rufen sie, oder: »Wir wollen re- mit denen wir arbeiten können? Die nicht der bösen Chemie« vorstellte – er sei ja
gieren.« Die Partei folgt ihnen begeistert nur betriebswirtschaftlich denken, an das verantwortlich für ein Prozent der deut-
und seltsam geeint. Sie profitierten, sagt eigene Unternehmen, sondern eben auch schen Treibhausgasemissionen. Auch
Habeck, von einem »unfassbaren Zusam- volkswirtschaftlich? Die Resonanz sei Christian Knell von HeidelbergCement,
menhalt« innerhalb der Grünen. überwältigend gewesen, sagt sie. Es gab einem Konzern, der sich wohl an umstrit-
Seit anderthalb Jahren allerdings agiert zwei Absagen, der Grund: Der Weg nach tenen Projekten im Westjordanland betei-
die Partei auch vorausschauend. Beleg da- Berlin sei zu weit. Die erste Tagung vor ligt, war dabei. Der Pragmatismus, er hat
für ist, dass sich das Themenspektrum einem Jahr eröffnete Kerstin Andreae mit recht widerstandslos Einzug gehalten in
nach und nach erweitert hat. Dass die Grü- der Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie der Partei.
nen gute Fachpolitiker sind, ist nicht neu. die Grünen wären? Wie sähe Ihre Wirt- Nach dem Vorbild des Wirtschaftsbei-
Dass sie im Umwelt- und Klimaschutz als schaftspolitik aus? Es gehe in diesem Gre- rats nahm Mitte Mai ein weiteres Gremium
kompetent gelten, ebenso wenig. Mittler- mium nicht vorrangig ums Klima, sondern die Arbeit auf, der sogenannte Gewerk-
weile aber haben sie sich auch Kompetenz um den Standort Deutschland, den Stand- schafts- und Sozialrat. Hier setzen sich
in Feldern erarbeitet, die man ihnen bis- ort Europa. Abgeordnete mit Betriebsräten, Gewerk-
lang nicht zugetraut hat. Die Wirtschafts- Deutschlands Manager stellen sich auf schaftern, Verbraucherschützern und Um-
und Sozialpolitik ist so ein Bereich. die neue Zeit ein – und die Grünen eben- weltverbänden zusammen.  »Wenn wir die
Kerstin Andreae empfängt in ihrem falls (siehe auch Seite 18). Gesellschaft ökologisch und sozial umbau-
Büro im Jakob-Kaiser-Haus, die Abgeord- Das jüngste Treffen des Wirtschaftsbei- en wollen, brauchen wir strategische Part-
nete hat vor einem Jahr den sogenannten rats fand vor ein paar Tagen statt, in einem nerschaften«, sagt Anton Hofreiter, der
Wirtschaftsbeirat der Grünen ins Leben das Ganze als Fraktionschef initiiert hat.
gerufen. Dreimal jährlich treffen sich rund Gleiches Muster wie beim Austausch mit
60 Manager mit Abgeordneten, Partei- Sie haben geschafft, der Wirtschaft, man trifft sich freiwillig,
chefin Baerbock ist ebenfalls dabei. Bereits was noch keinem etwa dreimal im Jahr.
früher habe es »intensiven Austausch« mit Und ganz nebenbei graben die Grünen
der Wirtschaft gegeben, erzählt Andreae.
Führungsduo vor ihnen der SPD damit die wichtigste Kernwähler-
Aber das sei punktuell gewesen, nun seien so recht geglückt ist. schaft ab – die Gewerkschaftsmitglieder. Frü-

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her glichen Treffen zwischen Gewerkschaf-


ten und Grünen eher Pflichtterminen, heu-
te schwärmt Hofreiter von der großen »Be-
reitschaft zum Wandel« bei den Arbeit-
nehmervertretern. Sie seien »gute Partner«
für die Grünen, weil sie ebenso langfristig
dächten.
Einer, an dem man die neue Koopera-
tion von Gewerkschaften und Grünen be-
obachten kann, ist Ralph Obermauer. Der
52-Jährige arbeitete lange für die Bundes-
tagsfraktion, unter anderem in den Büros
von Ex-Staatssekretär Rezzo Schlauch
und Jürgen Trittin. Im März 2018 wurde
Obermauer abgeworben: Er wechselte zur
IG Metall nach Berlin und ist dort seither

DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL


für die politische Ausrichtung der Gewerk-
schaft zuständig.
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

Vor allem aber muss Obermauer ver-


mitteln, seine Aufgabe ist es, zwischen sei-
nem ehemaligen Arbeitgeber und der IG
Metall zu »dolmetschen«. Die Grünen,
sagt Obermauer, merkten, dass sie ihre kli-
mapolitischen Anliegen nicht durchsetzen
könnten, wenn sie dabei nicht auch die ar-
beits- und sozialpolitischen Belange ein-
bezögen. »Klimaschutz und Industrie-
arbeit dürfen nicht gegeneinander laufen.«
Die Partei scheint das begriffen zu ha-
ben. Die geplante CO²-Steuer soll deshalb
nach grüner Vorstellung mit einem soge-
nannten Energiegeld ausgeglichen werden,
das pro Kopf ausgezahlt wird. So be-
kommt der Klimaschutz eine Umvertei-
lungsnote.
Dass die Grünen ihr sozialpolitisches
Engagement derart herausstellen, trägt
bereits Früchte: Den Sozialdemokraten
zwackten sie bei der Europawahl 1,3 Mil-
lionen Wähler ab.
Bis vor Kurzem noch als Öko-FDP ver-
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL

schrien, versprechen die Grünen mit der


Abwicklung von Hartz IV ein »neues Ga-
rantiesicherungssystem«. Zusammenfas-
sen lässt sich das Konzept mit mehr Staat,
weniger Eigenverantwortung. Es ist das
Herzstück einer Sozialpolitik, die der Par-
tei einerseits ein neues Milieu jenseits der Parteizentrale in Berlin, Bundes-
Besserverdienenden erschließt. Anderer- geschäftsführer Kellner, Neuköllner Mitglieder
seits ist es eine Art Appeasement-Angebot »Die Decke ist überall zu kurz«
der Realochefs an die Linken, die es in der
Partei ja immer noch gibt. Wir heilen die
alte Wunde und überwinden Hartz IV, soll sich unter den Kennern herumgesprochen, sem Jahr den Kongress wiederbeleben.
das heißen. sagt die Abgeordnete aus Gelsenkirchen. Am 22. November treffen sich Politiker
So, wie die Grünen bei der Wirtschafts- Außenstehende würden sich aber gelegent- und Experten unter dem etwas beliebigen
und Sozialpolitik nach vorn marschieren, lich immer noch wundern: »Ihr seid doch Motto: »Die Rolle der Polizei in der Ge-
sieht es auch im Bereich der inneren Si- gegen die Polizei!« sellschaft«. Solche Veranstaltungen, sagt
cherheit aus. Die innenpolitische Spreche- Dass die Grünen auch bei den Sicher- Mihalic, steigerten die grüne Kompetenz
rin der Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, heitsbehörden mittlerweile ernst genom- – auch in den Augen künftiger Koalitions-
arbeitet schon seit Jahren daran, den Grü- men werden, dazu hat unter anderem der partner.
nen das Image der »Bullenhasser«-Partei Grüne Polizeikongress beigetragen, eine Eigenes Know-how haben die Grünen
abzustreifen, allein schon aus Eigeninte- Fachveranstaltung, die der langjährige in den vergangenen Jahren aber auch in
resse: Mihalic ist Polizistin. Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht der Steuer- und Finanzpolitik entwickelt.
Dass die Grünen in ihren Positions- ins Leben gerufen hatte. Albrecht ist mitt- Ohne den Grünen Gerhard Schick wüsste
papieren nun regelmäßig fordern, mehr lerweile Minister in Schleswig-Holstein, die Öffentlichkeit wohl nichts von Cum-
Stellen für die Polizei zu schaffen und Ge- deshalb fand die letzte Tagung 2017 statt. Ex- und Cum-Cum-Geschäften. Bis 2017
setze konsequenter durchzusetzen, habe Die grüne Bundestagsfraktion will in die- saß der Bankenkenner für die Ökopartei

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Titel

im Bundestag und wühlte sich durch ein tei erst mal nichts ändert. Knappe neun liegt bei 49 Jahren, die neuen Mitglieder
System fragwürdiger Finanztransaktionen, Prozent bei der vorigen Bundestagswahl, haben das Durchschnittsalter gesenkt.
bei denen im großen Stil Aktien hin- und der grüne Einfluss auf die deutsche Politik Michael Kellner, der Bundesgeschäfts-
hergeschoben  wurden – einzig mit dem ist nach wie vor überschaubar. Daran än- führer, wie der Generalsekretär bei den
Ziel, Steuern vom Fiskus erstattet zu be- dern weder eine bravourös gewonnene Grünen heißt, freut sich über den Zuwachs
kommen, die nie gezahlt  worden waren. Europawahl etwas noch Umfragen, sie be- und sagt beinahe im gleichen Atemzug:
Der Schaden in Deutschland beträgt bis scheren keine neue Macht. »Die Decke ist überall zu kurz.«
zu 55 Milliarden Euro. Ein anderes Problem, das in die schöne Fünf Leute in der Pressestelle, fünf in
Zu Beginn wurde Schicks Wühlarbeit neue Welt der Grünen drängt, hängt an der Öffentlichkeitsarbeit. Das ist nicht viel
auch in den eigenen Reihen eher belächelt. der Parteistruktur selbst. Man muss dafür für eine Partei, die spätestens in zwei Jah-
Komplizierte Finanzgeschichten und Steu- nur einmal die Parteizentrale am Platz vor ren wieder mitregieren möchte.
erpolitik gehören bei den Grünen nicht ge- dem Neuen Tor anschauen. Ein gemüt- Als er 2013 das Amt übernahm, war die
rade zu den Lieblingssujets. Doch ausge- licher Altbau, sanierte fünf Etagen, kein Partei verschuldet, Kellner musste sparen
rechnet hier punkten sie seit geraumer Aufzug. und schaffte die drei Dienstwagen ab. Die
Zeit. Vor allem mit Vorschlägen zum Stop- Der Innenhof ist bewachsen mit wildem könnte er jetzt wieder einführen, Wahlsie-
fen von Steuerschlupflöchern sind grüne Wein, vor einer kleinen Terrasse plätschert ge und Neumitglieder bringen Geld in die
Finanzpolitiker findig, findiger jedenfalls ein Minispringbrunnen. Größer könnte Parteikasse. Kellner will aber lieber in die
als die Kollegen anderer Parteien.   der Kontrast zu den stahlgläsernen Macht- Digitalisierung investieren.
In Sachen Außen- und Sicherheitspoli- bauten von CDU und SPD kaum sein. Die CDU hat sich vor Kurzem einen
tik hat die Partei ihre Feuertaufe bereits Innerhalb der vergangenen zwei Jahre ganzen »Newsroom« geschenkt, Kellner
hinter sich, sie dauerte sieben Jahre. Die ist die Partei um ein Drittel gewachsen, im hat einen einzigen Festangestellten, der
Zeit in der Regierung unter SPD-Kanzler Osten schneller als im Westen. Sie gleicht sich um Videos und die Apps für den Wahl-
Gerhard Schröder hat Spuren bei den Grü- damit einem Pubertierenden, dessen kampf und die Mitglieder kümmert. Bei
nen hinterlassen. Die Erfahrung ist da, zu- schmaler, bubenhafter Körper im Kontrast seinem Digitalreferenten ruft auch manch-
mal die mit Rückschlägen, Enttäuschungen zu unverhältnismäßig großen Füßen steht. mal jemand aus dem Kreisverband an, um
und Verwerfungen. Auch hier hat sich die Würden die Grünen, nur ein Gedanken- schnell sein Passwort für die App zurück-
Perspektive geweitet, auch hier geht man spiel, bei der nächsten Bundestagswahl tat- setzen zu lassen.
jetzt pragmatischer ran. sächlich bei 25 Prozent liegen, könnte es Wahrscheinlich wissen die kleinen Par-
Sollten die Grünen nach der nächsten sein, dass sie so viele Sitze im Bundestag teien, wem sie ihren oft unerwarteten Er-
Bundestagswahl wieder ins Auswärtige bekommen, wie die Partei jetzt nicht ein- folg zum großen Teil verdanken. Dem In-
Amt einziehen wie einst Joschka Fischer, mal hat, wenn man die Bundestagsfraktion ternet und seinen Möglichkeiten.
wird vieles von dem, was sie heute in der plus die Sitze in allen Länderparlamenten Ohne all die Plattformen dort wäre Em-
Opposition vertreten, schwer durchzuset- zusammenrechnet. manuel Macron 2017 wohl kaum Präsident
zen sein. »Die Verlässlichkeit Deutsch- 80 000 Mitglieder haben die Grünen Frankreichs geworden. Seine Bewegung
lands gebietet Kontinuität«, sagt Omid jetzt, bei SPD und CDU sind es fünfmal En Marche, eigens für die Kampagne ge-
Nouripour, außenpolitischer Sprecher der so viele. Der Altersdurchschnitt der Partei gründet, glich einem digital versierten
Grünenbundestagsfraktion, was zumin- Pfadfinderverein.
dest schon staatstragend klingt. Eines der drängendsten Probleme aber
Ginge es nach den Grünen, würde man ist der Personalmangel auf Länder- und
erheblich mehr Geld in die Krisenpräven- David gegen Goliath Kommunalebene, vor allem in der Verwal-
tion investieren. Änderungen dürfte es bei Parteivermögen 2017, in Mio. € tung. Mit der Europawahl fanden zehn
den Rüstungsexporten geben. Die Partei Kommunalwahlen statt. Mandate gibt es
will die geltenden Exportrichtlinien der voraussichtlich mehr als je zuvor; Grüne
Bundesregierung in ein Gesetz gießen. haben auf einmal ausgezeichnete Chancen,
Grüne CDU SPD
»Dann kann man auch klagen, wenn da- Oberbürgermeister zu werden oder Dezer-
gegen verstoßen wird«, sagt Nouripour. 41,6 157,6 202,5 nenten, allerdings haben nur wenige Par-
Die Grünen wollen das umstrittene Pro- teimitglieder das dafür nötige Know-how.
jekt Nord Stream 2, die Gaspipeline zwi- An die Möglichkeit, in naher Zukunft
schen Russland und Deutschland, stoppen vielleicht zahlreiche Posten in Bundes-
und die Tonlage gegenüber autoritären Parteispenden 2017, in Mio. € ministerien besetzen zu dürfen, will man
Staaten wie der Türkei oder Russland ver- noch gar nicht denken. Es fehlten Leute
schärfen. Grüne 5,9 mit Verwaltungserfahrung, heißt es in
»Wir wissen, wir wecken Hoffnungen«, CDU 35,2 der Partei.
sagte Habeck vor Kurzem, und es war Welche die drängendsten Baustellen für
nicht ganz auszumachen, was da mit- SPD 14,5 die Partei sind, variiert je nachdem, in wel-
schwang. Freude oder Ehrfurcht, Furcht chem Teil Deutschlands man sich befindet.
oder alles zusammen. Habeck weiß, dass In München oder in Berlin-Neukölln.
Parteimitglieder 2018; Veränderung gegenüber 2008*
aus Hoffnung schnell Erwartung wird, die Der Münchner Kreisverband, der frü-
erfüllt werden will und muss. Grüne CDU SPD her in Hinterzimmern von Gaststätten tag-
Es gibt bei den Grünen jetzt aber nicht 75 311 414 905 437 754 te, befindet sich plötzlich in der Bredouille.
nur die Angst vor dem Hype und das Pro- Mit mittlerweile knapp 2500 Mitgliedern
blem mit dem »Erwartungsmanagement«, müssen sie dort für ihre Versammlungen
wie es im Parteisprech heißt. An Eloquenz +67 % ganze Hallen anmieten. Und auch in Neu-
mangelt es den beiden Vorsitzenden nicht. –22 % –16 % kölln wird der Platz eng, das ist aber nicht
Sie werden ihren Wählern schon verständ- das einzige Problem.
lich machen, dass sich, bis zur nächsten Es sind an diesem Dienstagabend viele
Bundestagswahl, am Status der Kleinpar- *Stand: 31. Dezember gekommen, zu viele, der letzte Bürostuhl

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Titel

wird noch in den Besprechungsraum ge- Zahl der Mitglieder in den vergangenen wenn das Klima das alles überbordende
schoben, die Nachlese der Europawahl zweieinhalb Jahren in Neukölln von 400 Thema ist, sind die Grünen keine homo-
steht auf dem Programm. Mehr als 50 sind auf rund 670 gestiegen ist, fehlt es nun an gene Partei. Je konkreter sie in ihren in-
es diesmal beim Kreisverband, in früheren Räumen, an Personal, vor allem an Erfah- haltlichen Aussagen werden, je mehr sie
Zeiten wären vielleicht ein, zwei Dutzend rung, mit dieser Wucht an Begeisterung von der Gefühls- auf die Sachebene wech-
erschienen, doch die früheren Zeiten sind umzugehen. seln müssen, desto gefährlicher könnten
vorbei. Die neue Zeit, das sind junge Men- Für Philmon Ghirmai, den Vorstands- diese Unterschiede für sie werden.
schen, in Shorts, kaum einer über 30, mit sprecher des Neuköllner Kreisverbands, Wer die Bremer Grünen sprechen möch-
neugierigen Augen sitzen sie da, die meis- fängt die Herausforderung schon damit an, te, erfährt schon am Telefon, dass es hier
ten weiß, viele Studenten, sie achten brav dass die Partei irgendwann die Gesell- etwas unorthodoxer und skurriler zugeht
die Quotenregel, spricht ein Mann, muss schaft widerspiegeln sollte, die sie reprä- als in anderen grünen Fraktionen. »Bei de-
als Nächstes zwingend eine Frau sprechen, sentiert.  Dann brauchte sie aber deutlich nen piept’s wohl, werden Sie denken«, sagt
sonst ist die Diskussion zu Ende, alles mehr Menschen mit Migrationshinter- eine sonore Männerstimme und ergänzt,
political correct, keiner stört sich an den grund als Mitglieder, dann müsste sie in »recht haben Sie.« Dann springt der An-
etwas zwanghaften Ritualen. der Lage sein, auch diejenigen anzuspre- rufbeantworter an. In Deutschlands kleins-
Die Organisatoren haben längst den chen, die kein Abitur haben. »Noch diver- tem Bundesland gehen die Grünen locker
Überblick verloren, wer neues Mitglied miteinander um. Viele kennen sich bereits
ist, es ist egal, »wir freuen uns sehr«, sagt seit der Schulzeit, rund 800 Mitglieder
die Versammlungsleiterin, »wir freuen uns Die neue Zeit, das sind zählen die Grünen in der Hansestadt, seit
über euch alle hier«. Dann werden noch junge Menschen in der Bürgerschaftswahl Ende Mai sind noch
mal die Ergebnisse der Europawahl an die ein paar Dutzend dazugekommen. Spit-
Wand projiziert, mit 27,4 Prozent waren Shorts, kaum einer über zenkandidatin Maike Schaefer, 48, lange
die Grünen in Neukölln stärkste Partei, im 30, neugierige Augen. blonde Haare, Nasenpiercing, gehörte frü-
Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg her zur Punkszene, war als Au-pair in Lon-
kamen sie sogar auf 40,3 Prozent, die don und hat in Bremen Biologie studiert,
CDU auf 5,7 Prozent. Es sind die kühnsten ser zu werden«, sagt der 35-Jährige, »ist bevor sie sich für die Politik entschied. Ge-
Träume, die am 26. Mai wahr geworden dringend und drängend.« rade verhandelt sie mit der SPD und der
sind, so kühn, dass man sie noch immer Die Berliner Grünen haben sich dafür Linken über das erste rot-grün-rote Bünd-
kaum wahrhaben will. schon vor einigen Jahren ein ehrgeiziges nis in Westdeutschland.
»Wir sollten uns dem Hype nicht hin- Ziel gesetzt: Bis 2021 soll der Anteil von Wenn die Grünen nun der abgehalfter-
geben«, warnt einer der Wahlkämpfer in Mitgliedern mit Migrationshintergrund in ten SPD helfen, in Bremen auch nach fast
der anschließenden Diskussion. Er erin- der Partei dem in der Berliner Bevöl- 73 Jahren und einem verheerenden Wahl-
nert daran, dass vor nicht allzu langer kerung entsprechen, dieser liegt bei gut ergebnis weiter an der Macht zu bleiben,
Zeit die Grünen als »Verbots- und Pädo- 30 Prozent. Die Grünen, ergänzt Malena dann entspricht das nicht gerade dem Zei-
philenpartei« gehandelt worden seien Weduwen, 22, im Vorstand der Grünen Ju- chen für Aufbruch und »andere Politik«,
und bei Wahlen auch schon mal bei fünf gend in Neukölln, seien als klares Pendant das man sich in der Berliner Parteispitze
Prozent gelegen hätten. Eine andere erin- zur AfD gewählt worden. Das Bekenntnis so lautstark wünscht. Sondern einer sehr
nert an die große Erwartung, die nun auf zur offenen Gesellschaft müssten sie des- alten Logik, und die lautet: Bremen tickt
ihnen laste: »Die Leute haben uns ge- halb auch in ihrer eigenen Partei leben. ziemlich links, egal wie progressiv die Par-
wählt, weil sie endlich etwas sehen Rahul Schwenk, 44, Unternehmer und erst teichefs drauf sind.
wollen«, sagt sie, beim Klima, bei den seit Kurzem Mitglied der Grünen, sagt, die Ganz anders tritt die Partei in Baden-
Mieten, dem vielleicht drängendsten The- Partei müsse ihre Angebote so anpassen, Württemberg auf, wo sie mit Winfried
ma im Kiez. dass sie für alle kulturellen und sozialen Kretschmann seit 2011 den ersten grünen
Wie es den Grünen in Neukölln ergeht, Gruppen attraktiv werde und nicht nur für Ministerpräsidenten stellt. Das Land könn-
ergeht es den Grünen in weiten Teilen der weiße Akademiker. te man als eine Art Zukunftslabor der Par-
Republik. Überwältigt vom eigenen Er- Was in Neukölln, einem Stadtteil mit tei bezeichnen.
folg, spüren sie zugleich die Grenzen, an hohem Migrantenanteil, drängend ist, Erfolgreich sei man, heißt es dort von
die dieser Erfolg nun stößt. Während die muss nicht woanders relevant sein. Auch der Partei, und setze im durch und durch

Im Aufwind 26
Abschneiden der Grünen bei Bundestagswahlen
Reaktorkatastrophe von Fukushima 23
Dem Unglück folgt 2011 ein Umfrage- 22
hoch der Grünen; bei der Landtagswahl 20
in Baden-Württemberg kommen sie auf
zum Vergleich: 24,2 Prozent.
Jahreshöchstwerte bei
der Sonntagsfrage* 14
13
12 12 12
10 10,7
9 8,6 8,9
8,3 8,1 8,4
7,3 6,7
5,6
4 3,8 *bis 1990 Allensbach,
Westdeutschland Bündnis 90/Grüne ab 1991 Forschungsgruppe
1,5 1,2 in Ostdeutschland Wahlen: Politbarometer

1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017

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Vorsitzende Baerbock bei Rede vor


konservativen, schwarz gefärbten Auto- Industrieverband, Grünenabstimmung 1980
land grüne Politik durch. Es wird verwie- Pragmatismus ohne Widerstand
sen auf fast 90 Millionen Euro mehr für
Naturschutz bis 2021, den Ausbau der
Ökolandwirtschaft und 303 Kilometer
neue Fahrradwege. 
Das ist allerdings nur ein Teil der Wahr-
heit, denn in Stuttgart herrscht inzwischen
eher Ernüchterung. Schuld daran ist das
Zweckbündnis Kretschmanns mit der
CDU, geschlossen nach seiner Wiederwahl
2016. Seither verzetteln sich die Koalitio-
näre im ideologischen Dauerzwist. Und
Kretschmann, so mitunter der Vorwurf,
gebe ein grünes Ziel nach dem anderen
auf.
So geschehen beim Thema Dieselfahr-
verbote, wo er der CDU so weit entgegen-
kam, dass er selbst das eigene – grün ge-
führte – Verkehrsministerium brüskierte.
Auch in Fragen der Bildungspolitik und
der inneren Sicherheit zeichnen sich die

BDI
Grünen  bisher vor allem durch hohe Frus-
trationstoleranz aus. Statt Ganztagsschu-
len auszubauen, weitet man lieber die
Polizeibefugnisse aus.
Als der 71-jährige Kretschmann im No-
vember 2018 nach einer mutmaßlichen
Gruppenvergewaltigung in Freiburg dafür
plädierte, »junge Männerhorden« unter
den Geflüchteten »in die Pampa« zu schi-
cken, erntete er harsche Kritik aus den ei-
genen Reihen. Die Revanche folgte einige
Monate später: Habecks Satz über eine
mögliche Enteignung großer Wohnungs-
baugesellschaften kanzelte Kretschmann
kurzerhand als »Unsinn« ab. 
Man könnte es als interessantes Span-
nungsverhältnis sehen, das da zwischen

HANS-JÜRGEN BURKARD / PLATA


Stuttgarter Regierungsverantwortung und
Berliner Opposition herrscht, auch zwi-
schen den Generationen. Oder als unver-
einbare Pole. Aber Baerbock und Habeck
wissen um die Vorreiterrolle ihres schwä-
bischen Grantlers. Ihr Höhenflug wäre
ohne den beliebtesten Ministerpräsiden-
ten Deutschlands nicht denkbar. Deshalb
herrscht Burgfrieden.
In Schleswig-Holstein, der Heimat Ro- sprechen ein; die Kitanovelle ist liberal ge- stärkste Partei geworden, für das höchste
bert Habecks, wurden die Grünen für ihre prägt. Der Ausbau der erneuerbaren Ener- städtische Amt winkte die Findungskom-
Beteiligung an einer Jamaikaregierung be- gien, eines der wichtigsten Ziele der Grü- mission der Grünen aber ab: Man habe
lohnt. Das Flächenland ist das einzige, in nen, stagniert dagegen. Andere Punkte, niemanden gefunden und werde daher
dem die Ökopartei bei der Europawahl etwa ein großzügiger Familiennachzug für empfehlen, einen anderen Kandidaten für
mit 29,1 Prozent sogar vor der CDU lag. Geflüchtete, münden zwar in Bundesrats- die Oberbürgermeisterwahl im Herbst zu
Von ihrem guten Abschneiden sind die initiativen, doch dann scheitern sie dort. unterstützen. Den von der SPD.
Grünen selbst überrascht: Vizeminister- So beruht der Erfolg der Grünen im Nor- Felix Bohr, Annette Bruhns, Vera Deleja-
präsidentin Monika Heinold, 60, unge- den derzeit eher auf einem wohligen Ge- Hotko, Hubert Gude, Julia Amalia Heyer,
schminkt im Leinenkleid, führt den Erfolg fühl. Es ist ein bisschen wie mit Robert Ha- Martin Knobbe, Tim Kummert,
vor allem auf den Aufstand der Jugend zu- beck. Viele mögen, was er sagt und wie er Christoph Schult, Gerald Traufetter,
rück. Die Schüler im Norden waren die es sagt, wissen aber hinterher nicht mehr Andreas Wassermann
ersten, die streikten; die allererste De- ganz genau, wovon die Rede war.
monstration der Bewegung fand in Bad Immerhin haben die Grünen mit Baer-
Segeberg statt. bock und Habeck in Berlin fähiges Perso- Animation
So sind die Grünen
Schwarz-Grün-Gelb regiert im Norden nal. In Kiel, Habecks vorheriger Wirkungs- aufgestellt
eher geräuscharm. Nur – was machen die stätte als Landesminister, dagegen nicht. spiegel.de/sp252019gruene
Grünen in der Regierung eigentlich genau? In der Landeshauptstadt sind die Grünen oder in der App DER SPIEGEL
Die Gymnasialreform löste ein CDU-Ver- bei der Europawahl zwar mit Abstand

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 17


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Titel

Gefährlicher Flirt
Wirtschaftspolitik Die Grünen erobern nicht nur die bürgerliche Mitte, sondern auch
die Wirtschaft. Deutschlands Unternehmer haben mit der
Ökopartei längst ihren Frieden gemacht. Angst haben sie jedoch vor Grün-Rot-Rot.

WOLFGANG WILDE / ROBA PRESS

Hessischer Wirtschaftsminister Al-Wazir


Das Erhard-Bild einfach hängen lassen

18 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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A
ndré Schwämmlein hat es nach
oben geschafft. Vor sechs Jahren
gründete er mit ein paar Freun-
den Flixbus. Heute ist aus dem
Start-up ein Konzern mit weltweit 1200
Mitarbeitern und 2000 Bussen geworden,
der größte europäische Anbieter von Fern-
busverkehr.
Die Farbe, in denen die Fahrzeuge la-
ckiert sind, hat Schwämmlein bewusst aus-
gewählt. »Grün ist eine Signalfarbe«, sagt

MORRIS MACMATZEN / GETTY IMAGES


er. »Außerdem transportiert die Farbe eine
positive, ökologische Botschaft.«
Doch was die wenigsten seiner jährlich
45 Millionen Kunden wissen: Grün passt
auch hervorragend zu seiner politischen
Gesinnung. Schwämmlein ist Grünenmit-
glied und saß schon als 20-Jähriger im
Kreistag von Fürth. Für ihn gehörte von Flixbus-Gründer Schwämmlein
Anfang an zusammen, was sich jahrzehn- »Die wollen kein Auto mehr besitzen«
telang eher abstieß: ökologisches Denken
und Unternehmertum. »Die Grünen«,
sagt Schwämmlein, »stehen für eine öko- gut Ananas in Alaska züchten. Mittler- alle müssen für ihre Chefs einen Termin
logische Wende, und mein Unternehmen weile investiert der Essener Stromkonzern beim Führungsduo Annalena Baerbock
leistet dazu einen wichtigen Beitrag.« Hunderte Millionen in den Bau von und Robert Habeck organisieren.
Der Manager sieht eine Zeitenwende Sonnenkollektoren. So ein Satz käme heu- Siemens-Chef Joe Kaeser war unlängst
heraufziehen; das Jahrhundert werde im te keinem Topmanager mehr über die bei Habeck, BMW-Chef Harald Krüger
Zeichen der Nachhaltigkeit stehen. Den Lippen. traf Baerbock, gemeinsam mit dem derzeit
neuen Geist könne er bei seinen Kunden Früher machte sich die Wirtschaftselite wohl bekanntesten Wirtschaftsexperten
beobachten. »Da sitzen viele junge Men- beim blutigen Steak über die grüne Forde- der Grünen, Cem Özdemir. Der trifft sich
schen, Schüler, Studenten«, sagt der Flix- rung nach einem Veggie-Day lustig. Heute regelmäßig mit VW-Boss Herbert Diess,
bus-Chef: »Die wollen kein Auto mehr be- bleibt ihnen das Fleisch im Hals stecken, der seinem Konzern eine Kehrtwende
sitzen.« Man müsse nur in seine Busse stei- wenn wieder mal ein neues Umfrageergeb- zum Elektroauto verordnet hat. Sei es aus
gen, um zu begreifen, warum die Grünen nis publik wird. ökologischen Motiven oder schlicht weil
gerade einen Höhenflug erleben. Mittlerweile gilt in der Chefetagen als der chinesische Markt es diktiert.
Schwämmlein ist Mitglied im Wirt- gesetzt, dass die Grünen in der kommen- Den Grünen kann es egal sein. Die
schaftsbeirat der Grünen, gemeinsam mit den Regierung vertreten sein werden, wo- Aufmerksamkeit der Bosse macht ihre Par-
60 Unternehmern. Das Gremium hat sich möglich sogar mit Kanzler oder Kanzlerin. tei attraktiv für scheue Wähler aus der
im vergangenen Herbst konstituiert. Was Jetzt heißt es: umdenken, und zwar schnell. bürgerlichen Mitte, die Stabilität bevorzu-
vor ein paar Jahren noch undenkbar ge- Kontakte müssen her. gen und bislang CDU oder FDP gewählt
wesen wäre, ist heute Alltag: Manager, die In der Grünenparteizentrale neben der haben.
für und mit den Grünen über die Wirt- Berliner Charité geben sich die Lobbyisten Die Unternehmerschaft lässt sich in ih-
schaft von morgen nachdenken. der Konzerne die Klinke in die Hand. Sie rem Verhältnis zu den Grünen grob in drei
Die Grünen wollen weiter vorsto- Gruppen unterteilen. Da gibt es jene
ßen in die Mitte der bürgerlichen Ge- wie Diess oder den Flixbus-Chef
sellschaft – und dafür ist die Gunst Neue Freunde Schwämmlein, deren Geschäftsinte-
von Unternehmern wichtig. Und für Zuwendungen ausgewählter Spender an die Grünen, in Euro resse – zumindest teilweise – mit
die Unternehmer ist mittlerweile dem grünen Parteiprogramm harmo-
120000
auch die Gunst der Grünen wichtig. niert. »Die Grünen sind derzeit die
Beide Seiten können von dieser neu- Südwestmetall kompetenteste Partei, wenn es um
en Beziehung profitieren. Eine Win- Verband der Metall- die Zukunft der Mobilität geht«,
100000 und Elektroindustrie
win-Situation, würde es im Business- Baden-Württemberg heißt es aus dem Umfeld von Diess.
deutsch heißen. Die Schnittmengen zwischen Auto-
Es ist eine unerwartete Partner- 80000
industrie und Grünen seien groß.
schaft. Das Unternehmertum des Vertrauten gegenüber hat Diess ver-
Landes ist eher konservativ und galt lauten lassen, dass Gespräche mit
VBM
lange Zeit als wenig begeisterungs- 60000 Verband der Grünenleuten »produktiver sind als
fähig für die Vorstellungen der Grü- Bayerischen Metall- mit anderen«.
nen von einer ökologisch-nachhalti- und Elektroindustrie Dann gibt es die Kategorie derer,
gen Gesellschaft. Die Partei der über- 40000 Daimler die erkannt haben, dass das enorme
zeugten Fahrradfahrer bot nicht viel Interesse an Klima- und Umwelt-
für die Manager in ihren dicken VCI politik kein vorübergehendes Phä-
Verband der
Dienstwagen. 20000 Chemischen nomen ist. Die Wirtschaft, so deren
Legendär war der Spruch des da- Industrie Analyse, müsse sich wohl oder übel
maligen RWE-Bosses Jürgen Groß- mit den neuen Verhältnissen ar-
mann über Solaranlagen und die 0 Quelle: rangieren – folglich auch mit den
Energiewende: Man könne genauso 2001 2005 2010 2015 2017 Lobbypedia Grünen. Die Arbeitgeber der Metall-

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Titel

industrie etwa gehören zu jenem Typus, mer höheren Abgaben in die Knie zu ausgerechnet der französische Atomkraft-
der seinen Frieden mit der Ökopartei zwingen? »Wir leben nicht auf einer Insel, werksbetreiber EdF war.
sucht. Sie haben die amtierende Bundes- sondern agieren global«, sagt die Mana- Matthias Berninger, unter Rot-Grün
regierung bereits abgeschrieben. »Die Gro- gerin. Diesem Realitätscheck müssten sich Staatssekretär im Landwirtschaftsministe-
ße Koalition ist am Ende. Die Themen, das die Grünen erst noch unterziehen. rium, wechselte zum US-Schokoriegel-
Personal und die Partnerschaft passen Dabei zeigt die Geschichte der Grünen, Produzenten Mars als Lobbyist. Heute lei-
nicht mehr zusammen«, sagt Gesamt- dass die Partei das durchaus kann. Ge- tet er die Public-Affairs-Abteilung von
metall-Präsident Rainer Dulger. schmeidige Arrangements mit dem Estab- Bayer, jenem Unternehmen, das vor einem
Sein Hauptgeschäftsführer Oliver Zan- lishment gab es zuhauf. In den Achtziger- Jahr Monsanto übernommen hat, den Her-
der sieht die Entwicklung pragmatisch. Er jahren hatten die Grünen noch die Idee, steller des krebsverdächtigen Unkrautver-
erinnert an die Zeit, als die erste rot-grüne aus den Ford-Werken in Köln eine Fahr- nichters Glyphosat.
Koalition zustande kam. »Die Grünen ha- radfabrik zu machen. Erst Joschka Fischer Auch Josef Fischer, bis 2005 Vizekanz-
ben 1998 selbst erlebt, wie schnell Forde- verpasste ihnen 1995 ein wirtschaftspoliti- ler und Außenminister, berät inzwischen
rungen aus Oppositionstagen im Regie- sches Programm. Der Ex-Sponti und -Ta- Konzerne in Strategiefragen. 2009 grün-
rungshandeln erfreulich rückstandsfrei xifahrer erkannte an, dass Geld zunächst dete der Selfmademann das Consulting-
abgebaut werden«, sagt er. erwirtschaftet werden müsse, ehe es ver- Unternehmen Joschka Fischer & Compa-
Der dritte Typus ist der jener Manager, teilt werden könne, sei es für soziale oder ny. Zu den Klienten zählen unter anderem
die mit den Grünen nach wie vor nichts ökologische Wohltaten. Siemens, der Stromkonzern RWE und der
anfangen können. Der Wolfsburger Logis- Automobilhersteller BMW.
tikunternehmer Rolf Schnellecke ist so ei- 2013 heuerte Michael Scharfschwerdt,
ner. Er sieht zwar grüne Realpolitiker wie Das Geschäftsinteresse Büroleiter des damaligen Grünenchefs
den baden-württembergischen Minister- harmoniert mit Cem Özdemir, bei JF&C als Kommunika-
präsidenten Winfried Kretschmann durch- tionsexperte an. Drei Jahre lang blieb er
aus positiv. Es gebe aber immer noch Ideo- dem grünen in Fischers vornehmer Büroetage in der
logen, die das Auto verteufelten oder so- Parteiprogramm. Markgrafenstraße in Berlin-Mitte. Dann
zialistischen Enteignungsideen anhingen. wechselte er auf die andere Seite des Gen-
»Wenn diese Kräfte sich durchsetzen, wäre darmenmarkts zur US-Unternehmens-
das eine echte Gefahr für den Wirtschafts- Während und nach dem Ende der rot- beratung AT Kearney als Direktor für
standort Deutschland, der seinen Erfolg grünen Koalition begann das aus der Re- Kommunikation- und Marketing.
der sozialen Marktwirtschaft verdankt«, gierung gepurzelte Politpersonal einen be- Scharfschwerdt ist ein typischer Vertre-
sagt Schnellecke. merkenswerter Marsch in die Konzerne. ter der bürgerlichen Seite der 20-Prozent-
Er habe nichts gegen Klimaschutz, der Berührungsängste zu Industrie und Big Partei – smart, urban, digital und polyglott.
sei elementar. »Aber die Welt ist nun mal Money? Kaum noch. Die damalige Partei- Einer, bei dem Profitinteresse und Klima-
keine Blumenwiese.« Die Wirtschaft müs- chefin, die sächsische Lehrerin Gunda schutz unter einen Hut passen. Scharf-
se sich im internationalen Wettbewerb be- Röstel, wechselte als Managerin zu Gel- schwerdt, Anfang vierzig, hält nichts von
haupten, nur dann könne man sich Um- senwasser, einer ehemaligen Tochter des Verzichtsideologie und Konzernbashing.
weltschutz auf hohem Niveau leisten. Energiekonzerns E.on, und landete schließ- Viele Unternehmen, sagt er, »sind schon
»Diesen Zusammenhang haben noch nicht lich auf dem Geschäftsführersessel der viel grüner als die Politik«.
alle Grünen ausreichend verstanden«, sagt Stadtentwässerung Dresden. In seiner Freizeit berät er Grünenchefin
der Transportunternehmer. Rezzo Schlauch, Staatssekretär unter Baerbock. Mit ihr ist der Unternehmens-
Doch es sind nicht nur konservative Rot-Grün im Bundeswirtschaftsministeri- berater seit Jahren befreundet. Bei AT
Manager, die Probleme mit grüner Wirt- um, wurde Berater von EnBW, dem ba- Kaerney kümmerte sich Scharfschwerdt
schaftspolitik haben. Die Textilfabrikantin den-württembergischen Energiekonzern, jüngst um eine Studie für die Lebensmit-
Ingeborg Neumann stellt nachhaltige dessen wichtigster Gesellschafter damals telindustrie, die im Labor gezüchtetem
Mode her. Als sie vergangene Wo-
che in Berlin Models neue Kleider
präsentieren ließ, war kein Grüner
dabei, sondern Nordrhein-West-
falens Ministerpräsident Armin
Laschet (CDU).
Die Mittelständlerin, die als
Schatzmeisterin und Vize zum Vor-
stand des Bundesverbands der Deut-
schen Industrie gehört, hat einen
klaren wirtschaftspolitischen Kom-
pass, wenn es um handfeste Themen
wie Strompreise, Bürokratieabbau
oder Unternehmensteuern geht.
»Ich kann nur davor warnen«, sagt
sie, »bei den Grünen die einfachen
Antworten auf Klimaschutz und
Nachhaltigkeit zu verorten.«
Was nütze es, gerade die mittel-
ständischen Industrieunternehmen,
die in Deutschland und weltweit
nach den besten Umwelt- und So-
ZDF

zialstandards produzieren, mit im- Grüner Özdemir, VW-Chef Diess


Die Schnittmengen sind groß
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Ministerpräsident Kretschmann
Das Geld zunächst erwirtschaften Die Grünen wollen nicht nur,
dass Jugendliche unter 18 Jahren
umsonst die Bahn nutzen können.
Sie haben in ihrem Parteipro-
gramm auch festgeschrieben, dass
der in staatlichem Besitz befindli-
che Betrieb zerschlagen werden
soll. »Wir wollen für die Infrastruk-
tur eine Gesellschaft oder Anstalt
des Öffentlichen Rechts gründen«,
sagt Fraktionschef Anton Hofreiter.
Als private Aktiengesellschaft ver-
bleiben könne der Bereich Trans-
port, also der Betrieb von Regio-
nal-, Fern- und Güterzügen.
Bei der Bahn ist man alarmiert.
Vorsorglich verbreitet der im
MARIJAN MURAT / DPA

Staatsbesitz befindliche Betrieb


deshalb schon mal Gegenpropagan-
da. Journalisten, die DB-Boss Ri-
chard Lutz unlängst in den Berliner
Bahntower eingeladen hatte, er-
klärte er: So eine Zerschlagung
würde zu nichts führen als zu drei
Fleischersatz eine profitable Zukunft ver- nister vor Vertretern der Finanzbranche Jahren Stillstand. Drei Jahre, in denen die
heißt – CO2 neutral und ohne Massentier- in Frankfurt am Main: »Die wollten mal Organisation mühsam auseinandergefled-
haltung. »Wir brauchen«, sagt Scharf- sehen, ob ich auch mit Messer und Gabel dert wird. Währenddessen würden keine
schwerdt, »eine ökologische Modernisie- essen kann.« Seine Strategie war, nicht zu Entscheidungen getroffen, von der die
rung der sozialen Marktwirtschaft.« viel über Ökologie, sondern mehr über Kunden profitierten.
Wie schnell sich Grüne und Wirtschaft Marktwirtschaft zu reden. »Wenn man Der DB-Chef dürfte insgeheim also
aneinander gewöhnen können, ist in Hes- vorrechnet, wie hoch die Kosten von Um- nicht auf ein schwarz-grünes oder grün-
sen gut zu beobachten. Dort sitzt seit 2014 weltzerstörung sind, und was sich durch schwarzes Bündnis hoffen, so wie die meis-
der Grüne Tarek Al-Wazir als Wirtschafts- Ressourceneffizienz einsparen lässt, dann ten Wirtschaftsleute. Seine persönliche
und Verkehrsminister im Kabinett des hören diese Leute zu«, sagt er. Karriere würde höchstens eine Koalition
Christdemokraten Volker Bouffier. An- Zur Wahrheit gehört allerdings auch, der Grünen mit SPD und Linken retten.
fangs hätten er und viele andere Unter- dass das Lob aus der Wirtschaft mit dem Die Sozialdemokraten sind bislang seine
nehmer befürchtet, dass das nicht lange Verzicht auf manches grüne Wahlverspre- Garantie, dass der Konzern seine bisherige
gut gehe, sagt Dirk Martin, Chef des bör- chen erkauft wurde. Beim Ausbau des Form behält.
sennotierten Softwareherstellers Service- Frankfurter Flughafens um ein drittes Ter- Für den Rest der Wirtschaft wäre solch
ware im hessischen Bad Camberg. Nun minal leistete Al-Wazir allenfalls symboli- ein Linksbündnis (Formel in Berliner Poli-
muss der Landesvorsitzende des Familien- schen Widerstand; der Grundstein wurde tikkreisen: G2L) der reinste Horror. Des-
unternehmerverbands zugeben: »Das im April gelegt. Und auch beim Diesel ha- halb schreckte diese Woche die Geschäfts-
läuft überraschend unideologisch und ben die Grünen mittlerweile Verständnis welt auf, als die Bremer Grünen verkün-
pragmatisch.« für die Autoindustrie. Ein von der Deut- deten, man wolle nach der Landtagswahl
Al-Wazir war für Teile der Wirtschaft schen Umwelthilfe durchgesetztes Diesel- im Mai ein Bündnis mit SPD und Linken
einmal so etwas wie der personifizierte fahrverbot in Frankfurt wurde von der eingehen.
Schrecken. Stopp von Straßenbauprojek- Landesregierung durch ein Berufungsver- In Berlin könnte so eine Konstellation
ten, generelles Tempolimit auf Autobah- fahren juristisch blockiert. den frischen Flirt der Wirtschaft mit den
nen, kein weiterer Ausbau des Frankfurter Geschadet hat die Verwässerung des Grünen jäh beenden. »Rot-Rot-Grün wäre
Flughafens und ein Nachtflugverbot ab ökologischen Programms den Grünen in für die deutsche Industrie der Super-
22 Uhr, das war seine Programmatik. Hessen nicht. Ohne Regierungsbeteiligung GAU«, sagt Lutz Goebel, geschäftsführen-
Im Amt angekommen, sendete Al-Wa- und Kompromisse hätte man überhaupt der Gesellschafter des Krefelder Motoren-
zir rasch versöhnliche Signale an die ver- keine grünen Ziele durchsetzen können, spezialisten Henkelhausen. Eine solche
meintlichen Gegner: Die Grünen seien »ra- sagt Al-Wazir. Bei der Landtagswahl im Linksregierung würde vor allem den Mit-
tionaler geworden« und ein »verlässlicher vergangenen Herbst steigerten die hessi- telständlern das Leben schwer machen.
Partner der Industrie«, sagte er vor der In- schen Grünen ihr Wahlergebnis nach fünf Der Familienunternehmer befürchtet,
dustrie- und Handelskammer Frankfurt. Jahren Regierungsbeteiligung von 11,1 auf dass dann der Mindestlohn erhöht und vie-
Wer vor Al-Wazirs Büro auf einen Ter- 19,8 Prozent. Bei der Europawahl im Mai le Jobs zerstört würden. Die alten Reflexe,
min wartet, blickt ins Gesicht des CDU- waren es in dem Land 23,4 Prozent. sie funktionieren in der Wirtschaft also
Nachkriegspolitikers Ludwig Erhard. Al- Die größte Nervosität macht sich in ei- doch noch. Goebel sagt: »Die Parteilinken
Wazir hat ein altes Schwarz-Weiß-Foto des nem Unternehmen breit, das im Zentrum sind gefährlich.«
Ordoliberalen und Vaters des deutschen grüner Wirtschafts- und Verkehrspolitik Matthias Bartsch, Tim Bartz,
Wirtschaftswunders demonstrativ dort stehen würde: bei der Deutschen Bahn. Dinah Deckstein, Markus Dettmer, Simon
hängen lassen – als vertrauensbildende An ihr hängt und zu ihr drängt jedes nach- Hage, Nils Klawitter, Michael Sauga,
Maßnahme. haltige Konzept moderner Mobilität. Gerald Traufetter, Andreas Wassermann
Heute erinnert sich Al-Wazir, 48, fast Bahnfahren ist ohnehin Kern grüner Iden- Mail: [email protected]
amüsiert an seine ersten Auftritte als Mi- tität – und grüner Ambitionen.

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Deutschland
»Ich habe nicht immer alle gefragt, das war ganz gut so. Konnte keiner Nein sagen.« ‣ S. 48

HC PLAMBECK
SPD-Mitglieder beim Bundesparteitag in Wiesbaden 2018

Machtverteilung

SPD-Frauen fordern überall Doppelspitzen


Frau-Mann-Duos vom Ortsverein bis hinauf zur Bundestagsfraktion

 Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) Kür der künftigen SPD-Spitze führen; am 24. Juni soll es der
fordert, ab sofort sämtliche Gliederungen der SPD von je einem Vorstand beschließen. Zwar sehnen sich viele Genossen danach,
Mann und einer Frau führen zu lassen. Das Prinzip müsse in die von der gescheiterten Partei- und Fraktionschefin Andrea
der Parteisatzung verankert werden und künftig »auf allen poli- Nahles forcierte Machtkonzentration aufzubrechen. Doppelspit-
tischen Ebenen« der Partei gelten, heißt es in einem ASF-Be- zen sehen jedoch viele skeptisch. Im Landesverband Nordrhein-
schluss. Die Doppelspitze solle »vom Ortsverein über die Kreis- Westfalen gilt die Idee als problematisch; auch der Hesse Schä-
verbände, Bezirksverbände und Landesverbände bis hin für fer-Gümbel warnte kürzlich, eine Doppelspitze dürfe kein Selbst-
die Bundestagsfraktion Regel sein«, sagt die Vorsitzende der ASF zweck sein. Die SPD-Frauen fordern zudem eine Urwahl für
Maria Noichl. Die Sozialdemokratinnen erhöhen damit den die Parteispitze allein durch SPD-Mitglieder, getrennte Geschlech-
Druck auf die Interimsvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel, terlisten sowie eine Bewerbungsfrist für Kandidatinnen und
Malu Dreyer und Manuela Schwesig. Das Trio will am Montag Kandidaten. Ein Vorziehen des für Anfang Dezember geplanten
mit dem Parteipräsidium Beratungen über das Verfahren zur Parteitags lehnt die ASF ab. VME

VW-Dieselskandal den Verkauf manipulierter Dieselfahrzeu- Brade, Projektleiter der Potsdamer Kanzlei
Hoffnung für Geschädigte ge verurteilt, ein Fahrzeug gegen Erstat- Goldenstein, die das Urteil für den Käufer
tung des Kaufpreises zurückzunehmen; eines gebrauchten VW Sharan 2.0 TDI er-
 Das neue Urteil des Oberlandesgerichts der Kläger musste sich nur die genutzte stritten hat. »Das war frühestens im Februar
Koblenz im VW-Dieselskandal ermöglicht Laufleistung anrechnen lassen. Bei einem 2016 der Fall – damit sind Klagen noch
weit mehr Betroffenen als bisher, gegen solchen Anspruch beträgt die Verjährung bis Ende 2019 möglich.« Der Vorsitzende
VW auf Schadensersatz zu klagen. Denn drei Jahre und nicht nur höchstens zwei Richter im Koblenzer Verfahren hat offen-
damit greift eine andere Verjährungs- wie bei Gewährleistungsansprüchen gegen bar sogar angedeutet, dass die Verjährung
vorschrift: Ansprüche dürften sich danach Händler. Zudem habe die Verjährung erst zu laufen beginnt, wenn die staats-
noch bis mindestens Ende dieses Jahres unter diesem Aspekt »frühestens zu laufen anwaltschaftlichen Ermittlungen gegen die
einklagen lassen. Im Urteil wurde zum ers- begonnen, als VW die Käufer über den VW-Vorstände abgeschlossen sind. VW
ten Mal der VW-Konzern wegen »vorsätz- Mangel und das geplante Software-Update hat allerdings angekündigt, gegen das Ur-
licher sittenwidriger Schädigung« durch in Kenntnis gesetzt hat«, sagt Christian teil in Revision zu gehen. HIP

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Bundesregierung
Millionen für Leerflüge
 Die Flugbereitschaft des Verteidigungs-
ministeriums fliegt jedes Jahr für sieben
Millionen Euro leere Passagierjets von
Köln nach Berlin und zurück. Insgesamt
sind die Regierungsflieger 727 Stunden
ohne Passagier und Fracht in der Luft.
Das geht aus einer unveröffentlichten Ant-

FELIX ZAHN / PHOTOTHEK.NET / IMAGO IMAGES


wort des Ministeriums auf eine Anfrage
der Grünen hervor. Je nach Flugzeug
variieren die Kosten pro Leerflugstunde
dabei erheblich: Beim 13-sitzigen Ge-
schäftsflieger »Global 5000« kostet eine
Stunde in der Luft 6000 Euro, beim Air-
bus A 340, vorgesehen für große Regie-
rungsdelegationen, sind es 24 000 Euro.
Die Leerflüge werden mindestens noch Regierungsflieger in Berlin
bis Oktober 2020 stattfinden, da die Flie-
ger auf dem militärischen Teil des Flug-
hafens Köln-Bonn stationiert sind und für aus Köln sukzessive einstellen. Das Regie- Stefan Gelbhaar, Obmann der Grünen
die Einsätze nach Berlin eingeflogen rungsterminal freilich ist im Gegensatz im Verkehrsausschuss, sieht in den Leer-
werden müssen. Erst mit Inbetriebnahme zum BER seit Oktober 2018 einsatzbereit flügen »einen Fall für den Bundesrech-
des Hauptstadtflughafens BER will die und produziert Kosten: Allein für die nungshof«. Das Verteidigungsministerium
Bundesregierung ein provisorisches Regie- Bewachung des eingemotteten Regierungs- verweist hingegen darauf, dass die Flug-
rungsterminal in Berlin-Schönefeld in terminals werden bis zur avisierten In- stunden der Aus- und Weiterbildung der
Dienst stellen und den Zubringerservice betriebnahme 1,8 Millionen Euro fällig. Besatzungen dienten. WAS

Gesundheit Homosexuellen. Der Staat hat eine Legi- rechtfertigen; ein ausgebildeter Arzt könn-
timation, dagegen vorzugehen. te sogar zur Verantwortung gezogen wer-
»Eingriff in Grundrechte« SPIEGEL: Umpolungsversuche an Jugend- den, wenn er einen Erwachsenen behan-
Martin Burgi, 55, Jurapro- lichen zu verbieten leuchtet sofort ein. delt. Wenn das Angebot ausschließlich im
fessor an der Ludwig-Ma- Aber wenn ein Erwachsener sich einer sol- religiösen oder weltanschaulichen Kon-
ximilians-Universität in chen Behandlung freiwillig unterziehen text besteht, wird man eine Strafbarkeit
HEDDERGOTT

München, über ein Verbot möchte – würde ein Verbot ihn oder sie bei der Therapie an Erwachsenen dagegen
von »Konversionsthera- dann nicht kriminalisieren? nicht rechtfertigen können.
pien« für Homosexuelle Burgi: Das Verbot zielt nicht auf Behan- SPIEGEL: Freiwillig kann man doch vieles
delte oder Behandlungswillige, sondern tun, das einem gesundheitlich schadet.
SPIEGEL: Gesundheitsminister Jens Spahn auf Anbieter solcher Therapien. Wir müs- Müsste man nach der Logik nicht etwa
(CDU) will die sogenannten Konversions- sen dabei differenzieren: Wenn ein so- auch Schönheits-OPs verbieten?
therapien verbieten lassen. Sie haben dazu genannter Profi eine Konversionstherapie Burgi: Es gibt einen erheblichen Unter-
ein Gutachten verfasst. Steht das Vor- anbietet, also ein Arzt, Therapeut oder schied: Die Form einer Brust oder Nase ist
haben im Konflikt mit dem Grundgesetz? Heilpraktiker, kann man die Strafbarkeit kein eine Gruppe stigmatisierendes Merk-
Burgi: Jedes Verbot, das der Staat auf- mal. Dadurch dass ein
stellt, ist ein Eingriff in die Grundrechte Schönheitschirurg etwa eine
des Einzelnen. So ein Eingriff kann Nasenverkleinerung anbie-
nicht einfach politisch umgesetzt werden, tet, diskriminiert er nicht
er muss gerechtfertigt werden. alle Menschen mit großer
SPIEGEL: Lässt er sich rechtfertigen? Nase. In diesem Bereich
Burgi: Man muss gewichtige öffentliche hängt alles stark von persön-
Interessen ins Feld führen. Hier gibt lichen Einschätzungen ab;
es drei: Es geht um die Unversehrtheit Schönheitsideale weichen
derer, die behandelt werden. Solche voneinander ab. Würde –
Therapien können die Gesundheit erheb- theoretisch – jemand anbie-
lich beeinträchtigen. Zweitens wird ten, dunkelhäutige Men-
die sexuelle Selbstbestimmung der Be- schen etwa durch eine Be-
troffenen beeinträchtigt – denn diese strahlung in weiße Men-
soll ja manipuliert werden. Und drittens schen umzuwandeln, hätten
gibt es einen diskriminierenden Effekt, wir den gleichen Fall. Dann
OMER MESSINGER / DDP

der sich daraus ergibt, dass ein bestimm- würde nach Hautfarbe
tes, unabänderliches Persönlichkeits- diskriminiert. Das könnte
merkmal als therapiefähige Krankheit man genauso verbieten
qualifiziert wird. Das ist eine Patho- Christopher Street Day in Berlin 2018 wie jetzt das Angebot von
logisierung und Stigmatisierung von Konversionstherapien. ABE

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Flüchtlinge
Ziel Zypern
 Immer mehr Flüchtlinge drängen ins
EU-Land Zypern. Das geht aus einem
vertraulichen Bericht des Migrationsana-
lysezentrums GASIM hervor, zu dem
auch Bundespolizei und Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge gehören.
Demnach seien bis Mitte Mai mehr als
2750 Migranten gezählt worden,
die unerlaubt aus dem von der Türkei
besetzten Norden der Insel in die
Republik Zypern kamen, deutlich mehr
als zuvor. Hauptherkunftsland sei Sy-
rien, seit 2017 habe aber auch die Zahl
der Migranten aus Pakistan und Bang-
ladesch deutlich zugenommen. Die Ein-

DAVID YOUNG / DPA


reise in den Norden erfolge per Flug-
zeug aus der Türkei oder per Schiff. Mit-
unter helfen dann Schleuser über die
»Grüne Linie« in den Süden. Obwohl
Protestierende am Hambacher Forst Zypern seit 15 Jahren EU-Mitglied ist,
behandeln seine Behörden die Flüchtlin-
ge offenbar schlecht. Die ȟberwie-
Kohleabbau gende Mehrheit« müsse sich selbst eine
Unterkunft suchen, die Obdachlosigkeit
Bürger gegen weitere Umsiedlungen nehme zu. Am Wohlstand Zyperns liege
es nicht, schreiben die deutschen Ex-
 Eine deutliche Mehrheit der Deutschen CDU-Anhängern spricht sich eine deut- perten: »Angesichts der positiven Ent-
erwartet von der Bundesregierung, dass liche Mehrheit für den Erhalt des Waldes wicklung der zyprischen Volkswirtschaft
die Abholzung des Hamburger Forsts für aus. Rund drei Viertel aller Befragten leh- ist die geringe Unterstützung für Schutz-
den Abbau von Braunkohle dauerhaft nen weitere Umsiedlungen in den Kohle- bedürftige und Asylbewerber keine
gestoppt wird. Um das Waldstück zwischen revieren ab. Die Umfrage hatte Green- Folge fehlender Mittel.« Möglicherweise
Köln und Aachen lieferten sich Umwelt- peace in Auftrag gegeben, deren Klima- wolle man dadurch Migranten abschre-
schützer und Polizei monatelang teilwei- expertin Anike Peters sagt: »Immer mehr cken. Aber auch der türkisch kontrol-
se gewalttätige Auseinandersetzungen. Menschen erwarten als Antwort auf die lierte Norden geht mit vielen Einwande-
83 Prozent von 1000 im gesamten Bun- Klimakrise einen schnellen Ausstieg aus rern anscheinend schlecht um. Seit Ende
desgebiet befragten Bürgern finden der Kohle.« Für die kommende Woche 2018 würden Flüchtlinge, die bei der
laut einer repräsentativen Umfrage des haben Klimaschützer gemeinsam mit der Einreise aufgegriffen werden, oftmals
Kantar-Instituts, dass der Hambacher Schülerbewegung »Fridays for Future« zurück ins Bürgerkriegsland Syrien
Forst möglichst dauerhaft gerettet wer- einen Marsch in das Braunkohlerevier abgeschoben. Das Flüchtlingshilfswerk
den müsse. Selbst von den befragten angekündigt. GT UNHCR sehe dies mit Sorge. JDL, WOW

Zeitgeschichte wortlich für die Deportation von mehr als


128 500 Juden, sowie den sogenannten
Seilschaft zwischen CSU- Juden-Referenten des Auswärtigen Amtes
Mann und NS-Chargen? Franz Rademacher, ebenfalls ein NS-Ver-
brecher. Der BND-Vermerk über die »Ver-
 Der einst bei CSU-Wählern überaus bindung« zwischen Goppel und Midani
beliebte Alfons Goppel, von 1962 bis 1978 stammte vom BND-Mann und Nahost-
Ministerpräsident Bayerns, hatte Kontakt experten Hartmann Lauterbacher, der mit
zu einem Netzwerk aus hochrangigen Midani Kontakt hielt. Lauterbacher, einst
NS-Verbrechern. Das zeigen Unterlagen SS-Obergruppenführer, wurde selbst
im Archiv des Bundesnachrichtendienstes diverser Verbrechen beschuldigt. Zu sei-
FOTOARCHIV OTFRIED SCHMIDT / SZ PHOTO

(BND). Die Verbindung lief über den nen Bekannten zählte der SS-Mörder und
hohen syrischen Beamten Mamdouh Mi- BND-Informant Walther Rauff, Erfinder
dani, der Anfang der Sechzigerjahre des Gaswagens, sowie SS-Sturmbannfüh-
mehrfach München besuchte, als Goppel rer Alois Schintlholzer, der dem Holo-
Landesinnenminister war. Nach einem caust-Organisator Adolf Eichmann 1950
Herzinfarkt bat Midani Goppel um Hilfe bei der Flucht nach Argentinien geholfen
bei einem Problem mit seiner Aufenthalts- hatte. Goppel war selbst SA- und NSDAP-
erlaubnis. Derselbe Midani beschäftigte Mitglied gewesen. Unklar ist, ob der
allerdings in Damaskus den flüchtigen SS- CSU-Mann um die braunen Verbindun-
Hauptsturmführer Alois Brunner, verant- Goppel 1973 gen Midanis wusste. KLW

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MICHAEL KAPPELER / DPA

CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer

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Deutschland

Auf Abruf
Parteien Die Spekulationen um die Kanzlerkandidatur offenbaren ein Machtvakuum in der CDU.
Die Vorsitzende Kramp-Karrenbauer wirkt ratlos. Eine neue Klimapolitik soll sie retten.

A
nnegret Kramp-Karrenbauer Spitze. Wo so etwas enden kann, musste lerdings wie eine normale Partei. Das ging
steht am Rednerpult in der DZ die SPD in den vergangenen 15 Jahren bit- Merkel so, als sie im Jahr 2000 Parteiche-
Bank am Pariser Platz und ter erfahren. Zahlreiche Wechsel an der fin wurde. Die eigenen Parteifreunde kri-
spricht über das transatlantische Parteispitze und ständig neue Kanzlerkan- tisierten sie unentwegt. Die volle Autorität
Verhältnis. Sie spricht leise, stellenweise didaten haben zu immer schlechteren hatte sie erst, als sie sich im Kanzleramt
stockend, manchmal ist sie kaum zu ver- Wahlergebnissen geführt. Der CDU droht etabliert hatte.
stehen. Sie hält sich, so wirkt es, streng an die gleiche Erfahrung. Solche Phasen gab es immer wieder. Die
ihr Manuskript. Wie prekär die Situation für Kramp- CDU war dann allerdings in der Opposi-
Wenig erinnert an diesem Mittwoch in Karrenbauer ist, machte in dieser Woche tion. Kramp-Karrenbauer muss als Partei-
Berlin an die Frau, die auf dem Parteitag ausgerechnet die Äußerung eines Unter- chefin um ihre Position kämpfen, obwohl
vor einem halben Jahr frei und mit kräfti- stützers deutlich. Kramp-Karrenbauer die CDU regiert. Das macht ihre Lage ein-
ger Stimme jene Rede hielt, mit der sie die habe mit der Neuaufstellung der Partei zigartig und schwierig.
CDU von sich überzeugte. Kramp-Karren- viel zu tun, sagte Fraktionschef Brinkhaus. Die neue Chefin wollte die Partei inhalt-
bauers Stimme ist inzwischen um ein paar lich eigenständiger positionieren, auch
Halbtöne nach oben gerutscht, das gibt ihr gegen die Kanzlerin. Doch Merkels Popu-
etwas mädchenhaft Schüchternes, sie larität wächst. Es würde Kramp-Karren-
klingt unsicher und wacklig. Es ist offenbar, bauers Position weiter schwächen, wenn
dass sie die Sorge umtreibt, einen Fehler sie gegen Merkel arbeitete.
zu machen. Noch einen. Wie aber soll sie dann Profil gewinnen?
Nach ihrer Rede vor der Atlantik-Brü- Eine letzte Hoffnung ist die Klimapolitik,
cke setzt sich Kramp-Karrenbauer in einen die seit der Europawahl als zentrales The-
Sessel am Ende des Podiums, sie soll noch ma gilt. Kramp-Karrenbauer hat früh da-
ein paar Fragen beantworten. Moderator rauf hingewiesen, dass die Partei in diesem
Tom Buhrow ist erstaunt: Eigentlich hatte Bereich keine Konzepte hat. Das soll im
er den Platz in der Mitte für die CDU-Che- Schnellverfahren nachgeholt werden. Da-
fin vorgesehen, »aber bescheiden, wie Sie mit, so die Hoffnung, werde sich auch der
sind, haben Sie sich an den Rand gesetzt«, liberale Flügel wieder mit der Vorsitzen-
sagt er. Bescheiden, sich an den Rand drü- den versöhnen.
MICHAEL KAPPELER / DPA

cken, das sind nicht gerade die Qualitäten Die Chancen, dass dies gelingt, stehen
einer künftigen Kanzlerkandidatin. nicht gut. Das liegt an der Zerrissenheit
Das ist mehr als eine Momentaufnahme. der Partei in dieser Frage. Es liegt aber
Bei einem Dinner für Stipendiaten des auch an Fehlern Kramp-Karrenbauers.
deutsch-amerikanischen Burns-Programms Selbst in der CDU wissen viele nicht,
am selben Abend hält Kramp-Karrenbau- wer sich gerade mit dem Thema Klima
er nahezu dieselbe Rede noch einmal. Sie Unionsfraktionsvorsitzender Brinkhaus beschäftigt. Es gibt eine informelle Arbeits-
habe fahrig gewirkt, berichten mehrere Nichts ist selbstverständlich gruppe von Experten, die der Partei-
Teilnehmer. Aus einer souveränen, selbst- vorsitzenden zuarbeitet, wie der frühere
bewussten Politikerin, die keine Nerven »Und sie wird auch unsere nächste Kanz- Bundesumweltminister Klaus Töpfer der
zeigte, als es um die Macht in der Union lerkandidatin sein.« Dass die Parteichefin »Zeit« verriet. Es gibt ein Papier zu Mobi-
ging, ist binnen weniger Monate eine ver- der CDU Kanzlerkandidatin wird, ist lität und Klima, das der stellvertretende
unsicherte Vorsitzende geworden. eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Der Parteichef Thomas Strobl und der nie-
Dass die CDU nach einem halben Jahr Wirbel, den Brinkhaus’ Äußerungen ver- dersächsische Wirtschaftsminister Bernd
Kramp-Karrenbauer in eine ernste Krise ursacht haben, zeigt, dass dies gegenwär- Althusmann erarbeitet haben.
gerutscht ist, bestreiten nicht einmal An- tig nicht gilt. Seit dem vergangenen Montag gibt es
hänger der Vorsitzenden. Kanzlerin An- Die CDU ist in den längsten Phasen ih- zudem den Beschluss des CDU-Bundes-
gela Merkel befindet sich in der letzten rer Geschichte eine disziplinierte Partei vorstands, eine Kommission unter Vorsitz
Phase ihrer Regierungszeit, den Parteivor- gewesen, die anders als die Sozialdemo- des stellvertretenden Unionsfraktionschefs
sitz hat sie bereits abgegeben. Der Frak- kraten nicht mit dem Regieren gefremdelt Andreas Jung und seines CSU-Kollegen
tionsvorsitzende Ralph Brinkhaus ist damit hat. Die Christdemokraten sind ihrem je- Georg Nüßlein einzurichten, die bis zum
beschäftigt, die eigene Macht zu sichern. weiligen Parteichef und Kanzler – oder zu- September ein klimafreundliches Steuer-
Auf Führung warten die Abgeordneten bis- letzt der Kanzlerin – gefolgt, wenn auch und Abgabensystem vorlegen soll.
lang vergebens. Die Parteivorsitzende ist oft murrend. Das hat zu langen Regie- Es ist fraglich, ob Kramp-Karrenbauer
zu schwach, diese Lücke zu füllen. rungszeiten und stabilen Verhältnissen an mit diesem Kompetenzwirrwarr in der Kli-
Die CDU steuert damit in eine Situation, der Parteispitze geführt. mapolitik in die Offensive kommen kann.
die zu den gefährlichsten im politischen In Zeiten, in denen die Führung wenig Vor einigen Wochen hatte sie im Bundes-
Geschäft gehört: ein Machtvakuum an der Autorität hat, benimmt die CDU sich al- vorstand verfügt, dass die umstrittene

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 27


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CO -Steuer nicht im Papier von Strobl und liebtheitswerte sinken und die den Beweis
²
Althusmann auftauchen soll. Sie selbst will noch schuldig ist, dass sie in der Bundes-
das nicht als inhaltliche Festlegung ge- politik reüssieren kann? Für Kramp-Kar-
meint haben. Die Gegner der Steuer in der renbauer spricht derzeit vor allem, dass
CDU hatten sie aber so verstanden. es in der Partei keinen eindeutigen Favo-
Der Co-Vorsitzende Georg Nüßlein riten gibt, der ihr die Spitzenkandidatur
macht klar, dass es mit ihm keine CO - streitig machen könnte.
²
Steuer geben werde: »Bei jährlich mehr Der nordrhein-westfälische Ministerprä-
als 50 Milliarden Euro Einnahmen allein sident Armin Laschet hätte derzeit wohl
aus dem Straßenverkehr ist die Behaup- die besten Chancen. Er hat vor allem, was
tung doch absurd, dass hier zu wenig Be- Kramp-Karrenbauer derzeit fehlt: ein Re-
preisung stattfindet«, sagt Nüßlein. »Wir gierungsamt. Er zählt wie die Parteichefin
brauchen nicht mehr Steuern, sondern ge- zum liberalen Lager, pflegt aber auch ein

MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL


zielte Anreize zur Vermeidung von Emis- gutes Verhältnis zu CSU-Chef Markus Sö-
sionen. Das gelingt am besten mit Steuer- der. Laschet ist es am ehesten zuzutrauen,
erleichterungen, die alle nach einem Motto die Abwanderung von Wählern zu den
funktionieren: CO runter heißt Steuer Grünen zu verhindern.
²
runter.« Als Außenseiter gilt Friedrich Merz, der
Auch die Idee, die Bürger, die die CO - Kramp-Karrenbauer im Dezember im
²
Steuer zahlen müssten, an anderer Stelle Kampf um den Parteivorsitz knapp unter-
zu entlasten, weist Nüßlein strikt zurück. NRW-Ministerpräsident Laschet legen war. Auch viele der eigenen Anhän-
»Ich halte nichts von einer großen staat- Derzeit die besten Chancen ger verübeln ihm, dass er sich danach nicht
lichen Umverteilungsmaschinerie unter in der Partei engagiert, sondern lediglich
dem Deckmantel des Klimaschutzes. Am »Dringend einzubeziehen sind dabei ne- den vergleichsweise unbedeutenden Pos-
Ende zahlen ohnehin die Menschen im ben Bio-Kraftstoffen auch Wasserstoff so- ten des Vizepräsidenten des CDU-Wirt-
ländlichen Raum die Zeche. Das führt wie Autogas (LPG), Erdgas (CNG) und schaftsrats angenommen hat. Merz, so die
zwangsläufig zu sozialer Spaltung.« synthetische Kraftstoffe, die CO -arm her- Befürchtung, werde es zudem den Grünen
²
Damit steht wohl ein Ergebnis der Kom- gestellt und weitgehend partikel- und stick- leicht machen, die Union als kalte Wirt-
mission fest, bevor sie überhaupt ihre Ar- oxidfrei verbrennen.« Althusmann hält es schaftspartei darzustellen.
beit aufgenommen hat. Das dürfte vor al- »für denkbar, den Emissionshandel auf den Gesundheitsminister Jens Spahn hatte
lem den Grünen neue Munition liefern. Verkehr auszuweiten«. Es klingt nicht, als auf dem Parteitag deutlich weniger Stim-
Die Arbeit der Kommission soll parallel hätte die CDU in dieser Frage schon einen men als Merz erhalten. Er hat seither an
zu den Beratungen des Klimakabinetts klaren Kurs. Statur gewonnen. In der Fraktion gibt es
stattfinden, das im September konkrete Für die Zukunft Kramp-Karrenbauers viele Abgeordnete, die ihn für kanzlertaug-
Vorschläge zum Klimaschutz vorlegen sind möglicherweise andere Dinge wichti- lich halten. Seitdem er sich auf sein Minis-
will. Damit steht Kramp-Karrenbauer vor ger als die Mobilitätsfrage. Am 1. Septem- teramt konzentriert und die Attacken auf
einem Dilemma. Fordert die Kommission ber sind Landtagswahlen in Sachsen und den Kurs der Kanzlerin eingestellt hat, ist
etwas anderes, als die Regierung beschlie- Brandenburg, Ende Oktober folgt Thürin- Spahn auch in liberalen Unionskreisen
ßen wird, dann heißt es, die CDU-Chefin gen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die kein Schreckgespenst mehr.
habe sich nicht durchgesetzt. Falls aber CDU in ein oder zwei Ländern hinter der Den automatischen Zugriff auf die Kan-
Kommission und Kabinett zu ähnlichen AfD landet. Zudem könnte die SPD bei didatur hat Kramp-Karrenbauer jedenfalls
Ergebnissen kommen, dann ist es vermut- schlechten Ergebnissen aus der Großen nicht. Sylvia Pantel, Sprecherin des konser-
lich nicht die CDU-Vorsitzende, die davon Koalition aussteigen. vativen Berliner Kreises und eine erklärte
politisch profitiert, sondern die Kanzlerin. Dann müsste sich die CDU schnell ent- Merz-Anhängerin, macht einen anderen
Offen ist auch, ob die CDU mit einem scheiden, mit wem als Spitzenkandidat sie Vorschlag: »Wenn es mehrere Kandidaten
Mobilitätskonzept punkten kann, das das in eine mögliche Neuwahl ziehen will. Mit für die Kanzlerkandidatur geben sollte,
Präsidium am kommenden Montag bera- einer Parteichefin, deren persönliche Be- halte ich eine Mitgliederbefragung für eine
ten und der Bundesvorstand eine Woche demokratische Form, die eine Mitglied-
später verabschieden soll. Grundlage sind schaft aufwerten würde.« Sie hoffe, dass
die Vorschläge von Althusmann und Strobl. Treibhausgasemissionen es dafür noch ausreichend Zeit gebe. Das
In ihrem Papier legen sich die beiden nicht in Deutschland, in Millionen Tonnen faire und demokratische Verfahren zur
auf die Förderung von Elektroautos fest. CO2-Äquivalente *Schätzung; Quelle: UBA Wahl der Parteivorsitzenden habe der
Die Frage der Technologie sei »noch un- CDU nicht geschadet, sondern ihr Auftrieb
beantwortet«. In dem Konzept heißt es: 993 gegeben, sagte Pantel.
908 942 907 Klimaziele der
»Hohe Anschaffungskosten und geringe 866* Bundesregierung Die Geschichte bietet für Kramp-Kar-
Reichweiten halten Kunden zurzeit noch renbauer wenig Trost. Merkels Position als
vom Einstieg in diese Technologie ab.« 751 Parteivorsitzende stabilisierte sich, als sie
Auch sei die Energiebilanz der Elektro- 2002 dem damaligen CSU-Chef Edmund
autos mit Batteriespeicher noch nicht gut, 563 Stoiber bei dem berühmten Frühstück in
sie müsse deshalb mit anderen Antriebsar- Wolfratshausen die Kanzlerkandidatur an-
ten »ganzheitlich« verglichen werden. trug. Diesmal wird es anders laufen. Ent-
Die CDU-Politiker schlagen deshalb ? weder Kramp-Karrenbauer wird Kanzler-
zwar maßvolle Subventionen für Elektro- weit-
kandidatin, oder sie muss nach der Wahl
autokäufer und mehr Ladesäulen vor. Es gehend vom Parteivorsitz zurücktreten.
klima-
müssten aber auch Gas, das in Verbren- neutral Christiane Hoffmann, Ralf Neukirch,
nungsmotoren verbrannt wird, sowie Gerald Traufetter
Brennstoffzellen weiter gefördert werden. 2005 2009 2013 2017 2018 2020 2030 2050

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Deutschland

Der Mann
Doch nun, nach der Wahl, stockt der ben nur auf einen Posten Anspruch – den
Karriereplan. Zwar verhandeln Christ- und des Kommissionspräsidenten.«
Sozialdemokraten sowie Liberale und Grü- Dass auch er eine Verantwortung für

im Schatten
ne im Europaparlament über eine Art das schwache Abschneiden seiner Partei
Regierungsprogramm für die nächste Kom- hat, darüber verliert Daul kein Wort. Trotz
mission, wer den höchsten Posten über- monatelanger Planung des Projekts Weber
nehmen soll, bleibt jedoch vorerst offen. war die verstaubte EVP-Zentrale für einen
EU Der EVP-Parteichef Bei den europäischen Staats- und Re- europaweiten Wahlkampf kein bisschen
gierungschefs ist der Widerstand gegen vorbereitet, als Webers Leute einzogen.
förderte Manfred Webers Aufstieg Weber groß. Neben Macron wollen auch Die heuerten als Erstes junge Profis für ein
zum Spitzenkandidaten. die Regierungschefs aus Belgien, den Nie- Social-Media-Team an.
Doch nun wird Joseph Daul zur derlanden, Portugal und Spanien das Auch die Frage, ob die Partei von Un-
Machtmonopol der EVP im Kommissions- garns Premier Viktor Orbán weiter Mit-
Belastung für den CSU-Mann. hauptquartier brechen. Auch Angela Mer- glied der EVP sein könne, vermochte Daul
kel sind die Hände gebunden, denn die bis heute nicht abschließend zu klären.

B rüssel, am Dienstag nach der Euro-


pawahl: Frankreichs Präsident Em-
manuel Macron steht im Ratsgebäu-
de im grellen Licht der Fernsehkameras
Kanzlerin hat bei der Personalie Weber
derzeit nicht die Rückendeckung ihres
Koalitionspartners.
»Uns ist ein Sozialdemokrat lieber als
Jean-Claude Juncker, der scheidende Kom-
missionschef, spottete im kleinen Kreis,
ein Politiker, der Mitglied der EVP werden
wolle, müsse bei Daul nur eine Frage be-
und erklärt den Journalisten ziemlich deut- ein Deutscher«, heißt es im Umfeld von antworten: »Bist du Sozialist?« Laute die
lich, welch hohe Anforderungen er an Vizekanzler Olaf Scholz. »Klar ist, dass Antwort Nein, dürfe er mitmachen.
die Person des künftigen Kommissionschef
stelle. Zugleich macht sich ein älterer Herr
zu einem Termin auf, über den nichts aus-
gestrahlt und nichts in den Zeitungen ste-
hen wird.
Macron, das wird deutlich, wäre es am
liebsten, wenn Manfred Weber seine Hoff-
nungen auf den EU-Spitzenposten bereits
am selben Tag beerdigen müsste. Es kommt
aber zunächst einmal anders, und das hat
auch mit der Botschaft zu tun, die der ältere
Herr Macrons Staatssekretärin für Euro-
paangelegenheiten, Amélie de Montchalin,
überbringt. Die EVP, teilt Joseph Daul sei-
ner Gesprächspartnerin mit, stehe zu ih-
rem Spitzenkandidaten Weber.
Daul, 72, ist der Schattenmann der Brüs-
seler Szene. Der passionierte Jäger und
Wochenendlandwirt aus dem Elsass ist
nicht nur Chef der Europäischen Volkspar-

SVEN HOPPE / DPA


tei, des Zusammenschlusses von Europas
Christdemokraten. Er ist auch einer der eif-
rigsten Strippenzieher im EU-Politzirkel.
Formell bekleidet Daul kein besonders
machtvolles Amt, denn die wichtigen Ent- Europapolitiker Daul, Weber: Die Krönung eines Projekts
scheidungen fallen in den Parteizentralen
der Hauptstädte, nicht in Brüssel. Doch
Dauls Netzwerk ist gerade in diesen Tagen die SPD Weber nicht mitträgt.« Die Zeit Dazu kommt, dass Dauls lichtscheue
gefragt. Es geht darum, CSU-Mann Weber, drängt, denn Ratspräsident Donald Tusk Art, Politik zu machen, im Kontrast zu
46, zum Kommissionspräsidenten zu ma- strebt eine Einigung beim EU-Gipfel am Webers Aussagen im Wahlkampf steht.
chen. Es wäre die Krönung eines Projekts, kommenden Donnerstag an. Dass dies ge- »Wir müssen raus aus den Hinterzim-
das Daul seit Jahren betreibt: des Aufstiegs lingt, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. mern«, hatte der CSU-Mann nicht nur
seines Schützlings an die Spitze der EU. Umso heftiger legt sich Daul für seinen einmal gefordert. Sein Mentor Daul aber
Daul hat Erwin Huber als Webers Men- Schützling ins Zeug. »Wir danken dir ist, wenn man so will, das personifizierte
tor abgelöst. Als CSU-Parteichef sorgte schon jetzt, Angela, für diesen Erfolg«, ruft Hinterzimmer.
Huber dafür, dass Webers Karriere nahtlos er der Kanzlerin bei der Abschlussveran- Webers Schicksal dürfte sich in den
weiterging, als dieser als Chef der Jungen staltung der EVP kurz vor der Wahl in kommenden Wochen entscheiden, doch
Union aufhörte. In Brüssel nahm Daul den München zu und versucht so, sie in seinem ausgerechnet jetzt schwächelt Daul. Seine
jungen Abgeordneten an die Hand. Sinne in die Pflicht zu nehmen. Kontaktversuche laufen da ins Leere, wo
Nach der Europawahl 2014 räumte er Als der Wahlsieg für die Christdemo- die Unterstützung am nötigsten wäre – bei
sogar seinen Posten als EVP-Fraktionschef kraten zwei Tage später nicht so überzeu- Frankreichs Präsident Macron. Denn am
für Weber. Für diesen war der Job das per- gend ausfällt wie erhofft, ist es erneut Daul, Ende wird nicht dessen Staatssekretärin
fekte Sprungbrett, um fünf Jahre später der die Linie vorgibt. »Wir haben die Wahl entscheiden, welchen Kandidaten Frank-
als Spitzenkandidat anzutreten. »Im Grun- gewonnen«, sagt er spätabends in einem reich favorisiert, sondern der Chef selbst.
de«, so sagt es ein prominenter EVP-Poli- Hotel vor Parteifreunden. Weber, aus Ber- Peter Müller, Christian Reiermann
tiker, »ist Weber Dauls Erfindung.« lin herbeigeeilt, steht daneben. »Wir erhe-

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Deutschland

»Wir müssen lernen,


mutiger intolerant zu sein«
SPIEGEL-Gespräch Zum ersten Mal seit seinem Ausscheiden aus dem Amt redet Joachim Gauck
über seine Zeit als Bundespräsident: von seinen Erfahrungen und Wandlungen,
von mangelnder Achtung für Alexander Gauland und Bewunderung für Angela Merkel,
der Politik der Angst und dem zerrissenen Bild der Deutschen von sich selbst.

SPIEGEL: Herr Gauck, vermissen Sie es, gisch gesprochen – »gesättigt«. Als 2012 Gauck: In einer Demokratie haben die Ak-
Bundespräsident zu sein? die zweite Anfrage kam, konnte ich nicht teure oft übergroße Vorstellungen von
Gauck: Nein. Es war mir schon länger klar, sagen: April, April, ich wollte nur mal ge- dem, was möglich ist. Ein Bundespräsident
dass ich nur eine Amtszeit machen wür- nannt werden, aber die Herausforderung kann nicht operativ politisch tätig werden.
de. Als die Verhältnisse etwas unsicherer gar nicht annehmen. Gut ist es, wenn von ihm eher grundlegen-
und stabilisierende Elemente gesucht wur- SPIEGEL: Und was genau war Ihr politi- de Anregungen und Impulse kommen. Für
den, habe ich zwar noch mal überlegt. sches Motiv? mich beispielsweise war und ist der Men-
Aber die Zustände waren nicht so besorg- Gauck: Mir fehlte vor allem bei den von talitätswandel der Deutschen ein wichtiges
niserregend, dass ich mein Vorhaben ge- 68 geprägten Deutschen dieses Gefühl, in Thema. Ich bin im Krieg geboren, und als
kippt hätte. einem guten Zuhause zu leben, das kost- junger Mensch stand ich im tiefsten Wi-
SPIEGEL: Sie sprechen von den Folgen bare Güter besitzt: den Rechtsstaat, die derspruch zur Elterngeneration. Ich hasste
der Migrationskrise 2015/16, vom Aufstieg Rechtstreue der Bevölkerung, die demo- dieses Land, weil ich die Tiefe des Abgrun-
der AfD. kratischen Institutionen, die wirtschaft- des nicht verstehen konnte, und es ist mir
Gauck: Es gab zwar viel Zuspruch für eine liche Stärke, das soziale Netz. Mir fehlte bis heute ein Rätsel, wie ein so kultiviertes
zweite Kandidatur. Aber ich wollte meine das Bewusstsein davon, dass wir in Zustän- Land da hineingeraten kann. Deswegen
Gesundheit oder meine psychische Leis- den lebten, die besser waren als jemals zu- habe ich mich lange Jahre meines Lebens
tungsfähigkeit nicht hochrechnen. Ich mer- vor in der Geschichte, positiv gewachsen mit der Aufarbeitung beschäftigt. Wir ha-
ke doch jetzt mit Ende siebzig, dass die aus einer Katastrophe. Mir ging es darum, ben übrigens auch, wohl aus gutem Willen,
Kräfte nachlassen. den Menschen zu sagen: Ihr habt Grund, den pädagogischen Fehler gemacht, in der
SPIEGEL: Sie sind jetzt seit zwei Jahren euch zu vertrauen, glaubt das, was ihr sel- Zeit nach 68 die junge Generation noch
nicht mehr im Amt, die Zeiten haben sich ber geschaffen habt, und bei allem Respekt mit in Haftung zu nehmen für das, was un-
nicht beruhigt. vor der großen Last, die durch die Vergan- sere Elterngenerationen getan haben.
Gauck: Mein Nachfolger Frank-Walter genheit auf uns liegt: Schätzt auch eure SPIEGEL: Welchen Fehler meinen Sie ge-
Steinmeier musste zu Beginn seiner Amts- Potenziale für die Gegenwart und Zukunft nau?
zeit beim Zustandekommen einer Regie- nicht gering. Gauck: Eine unschuldige Generation mit
rung helfen. Er kann mit den Sozialdemo- SPIEGEL: 2014 auf der Münchner Sicher- Schuld zu infizieren. Aus der guten Ab-
kraten doch ganz anders reden als ich. Ich heitskonferenz haben Sie eine Rede gehal- sicht: nie wieder!
bin parteilos, er kennt die Leute, ihre Hal- ten, in der Sie forderten, dass Deutschland SPIEGEL: Warum ist das ein Fehler?
tungen, er konnte ihnen mit Rat und Er- sich außenpolitisch stärker engagieren soll- Gauck: Weil es neurotisch ist. Die Jungen
fahrung zur Seite stehen. Ich habe nicht te – auch mit militärischen Mitteln. Das müssen wissen, was geschah, und aus die-
das Gefühl, dass ich fehle. kam nicht überall gut an. sem Wissen erwächst Verantwortung für
SPIEGEL: Vermissen Sie die Öffentlichkeit? Gauck: Ich hatte ja vor, den Deutschen das politische Handeln, aber du sollst ih-
Gauck: Eher weniger. Aber wenn ich den zu sagen: Das ist ein wunderbares Land, nen nicht das Gefühl der Scham oder der
Wunsch habe, Themen, die mir wichtig übernehmt mehr Verantwortung – aber Schuld implementieren, weil Schuld indi-
sind, mit der Öffentlichkeit zu besprechen, erst gegen Ende meiner Amtszeit. Aber viduell ist. Die Nachgeborenen aber haben
so ist das möglich. dann kam diese Debatte über den schla- keine Schuld. Sie sind junge Deutsche, an-
SPIEGEL: Warum sind Sie eigentlich Bun- fenden Riesen Deutschland, die auch im dere Deutsche.
despräsident geworden? SPIEGEL angerissen wurde (Titelgeschichte SPIEGEL: Sie meinen, Deutschland ist mit
Gauck: Ich hatte schon 2010 auf Vorschlag 13/2013 –Red.). Deswegen hielt ich es für der Aufarbeitung seiner Geschichte zu
von Rot-Grün kandidiert, und auch wenn nötig, Deutschland früher an seine Mög- weit gegangen?
es damals nicht reichte, war der Zuspruch lichkeiten und an seine Verantwortung zu Gauck: Insgesamt war der Prozess rich-
erstaunlich hoch. Das hat mich geehrt, ich erinnern. tig und wichtig. Und hat geholfen, dass
reiste danach viel als sogenannter Demo- SPIEGEL: Wie viel konnten Sie erreichen Deutschland gegenüber dem Ausland und
kratielehrer durchs Land. Eigentlich war von dem, was Sie wollten? Was kann ein gegenüber sich selbst glaubwürdig wurde.
ich politisch ausgelastet und – psycholo- Bundespräsident überhaupt erreichen? Allerdings hat eine teilweise Fokussierung

32 Fotos: Gene Glover für den SPIEGEL


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Joachim Gauck, 79,


war von 2012 bis 2017
deutscher Bundesprä-
sident. Der in Rostock
geborene evangelisch-
lutherische Pastor leite-
te von 1990 bis 2000
die Stasi-Unterlagen-
behörde. Am 18. Juni
erscheint bei Herder
sein Buch »Toleranz:
einfach schwer«.
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auf die eigene Schuld viele Deut- die ihnen momentan vielleicht nicht
sche dazu geführt, sich selbst grund- vor Augen stehen.
sätzlich zu misstrauen. Karl Jaspers SPIEGEL: Sind manche Ängste ty-
hat von einer Durchhellung gespro- pisch deutsch?
chen, ein Therapeut würde von ei- Gauck: Es gibt eine Zurückhaltung,
nem Durcharbeiten von Trauma die eigene Verteidigungsbereitschaft
und Schuld sprechen. Wenn wir die- zu signalisieren. Eine Zurückhal-
se Begrifflichkeit ins Politische über- tung, bereit zu sein, diese Demo-
tragen, dann hat die intensive Be- kratie zu schützen und zu verteidi-
schäftigung dazu geführt, dass wir gen, in der ich lebe und die ich für
wirklich von etwas Abschied genom- lebenswert halte. Menschen haben
men haben, das jahrzehntelang zum für diese Werte gekämpft, Milliar-
deutschen Wesen gehörte. Dieser den Menschen sehnen sich danach.
Größenwahn, dieses Gefühl, wir sei- Ich sehe aber gleichzeitig auch eine
en etwas ganz herausragend Bedeu- Politik, die sich als tröstliches An-
tendes. Andererseits haben wir das gebot für verunsicherte Bevölke-
so intensiv gemacht, dass zu viele rungsschichten anbiedert: Der neue
Deutsche basale Fähigkeiten des Nationalismus setzt die eigene Na-
Selbstvertrauens eingebüßt haben. tion an die erste Stelle und schürt
SPIEGEL: Sie haben jetzt ein Buch Fremdenhass, Antisemitismus, Is-
geschrieben. Warum? Ist das eine lamfeindlichkeit. Es empört mich,
Art Fortsetzung Ihres politischen wenn Leute jetzt so tun, als könnte
Amtes? man sich unkritisch in eine deutsche
Gauck: Ich habe ein Buch über Toleranz nahme erfährt. Das sind ungesunde Ent- Tradition stellen, die Verbrechen began-
geschrieben, weil sehr viele Menschen an wicklungen. gen hat. Es befremdet mich, wenn Politiker
ihre Toleranzgrenze gekommen sind. Zu SPIEGEL: Sie schreiben, dass das Opfer- Unterstützung gewinnen, weil sie ohne
viel wandelt sich in zu kurzer Zeit, tech- dasein nicht Freiheit produziere, sondern jede Abstriche die eigene Nation »first«
nologisch, gesellschaftlich, kulturell. Das den Wunsch nach Fürsorge. setzen und die ethnische, kulturelle und
spürt man beim Blick ins eigene Land, Gauck: Ein banales Beispiel nur: Ein Groß- sexuelle Pluralität ablehnen, die Deutsch-
aber auch in andere Länder. In die USA vater geht mit seinen Enkeln, Vorschul- land und andere europäische Staaten in
zum Beispiel. Oder nach Polen, wo große jungs, in den Garten, wo sie gerne auf ei- Zeiten der Globalisierung unwiderruflich
Koalitionen derzeit nicht denkbar sind, nen Baum klettern. Aber es ist besser, gewonnen haben.
weil die gesellschaftlichen Blöcke einander wenn die Mama nicht dabei ist. Die Liebe SPIEGEL: Sie sprechen von den Gründen
feindlich gegenüberstehen. Es sind Zeiten der Mutter sieht so viele Möglichkeiten für den Aufstieg der Rechten. Welche Rol-
des forcierten Wandels. Doch Menschen abzustürzen, dass sie den Baum am liebs- le spielen ökonomische Gründe?
fürchten sich in der Regel vor Wandel. Wir ten vor den Kindern verbergen würde. Gauck: »It’s not the economy, stupid.« Je-
leben in einer Phase, vergleichbar mit dem Ängste sind hilfreich, sie schützen uns vor denfalls nicht nur. Es ist ganz wesentlich
Beginn des Maschinenzeitalters, als die Gefahren. Aber wer im anderen oder in auch die Kultur. Schauen Sie sich Skandi-
Romantik entstand als Sehnsucht der Men- sich selbst vor allem das mögliche Opfer navien oder auch die Niederlande an. Das
schen, die unter dem Fortschritt litten und sieht, blockiert sich oder anderen den Zu- sind die höchstentwickelten Demokratien
nur Entfremdung sahen. Und im Vergleich gang zum Leben. der Welt mit den besten Lebensverhältnis-
zum Zeitalter der Informationstechnolo- SPIEGEL: Ohne Risiko keine Entwicklung. sen, und trotzdem gibt es dort einen rele-
gien war das Maschinenzeitalter eher ein Gauck: Eine erwachsene Gesellschaft muss vanten Teil der Bevölkerung, der ein Un-
milder Wandel. Die neuen Informations- die Risiken abwägen. Eine ängstliche Be- behagen an der Leitkultur der politischen
technologien, freudig begrüßt von fort- völkerung ist Verfügungsmasse für poli- Moderne hat. Das kann nicht nur soziale
schrittlichen Menschen, die sich die De- tische Manipulatoren, und auch wenn ich Gründe haben. Das Gefühl, dass Wandel
mokratisierung des Diskurses erhofften, gerne einräume, dass sogar die Guten eine Gefahr ist, weil er uns von uns selber
sind jetzt auch eine Angstmaschine. Hinzu manchmal manipulativ sind, ist es so, dass entfremdet, ist eine anthropologische Kon-
kommen Ängste vor der Globalisierung überall in Europa Kräfte reüssieren, die stante wie die Furcht vor dem Fremden.
und einer Entgrenzung im Prozess der eu- aus Entheimatungsängsten und Zukunfts- Die demokratische Moderne kann mit sol-
ropäischen Vereinigung. Und Menschen, ängsten Machtpolitik machen. chen Ängsten umgehen, weil sie die Leute
die sich ängstigen, sind immer gefährdet, SPIEGEL: Die Floskel der Politik heißt: auffordert, das öffentlich zu benennen.
weil es immer Politiker gibt, die mit diesen Man muss die Ängste und Sorgen der Men- Im öffentlichen Diskurs kann man dann
Ängsten arbeiten. schen ernst nehmen. Ängste relativieren. Funktioniert das nicht,
SPIEGEL: Ängste lassen auch vermeintlich Gauck: Ernst nehmen heißt nicht, den potenzieren sich die Angstwellen und su-
Gute Böses tun. Ängsten zu folgen. chen sich irrationale Wege. Natürlich gibt
Gauck: Ängste sind menschlich, aber wir SPIEGEL: Und stattdessen? es Länder, die sozial unterversorgt sind,
müssen ihnen nicht folgen: Wir haben Gauck: Die Menschen daran zu erinnern, und die Menschen haben das Gefühl, dass
die Fähigkeit zur Ermächtigung und zum dass sie Gestaltungsmöglichkeiten haben, die Demokratie das nicht richtet. In den
Mut. Aber die geht manchen Menschen Teilen Europas, in denen soziale und kul-
ab, weil sie sich im Status des Opfers ein- turelle Unsicherheit herrschen, ist Libera-
gerichtet haben. Es gibt selbstverständlich
Opfer, die unserer Solidarität und Zuwen-
»Die DDR lismus kein gutes Wort.
SPIEGEL: Warum genau?
dung bedürfen. Aber teilweise gibt es auch ist mental teilweise Gauck: In Russland und anderen Teilen
einen Wettbewerb darin, Opfer zu sein,
weil man als Opfer von Verantwortung
ähnlich geprägt Osteuropas hat sich das Versprechen von
Demokratie als Beginn eines Raubritter-
entlastet ist und sogar noch Rücksicht- wie Osteuropa.« tums dargestellt. Für die, die keine Raub-

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Deutschland

ritter sind, ist das oft schmerzhaft. In Ost- »Ich frage mich, ob mokratischer wurde, sind sie heimatlos
europa und in Russland gibt es eine andere geworden.
politische Kultur. es politisch nützlich ist, SPIEGEL: Sie meinen, die CDU muss zu-
SPIEGEL: Gilt das auch für die ehemali- rück nach rechts rücken?
ge DDR?
jeden Kandidaten Gauck: Die CDU muss für diesen Typus
Gauck: Die DDR ist mental teilweise ähn- der AfD abzulehnen.« des Konservativen wieder Heimat werden.
lich geprägt wie Osteuropa. Das sage ich, Deswegen werbe ich im Buch auch für eine
auch wenn sich jetzt viele im Osten nega- erweiterte Toleranz in Richtung rechts.
tiv bewertet fühlen. Da waren Eigensinn deutschen in zwei Fraktionen trennen: in Wir müssen zwischen rechts – im Sinne
und Eigenständigkeit ganz schlecht und jene, die von Herzen die Demokratie be- von konservativ – und rechtsextremistisch
Gehorsam und Anpassung gut. Es gab Mi- jahen, und jene, die sagen: Das Neue ist oder rechtsradikal unterscheiden.
lieus, die sich davon freimachten, aber die nicht das, wonach wir uns gesehnt haben. SPIEGEL: Toleranz, schreiben Sie in Ihrem
großen Mehrheiten wurden zum Funktio- SPIEGEL: Von diesen Protestwählern sind Buch, sei auch eine Zumutung.
nieren erzogen. Sie sehnten sich nach Ver- viele zur AfD abgewandert. Gauck: Ja, denn sie fordert viele – und auch
änderungen und Verbesserungen, aber sie Gauck: Protestwähler wollen düpieren, mich – immer wieder heraus auszuhalten,
hatten das eigenverantwortliche Handeln die Regierenden erschrecken, egal unter was uns nicht gefällt. Und beispielsweise
verlernt. So entstanden systembedingt welchem Firmenschild. nicht jeden, der schwer konservativ ist, für
Haltungsdefizite an staatsbürgerlichem SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Gefahr für die Demokratie zu halten
Verhalten. die Sehnsucht nach dem Autoritären als und aus dem demokratischen Spiel am
SPIEGEL: Zugleich haben die DDR-Bürger eine Conditio humana. liebsten hinauszudrängen. Andererseits
die ermächtigendste Erfahrung überhaupt Gauck: In dem Buch zitiere ich die Arbeit müssen wir lernen, mutiger intolerant zu
gemacht: eine demokratische Revolution. der australischen Wissenschaftlerin Karen sein. Es ist Schluss mit Nachsicht, wenn
Warum sind einige von denen, die damals Stenner über autoritäre Dispositionen. Es Menschen diskriminiert werden oder Recht
aktiv waren, heute die Protagonisten der gibt Menschen, die Law-and-Order-Typen und Gesetz missachten. Das ist offen zu
Angst? sind, die in erkennbaren Ordnungen leben verurteilen und unter Umständen ein Fall
Gauck: Das ist nur eine Minderheit, die und Sicherheit wollen. Ich dachte immer, für Staatsanwälte und Richter. Toleranz ent-
meisten von ihnen sind aktiv geblieben. zu diesen Menschen muss man nur in der hält das Gebot zur Intoleranz gegenüber
Man musste Angela Merkel, Richard Schrö- richtigen Sprache sprechen und ihnen er- Intoleranten, gleichgültig ob sich diese poli-
der, Matthias Platzeck, Marianne Birthler, klären, warum die politische Moderne ein tisch links oder rechts verorten oder dem
Katrin Göring-Eckardt oder mich nicht Segen ist. islamischen Fundamentalismus angehören.
zwingen, in die Politik zu gehen. Wir sind SPIEGEL: Und nun sind Sie enttäuscht, Nur so kann die Toleranz geschützt werden.
aufgewacht: Es geht los! Für andere hin- dass nicht alle Menschen so freiheitsbe- SPIEGEL: Schwierig, wo man da die Gren-
gegen begann die Sorge: Kann ich das? geistert sind. zen zieht.
Will ich das? Dass wir uns selbst auch ver- Gauck: Wenn Sie so wollen, war das Gauck: Darüber müssen wir streiten. So-
ändern müssen, das haben sich viele nicht mein Idealismus. Ich fürchte, dass wir ak- lange das Grundgesetz nicht verletzt wird,
vorgestellt. Auch nicht, dass der Unter- zeptieren müssen, dass es immer Men- sondern nur unangenehme Thesen vertre-
schied zwischen Ost- und Westdeutschen schen geben wird, für die Sicherheit und ten werden, und solange Menschen da
häufig geringer als der zwischen Ostdeut- gesellschaftliche Konformität wichtiger sind, die widersprechen können, ist das
schen und Ostdeutschen sein kann. Und sind als Freiheit, Offenheit und Pluralität Ausdruck einer offenen Gesellschaft. Wir
dass wir in Teilen tatsächlich abgehängt und die lieber im Status quo verbleiben verlieren uns selbst, wenn wir so tun, als
werden können und manche Gegenden als einen unsicheren Fortschritt riskieren. wäre es zu gefährlich, in großer Offenheit
weitgehend veröden, hat sich auch kaum Früher waren diese Menschen in einer Probleme zu debattieren, weil das Volk so-
jemand vorzustellen vermocht. Doch es CDU/CSU von Dregger und Strauß behei- fort wieder umkippen könnte und eine
stört mich sehr, dass wir, wenn wir über matet. Doch seitdem die CDU sozialde- Diktatur wählen würde.
die Ostdeutschen sprechen, meist SPIEGEL: Wenn die Wahl eines
die Minderheit meinen, die bei Pe- AfD-Abgeordneten zum Vizepräsi-
gida unterwegs oder populistischen denten des Bundestags blockiert
Parteien zugetan ist. wird: Ist das ein Beispiel für sinn-
SPIEGEL: Ist das nur eine Minder- volle Intoleranz?
heit? Gauck: Nein, das ist ein problema-
Gauck: Ja. tischer Weg. Natürlich hat jeder
SPIEGEL: In Sachsen und in Bran- Abgeordnete das Recht, denjeni-
denburg könnte die AfD in diesem gen zu wählen, den er will. Aber
Jahr stärkste Partei werden. Wenn ich frage mich, ob es politisch nütz-
man die Stimmen für die Linke da- lich ist, jeden Kandidaten der AfD
zuzählt, die man auch als links- abzulehnen.
populistisch bezeichnen könnte SPIEGEL: Haben auch Pegida und
oder als Partei mit einer totalitären die AfD etwas grundsätzlich Er-
Wurzel, dann sind wir schon näher mächtigendes?
an einer Mehrheit. Gauck: Politisch ist es nicht gut,
Gauck: Es sind absolut immer noch wenn eine bestimmte Gruppierung
mehr, die CDU, FDP, Grüne und der Gesellschaft nicht repräsentiert
SPD wählen. Blicken Sie nach Polen wird. Es ist notwendig, auch deren
und Ungarn: Da stellen die Rechts- Themen in einer Partei zu formu-
populisten tatsächlich die Mehrheit lieren, dann sind sie auf der Agen-
im Parlament. Außerdem kann da, und man kann sie auch gerne
man auch die Linke wie die Ost- bekämpfen.

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 35


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Deutschland

SPIEGEL: Die AfD ist also notwendig? das haben wir versucht, in den und den
Gauck: Ich finde die AfD verzichtbar. Nicht
»Man muss sagen können, Verhandlungen haben wir das erreicht,
verzichtbar ist es, dass die anderen Par- dass Zuwanderung in und ja auch: Entschuldigung bitte, dieses
teien alle relevanten Themen und Pro- und jenes haben wir übersehen. Außer-
bleme bearbeiten. Dabei geht es nicht
diesem Maße nicht nur dem sehe ich, dass tatsächlich eine Suche
darum, den Populisten hinterherzulaufen, Bereicherung ist.« begonnen hat, wie Menschen außerhalb
sondern ihnen umgekehrt die Deutungs- politischer Parteien und der Wahlen
hoheit zu nehmen. Doch wenn die AfD am politischen Meinungsbildungs- und
schon existiert, besteht meine Toleranz Gauck: Nicht in Panik zu verfallen. Entscheidungsprozess beteiligt werden
darin, dass ich mit ihr streite und sie als SPIEGEL: Das scheint nicht zu funktio- können.
politischen Gegner betrachte. Aber ich nieren. SPIEGEL: Kann es sein, dass in unserer
sage nicht: Ihr seid Feinde, ihr müsst zer- Gauck: Ich finde, dass eine junge Frau alles politischen Landschaft und unserer Gesell-
stört werden. Recht der Welt hat, ihr Umfeld und mei- schaft in immer schnellerem Rhythmus
SPIEGEL: Würden Sie sich mit Herrn Gau- netwegen die ganze Welt mit ihren Gefüh- neue Eruptionen hervorbrechen?
land auf ein Podium setzen? len in Aufregung zu versetzen. Doch ge- Gauck: Die Wut gegenüber der Politik
Gauck: Eher nicht. Dafür habe ich nicht wählte Politiker müssen Lösungen für den kann uns zu schnellerem, positivem Han-
genug Achtung gegenüber Herrn Gau- Klimawandel mit denen in sozialen und deln leiten, aber auch zu schrecklichen
land. Ich kann nicht tolerieren, dass er ökonomischen Bereichen verbinden. Und Rückschlägen. Als meine Eltern jung wa-
sich von extrem Rechten unterstützen es gibt nun mal unterschiedliche Ansich- ren, gab es in Deutschland das Gefühl, die
lässt. Das überschreitet meine ganz per- ten, was hilfreich ist und was nicht. Politik Demokratie tauge nichts, die Leute waren
sönliche Toleranzgrenze. Jeder darf doch durchschlägt nicht gordische Knoten, Poli- arm und arbeitslos und riefen nach einem
selbst über die Ausdrucksformen bestim- tik ist harte Auseinandersetzung und das Führer. Eine neue Zeit müsse anbrechen.
men, in denen er sich mit dem auseinan- geduldige Bohren ganz dicker Bretter. Das war ein tief empfundenes Gefühl bei
dersetzt, was er tolerieren – dulden – soll SPIEGEL: Die Antwort der Politik heißt: vielen eher unpolitischen Menschen, die
und will. Es ist kompliziert. Das hat in einer digital gar kein faschistisches Programm im Kopf
SPIEGEL: Warum fällt Ihnen das bei Herrn verfassten Gesellschaft, in der viel Wut hatten, sondern nur das Gefühl: Es muss
Gauland besonders schwer? und Empörung produziert und auch be- sich etwas ändern.
Gauck: Herr Gauland ist akademisch, hu- lohnt wird, nicht viel Durchschlagskraft. SPIEGEL: Vergleichen Sie da gerade das
manistisch gebildet, er hat sogar ein Buch Gauck: Sie werden Ihren SPIEGEL auch Jetzt mit Zuständen der Weimarer Repu-
geschrieben mit dem Titel: »Was ist Kon- nicht umstellen, nur weil Sie wissen, dass blik?
servatismus?« die meisten Leute sich eher für Unterhal- Gauck: Die sozialen Probleme waren da-
SPIEGEL: Er war eigentlich ein Urkonser- tung oder Comedy interessieren. Ihr An- mals ungleich größer, die Verunsicherung
vativer. spruch ist es, über politische Probleme an- existenziell erfahrbar, wenn du samstags
Gauck: Konservative müssen nicht unbe- gemessen zu berichten – das heißt, die un- mit einem Rucksack voller Geld nach
dingt reaktionär sein. terschiedlichen Facetten von Wirklichkeit Hause kamst, und am Montag reichte das
SPIEGEL: Sie haben vorhin gesagt, dass und diese mühsame Suche nach Kompro- gerade noch für ein Brot und eine Kanne
die Ängste vor allem auf der Rechten eine missen abzubilden. Milch. Ich mag die Gleichsetzung von
große Rolle spielen. Inzwischen hat sich SPIEGEL: Aber die Parteien, die Kompro- Weimar und dem Jetzt nicht. Damals
eine junge Protestbewegung gebildet, die misse schließen müssen, verlieren Wähler. gab es eine Demokratie, aber nicht genug
eher links und kapitalismuskritisch ist und Gauck: Ein junger Mensch sagt, Kompro- Demokraten, das ist jetzt anders. Die
vor allem von der Angst vor einer Klima- misse sind widerlich. Aber die Parteien deutsche Demokratie ist nicht in Gefahr.
apokalypse getrieben wird. sollten nicht so tun, als müssten sie sich Aber es ist auffällig, dass gewisse Themen
Gauck: Jahrelang hatten Menschen mei- nun ein jugendgemäßes Gewand anzie- nicht ausreichend von der Regierung ver-
nes Alters das Gefühl, die Jugend sei nicht hen. Stattdessen sollten sie sagen: Das und sorgt wurden.
mehr politisch. Mir gefällt es, dass SPIEGEL: Welche?
da Leute sind, die früh eine Hal- Gauck: Man muss sich beispielswei-
tung entwickeln: Ich bin verant- se manchmal eingestehen, dass die
wortlich. Das ist meine Umwelt. falschen Leute nicht immer nur et-
Es ist mein Leben. Und ich bin Ak- was Falsches sagen. Wenn in einem
teur und nicht Opfer. Andererseits politischen Lager Kontrollverlust an-
wäre es etwas leichtfertig, sich da- nonciert wird, dann muss man sich
rüber nur zu freuen. Solch ein Sze- fragen: Sind das nur Demagogen
nario des Weltuntergangs kann mit irgendwelchen Verschwörungs-
sich schnell in Empörung und Hilf- theorien? Oder ist da etwas dran?
losigkeit erschöpfen. Von Angst ge- Und vielleicht ist ja etwas dran,
triebene Aufwallungen sind schwer wenn man zugibt, die Grenzen nicht
vorherzuberechnen. Bricht die Be- ausreichend sichern zu können.
wegung in sich zusammen, oder SPIEGEL: Hat die Regierung das
wird daraus öffnende, gestalteri- 2015 und 2016 versäumt?
sche Politik? Gauck: Die Regierung würde sagen,
SPIEGEL: Der Kernsatz dieser Pro- dass sie damals angemessen reagiert
testbewegung stammt von Greta habe – und das hat sie zunächst
Thunberg: »I want you to panic.« auch, aber offensichtlich ist das
Man hat den Eindruck, dass die gro- nicht so kommuniziert worden, dass
ßen Volksparteien genau das tun: es die Leute beruhigt hätte. Die Ent-
in Panik verfallen. Was gibt es für fremdung gegenüber der Moderne
eine Antwort auf diesen Satz? oder die Sehnsucht nach einer ho-

36 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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SPIEGEL: Haben Sie mit Frau Merkel über


diesen Satz gesprochen?
Gauck: Nein, warum auch? Sie hätte mich
anrufen können, wenn ihr der Satz miss-
fallen hätte, oder mich bei unseren re-
gelmäßigen Treffen darauf ansprechen
können. Das hat sie nicht getan. Wahr-
scheinlich, weil sie gemerkt hat, dass das
ein hilfreicher Satz war.
SPIEGEL: Glauben Sie wirklich?
Gauck: Das nehme ich mal an. Anders als
viele Journalisten es geschrieben haben,
gab es diese dauernde Spannung zwischen
Merkel und Gauck nicht. Von mir aus je-
denfalls nicht und von ihr aus, jedenfalls
ist das mein Eindruck, auch nicht.
SPIEGEL: Gab es denn Nähe? Was man er-
warten könnte, Sie und Merkel haben eine
ähnliche Herkunft: das ostdeutsch-protes-
Gauck beim SPIEGEL-Gespräch*: »Ich bin Wechselwähler« tantische Milieu.
Gauck: Die gab es auch. Aber ich rufe
doch nicht die Bundeskanzlerin an und
mogenen Nation standen schon damals auf Gauck: Nein. Sie hatte ja schon reagiert halte sie von der Arbeit ab. Sie muss ja
der Tagesordnung, aber die Ereignisse von und steuernd eingegriffen. nicht nur unser Land regieren, sondern
2015 waren ein Brandbeschleuniger. Man SPIEGEL: Die Frage war, ob sie das ausrei- Europa zusammenhalten, mit Putin, Xi
muss darüber sprechen können, dass Zu- chend benannt hat. und Trump umgehen. Ich habe mich mit
wanderung in diesem Maße nicht nur Be- Gauck: Die Regierung wollte sich nicht den regelmäßigen Begegnungen unter vier
reicherung ist. Natürlich muss man als Prä- von rechts außen steuern lassen. Das kann Augen begnügt.
sident oder als verantwortlicher Politiker ich verstehen. Ich wollte, dass wir Proble- SPIEGEL: Ihre gemeinsame Herkunft also
auch sagen: Werdet nicht hysterisch, nie- me exakt benennen. Es kann Gründe ge- spielte keine Rolle?
mand nimmt euch euren Lebensraum, ihr ben, auf die Endlichkeit unserer Möglich- Gauck: Doch, und die spielt im Verhältnis
könnt weiter eure Kirchen und Kneipen keiten zu verweisen. Wenn wir das nicht zu vielen Ostdeutschen eine Rolle. Vor An-
besuchen. Aber nicht ernsthaft aufzugrei- besprechen, verlieren wir die Wahlen, gela Merkels Lebensleistung habe ich un-
fen, was den Bürgermeistern Sorgen macht durch die wir ja erst humane und vernünf- glaublichen Respekt. Ich hätte das nicht
oder den jungen Frauen, die in der Kölner tige Politik gestalten können. Deswegen gekonnt, was sie konnte.
Silvesternacht unterwegs waren, ist ein kann es sogar ethisch geboten sein, über SPIEGEL: Ist sie Ihnen sympathisch?
Fehler. Multikulti ist nicht umstandslos gut, eine Begrenzung zu sprechen. Wir dürfen Gauck: Ja. Dabei ist sie völlig anders als
das kann ganz schön anstrengend sein. darüber nachdenken, welches Maß an Zu- ich.
Vielleicht gehen wir auch manchmal zu lax wanderung geeignet ist, um die Zustim- SPIEGEL: Was hätten Sie nicht gekonnt?
mit Regelverstößen oder Straftaten um, mung zu ihr gerade noch zu erhalten. Gauck: Diese Fülle von Aufgaben zu be-
weil wir fortschrittlich sein wollen, liberal, SPIEGEL: Haben Sie sich jedes Wort dieses wältigen. Über viele Jahre hinweg diese
anständig, demokratisch. Probleme in der Satzes genau überlegt? Spannkraft zu halten, kontroverse De-
demokratischen Mitte nicht anzusprechen, Gauck: Der Präsident ist eine Institution batten überhaupt zu ertragen. Sich nicht
das funktioniert allerdings nicht. Sie wer- der politischen Korrektheit – wenn man innerlich zerfasern zu lassen. Dieses un-
den trotzdem besprochen, an den Stamm- darunter den Kampf für das Gute und Ge- glaubliche Maß an Arbeit und Selbst-
tischen, in den Familien, am rechten und rechte für alle versteht, nicht aber eine fun- kontrolle.
am linken Rand. damentalistische und zudem einseitige SPIEGEL: Angela Merkel ist anders als Sie
SPIEGEL: Sie haben damals den Satz ge- Stellungnahme. Nur zu sagen: Unsere in eine Partei gegangen und hat sich dort
sagt: »Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt, das wäre durchgesetzt. Warum sind Sie nie in eine
Möglichkeiten sind endlich.« Haben Sie politisch zu einseitig gewesen; Grenze, Partei eingetreten?
lange über diesen Satz nachgedacht? Obergrenze, Abschottung, das ging nicht. Gauck: Vielleicht gefallen mir Wahlkämp-
Gauck: Sehr lange. Weil ich mich nicht in Das entsprach glücklicherweise auch nicht fe nicht. Jedenfalls habe ich mir Neben-
die reaktionäre Ecke stellen lassen möchte. der Stimmung in der Gesellschaft. strecken ausgesucht. Ich war aber immer
Ich bin ein liberaler Politiker der Mitte. SPIEGEL: Der Satz wurde so wahrgenom- ein politischer Mensch. Doch die Entwick-
SPIEGEL: Der Vorwurf, reaktionär zu sein, men, dass Sie aussprachen, was die Kanz- lung ins Präsidentenamt hat sich erst ein-
würde Sie verletzen? lerin nicht sagen wollte. gestellt, als ich eigentlich nicht mehr am-
Gauck: Ja, selbstverständlich. Gauck: So ein Satz kann eine Ergänzung bitioniert war.
SPIEGEL: Haben Sie auch deshalb lange staatlichen Handelns sein. Der Präsident SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das?
überlegt, weil klar war, dass Ihr Satz als repräsentiert das ganze Volk. Gauck: Manchmal geschieht etwas, das du
Kritik an der Kanzlerin verstanden wer- nicht selber mit der Brechstange herbeige-
den würde? führt hast. Das gibt es im Zwischenmensch-
Gauck: Das kann man so sehen, wenn man lichen, aber auch im Politischen.
das so sehen will.
»Ich hätte nicht gekonnt, SPIEGEL: Sie haben 40 Jahre Ihres Lebens
SPIEGEL: Und? War es eine Kritik? was Angela Merkel konnte, in der DDR verbracht, ein Leben, in dem
die Möglichkeit, Präsident eines ungeteil-
dieses unglaubliche ten Deutschland zu werden, absolut un-
* Mit den Redakteuren Christiane Hoffmann und
Lothar Gorris in Berlin. Maß an Selbstkontrolle.« möglich schien.

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Gauck: Das ist einer der Gründe für mei-


nen Optimismus. Ich habe erlebt, wie die
Dinge sich zum Guten entwickeln und
Menschen sich verwandeln können. Don-
nerwetter, das haben wir geschafft? Das
hätten wir uns nicht zugetraut. In uns
schlummern ermächtigende Potenziale,
die sich manchmal nur zur Ruhe begeben.
SPIEGEL: Gilt das auch für die SPD, dieses
Schlummern und diese Hoffnung?
Gauck: Keine Frage. Aber dieser Prozess
erfordert Mut, und Mut kommt in der All-
tagspolitik nicht so oft vor. Für die So-
zialdemokraten ist überall im westlichen
Europa eine problematische Zeit angebro-
chen. Das hat damit zu tun, dass sie so er-
folgreich waren.
SPIEGEL: Die historische Mission der So-
zialdemokratie ist erfüllt?
Gauck: Nicht völlig. Jede Gesellschaft hat
Menschen, die unterprivilegiert sind.
SPIEGEL: Dafür gibt es ja noch die Links-
partei.
Gauck: Ja, aber die Sozialdemokratie hat

Das Nachrichten-Magazin
eine verlässlichere Demokratieanbindung.
SPIEGEL: Sie ist also nur noch da, um diese
Rest-Ungerechtigkeiten zu thematisieren,
und mit zwölf Prozent ganz angemessen
bedient?

für Kinder. Gauck: Nein. Ich wünsche ihr ein Erstar-


ken. Ich bin Wechselwähler, und ich schaue
mir an, was nützlich sein kann für die Ge-
sellschaft. Der linke Ansatz zur Befreiung
der unterprivilegierten Arbeitnehmerschaft
ist in Ländern mit Sozialstaatsordnungen
weitgehend erfolgreich gewesen. Die Ar-
Jetzt beiterklasse existiert so nicht mehr, jetzt

testen:
muss das solidarische Gesellschaftsprinzip
weiterentwickelt werden. Es ist die große
historische Leistung der aufgeklärten So-
www.deinspiegel.de zialdemokratie, dass sie den Gedanken
einer sozialistischen Gesellschaft mit der
Demokratie und dem Prinzip der offenen
Gesellschaft verbunden hat.
SPIEGEL: Das klingt jetzt wie ein Nachruf.
Gauck: Das wird sich zeigen.
SPIEGEL: Ist der Niedergang der SPD Aus-
druck einer Fragilität unseres gesamten
politischen Systems?
Gauck: Da wollen wir mal nicht alarmis-
tisch werden. Wir sind verunsichert, aber
nicht fragil. Wir haben eine starke und
lebendige Demokratie, die sich auf den
Mehrheitswillen der Bürgerinnen und
Bürger stützt, wir haben eine starke Wirt-
schaft, zwar hinterfragte, aber doch funk-
tionierende Parteien und ein Mediensys-
tem, das neben sozialen Netzwerken durch
seine Bandbreite und Faktentreue verläss-
lich ist. Ich weiß, was Sie jetzt alles über
die Medien sagen könnten, aber wenn wir
uns vergleichen, dann wissen wir, was wir
da haben.
SPIEGEL: Herr Gauck, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Twitter: @HoffmannSpiegel

38 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Deutschland

Finaler
Rabatt
»Gorch Fock« Die Elsflether Werft
soll die Bundeswehr um 16 Mil-
lionen Euro betrogen haben.
Nun will der Bund das Geld im

MOHSSEN ASSANIMOGHADDAM / DPA


Insolvenzverfahren zurück.

E s sei kaum etwas festgehalten worden,


sagt eine Mitarbeiterin, »das wurde
alles vor Ort besprochen«. Die Frau
sitzt im Büro einer mittelständischen Firma
an der Weser, die mehr als zehn Jahre lang
als Subunternehmer für die Elsflether Werft Ministerin von der Leyen auf der »Gorch Fock«: Auch um die Masten gibt es Streit
gearbeitet hat. »Immer wenn ein Marine-
auftrag abgerechnet war, musste jemand
hinfahren, um über die 15 Prozent zu re- Hendrik Heerma. In dem zweiseitigen ist«, werde darauf kommen. Ob man nicht
den«, sagt sie, »den finalen Rabatt.« Schreiben beziffert der Bund die Summe, eine Art Rahmenvertrag mit ihnen ab-
Auf dem Tisch liegt ein Papier mit der die ihm durch die 15-Prozent-Regel ent- schließen könne, etwa für Sicherheits-
Betreffzeile »Rechnungskorrektur«. Nur gangen sei, auf 15 999 599,27 Euro. dienst, Zugangskontrolle, Druckluft, Was-
ein paar Zeilen – aber die haben es in sich. Es handle sich um »Gutschriften und ser. »Ich finde, das klingt gut«, schreibt
Denn sie lassen ein betrügerisches System Preisnachlässe, welche die Elsflether Werft Marcus R. Beide äußerten sich auf SPIEGEL-
vermuten: Wenn die Elsflether Werft ei- AG im Rahmen verschiedener Instandset- Anfrage nicht zu den Vorwürfen.
nen Auftrag der Bundeswehr weitergab, zungsaufträge« in den vergangenen zehn Die Elsflether Werft soll – trotz der Er-
soll sie heimlich 15 Prozent der Rechnungs- Jahren eingestrichen haben soll. Betroffen mittlungen und des Insolvenzverfahrens –
summe kassiert haben. »Kickbacks« nennt seien Aufträge für die Schiffe »Knurr- die »Gorch Fock« zu Ende reparieren. Sie
man solche Zahlungen. hahn«, »Rhein«, »Main«, »Werra«, »El- hat wiederum die Bredo-Werft in Bremer-
Einen ganzen Ordner mit »Rechnungs- be« – und »nicht zuletzt ›Gorch Fock‹«. haven beauftragt, in deren Dock das Schiff
korrekturen« hat die Mitarbeiterin, die Mit den Ansprüchen des Bundes steigt liegt. Doch es droht neuer Ärger. »Wenn
anonym bleiben möchte, zusammenge- die Summe der Forderungen, die im Insol- die Bundeswehr sich nicht auf uns zube-
stellt. In den vergangenen Jahren habe das venzverfahren geltend gemacht werden, wegt, werden wir das Schiff nicht ausdo-
Subunternehmen der Elsflether Werft auf 36 Millionen Euro an. Und dabei wird cken«, sagt Thorsten Rönner, Geschäfts-
mehr als 500 000 Euro erlassen. Dafür es nicht bleiben. In den Büchern der Werft führer der Bredo-Werft. Sie zählt zu den
habe es das Versprechen gegeben, weitere etwa sind die Prüfer bereits auf unbezahlte größten Gläubigern der Elsflether Werft.
Aufträge der Marine zu erhalten. Rechnungen und Außenstände in Höhe Rönner legt ein 33-seitiges Rechtsgut-
Die Auftragnehmer der Bundeswehr von 27 Millionen Euro gestoßen, von de- achten vor, wonach er das Schiff zurück-
sind verpflichtet, alle Preisnachlässe und nen bis diese Woche nur ein Teil beim halten könne, bis unbezahlte Rechnungen
Einsparungen an den Bund weiterzurei- Sachwalter angemeldet war. Die Bundes- in Höhe von 10,5 Millionen Euro beglichen
chen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wehr behielt sich zudem vor, weitere Sum- seien. Er hat bereits eine Schutzschrift bei
gegen Verantwortliche der inzwischen in- men zu melden. Gericht hinterlegt, um sich gegen eine
solventen Elsflether Werft wegen Betrug Dass die 15-Prozent-Regel problema- einstweilige Verfügung der Bundeswehr
zum Nachteil der Bundeswehr. Zudem lau- tisch war, war den ehemaligen Vorständen zu wappnen. Die verweist auf bereits ge-
fen Ermittlungen wegen Untreue und Be- Klaus W. und Marcus R. offenbar bewusst. leistete Zahlungen an die Elsflether Werft,
stechung gegen den entlassenen Vorstand In gelöschten Mails, die Spezialisten auf den Vertragspartner der Bredo-Werft.
Klaus W. sowie wegen Untreue gegen sei- dem Server der Werft wieder herstellen Man werde keinesfalls zusätzliche Mil-
nen Hamburger Kollegen Marcus R. Der konnten, tauschten sie sich darüber aus. lionen zahlen, heißt es. Der Streit dürfte
neue Werftvorstand Axel Birk beteuert: »Am Ende sind wir durch die erteilten Gut- sich nun zuspitzen: Der Termin für das
»Wir wollen mit der Vergangenheit trans- schriften in Höhe von 15 Prozent immer Ausdocken ist der 21. Juni.
parent abschließen und solche Machen- angreifbar, weil wir sie nach Ausschrei- Selbst wenn das Schiff irgendwann wie-
schaften zukünftig unterbinden, damit sich bungsordnung an die Marine weiterrei- der schwimmen sollte, sind die Probleme
unsere Kunden zukünftig wieder auf uns chen müssten«, schrieb W. im Januar 2018 nicht gelöst. Auch um die Masten der
verlassen können.« an seinen Kollegen. Jeder Unterauftrag- »Gorch Fock«, die ein weiteres Unterneh-
Der Skandal um die Reparaturkosten nehmer, »der einigermaßen gut beraten men von Werftchef Rönner hergestellt hat,
des Segelschulschiffs »Gorch Fock« – von gibt es Zoff. Rönner will sie erst herausge-
anfangs 9,6 auf 135 Millionen Euro gestie- ben, wenn die Rechnungen dafür in Höhe
gen – wird auch im Insolvenzverfahren Selbst wenn das Schiff von 2,5 Millionen Euro beglichen sind. Und
eine Rolle spielen. Das Bundesamt für Aus- irgendwann wieder was wäre ein Segelschiff ohne Masten?
rüstung, Informationstechnik und Nut-
zung der Bundeswehr schickte am Mitt- schwimmt, sind die Matthias Gebauer, Hubert Gude
Mail: [email protected]
woch einen Brief an den Sachwalter Per Probleme nicht gelöst.
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Deutschland

MICHAEL TRAMMER / IMAGO


Rechte Demonstranten am 27. August 2018 in Chemnitz: Der Bilder gingen um die Welt

Anklage mit Leerstelle


Strafjustiz Die tödliche Messerattacke von Chemnitz und ihre Folgen haben eine ganze Stadt
verwundet. Aber Zweifel bleiben, ob der Richtige vor Gericht steht. Von Beate Lakotta

D
ie Nacht von Mittwoch auf Don- rauf war ein Mann tot. Aber weil im Pro- mit Farhad R. den 35-jährigen Tischler Da-
nerstag in Chemnitz, Brücken- zess darum die Darstellungen auseinan- niel Hillig erstochen hat. Die Verteidigung
straße: Im Alanya-Dönerimbiss, dergehen, will das Gericht nun vor Ort he- bezweifelt, dass die Beobachtung möglich
einen Steinwurf entfernt vom rie- rausfinden, was wirklich geschah. gewesen sein soll, zwischen Fenster und
sigen Karl-Marx-Kopf, brennt kurz nach Eine Wagenkolonne fährt vor, die Vor- mutmaßlichem Tatort liegen etwa 50 Me-
Mitternacht noch Licht. Das Areal ist sitzende Richterin Simone Herberger be- ter. Der Staatsanwalt aber hat, gestützt
weiträumig abgesperrt, überall Polizei, im tritt den Imbiss, gefolgt von den übrigen auf diese Aussage, Alaa S. wegen gemein-
Licht der Straßenlaternen blitzen rot- Verfahrensbeteiligten. Zuletzt führen Jus- schaftlich begangenen Totschlags und ge-
weiße Absperrbänder. Gegenüber an der tizbedienstete den Angeklagten hinein. fährlicher Körperverletzung angeklagt.
Straßenbahnhaltestelle haben sich einige Kurz darauf sieht man, wie alle den Kopf
Dutzend Zuschauer eingefunden, darunter aus dem Verkaufsfenster recken – Herber- Diese Tat und ihre Folgen haben Chem-
viele Freunde des Angeklagten. Polizisten ger zuerst, dann Staatsanwalt Stephan nitz zu einer anderen Stadt gemacht. Hillig
kontrollieren Taschen, Handys sind ver- Butzkies, die Schöffen, die Schwester des war Halbkubaner, auf Facebook verteilte
boten. Toten, die Verteidiger. er Likes für antirassistische Postings; er
Das Chemnitzer Landgericht hat einen Nur Alaa S. sieht man keinen Blick eignete sich nicht als Märtyrer für rechte
Ortstermin anberaumt. Während der letz- auf die Stelle werfen, an der er einen Zwecke. Aber weil die Angreifer offenbar
ten Nacht des Stadtfestes im vergangenen Menschen erstochen haben soll und wo Flüchtlinge waren, zogen in den Tagen da-
Jahr, so haben es mehrere Zeugen berich- nun eine Gedenkplatte an den Toten er- rauf Tausende in Protestmärschen gegen
tet, sei im Imbiss morgens gegen drei Uhr innert. Angela Merkels Flüchtlingspolitik durch
von draußen Geschrei zu hören gewesen. Der wichtigste Zeuge der Anklage, ein die Stadt: AfD-Funktionäre im Schulter-
Gäste rannten hinaus auf den breiten Geh- Döner-Verkäufer, will aus dem Imbissfens- schluss mit Anhängern von Pegida und der
weg, um zu schauen, was los war. Bald da- ter gesehen haben, wie Alaa S. gemeinsam rechtsextremen Gruppe Pro-Chemnitz,

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Angeklagter Alaa S. (r.), Justizbeamter: Als die Polizei kam, seien sie weggerannt

Neonazis und rechte Hooligans aus Chem- Und: Sieht so die Zukunft der Justiz in ei- Sinne der von den Medien gern bemühten
nitz und dem ganzen Bundesgebiet, da- ner polarisierten Gesellschaft aus? Darstellung des Freistaats Sachsen als
zwischen Rentner und Mütter mit Kinder- Der Staatsanwalt hatte seine Anklage- ›braunes‹ Bundesland.«
wagen. schrift noch nicht verlesen, da beantragte
Bilder gingen um die Welt, weniger von Verteidigerin Ricarda Lang, Schöffen und Fünf junge Polizeischüler stehen als Sta-
Gegendemonstranten, die es auch gab, Berufsrichter sollten einen Fragenkatalog tisten an der Gedenkplatte still im Niesel-
sondern von Neonazis, die Polizisten fei- zu ihrer politischen Einstellung beantwor- regen, die Straßenlaternen geben überra-
xend den Hitlergruß zeigten. ten: »Haben Sie an einer Kundgebung der schend viel Licht. Aber nicht überall. Und
Seither ist die Stadt nicht zur Ruhe ge- Pegida teilgenommen? Sind Sie Mitglied was wäre zu erkennen, wenn sich alle be-
kommen. Ein rechtsstaatliches Verfahren oder Unterstützer der Partei AfD? Haben wegten, wenn Menschen aus dem Imbiss
vor einem unabhängigen Gericht soll das Sie nach den Vorfällen in Chemnitz an herbeigelaufen kämen, wie in der Tat-
nun heilen helfen, so lautet zumindest die Kundgebungen teilgenommen? Haben Sie nacht?
öffentliche Erwartung. Das sächsische Jus- Kränze oder Blumen an dem Gedenkstein Die Verteidiger hatten verlangt, das Tat-
tizministerium lässt sich vom Staatsanwalt niedergelegt?« geschehen und den Fluchtweg nachzustel-
über jede Wendung informieren, ein soge- Die Sorge um ein faires Verfahren sei len. Aber das Gericht hat sich auf eine sol-
nanntes Berichtsverfahren. statistisch zu begründen. In Chemnitz sei che Inszenierung nicht eingelassen. Die
Aus Sicherheitsgründen verhandelt die eine Bewegung, die die Flüchtlingspolitik Anklageschrift liefert dafür ohnehin keine
Kammer aus Chemnitz im Hochsicher- ablehne, in der Mitte der Gesellschaft an- schlüssige Vorlage. Sie krankt nämlich an
heitssaal des Oberlandesgerichts Dresden, gekommen – aus der sich wiederum Rich- einer Leerstelle: Der mutmaßliche Haupt-
am Rand der Stadt zwischen Friedhof und ter und Schöffen rekrutierten. 24,3 Pro- täter, Farhad R., 22, den Zeugen überein-
Gefängnis gelegen. zent AfD-Wähler bei der letzten Bundes- stimmend als »den kleinen Mann« be-
Am ersten Verhandlungstag bezogen tagswahl: Als Geflüchteter entspreche schreiben und der zuerst in einen Streit
stadtbekannte rechte Szenegrößen Stel- Alaa S. deren »erklärtem Feindbild«. mit Daniel Hillig verwickelt gewesen sein
lung hinter der Glasscheibe, die den Zu- Die Fragen wollte das Gericht nicht be- soll, ging der Polizei durch die Lappen.
hörerbereich abtrennt. Gerade war be- antworten, einen Befangenheitsantrag der Während sich Polizei und Staatsanwalt-
kannt geworden, dass sich die Chemnitzer Verteidiger bügelte die Nachbarkammer schaft an den beiden Tatverdächtigen ab-
Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig in ab: Eine solche »vorgelagerte Gesinnungs- arbeiteten, die ihr als Erste über den Weg
einem Interview für die Angehörigen eine prüfung« widerspreche jeglicher Rechts- gelaufen waren, setzte sich Farhad R. ins
Verurteilung wünschte; ein Freispruch staatlichkeit. »Der Schluss vom Wahlergeb- Ausland ab. Nach ihm wird international
wäre »schwierig« für Chemnitz. nis der AfD auf eine entsprechende poli- gefahndet.
Die Frage ist: Kann ein Gericht unab- tische Orientierung der Richter ist eine Yousif A., Syrer wie der Angeklagte, saß
hängig sein, auf dem solcher Druck lastet? verunglimpfende Verallgemeinerung im drei Wochen in Untersuchungshaft. Das

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Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, der kommt. Der junge Mann hält sich aufrecht, rer, bekam bei der Auseinandersetzung ei-
Tatverdacht hatte sich erledigt. er tritt im Jackett vor das Gericht, die Haa- nen Stich in den Rücken ab. »Drei Tage
Am Ende blieb übrig: Alaa S. re an den Seiten kurz, kleiner, gepflegter Krankenhaus«, sagte er auf die Frage der
26 Seiten umfasst die Anklageschrift, Kinnbart, sorgfältig getrimmte Augenbrau- Vorsitzenden nach den Folgen.
136 Zeugen, acht Sachverständige, aber in en, offener Blick. Bevor er sich setzt, schaut Seine Erinnerung an die Tatnacht? Ein
der Beschreibung der Tat kann sich der er zu den Zuhörerbänken hinüber. Dort sit- Mann habe ihn zur Seite geschoben, er
Staatsanwalt nur auf die Aussage des zen an jedem Verhandlungstag seine Freun- habe sich an den Rücken gefasst, dort war
Kochs stützen. Butzkies, ein massiger de, die ihm aufmunternd zuwinken. Blut. Dann habe er gesehen, wie ein Mann
Mann mit bürstenartig aufragendem Haar- Am ersten Tag hatte die Vorsitzende mit dem Messer auf den Daniel eingesto-
schopf, braucht keine Minute, um den Alaa S. nach seinen Personalien gefragt: chen habe, der am Boden lag. Ein zweiter
Sachverhalt vorzutragen: Alaa S. habe »im Geboren, sagte Alaa S., sei er 1995 in Sy- habe Daniel geschlagen. Ob auch der ein
Zuge eines Streits mit einem Messer vier- rien. Ledig, von Beruf Friseur, Beschäfti- Messer hatte, könne er nicht sagen.
mal in den Brustkorbbereich und einmal gung zurzeit: keine. Seither schweigt er. Der Staatsanwalt zeigte sich erstaunt:
in den linken Oberarm des Geschädigten Beim Ermittlungsrichter hat er bestritten, Bei der Polizei habe er noch gesagt, er
Daniel Hillig sowie einmal in den Rücken- etwas mit der Tat zu tun zu haben. Er habe habe gar kein Messer gesehen? Dimitri M.
bereich des Geschädigten Dimitri M.« ge- lediglich einen Kumpel von der Schlägerei zog ratlos die Schultern hoch.
stochen. Dies habe er »im bewussten und weggezogen. Als die Polizei kam, seien sie Der Zeuge sollte vorführen, wie es war,
gewollten arbeitsteiligen Zusammenwir- weggerannt, aus Angst. in einem Rollenspiel. Der Staatsanwalt leg-
ken« mit Farhad R. getan, »der te sich als Opfer auf den Boden,
ebenfalls ein Messer bei sich vage führte Dimitri M. ein paar
führte und damit zustach«. Stich- und Schlagbewegungen
Während der Staatsanwalt vor. Aber der Koch aus dem
liest, schüttelt Alaa S. den Kopf. Imbiss hat eine Auseinander-
Butzkies’ Anklageschrift hat setzung im Stehen beschrieben.
mehrere Schwachstellen. Eine Das passt nicht zusammen.
ist: Sie geht von einem gemein- Dimitris Bruder Juri: »Ir-
samen Tatplan aus. Alle Zeu- gendwie ist eine Schlägerei los-
gen sagen aber, alles sei sehr gegangen. Irgendwie war ich
schnell passiert. Auch Alaa S. auch verwickelt.« Irgendje-
war aus dem Imbiss nach drau- mand muss ihn mit einer Fla-
ßen gelaufen, wo Farhad R. in sche am Kopf getroffen haben.
Streit mit Daniel Hillig geraten Aber wer?
war. Er und Farhad müssten Bei der Polizei erkannte Juri

MATTHIAS RIETSCHEL / REUTERS


sich im darauf folgenden Ge- M. auf Fotos niemanden. Vor
tümmel verabredet haben, Hil- Gericht sagte er, er sei bei ei-
lig zu töten. Nur: Warum soll- ner Person im Zweifel gewe-
te Alaa S. zu solch einer Tat sen: »Das war der, der hier
bereit gewesen sein? sitzt« – gemeint ist der Ange-
Während Farhad R. bei der klagte. »Ich weiß nicht, was er
Polizei schon als aggressiver gemacht hat. Aber ich habe
Hitzkopf bekannt war, charak- Staatsanwalt Butzkies: »Vor wem hatten Sie Angst?« ihn dort gesehen.«
terisieren die Ermittler Alaa S. Verteidigerin Lang bohrte
als »ruhigen, verträglichen nach. Es kam heraus, dass Juri
Zeitgenossen«. Er hatte keinen Alkohol Zeugen betraten den Saal oft im Halb- M. – wie viele andere Zeugen – in der Zwi-
getrunken, ein Drogentest fiel negativ aus. stundentakt. Aber jeder hat etwas anderes schenzeit Fotos von Alaa S. auf sein Handy
Die zweite Schwachstelle: Es wurde nur gesehen. Oder nichts. Oder kann sich nicht geschickt bekommen hat. »Wer hat Ihnen
ein Messer gefunden, 200 Meter entfernt erinnern, zu viel Alkohol, zu lange her. Je- die Fotos geschickt?« – »Das weiß ich,
vom Tatort, hinter einem Bauzaun. Laut den fragt Herberger: »Was haben Sie er- aber ich sage es nicht.«
Rechtsmedizin passt es zu sämtlichen Stich- kannt?« Die Antworten: »Schemenhaft
verletzungen an Daniel Hilligs Körper und ein Handgemenge«, »Schatten«, »Chaos«. Der Leiter der Mordkommission be-
zu der in Dimitri M.s Rücken, Blut von Da- Einer sah Tritte, der nächste Faustschläge. richtete: Nach der Tat hätten sich die Er-
niel Hillig und Dimitri M. haftet daran. Und Fünf Leute seien verwickelt gewesen, an- eignisse überschlagen. »Eine normale
eine DNA-Spur, die auf Farhad R. deutet. dere sprechen von acht oder zehn, einer Arbeit war gar nicht möglich.« Zwei Tage
Aber keine Spur vom Angeklagten. von Massenschlägerei. später hatte ein Justizbeamter im Ge-
»Ein rascher Ermittlungserfolg sollte vor- »Wer den anderen geschlagen hat, konn- fängnis in Dresden den Haftbefehl gegen
getäuscht werden«, sagt Verteidiger Frank te ich nicht sehen«, sagte einer. »Da, wo Yousif A. abfotografiert. Mitglieder von
Drücke. Deshalb habe man am Tatver- ich stand, war es dunkel« – darauf können AfD und Pegida posteten ihn auf Face-
dacht gegen seinen Mandanten festgehal- sich alle einigen: »Düster« sei es gewesen, book. In den sozialen Netzwerken kur-
ten. Verteidigerin Lang fürchtet, das Ge- fand Oliver S. »Ich konnte nur schwarze sierten Namen und Fotos mutmaßlicher
richt könnte sich zu einem »Urteil um je- Umrisse sehen«, sagte Toni S. »Es war fins- Täter.
den Preis« drängen lassen. ter, schlechte Sicht«, sagte Eric K. »Das war für uns eine völlig neue Di-
In der Nacht seines Todes hatte Hillig, mension«, sagte der Ermittler. »Bei uns
Zwölf Verhandlungstage haben das Ge- der Tischler, einen Kollegen getroffen, ei- war das Datenleck nicht.«
richt und der Angeklagte hinter sich. Stets nen Deutschrussen, und war mit dessen Der Verdacht gegen Farhad R. habe sich
bringen Justizbedienstete Alaa S. mit ei- Gruppe weitergezogen, zwei Männer, drei am Tag nach der Tat ergeben. Yousif A.,
ner Vorführzange in den Saal, wie sie bei Frauen. Sie waren mittendrin, als es pas- der mit Alaa S. festgenommen worden war,
aggressiven Gewalttätern zum Einsatz sierte. Dimitri M., 38 Jahre alt, Lkw-Fah- sagte, Farhad habe ihm im Wegrennen ein

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Deutschland

blutiges Messer gezeigt und gesagt, er habe wegungen führten sicherlich dazu, dass es Die Richterin weiter: »Also erst hat der
damit zugestochen. präzisiert wurde.« Nur durch wen? Deutsche dem Juan einen Faustschlag ver-
»Der Staatsanwaltschaft haben wir das Der Koch hätte am liebsten gar nichts passt. Der Juan hat das Opfer von vorn
zeitnah mitgeteilt.« Vier Tage später kam mehr gesagt, angesichts der Widersprüche, mit der linken Hand an den Nacken ge-
der Bescheid aus dem Labor: keine Spuren in die er sich verheddert hat. Er versuchte, fasst, an sich herangezogen und hat mit
der Festgenommenen am Tatmesser. Da es kurz zu machen, die Dolmetscherin der rechten Hand mehrfach in Richtung
habe man aufwendig nach Farhad R. zu übersetzte: Am 26. August 2018 hätten Oberkörper geschlagen oder gestochen.«
suchen begonnen. Der Haftbefehl ging erst drei Leute bei ihm Döner bestellt, ein Herberger schaute den Koch prüfend
am 3. September raus. Farhad R. war da Mann namens Said, ein Libyer und der an: »Es gab kein Stechen«, sagte er trotzig.
längst über alle Berge. Juan – das ist der Spitzname des Ange- »Ich habe nur diese Faustschlägerei gese-
Auf der Suche nach einem zweiten, ähn- klagten. Dann draußen die Schreierei, die hen. Mit beiden Fäusten.« Er macht Box-
lichen Messer hoben die Beamten Gully- »Jungs« seien raus, wo der Farhad am Bo- bewegungen.
deckel und durchkämmten mehrere Ton- den gelegen habe, dann seien sie zu viert »Es sah so aus, als ob er zusticht. Es war
nen Stadtfestmüll – ohne Ergebnis. auf die anderen zugegangen. »Dann kam eine typische Stichbewegung …« Der Koch
Mehr als 150 Zeugen vernahm die Poli- eine Auseinandersetzung. Das war’s.« fällt Herberger ins Wort: »Der Dolmet-
zei auf der Suche nach Beweisen gegen »Können Sie die Auseinandersetzung scher hat gesagt, bei der Schlägerei scheint
Alaa S. Am Ende hätten ihn fünf davon beschreiben?«, fragte die Vorsitzende. ein Messer dabei gewesen zu sein. Ich habe
»mehr oder weniger am Tatort verortet«, »Ich weiß es nicht, wer wen geschlagen das NIE gesagt.« Herberger: »… gleichzei-
sagt der Kommissar. Kein ein- tig hat er das Opfer mit den
ziger hatte ihn mit einem Mes- Knien getreten.«
ser hantieren sehen. »Wer?«, fragte der Koch.
Der Kommissar hat auf »Der Juan«, sagte die Rich-
Höhe des Alanya-Döners eine terin.
Überblicksaufnahme vom Tat- Der Koch schwieg.
ort gemacht – im Fokus die »Welche Aussage ist denn
Gedenkplatte, an der nun die jetzt die richtige?« – »Ich weiß
Polizeischüler stehen. Aber nicht mehr.« Pause. »Es kann
wurde Daniel Hillig überhaupt sein, dass ich etwas gesagt
dort erstochen? Oder, wie habe, bei der Polizei, aber ich
manche Zeugenaussagen nahe- erinnere mich jetzt nicht
legen, näher beim Durchgang mehr.«
an der Sparkasse – was bedeu- Aber warum?
ten würde, dass der wichtigste Younes Al N. war zu diesem

CHRISTIAN ESSLER / ACTION PRESS


Zeuge der Anklage nichts ge- Termin nicht allein erschienen,
sehen haben kann? sondern in Begleitung mehre-
rer Personenschützer, die den
Endlich trat der Koch vors Saal mit Blicken scannten. Es
Gericht, Younes Al N., ein klei- stellte sich heraus, dass das
ner, runder Mann mit kurzer, Landeskriminalamt ihn ins
himmelwärts gerichteter Nase Zeugenschutzprogramm aufge-
und Kinnbärtchen, 30 Jahre Richterin Herberger: Das Verfahren soll heilen helfen
nommen hat, Adresse: geheim.
alt, aus dem Libanon. Zuvor Er werde bedroht, sagte der
hatte er versucht, um eine Aus- Koch: Man wolle ihn im Sarg
sage herumzukommen. So widersprüch- hat«, antwortete Al N. »Es gab viele Leute in seine Heimat zurückschicken. »Von
lich seien seine bisherigen Aussagen ge- draußen.« Ungläubiges Raunen im Saal. wem werden Sie bedroht?« – »Ich kenne
wesen, dass er sich wegen falscher Ver- »War der Juan beteiligt?« – »Ich habe die Leute nicht.« Er habe Angst. »Vor
dächtigung strafbar machen könnte, hatte es nicht genau gesehen.« Die Vorsitzende, wem?« – »Weiß ich nicht.«
sein Zeugenbeistand zu bedenken gege- ansonsten von ruhigem Temperament, Mehr als drei Stunden lang befragten
ben. Doch das Oberlandesgericht hat ihm wirkt konsterniert: Wie er dann darauf ge- die Verteidiger den Zeugen. Ob er Diabe-
kein Auskunftsverweigerungsrecht zuge- kommen sei, ihn vor der Polizei zu be- tiker sei, wie er bei der Polizei angab? »Mir
standen. schuldigen? »Die Jungs waren bei mir im ist öfter schwindlig, deswegen vermute ich,
Mehrfach hat er bei der Polizei und ei- Döner, dann sind sie rausgelaufen. Ich dass ich Diabetes habe«, sagt der Koch.
ner Richterin ausgesagt, mit Variationen: habe es vermutet, dass sie es waren.« Sein Arzt sehe das anders.
Einmal wollte er nur ein »Knäuel« gesehen »Wie wurde auf den Daniel einge- Ob er mit anderen über die Tatnacht ge-
haben, ein anderes Mal einen Kampf mit wirkt?« – »Ich konnte es nicht genau se- sprochen habe? Nein, sagt der Zeuge, mit
Fäusten. Dann wieder schilderte er einen hen.« – »Haben Sie Blut gesehen?« – »Ja, niemandem. Aber was ist mit der »Bild«-
Tatablauf, bei dem beide ihr Opfer trak- der Said hatte Blut an den Händen, als er Zeitung, in der er zu Wort kam? Und was
tierten, bis es zu Boden ging. Im Protokoll, nach dem Streit bei mir im Laden ein Bier mit den Beamten des Landeskriminalamts,
das der Koch unterschrieben hat, steht: bezahlt hat.« Eine vollkommen neue In- mit den Personenschützern? »Ich habe
mit Messerstichen. Später sagte er, das hät- formation. »Haben Sie beim Juan Blut ge- nicht mit ihnen gesprochen.« – »Auch
ten die Dolmetscher falsch übersetzt. sehen?« – »Nein.« nicht über Ihre Bedrohung?« Stumm schüt-
Tatsächlich stellte sich heraus, dass das »Bei der Polizei haben Sie über Farhad telte der Koch den Kopf.
Wort »daraba«, das der Koch benutzte, und Juan gesagt: ›Ich habe dabei gesehen, Hatte man ihm womöglich Verspre-
vieles heißen kann: schlagen mit der fla- dass beide blutverschmierte Hände hat- chungen gemacht, um seine Aussagewil-
chen Hand oder mit der Faust – oder mit ten.‹« – »Das stimmt nicht«, widersprach ligkeit zu sichern? »Wer zahlt zurzeit
einem Messer. »Er hat das aber alles vor- der Koch. »Haben Sie das so gesagt?« – Ihre Miete?« Keine Antwort. »Haben Sie
gemacht«, sagte der Dolmetscher. »Die Be- »Ich erinnere mich nicht mehr.« beim Landeskriminalamt etwas unter-

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schrieben?« Schweigend wischte der zu schauen – es scheint nicht zu gehen. Auch an Hilligs Kleidung findet sich nicht
Zeuge mit den Fingern imaginäre Krümel Die Vorsitzende muss sich dafür halb auf das geringste Partikel des Angeklagten,
vom Tisch. die Ablage knien, andere klettern hinauf. sagt sie als Sachverständige.
In einer Vernehmung hatte er noch die Der Koch ist dick und klein, er sieht nicht
stichartigen Bewegungen demonstriert, sehr beweglich aus. An der Haltestelle Es gab Tage im Gericht, an denen vom
mit denen der Juan den Daniel attackiert steht unter den Zuschauern auch die Im- Angeklagten kaum die Rede war. Dafür
haben soll. Ein Video davon liegt bei den biss-Chefin. Sie sagt, in der Nacht des umso mehr von Farhad R.: »Der den
Akten. »Sind Sie bereit, an einer Nachstel- Stadtfestes sei die Ablage voll gewesen mit Mann getötet hat, war bei mir im Laden«,
lung vor Ort mitzuwirken?«, fragte die Dürüm-Fladen und großen Cola-Flaschen, sagte Nejirvan H., Verkäufer im Würfel-
Verteidigerin. »Nein.« – »Wieso nicht?« – die zum Verkauf bereitstanden. Döner, etwa 100 Meter entfernt vom Ala-
»Einfach so.« nya. In der fraglichen Nacht sei Farhad in
Die Verteidiger beantragten, die Perso- Auch Nawid P. verkaufte in der Tatnacht Begleitung von Yousif aufgetaucht und
nenschützer zu hören: Was hat der Koch Döner im Alanya, aus Sicht des Staatsan- habe Gäste angepöbelt.
ihnen erzählt? Lang setzt zu einer Er- walts ein wichtiger Belastungszeuge: In Kurz nachdem die beiden gegangen sei-
klärung an: »Es geht um die Aussagekon- der Nacht sei er kurz draußen gewesen, en, habe er von draußen das Geschrei ge-
stanz …« – »Aber die ist doch evident«, Luft schnappen, begann er seine Schilde- hört. Zehn Minuten nach der Tat habe er
entfährt es Staatsanwalt Butzkies, »also rung. In dem Moment sei losgegangen, Farhad angerufen und gefragt, ob er das
jedenfalls in der Kernaussage.« was er für eine normale Schlägerei gehal- gewesen sei: »Erst hat er Nein gesagt, aber
Nur, was ist der Kern, und dann: ›Ja, ich war’s. Ich habe
wie ist er zustande gekommen? die mit dem Messer gesto-
Das besagte Video wird vorge- chen.‹« Wer mit »die« gemeint
führt: Eine Amtsstube, der sei, fragte die Vorsitzende.
Staatsanwalt in Jeans und Pulli »Nicht eine, sondern mehrere
spielt Daniel Hillig, der Koch Personen.«
führt vor, was er gesehen haben Das würde zur Theorie »ein
will: »Also, das hier ist der Messer, ein Täter« passen.
Juan …«, sagt der Koch im Vi- Der Staatsanwalt verschränkte
deo, er greift Butzkies um den skeptisch die Arme: »Warum
Nacken, deutet einen Kopfstoß haben Sie von dem Telefonat
an, dann einen Stoß mit dem nicht früher berichtet?« –
Knie in den Bauch und dann die »Aus Angst habe ich nichts ge-
von unten schwingenden Bewe- sagt.« – »Vor wem hatten Sie
gungen gegen den Brustkorb. Angst?« – »Vor Farhad. Der
»Und wo stand der Far- war ja noch draußen.«

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES


had?« – »Der stand hinter Ein Freund von Daniel Hillig
dem Juan«, fährt der Koch berichtete vor Gericht von ei-
fort … »Moment«, hört man ner Begegnung bei der Gedenk-
Butzkies, »bei der Polizei haben stätte: Ein Mann habe ihn und
Sie gesagt, er hätte hinter dem Daniels Lebensgefährtin ange-
Daniel gestanden.« Der Koch sprochen und gesagt, er habe
stutzt, wechselt folgsam die Tatort am 29. August 2018: Widersprüchliche Aussagen Schuldgefühle, weil die beiden,
Position und wirkt als Farhad die den Daniel umgebracht hät-
von hinten auf sein Opfer ein. ten, bei ihm übernachtet hätten.
Als das Video endete, meldete sich die ten habe, bis er am nächsten Morgen er- Das Gericht lud den Mann, einen Iraker,
Verteidigerin Lang zu Wort: »Wir schätzen fuhr, dass dabei jemand gestorben war. als Zeugen, aber er war verschwunden.
den Beweiswert des Zeugen gegen null Und der Angeklagte? »Ich habe gese- Ebenso wie Farhad R.s Bruder und auch
ein.« Er sage jedem erkennbar, was der hen, wie er mit den Fäusten die anderen der Mann namens Said.
von ihm hören wolle. geschlagen hat«, sagte P. »Er hat einen von
So hat Al N. dem Gericht auch erzählt, den Deutschen am Kragen gepackt und Beim Ortstermin im Imbiss wird Alaa S.
ein Kollege habe während der Tat hinter auf den Boden gebracht.« Und dann? »Hat nach ein paar Minuten wieder hinaus-
ihm gestanden und mit ihm zusammen aus er ihm Fußtritte gegeben.« Anschließend geführt. Die Freunde winken, er winkt
dem Verkaufsfenster geschaut. Der Kolle- habe sich das Handgemenge verlagert, er zurück, macht ein Victory-Zeichen, be-
ge widerspricht im Zeugenstand: »Nein, habe nichts mehr sehen können, weil sich vor er im Polizeiauto verschwindet. Die
das ist nicht wahr.« ein Teil davon im toten Winkel abgespielt Freunde sind enttäuscht: Die Vorsitzen-
Vor dem Fenster sei eine breite Ablage- habe, in Richtung Sparkassendurchgang. de Richterin hat nur ein, zwei Sekunden
fläche für Fladenbrote, Soßenflaschen und An Hilligs Körper hat die Rechtsmedi- lang aus dem Fenster geschaut, alle an-
Ähnliches, etwa in Hüfthöhe. »Man kann zin kein Verletzungsmuster gefunden, das deren nicht viel länger. Richter und
nicht einfach so hinausschauen.« – »Nicht zu dieser Schilderung passen würde. Ein Schöffen sind nicht einmal bis zur Ge-
einfach so heißt ja nicht, dass es nicht anderes Problem für Butzkies: Wenn Na- denkplatte gegangen. »Wäre er doch bloß
geht«, wendet Butzkies pampig ein. Aber wid P.s räumliche Erinnerung stimmt, nicht rausgelaufen«, sagt einer über den
der Zeuge bleibt dabei: »Das Fenster ist kann der Koch nicht die ganze Auseinan- Angeklagten. Im Imbiss stellt Herberger
klein. Man kann es öffnen, aber nicht nach dersetzung aus dem Fenster gesehen ha- um kurz nach halb eins das Fenster wieder
draußen sehen.« ben. Aber sie müsste doch Spuren hinter- auf Kipp.
Darum geht es jetzt auch beim Ortster- lassen haben, DNA-Moleküle, Fasern? Mit einem Urteil ist nicht vor Herbst zu
min: Von der Straßenbahnhaltestelle aus Eine Biologin von der Universität Leipzig rechnen.
sieht man die Verfahrensbeteiligten, wie hat danach gesucht, an Körpern, T-Shirts, Mail: [email protected]
sie versuchen, im Stehen aus dem Fenster Hosen, Schuhen – und nichts entdeckt.

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Deutschland

Langsam,
Unternehmen stellt die Tretroller auf die rollerverleiher Tier. Er sagt: »Wir haben
Straße, Nutzer können sie per App auslei- keine Lust, es uns mit einer Stadt zu ver-
hen und damit quer durch die Stadt düsen. sauen.« Deswegen steht auf den Power-

aber sicher
Geparkt wird, wo gerade Platz ist, am point-Folien in großen Buchstaben »Dis-
Ende des Tages werden sie eingesammelt kussionsvorlage«, darunter sind viele Ver-
und zum Aufladen ins Lager gefahren. sprechen aufgelistet. Man werde für die
Ab dem Wochenende darf sich Voi auch Stadt ständig erreichbar sein, heißt es da,
Mobilität Zehntausende Elektro- hierzulande um eine Lizenz bewerben. die Roller täglich warten und natürlich ge-
Tretroller sollen bald durch Dann fällt das Verbot von Elektrokleinst- meinsam No-Parking-Zones bestimmen.
fahrzeugen auf deutschen Straßen. Und Viele Städte brauchten so ein Regel-
Deutschlands Städte kurven. Berlin könnte bald aussehen wie Stock- werk, sagt Blessin. Um Ängste abzubauen
Die Verleiher geben sich zahm – holm, wo zwischen Fähranlegern und Kö- und weil ihnen die Erfahrung mit Tretrol-
aus Angst vor Karambolagen. nigspalast an jeder Ecke Dutzende Roller lerflotten fehle. Tier und Voi kennen das
in Bonbonfarben auf Kunden warten. aus anderen Städten. Etwa aus Wien, wo
Kein Markt wurde heißer ersehnt als die Roller rund um den Stephansdom auf

D ouglas Stark kann sich nicht daran


erinnern, wann er sein Haus das letz-
te Mal ohne Helm verlassen hat. Der
schwarze Kopfschutz mit weißer Schrift
der deutsche, nirgendwo wurde länger um
eine rechtlich akzeptable Lösung gerun-
gen. Jetzt ist die Vorfreude der Branche
groß – aber auch die Sorge, dass sich die
sechs Kilometer pro Stunde gedrosselt wer-
den. Die Bremse funktioniert über GPS
und könnte auch deutsche Altstädte vor
Rasern schützen.
gehöre zu seiner täglichen »Uniform«, wie Stimmung wieder drehen könnte. Was, Lieber langsam, aber dafür sicher – das
er sagt. Rüstzeug für eine Stadt, die nicht wenn die ersten Radfahrer vom Weg ge- scheint das Motto der Branche zu sein. In
für Menschen gemacht sei, sondern für Au- drängt werden? Wenn die erste Oma von Wien kämpft Voi etwa für eine Senkung
tos. Deswegen, findet der 28-jährige Schwe- einem Tretroller überfahren wird? Wenn der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5, wie
de, solle es ihm auch jeder gleichtun: »It’s Städte von Scootern überflutet werden? beim Auto. Vielfahrern schenkt das schwe-
okay to wear a helmet!«, Mut zum Helm! Bei den Verleihern ist ein harter Wett- dische Unternehmen einen Helm, Erstfah-
Stark will Begeisterung wecken für die streit darum entbrannt, wer diese Beden- rer werden von »Einhörnern« betreut. Das
schädelschützende Haube, und das hat ei- ken am besten entkräften kann. Alle wol- sind Werkstudenten, die unter anderem
nen Grund. Schon in wenigen Tagen könn- len kooperativ sein und gesprächsbereit, Sicherheitskampagnen auf Straßen durch-
ten Tausende Tretroller mit Elektroantrieb maximal sicher und unbedenklich für das führen. Hauptsache, unfallfrei. Auch bei
durch Deutschlands Städte sausen: schma- Stadtbild. Und jeder beansprucht für sich, der Anzahl der Geräte will es das rasant
le Zweiräder mit Gashebel, Bremslicht – der Freundlichste zu sein. wachsende Unternehmen nicht übertrei-
und hohem Unfallpotenzial. Stark lässt sol- Im Berliner Ullsteinhaus, dem Back- ben, weniger ist mehr. Und wenn manche
che Flitzer bauen und verleiht sie dann, er steinwahrzeichen des Stadtteils Tempelhof, Städte trotz der Charme-Sicherheitsoffen-
ist Mitgründer der jungen Firma Voi in sitzt Julian Blessin vor einem Laptop und sive Nein sagen? »That’s okay«, sagt Stark,
Schweden – und er kann keine Stürze, Zu- lässt eine Art Beruhigungsprogramm vor- er zwinge niemanden zu seinem Glück.
sammenstöße, Karambolagen gebrauchen. führen. Es besteht aus zwei DIN-A4-Sei- Die Firmen geben sich zahm, weil sie
Voi bezeichnet sich selbst als Europas ten und 20 bunten Powerpoint-Folien – gelernt haben. In San Francisco, Madrid
größten Verleiher von E-Scootern, das Un- und bestärkte die Stadt Freiburg darin, die oder Paris starteten die Tretroller zunächst
ternehmen operiert von seiner Stockhol- Roller in die Stadt zu lassen. fast unreglementiert. Amerikanische Ver-
mer Zentrale in 22 Städten auf dem Kon- Blessin hat einst für Bosch verleihbare leiher wie Lime oder Bird schwemmten
tinent, bald sollen es 150 sein. Wie bei der E-Mopeds entwickelt, jetzt führt der 39- die Straßen mit Geräten, um sich schnell
Konkurrenz ist das Konzept simpel: Das Jährige die Geschäfte beim Berliner Tret- hohe Marktanteile zu sichern.
Die Städte reagierten mit harten Regeln.
In Bordeaux, wo Lime quasi über Nacht
eingefallen war, ist die Zahl der Roller mitt-
lerweile auf geringe Stückzahlen begrenzt.
Ähnliche Gesetze wollen die Anbieter in
Deutschland unbedingt vermeiden. Und
jeder Vandalenakt, jeder Unfall könnte
dem Roller-Hype gefährlich werden.
Voi hat bereits Schlimmes erlebt. Ende
Mai kam es im schwedischen Helsingborg
zu einem Todesfall. Ein 27-jähriger wurde
auf einer Kreuzung von einem Auto er-
fasst, er war auf einem Voi-Scooter unter-
wegs. Die Zeitungen berichteten über die
Gefahren durch Tretroller, das Unterneh-
men ärgerte sich. Warum schrieb niemand
über die Gefahr durch Autos?
Die Voi-Kunden ließen sich nicht davon
beeinflussen, in den Wochen danach stie-
gen sogar die Nutzerzahlen. E-Scooter
sind in Schweden Normalität. Dazu gehö-
ren, so zynisch es klingt, auch Unfälle.
JACKY SIN

Anton Rainer
Mail: [email protected]
Voi-Gründerteam, Unternehmer Stark (r.): Geparkt wird, wo gerade Platz ist

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Deutschland

zesbücher über den Tisch geworfen wer-

Im Intrigantenstadl den, und in einem Umfeld, in dem manche


Funktionäre bereits unter Norbert Blüm
(Arbeitsminister 1982 bis 98) Karriere
machten, stieß die 42-jährige Holsboer an
Soziales An der Spitze der Bundesagentur für Arbeit Grenzen. Auch an ihre eigenen.
tobt ein Machtkampf. Valerie Holsboer, die einzige Frau im Vorstand, Der Fall ist delikat. Erst einmal in der
soll gekippt werden. Viele wundern sich nur, warum. Geschichte der BA wurde ein Vorstand aus
dem Amt geworfen. Damals handelte es
sich um Florian Gerster – und der hatte
einen handfesten Skandal um millionen-
schwere Beraterverträge zu verantworten.
Soweit bekannt ist, hat sich Holsboer
nichts zuschulden kommen lassen. Und so
löst ihr Fall auch deshalb so viel Aufregung
in der Behörde aus, weil sie die einzige
Frau im Vorstand ist.
Niemand will sich zu der Personalie of-
fiziell äußern – nicht Holsboer, nicht die
Arbeitgeber und auch die Gewerkschaften
nicht. Dennoch gäbe es viel zu sagen. In
Arbeitgeberkreisen hält sich das Gerücht,
Holsboer »könne es nicht«. Es handle sich
um eine »überforderte Frau«, die die BA
nie verstanden habe, sagen die vergleichs-
weise Wohlmeinenden. Von einem »harm-
losen Mädchen« sprechen die weniger Sen-
siblen. Wer Holsboer, die Kontroversen
nicht scheut, je beobachtet hat, kann über

DANIEL KARMANN / PICTURE ALLIANCE


solche Zuschreibungen nur staunen.
Auch Holsboer muss die Widerstände
schon lange gespürt haben. Ende März ant-
wortete sie in einem Interview auf die Fra-
ge, was ihre Lehre aus zwei Jahren im BA-
Vorstand sei: »Widerstandsfähigkeit und
Frustrationstoleranz.«
Schon früh galt vor allem Holsboers
Arbeitsagentur-Vorstandsfrau Holsboer: »Widerstandsfähigkeit und Frustrationstoleranz« Verhältnis zu Peter Clever, der die Gruppe
der Arbeitgeber im Verwaltungsrat an-
führt, als angespannt. Der temperament-

A m Mittwochmittag, um kurz nach


halb zwölf, erreichte die Mitarbei-
ter der Bundesagentur für Arbeit
(BA) eine interne Mail. Es handelte sich
ist von »Mobbing« die Rede. Auch wenn
Scheele keinen Namen nannte, so wussten
doch viele in der BA, um welches Gerücht
es sich handelt: Valerie Holsboer, die vor
volle Funktionär und Holsboer, die offen
sagt, was sie denkt, misstrauten sich von
Anfang an. Holsboer war kaum ein halbes
Jahr im Amt, als sie sich mit Clever zu
um eine Klarstellung in eigener Sache. zwei Jahren als erste Frau in den Vorstand einer abendlichen Mediation in einem
Derzeit gebe es »viel Unruhe in der BA«, der Bundesagentur einzog, steht mög- Restaurant traf. Ein bayerischer Arbeitge-
schrieb der Vorstandsvorsitzende Detlef licherweise vor dem Rauswurf. berfunktionär sollte vermitteln, gefruchtet
Scheele an die »lieben Kolleginnen und Holsboers Schicksal dürfte sich am 12. Juli hat es nicht.
Kollegen«. entscheiden. Dann berät der sogenannte Mittlerweile scheint das Vertrauen zwi-
Er bezog sich dabei auf »Gerüchte« Verwaltungsrat der Bundesagentur, ob er schen den Wirtschaftsvertretern und
über einen Personalwechsel in der Chef- die Juristin aus dem dreiköpfigen Vorstand Holsboer zerstört. Sitzungsteilnehmer
etage der BA. Der Vorstand könne die Per- abberufen lassen will. Machttektonisch berichten, dass die Vorstandsfrau aus den
sonalfragen »zu diesem Zeitpunkt« noch ist der Vorgang bemerkenswert. Das Gre- eigenen Reihen oft ungewöhnlich barsch
nicht kommentieren. Scheele ging es um mium, das die Spitze der Bundesagentur angegangen wurde. Die Vorwürfe gegen
etwas anderes, um einen Aufruf zu mehr besetzt und über die Verwendung der sie sind hart: Im Verwaltungsrat habe
Fairness. Er wünsche sich, »Fähigkeiten Beitragsgelder entscheidet, setzt sich aus man sich unzureichend oder verspätet in-
und Kompetenzen nicht öffentlich infrage Arbeitgeberlobbyisten, Gewerkschafts- formiert gefühlt. Holsboer, die im Vor-
zu stellen«, heißt es in seiner Mail. »Lassen funktionären und Regierungsvertretern stand für Finanzen und Personal zustän-
Sie uns alle respektvoll und gut miteinan- aus Bund und Ländern zusammen. dig ist, sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen.
der arbeiten.« Erstaunlicherweise sind es ausgerechnet Bei der zentralen Aufgabe, die BA perso-
Vermutlich gäbe es da noch einigen Ver- die Arbeitgeber, die Holsboer nur allzu nell auf neue Herausforderungen einzu-
besserungsbedarf in Deutschlands größter gern loswürden. Dabei rutschte die ehe- stellen, vor allem auf die Bekämpfung der
Behörde mit ihren fast 100 000 Mitarbei- malige Verbandslobbyistin im April 2017 verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit, sei
tern. Scheeles Mail sagt viel darüber aus, auf Wunsch der Wirtschaft auf ihren Pos- zu wenig geschehen. Holsboer sei nicht
mit welcher Härte der Machtkampf ge- ten. Eigentlich läuft ihr Vertrag noch drei im Thema.
führt wird, der derzeit in der höchsten Eta- Jahre. Doch in einer Welt, in der bei inter- Von fehlender Erfahrung kann jedoch
ge der Arbeitsagentur stattfindet. Intern nen Sitzungen auch schon einmal Geset- keine Rede sein: Holsboer hat vor ihrem

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Vorstandsamt zehn Jahre lang als Haupt- bleibt offen. Üblicherweise jedoch tun
geschäftsführerin beim Bundesverband sich die Sozialpartner im Gremium nicht
der Systemgastronomie gearbeitet. Sechs weh und tragen die Personalentschei-
Jahre saß sie bereits für die Arbeitgeber dungen der Gegenseite mit. Votieren die
im BA-Verwaltungsrat, bevor sie ihren Vor- Arbeitnehmervertreter ebenfalls gegen
standsposten in Nürnberg antrat. Holsboer, wäre ihre Karriere bei der BA
Deshalb gibt es eine zweite Lesart des beendet.
Konflikts, sie stammt von den Unterstüt- Die Regierungsvertreter wollen einer
zern Holsboers in der BA und aus dem Abwahl dagegen nicht zustimmen. Das

B. HASELBECK / WIRTSCHAFTSWOCHE
Umfeld des Verwaltungsrats. Sie zeichnen Bundesarbeitsministerium, das die Auf-
ein krasses Gegenbild: Holsboers Problem sicht über die Bundesagentur führt, ist an-
sei nicht etwa mangelnde Kompetenz, son- gesichts des eskalierten Streits besorgt. Die
dern ein Freund-Feind-Schema in der Be- Akteure müssten darauf achten, dass die
hörde. So hätten die Arbeitgeber BA-Chef Integrität und Handlungsfähigkeit der
Scheele als ehemaligem Hamburger Ar- Bundesagentur unter der Auseinanderset-
beitssenator von Beginn seiner Amtszeit zung nicht leide, heißt es dort.
an misstraut. Die Lobbyisten wollten Hols- Wenn Holsboer gehen muss, dann soll
boer daher als Gegenpol einsetzen. Behördenchef Scheele ihr wieder eine Frau folgen. Als Kandidatin
Doch diese Erwartung habe sie nicht »Lassen Sie uns respektvoll arbeiten« gilt die Chefin der BA-Regionaldirektion
erfüllt. Statt auf Konfrontationskurs zu Nordrhein-Westfalen, Christiane Schöne-
gehen, habe sich Holsboer mit Scheele feld. Sie hat aus Sicht der Holsboer-Geg-
arrangiert. Dass sie ein solides Arbeitsver- sind noch immer männlich geprägt und ner nicht nur den Vorteil, dass sie in den
hältnis mit dem SPD-Mann pflege, habe tun sich schwer mit Frauen und ihrem Füh- alten Strukturen groß geworden ist. Schö-
man ihr nie verziehen, heißt es. Arbeitge- rungsstil.« nefeld ist 61 Jahre alt, als Interimslösung
berfunktionäre bestreiten diese Vorwürfe. Für Holsboers Ablösung ist am 12. Juli wäre ihre Amtszeit bis zur Rente über-
Vor allem aber, so argumentieren Hols- eine Zweidrittelmehrheit im Verwaltungs- schaubar. Da Detlef Scheele 62 Jahre alt
boers Unterstützer, stehe die Vorstands- rat nötig. Bislang liegt aber nicht mal der ist, könnten Arbeitgeber und Arbeitneh-
frau für einen Kulturwandel und einen offizielle Antrag dazu vor, Annahme- mer in naher Zukunft wieder ungestört
modernen Führungsstil in einer Behörde, schluss ist der 27. Juni. Personalpakete auskungeln.
die bislang streng von oben nach unten or- Das Aus durch die Arbeitgeberseite Markus Dettmer, Christian Reiermann,
ganisiert wurde. Sie kümmere sich um The- ist klar. Ob Holsboer auch den Rückhalt Cornelia Schmergal
men wie Gleichstellung und ein besseres der Gewerkschaftsvertreter verloren hat,
Betriebsklima. Sie selbst besuche häufig
Arbeitsagenturen vor Ort. An der Basis
würden viele Mitarbeiter Holsboer daher
gern im Amt halten. Manche Führungs-
kräfte wiederum fühlen sich von ihr über-
gangen.
Dass sich etwas am Stil geändert hat,
wurde auch außerhalb der BA wahrgenom-
men. Im Haushaltsausschuss des Bundes-
tags etwa erschien Holsboer – anders als
ihre männlichen Kollegen – nie allein zum
turnusmäßigen Rapport, sondern in der
Regel mit Vorstandschef Scheele.
Es gibt Abgeordnete, die das als »team-
orientiert« werten. Andere wunderten
sich über die zurückhaltend wirkende
Frau. Bei der BA war man bisher Vor-
standsmänner gewohnt, die sich ganz
selbstverständlich zu politischen Fragen
äußerten. Holsboer indes habe sich auf
die Fakten beschränkt.
Experten können jedenfalls nicht erken-
nen, dass Holsboer überfordert wäre. So
urteilt die grüne Haushaltspolitikerin
Ekin Deligöz, die seit fünf Jahren als
Hauptberichterstatterin die Zahlen der
Bundesagentur prüft: »Sachlich, fachlich
immer gut vorbereitet und eine kompe-
tente Gesprächspartnerin.« In den zwei
Jahren, in denen Holsboer nun im Amt
sei, habe die BA sehr gute Zahlen präsen-
tiert und einen »erfrischend offenen Kom-
munikationsstil« an den Tag gelegt. Deli-
göz sieht die Sache so: »Die Strukturen
in vielen Unternehmen und Behörden Gemeinsam machen wir das deutsche
Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt.
47 Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/jan
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Deutschland

Tschüsschen
Kommunen Josef Rüddel war mehr als ein halbes Jahrhundert lang Bürgermeister.
Jetzt tritt er ab, mit 94 Jahren. Er konnte einfach nicht früher.

A
n einem Sonntagnachmittag im
Mai setzt sich Josef Rüddel an
seinen Schreibtisch, um einem
Fremden eine Freude zu machen.
Ein Mann aus der Nachbargemeinde hat
ihm einen Brief geschrieben und zwei
Blöcke Gedenkbriefmarken zur Öffnung
der Mauer 1989 beigelegt, Erstausgabe mit
Sonderstempel. Auf ihnen, so die Bitte,
solle Rüddel unterschreiben.
Rüddel unterzeichnet. Dann legt er
noch eine Autogrammkarte dazu. Er hat
sie vor einigen Jahren drucken lassen, als
ihn immer häufiger Anfragen erreichten.
Auf den Karten trägt Rüddel ein kariertes
Sakko und ein beigefarbenes Hemd. Auf
der Rückseite steht: »Dienstältester Bür-
germeister in Deutschland«. Darunter sein
Geburtsdatum, 20. Januar 1925.
Seit 56 Jahren trägt Josef Rüddel den
Titel »Bürgermeister«. Der Titel steht im
Telefonbuch hinter seinem Namen und
über der Klingel an seiner Haustür und ist,
so scheint es, unwiderruflich mit seinem
Namen verbunden. Bürgermeister Rüddel.

MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL


Josef Rüddel ist 94 Jahre alt. In der Die-
le hängt eine Tafel an der Wand, ein Adler
ist darauf zu sehen, mit seinen Krallen
greift er ein Zepter und einen Reichsapfel.
Sie stammt noch aus der Kaiserzeit. Da-
runter stehen die Namen seiner Vorgänger,
chronologisch geordnet.
1902 – 1926 Peter Hallerbach
1926 – 1931 Josef Schmitz
1931 – 1945 Johann Wallau
1945 – 1963 Josef Heuser Gemeindevorsteher Rüddel, Abschiedskuchen, Kirche in Windhagen:
1963 – … Josef Rüddel
Drei Punkte, als gäbe es kein Ende.
Doch bald ist Schluss. Straße, in einem Dreiseithof, altes Fach- am Ende kam nur ein Mann. Da beschloss
werk, im Garten blüht der Flieder. er, die Windhagener sollten zu ihm nach
Die Gemeinde Windhagen liegt am Ran- Die Wände in Rüddels Wohnzimmer Hause kommen, auf seinen Hof. Und er
de des Westerwalds. In wenigen Fahrmi- sind holzvertäfelt. In der Ecke steht ein zu ihnen.
nuten ist man am Rheinufer, in Linz oder Schreibtisch. Auf ihm häufen sich Papiere Wahlergebnisse Gemeinderat:
Bad Honnef. Knapp 4300 Menschen leben über defekte Straßenbeleuchtungen und 1969 CDU 70,6 Prozent
hier, in 16 Dörfern. Die größeren heißen die Sanierung landwirtschaftlicher Wege. 1974 CDU 67,0 Prozent
Windhagen oder Stockhausen, dort gibt Neben dem Telefonbuch liegt eine Lupe. 1979 CDU 55,5 Prozent
es Gasthäuser und Kirchen und einen Su- An den Wänden sein Lebenswerk, einge- An einem Donnerstag wenige Wochen
permarkt. Die kleineren zählen nur weni- rahmt und aufgehängt. Das Bundesver- zuvor stehen eine Beerdigung und ein
ge Gehöfte, die sich entlang der Straße rei- dienstkreuz, die Ehrennadel des Landes 80. Geburtstag in seinem Kalender. An den
hen. Zwischen ihnen hügelt sich Ackerwei- Rheinland-Pfalz. Ein Foto mit Helmut restlichen Stunden des Tages werden Bür-
te und dichter Wald. Es sei eine bucklige Kohl. Ein Gruß von Joachim Gauck. ger auf seinen Hof kommen und Rüddel
Gegend, sagt Rüddel. Von hier aus führte Rüddel die Geschäf- bitten, Auszüge vom Katasteramt zu be-
Der Weg zu Rüddel führt vorbei an Fel- te, all die Jahrzehnte. Nur einmal, Mitte glaubigen, Baugenehmigungen zu unter-
dern. 15 Häuser, alle säumen sie die einzi- der Sechziger, lud Josef Rüddel zu einer zeichnen, ein Schreiben der Verbandsge-
ge Straße, die so heißt wie der Weiler selbst: Bürgersprechstunde ins Gasthaus Zur Post. meinde. Rüddel wird nur eine halbe Stun-
»Hüngsberg«. Rüddel wohnt am Ende der Eine Stunde lang saß er dort, so erzählt er, de finden, um sich mittags auszuruhen.

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Am Abend vorher saß er in seinem Ses- licht. Eine Welt der Bierchen und Gläs- Mit 89 Jahren bekam Rüddel eine neue
sel, es war 22 Uhr, im Fernsehen lief André chen, der Wägelchen und Momentchen. Hüfte eingesetzt. Die Ruhe im Krankenbett
Rieu, da klingelte das Telefon. Sein Stell- Und natürlich auch: des Bürgermeister- hielt er kaum aus. Nach wenigen Wochen
vertreter habe angerufen, so erzählt er tags chens. Reha setzte er sich noch am Tag seiner
darauf, es gab Unklarheiten bei den Stimm- Rüddel ist ein Politiker, der nahbar ist, Heimkehr in sein Auto, um durch die Ge-
zetteln für die Kommunalwahl. Als Bür- im engeren Sinne des Wortes: Sobald er meinde zu fahren. Er wollte schauen, ob
germeister ist Rüddel auch Wahlleiter für sich mit jemandem unterhält, kommt ir- es Probleme gibt. Die Menschen brauchten
das Gemeindegebiet. Am Morgen habe er gendwann der Moment, an dem er jeman- schließlich ihren Bürgermeister. Bis heute
deshalb ab vier Uhr wach im Bett gelegen dem sachte auf den Rücken klopft oder fährt er Auto.
Zuletzt fiel es ihm allerdings schwerer,
durch die Gemeinderatssitzungen zu füh-
ren. Er brachte Beschlussvorlagen durch-
einander, konnte Diskussionen nicht im-
mer folgen. Seine Stimme brach manch-
mal weg. Natürlich strenge ihn das an,
gibt Rüddel zu. Stundenlanges Gerede,
im Dezember hatten sie 32 Punkte auf der
Tagesordnung, die Sitzung dauerte fast
vier Stunden. »Ich bin ja keine 50 mehr«,
sagt er dann. Den Vorsitz hat Josef Rüddel
nie abgegeben.
Doch bei der vergangenen Kommunal-
wahl trat Rüddel nicht mehr an, im Mai
führte er seine letzte Sitzung. Er ist nur
noch wenige Tage im Amt.
In seinem Leben hat Josef Rüddel mehr
als 500 Sitzungen geleitet, so genau weiß
er das nicht, er hat nicht gezählt. Er hatte
ja nie damit gerechnet, dass die Politik ein-
mal sein Leben sein würde und sein Leben
die Politik.

Alles begann mit dem plötzlichen Tod


seines Vorgängers im Jahr 1963. Rüddel
war 38 Jahre alt, saß seit acht Jahren im
Gemeinderat für die CDU. Als ein Nach-
MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL

MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL

folger gesucht wurde, wählte der Gemein-


derat überraschend ihn.
Windhagen galt damals als eine der
ärmsten Gemeinden der Region. Die
Äcker sind karg, flachgründiger Schiefer-
boden, da lassen sich Kartoffeln anbauen
und etwas Roggen. Auch Rüddel war Land-
wirt, züchtete Bullen, bestellte seine Äcker.
In den Nachbarorten hatten sie wenigstens
Steinbrüche, wenigstens Arbeitsplätze. In
»Nichts tun taugt gar nicht, sonst läuft man bald rum wie die alten Leute« Windhagen führten Schotterpisten durch
den Ort, es fehlte an Wasseranschlüssen
und Telefonleitungen.
und über das Problem gegrübelt. Und ihn an den Oberarm fasst. Ein Mann von Die ersten zwei Amtsjahre kam täglich
gleich nach dem Frühstück mit der Ver- kleiner Gestalt, aber mit einem kräftigen der Postbote aus dem Nachbarort zu Rüd-
waltung telefoniert. Händedruck und festem Schritt. Rüddel del auf den Hof, um ihm die Nachrichten
Vor zwei Jahren starb Rüddels Frau, sein braucht kein Hörgerät; er kann Gesprä- der Anrufer zu bringen.
Gretchen. Ganz plötzlich, sagt er, mit 88 chen auch noch folgen, wenn er auf Volks- Gefragt nach seinen größten Erfolgen,
Jahren. Drei Söhne haben sie, sieben Enkel, festen direkt neben den Lautsprechern lädt er zu einer Autofahrt ein. Er wolle ei-
drei Urenkel. Fast jeden Tag fährt Rüddel steht. Auf die Frage, worin das Alter nem etwas zeigen. Rüddel fährt nicht hi-
auf den Friedhof. Sie habe immer Rat ge- ihn einschränke, fällt ihm wenig ein. Vier nein ins Dorfidyll, zur weiß getünchten
wusst, sagt er. Sie war die Seele der Ge- Tabletten morgens, fünf abends, für die Kirche. Rüddel fährt ins Gewerbegebiet.
meinde. Durchblutung und das Herz. Ansonsten, Das erste Glück kam aus Leverkusen,
Wahlergebnisse Gemeinderat: sagt er, »meint es der liebe Jott noch jut Ende der Fünfzigerjahre. Vorstände des
1984 CDU 54,4 Prozent mit mir«. Bayer-Konzerns hatten privat die Jagd
1989 CDU 47,3 Prozent Jeden Abend macht Rüddel seine Übun- in Windhagen gepachtet, und bei einem
Spricht Rüddel, wogen die Worte hin gen, dehnt sich, drückt sich gegen die der Ausflüge kamen sie mit den Lokal-
und her wie die Wellen auf dem Rhein, Wand, bei gutem Wetter draußen, auf sei- politikern ins Gespräch. Sie suchten einen
manche werden länger gezogen, andere nem Hof. »Nichts tun taugt gar nicht«, sagt Standort für eine Fotopapierfabrik. Sauber
brechen abrupt in sich zusammen. Ein er. »Sonst läuft man bald rum wie die alten sollte die Luft sein, der Grund nicht zu
rheinischer Singsang, der alles vernied- Leute, mit Gehstock.« teuer, nahe einer Autobahn. Wenige Jahre

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Deutschland

später begann die Produktion in Wind- chen, und das Bürgermeisterpaar kam vor- Im Februar 2019 gründete sich eine
hagen. bei. Immer und immer wieder. Bis Rüddel Wählergemeinschaft, die »Gemeinsam –
Kurz darauf suchte ein junger Fuhr- eine Lösung gefunden hatte. Bürger für Windhagen«. Sie wollen all das
unternehmer eine kleine Halle für seine Fragt man die Bürger Windhagens, was umsetzen, was aus ihrer Sicht in den ver-
Firma, Rüddel half. Josef Rüddel auszeichnet, fällt oft ein Wort: gangenen Jahren versäumt wurde. Rad-
Er lernte die wichtigste Währung ken- Bauernschläue. Und sein unvergleichliches wege bauen, Fußwege sanieren, die Stra-
nen, die ein Lokalpolitiker haben kann: Geschick, an Grundstücke zu kommen. ßen im Gewerbegebiet entlasten. Und die
Grundstücke. Manche sagen, Rüddel trieb Klüngelpolitik, Bürger miteinbeziehen.
Im Laufe der Jahrzehnte hat Rüddel Dut- schon immer. Von einem »System Familie Rüddel sagt, das sei eine Thekenmann-
zende Betriebe nach Windhagen gelockt. Rüddel« ist die Rede. Andere sagen, er sei schaft. Die hätten keine Ahnung von Kom-
Die Gemeinde zählt heute knapp 3000 Ar- eher ein Politiker aus einer anderen, frühe- munalpolitik. Bei der Wahl am 26. Mai ge-
beitsplätze und bietet Firmen Platz, die ren Zeit, da war das so. Rüddel sagt, er habe wann zwar der Kandidat der CDU, mit
ihre Solarien, Straßenfräsen und Überwa- jede Entscheidung begründen können. 51,5 Prozent. Doch die Wählergemein-
chungssysteme in die ganze Welt liefern. Als Windhagen das Jubiläum aus An- schaft holte im Gemeinderat 5 der 20 Sitze,
Jedes Jahr kommen mehr als 16 Millionen lass des 50. Dienstjahres seines Bürger- wurde zweitstärkste Fraktion. Die CDU
Euro an Gewerbesteuer zusammen, pro meisters feierte, bekam der eine Torte verlor ihre absolute Mehrheit, hat in den
Kopf sind das mehr als in den meisten geschenkt. Auf ihr war ein großes rosafar- folgenden Jahren nur noch sieben Rats-
deutschen Metropolen. Die Gemeinde benes Ohr zu sehen, es hatte eine Kerbe. mitglieder. Das zeige, wie unzufrieden die
brauche keine Bank, sagt Rüddel. Sie hat Ein Schlitzohr. Auf seiner letzten Gemein- Windhagener seien, sagen Vertreter der
ihre Rücklagen, mehrere Millionen. Dafür deratssitzung sagte Rüddel zum Schluss Wählergemeinschaft.
hat er gesorgt. in die Runde: »Ich habe nicht immer alle
Nach der letzten Gemeinderatssitzung
Ende Mai steht Josef Rüddel mit einigen
Ratsmitgliedern an der Theke des Bürger-
hauses. Er sagt, er freue sich auf etwas
Ruhe. Endlich Rentner sein, wenigstens
ein bisschen. Er wurde gefragt, ob er nicht
weiterhin Geburtstagsbesuche bei Bürgern
machen wolle. Rüddel gefällt die Idee.
Kürzlich hat die Gemeinde ein Stück
Acker gekauft, am Rande des Gewerbe-
gebiets. Rüddel hat schon einige Ideen,
was man damit machen könnte. Aber das
MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL

müsse gut geplant sein. Neben seinem


Schreibtisch, in einem Korb, hat er Bau-
pläne stecken, ordentlich aufgerollt. Einer
zeigt ein Schwimmbad.
Es ist 23.15 Uhr, als Josef Rüddel sein
Bier leert. Morgen wird er auf den Fried-
hof gehen, zum Grab seiner Frau. »Ich
muss dem Gretchen ja erzählen, wie schön
das hier heute war.« Er greift seine Tasche,
verabschiedet sich von der Runde, einmal,
Amtsträger Rüddel: Er führte die Geschäfte von seinem Wohnzimmer aus zweimal, und geht langsam Richtung Aus-
gang. Nach wenigen Schritten dreht er sich
noch mal um. »Also, tschüsschen«, ruft er,
Für Rüddel ist es eine einfache Rech- gefragt, das war ganz gut so. Konnte kei- greift an den Türrahmen und setzt langsam
nung: Bekommt eine Firma Land, entste- ner Nein sagen.« einen Schritt über die Stufe.
hen Jobs. Durch Jobs ziehen neue Bürger Direktwahl Bürgermeister An diesem Abend mahnt der 1. Beige-
ins Dorf. Geld fließt in die Gemeinde. 1994 Rüddel 56,1 Prozent ordnete die anderen, sich gut vorzuberei-
Rüddel ließ erst einen Kindergarten bau- 1999 Rüddel 65,9 Prozent ten, bevor sich der neue Rat konstituiere.
en und später einen zweiten. Eine Schule 2004 Rüddel 72,3 Prozent Sie müssten noch einmal genau die Ge-
und ein Bürgerhaus. Windhagen bekam Warum er erst jetzt abtritt und es nicht meindeordnung lesen und mit den Beam-
einen 18-Loch-Golfplatz und ein Wellness- schon vor zehn Jahren getan hat? ten der Verwaltung sprechen. Den Text
hotel. Vor zehn Jahren eröffneten sie ein Weil er die Macht genoss und sich lange raussuchen, der bei der Vereidigung vor-
Veranstaltungszentrum für 1000 Gäste, Zeit kaum jemand in den eigenen Reihen gelesen wird. Schließlich wüssten sie ja gar
mit Sektbar und 120 Quadratmeter Bühne. traute, dem System Rüddel zu widerspre- nicht, wie das abläuft: eine Amtsübergabe.
Vor fünf Jahren kam eine Drei-Feld-Sport- chen, sagt der Grünenfraktionsvorsitzende.
Christopher Piltz
halle dazu. Gerade planen sie ein Haus Weil das sein Lebensprojekt war und er
Mail: [email protected],
der Vereine. irgendwann den Zeitpunkt verpasst habe, Twitter: @chpiltz
Über die Jahrzehnte bekam Rüddel, rechtzeitig loszulassen, sagt der SPD-Frak-
was er wollte. Die Gemeinderatssitzungen tionsvorsitzende.
hielten sie anfangs sonntags ab, im Wirts- Weil er das Gefühl hatte, es sei noch ei- Video
Bürgermeister Rüddel über
haus gegenüber der Kirche. Um die Bau- niges zu richten, sagt Josef Rüddel. seine Rekordamtszeit
ern abzufangen und mit ihnen zu handeln. Direktwahl Bürgermeister spiegel.de/sp252019buergermeister
Die besaßen das Land. Zögerte jemand zu 2009 Rüddel 66,4 Prozent oder in der App DER SPIEGEL
verkaufen, buk Rüddels Frau einen Ku- 2014 Rüddel 62,1 Prozent

50
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Maik
vom LKA
Behörden Der Dresdner »Hutbür-
ger« fordert Entschädigung vom
ZDF. Der sächsischen Polizei
beschert das erneut eine Diskus-
sion um rechte Verstrickungen.

E s ist wenigen Staatsdienern in ihrer


Laufbahn beschieden, einen eigenen
Song gewidmet zu bekommen. Maik
G. hat es geschafft. Bei YouTube läuft der
Gassenhauer »Ins Gesicht gefilmt: Straf-

BJOERN KIETZMANN
tat« einer Truppe namens »LKA Sachsen
feat. Hutbürger«. G. sächselt darin unter
dröhnenden Bässen im Sprechgesang: »Sie
haben mich ins Gesicht gefilmt, das dürfen
Sie nicht, das dürfen Sie nicht.« »Hutbürger«-Graffito in Dresden: »Sie haben mich ins Gesicht gefilmt«
Maik G. war über Wochen der berühm-
teste Mitarbeiter des sächsischen Landes-
kriminalamts. Seit er im August 2018 am den Mann mit Hut in dem Video. Nicht In Berlin wiederum hatten im Herbst
Rande einer Pegida-Demonstration mit etwa an Stimme, Gesicht, Hut oder Weste, zwei SEK-Männer des sächsischen Lan-
einem schwarz-rot-goldenen Anglerhut, sondern anhand eines Muttermals am lin- deskriminalamts zum Besuch des tür-
Sonnenbrille und roter Weste lautstark ge- ken Arm. Maik G., Diplomkaufmann, wur- kischen Präsidenten einen Kollegen unter
gen ein ZDF-Team protestierte, lief er de in die Landesdirektion nach Dresden dem Namen des Rechtsterroristen
auf allen Kanälen. Jan Böhmermann kre- versetzt, mit der Polizeiarbeit hat er dort Uwe Böhnhardt in eine Dienstliste einge-
ierte mit »Maik vom LKA« einen bitter- nichts mehr zu tun. tragen. Der Grünen-Innenexperte Valen-
bösen Sachsen-Song, Christian Ehring von Den sächsischen Sicherheitsbehörden tin Lippmann wollte Anfang des Jahres
»extra 3« moderierte im Anglerhut, und wird der Vorstoß des fast vergessenen vom Innenminister wissen, in welcher
der »Tagesspiegel« kommentierte – gänz- »Hutbürgers« nicht gefallen. Ihnen scheint Dienststelle die ertappten Beamten der-
lich spaßfrei – : »Der hässliche Deutsche daran gelegen zu sein, dass über mögliche zeit tätig seien. Antwort: »Die erbetenen
ist wieder da.« rechte Umtriebe in den eigenen Reihen Auskünfte berühren deren persönliche
Jetzt schlägt Maik G. zurück. Er ver- wenig berichtet wird. Gerade musste der Verhältnisse und dienstrechtlichen Belan-
langt vom ZDF und dem Kameramann we- SPIEGEL das Sächsische Oberverwaltungs- ge, weshalb ihnen datenschutzrechtliche
gen Medienrechts- und Persönlichkeits- gericht bemühen, um zu erfahren, was aus und fürsorgerechtliche Gründe entgegen-
rechtsverletzung eine Entschädigung einem Dresdner Polizisten geworden ist, stehen.«
»nicht unter 20 000 Euro«. Sein Anwalt der rechtskräftig wegen Volksverhetzung Dass die sächsische Polizei mehr als nur
ist Sachsens AfD-Vize Maximilian Krah, verurteilt wurde. ein Hutbürger-Problem habe, bescheinigte
der gerade ins Europäische Parlament ge- Das Polizeiverwaltungsamt hatte jede ihr gerade eine Kommission, welche nach
wählt wurde. Krah sagt, sein Mandant sei Auskunft unter Hinweis auf datenschutz- Unregelmäßigkeiten die Ausbildung an
auf dem Weg zu einer politischen Demons- rechtliche Bestimmungen verweigert. Die der Hochschule der Polizei in der Ober-
tration gegen seinen Willen gefilmt wor- privaten Interessen des Beamten, dem das lausitz überprüfte. Es sei auch in Sachsen
den. Er habe arbeitsrechtliche Konsequen- Operative Abwehrzentrum der Polizei verschiedentlich zu Vorkommnissen ge-
zen und eine deutschlandweite Verun- immerhin ein »krudes Weltbild« und »Ten- kommen, schreibt die Kommission, »die
glimpfung ertragen müssen. denzen in Richtung Reichsbürgerbewe- Zweifel bei den beteiligten Polizeibeamten
Für Krah ist Maik G., der damals als gung« bescheinigte, seien höher zu bewer- an ihrer Haltung zum freiheitlich-demo-
Buchprüfer im LKA arbeitete, ein Opfer ten als das Informationsinteresse der kratisch verfassten Rechtsstaat aufkom-
in jeder Hinsicht. So habe der 52-Jährige Öffentlichkeit. Nach zwei Instanzen und men ließen«. Eine zunehmende politische
lediglich »gelegentlich« an Pegida-Demos sieben Monaten mussten die Behörden Polarisierung mache auch vor Polizei-
teilgenommen – und dann mit einer Fahne doch antworten: Das Disziplinarverfahren dienststellen nicht halt.
des Staates Israel, »dessen großer Bewun- gegen den Mann wurde eingestellt, er ar- Die Experten schlagen vor, das Aus-
derer er ist«. Im August hatte er die Fahne beitet bis heute im Polizeiverwaltungsamt. wahlverfahren für künftige Polizisten zu
offenbar vergessen. Den Kameramann Im Innendienst, wie man versichert. ändern. So solle der Verfassungsschutz die
habe er irrtümlich für einen »Antifa-Foto- Bewerber überprüfen. Und diese sollten
grafen« gehalten und Hut sowie Sonnen- mehr über den Umgang mit Medien ler-
brille nur getragen, um nicht erkannt zu Die Experten schlagen nen. Es könnte ja sein, dass ihnen das Fern-
werden, »auch im Hinblick auf sein Be- vor, der Verfassungs- sehen wie einst dem Kollegen Maik G. mal
schäftigungsverhältnis«. ins Gesicht filmt. Steffen Winter
Geholfen hat es nichts. Angeblich iden-
schutz solle die
Mail: [email protected]
tifizierte der Präsident des LKA persönlich Bewerber überprüfen.
DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 51
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Gesellschaft
»Ich könnte mir auf meinem Grab einen QR-Code vorstellen, den man mit seinem Handy scannen kann.« ‣ S. 54

Früher war alles schlechter


Nº 180: Rassistische Einstellungen, USA

Trotz Trump. Die rassistischen Einstellungen unter weißen Ame- len sich durch Trump angestachelt fühlt, bringt er eine Mehrheit
rikanern haben seit der Wahl Donald Trumps nicht zu-, sondern dazu, sich als weniger vorurteilsbelastet zu identifizieren. Die
abgenommen. Zu diesem Resultat kommt eine noch unveröffent- Studie kommt zu verwandten Schlüssen wie der »World Values
lichte Studie des Politologen Daniel J. Hopkins von der Univer- Survey« (SPIEGEL 1/2019), eine Erhebung zum weltweiten Wer-
sity of Pennsylvania. Die Teilnehmer wurden von 2007 bis 2018 tewandel, die liberale Ideale weiter auf dem Vormarsch sieht und
mehrfach interviewt, wobei Vorurteile gegenüber Schwarzen eine Abnahme von Feindseligkeiten wie Xenophobie und Homo-
und Lateinamerikanern auf der Skala der Forscher in den vergan- phobie beobachtet. Es ist nicht leicht, an Trump ein gutes Haar
genen beiden Jahren am deutlichsten zurückgingen. Wie kann zu lassen, aber das wäre ein willkommener Effekt: In einer Zeit
das sein, wenn es doch für Rassisten in der Trump-Ära eindeutig der wachsenden nationalistischen Gefahr erkennen womöglich
leichter geworden ist zu sagen, was man ja wohl noch wird sagen mehr und mehr Menschen, dass sie sich zu ihren liberalen Wer-
dürfen? Wenn doch rassistisch motivierte Gewalt in den USA ten bekennen müssen. In Deutschland kennt man das Muster
seit Trumps Wahl unleugbar zugenommen hat? Die Autoren, von Neonazimärschen: Es laufen ein paar braune Deppen durch
von den Werten selbst überrascht, halten die Ergebnisse für eine die Stadt, aber die spontan organisierte Gegendemonstration ist
Gegenreaktion. Während eine überschaubare Zahl von Radika- um ein Vielfaches größer. [email protected]

Vögel SPIEGEL: Ihr Einsatz für den Umwelt- vermisse die Rufe des Braunkehlchens,
Wo ist das Braunkehlchen, schutz wurde jahrelang erschwert. Die das Trällern der Feldlerchen und der
Stasi hat Ihre Wohnung abgehört, ver- Goldammern. Ihnen allen fehlen die
Herr Dörfler? deckte Ermittler verfolgten Sie, sabotier- Insekten als Nahrung. Die Küken sterben
ten Ihre Arbeit. Wie geht es Ihnen heute? einen leisen Tod, und niemand bemerkt
Ernst Paul Dörfler, 69, ist Schriftsteller, Dörfler: Ich bin heute freier, aber der diese Tragödie. Nur die Stille auf den Fel-
promovierter Chemiker und Mitbegründer Umwelt geht es nicht besser. Die DDR hat dern wirkt bedrückend.
der Grünen Partei in der DDR. die Ausbeutung der Natur innerhalb ihrer SPIEGEL: Was können wir tun?
Grenzen rücksichtslos praktiziert, in der Dörfler: Wenn wir unser Überleben sichern
SPIEGEL: Herr Dörfler, Ihr Buch über heutigen Zeit läuft sie global ab und ist wollen, müssen wir uns um die kleinen Mit-
Vögel wurde ein Bestseller. Interessieren viel subtiler und gnadenloser geworden. bewohner, die Insekten und die Vögel, bes-
sich wirklich so viele für das Harems- Die meisten Umweltprobleme wur- ser kümmern. Verlassen diese uns, werden
modell der Hühnervögel oder den Balz- den bis heute nicht gelöst, sie sie uns wohl oder übel mitnehmen. Wir
flug des Mäusebussards? haben sich vielmehr verschärft: wissen, was uns in diese prekäre Lage
Dörfler: Wir Menschen sind den Vögeln Treibhauseffekt, Artensterben, gebracht hat, und wir haben die Mög-
ähnlicher, als wir dachten. Doch wir ent- Nitrat im Grundwasser, Pestizide lichkeit, diesen Abwärtstrend zu stop-
ANDYWORKS / GETTY IMAGES

fernen uns immer mehr von der Natur und Plastik in der Nahrungskette. pen und umzukehren. Das geht
und ihren Regeln – oft nicht einmal zu SPIEGEL: Was fehlt Ihnen? nur mit einer entschiedenen Agrar-
unserem Vorteil. Viele Volkskrankheiten Dörfler: Ich vermisse die Balz der und Ernährungswende. JST
wie Bluthochdruck, Diabetes, Rücken- Großtrappen auf den Feldern. Ich Ernst Paul Dörfler: »Nestwärme.
schmerzen und psychische Erkrankungen Was wir von Vögeln lernen kön-
sind die Folge. Braunkehlchen nen«. Hanser; 288 Seiten; 20 Euro.

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denn der Käufer hatte einen überzeugenden Grund: Die bei-


Eine Meldung und ihre Geschichte
den Turbolader des Ferrari sind als Ersatzteile sehr schwer
zu beschaffen, der Kunde wollte sich überzeugen, dass sie funk-

Carporn tionieren. Das aber ist nur bei zügigem Beschleunigen möglich.
Kerkloh gab also einem seiner Mitarbeiter die Erlaubnis, den
Wagen auszuführen, auf die A 46, die sich nicht weit von der
Classic Remise durch den Düsseldorfer Süden zieht.
Wie der fast perfekte Diebstahl eines Luxusautos Es war nur wenig Sprit im Tank des Ferrari, deshalb steuerte
vor einer Garage in Grevenbroich endete Kerklohs Mitarbeiter die nächste Tankstelle an. Hier fragte
der Kunde, ob es möglich sei, dass er selbst den Wagen auf
der Autobahn testen dürfe. Der Verkäufer hatte keine Einwän-

E s gab keinen Anlass für Bernhard Kerkloh, Händler


von außergewöhnlichen Sportwagen, an der Seriosität
und dem ernsthaften Interesse jenes Kunden zu zwei-
feln, der sich im Mai für ein äußerst rares und äußerst teures
de, die Verhandlungen waren ja erfolgreich beendet, und so
lenkte der Kunde den Wagen kurze Zeit später auf die A 46,
Kerklohs Mitarbeiter neben sich. Der Mann gab Gas, freute
sich über den Druck, den die beiden Turbolader aufbauten, und
Auto interessierte, das Kerkloh anbot: einen Ferrari 288 GTO, verließ die Autobahn an der nächsten Ausfahrt wieder.
den ersten Supersportwagen des italienischen Herstellers, Nun klagte der Kunde über starkes Unwohlsein, Kerklohs
nur 272-mal gebaut und heute rund zwei Millionen Euro wert. Mitarbeiter berichtete später der Polizei, dass der Mann blass
Der Kunde, 43 Jahre alt und offenbar Franzose, schien gewesen sei und stark geschwitzt habe. Was möglicherweise
extra aus Spanien angereist zu sein. Er hatte sich drei Wochen ein Nachweis beträchtlicher Schauspielkunst ist. Vielleicht
zuvor das erste Mal bei Kerkloh gemeldet, hatte die richtigen war der Interessent aber auch nur nervös, denn nun stand
Fragen gestellt – nach identischen Fahrgestell- und Motor- der entscheidende Moment des Diebstahls bevor.
nummern, nach dem Erstlack, der Historie des Fahrzeugs, Der Kunde parkte den Wagen am Straßenrand und bat
möglichen Schäden –, und er erschien, nachdem der Besuch Kerklohs Mitarbeiter, wieder das Steuer zu übernehmen. Der
einmal aus nachvollziehbaren stimmte zu, stieg aus, auch der
Gründen verschoben worden war, Kunde schnallte sich ab und öff-
pünktlich in der Classic Remise nete die Fahrertür. Doch als Kerk-
in Düsseldorf, einem Veranstal- lohs Mitarbeiter um den Wagen
tungszentrum und zugleich Tem- herumging, zog er die Tür plötz-

DIETER STANIEK / PICTURE ALLIANCE / DPA


pel der Automobilbaukunst. lich wieder zu und gab Gas.
Selbst während der Präsen- Der Verkäufer versuchte, die
tation des Wagens, während der Verfolgung aufzunehmen. Er rief
Preisverhandlung schöpfte Kerk- einem Autofahrer an einer Am-
loh, der seit vielen Jahren Luxus- pel zu: »Mir wurde gerade ein
autos verkauft, keinen Verdacht. Ferrari geklaut!«, aber der Mann
Der Kunde, breit gebaut, mit lachte nur und fuhr weiter.
Glatze und weißem Poloshirt, Kerkloh informierte dann die
wirkte entspannt, eine Einigung Polizei, aber die Fahndung blieb
über den Kaufpreis war rasch er- Ferrari 288 GTO an diesem Tag ergebnislos.
zielt, dann ging es nur noch um Bis hierher hatte der Dieb alles
Details wie den Transport des richtig gemacht. Weil ihm klar
Wagens nach Marbella. Zu kei- war, dass der Ferrari schnellst-
nem Zeitpunkt kam Kerkloh der möglich von der Straße ver-
Gedanke, hier könnte ein Dieb- Von der Website Express.de schwinden musste, hatte er in
stahl vorbereitet werden. Grevenbroich eine Garage ange-
Das ist allerdings, ganz egal wie sich ein Kunde verhält, mietet, in einem Hof voller Garagen. Das garantierte Ano-
auch kein naheliegender Gedanke beim Verkauf eines Ferrari nymität. Und der Dieb hatte zunächst auch Glück, denn als
288 GTO. Der Wagen hat eine Haube aus Fiberglas und ex- er mit dem gestohlenen Ferrari auf das Grundstück fuhr, war
trem breite Kotflügel, 400 PS beschleunigen ihn auf immer- niemand zu sehen.
hin 305 km/h. Der GTO ist so selten und so auffällig, dass Allerdings ist ein Ferrari aus den Achtzigerjahren nicht
man ein gestohlenes Exemplar kaum im Straßenverkehr be- gerade leise. Liebhaber berauschen sich an Details wie der
wegen kann. Es ist nicht einmal möglich, ihn risikolos in Tei- Trockensumpfschmierung oder der Weber-Marelli-Einspritz-
len zu verkaufen, denn Ersatzteile sind weltweit so rar, dass anlage, schlichtere Gemüter kommentieren Videos auf You-
selbst der Verkauf eines zerlegten Wagens Argwohn wecken Tube, die den Sound ausstellen, mit Wörtern wie »sexy beast«
würde. Auf weiteren Wertzuwachs zu hoffen ist auch sinnlos – oder »Carporn«. Der GTO ist überdies kein unauffälliges
wer kauft schon einen gestohlenen Ferrari? Wer einen Ferrari Auto, lackiert in leuchtendem Rosso Corsa und stattliche
288 GTO klaut, kann ihn eigentlich nur an einem geheimen 1,91 Meter breit; der Dieb hatte ganz offenbar Mühe, den
Ort parken und bewundern. Anders gesagt: Nur ein Ferrari- Ferrari in die schmale Garage zu lenken. Es dauerte. Rangie-
Liebhaber würde ein solches Projekt wagen. ren war nötig, vor und zurück, Gas geben, bremsen, Gas ge-
Das erste Ziel, das es für den Dieb zu erreichen galt, war ben. An den Garagenhof grenzen Schrebergärten, und als
eine Probefahrt – und zwar jenseits des Betriebsgeländes der der Wagen endlich geparkt war, stand ein halbes Dutzend
Classic Remise, so erzählt es Kerkloh am Telefon. Das ist Zuschauer herum und staunte.
nicht ganz einfach, denn üblicherweise kommt Kerkloh die- Am folgenden Tag lasen sie im Internet von dem Diebstahl,
sem Wunsch seiner Kunden nicht nach. Zu groß ist das Risiko, mehrere Zeugen meldeten sich bei der Polizei. Noch am sel-
mit einem der kostbaren Wagen in einen Unfall verwickelt ben Tag war der Wagen wieder in Kerklohs Besitz, unbe-
zu werden. In diesem Fall gestattete Kerkloh die Probefahrt, schädigt. Uwe Buse

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 53


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Gesellschaft

»Es ist in Ordnung,


dass ich sterbe«
SPIEGEL-Gespräch Der FDP-Politiker Jimmy Schulz, 50, über seine Krebserkrankung,
Politik per Videoschalte und das Glück, eine Pfanne zu putzen

Ein Gewerbegebiet im Südosten Münchens, zum ersten Mal bei meinem Hausarzt, der leicht 15? Was mache ich mit diesen 15 Ta-
an der Wand hängt ein DIN-A4-Zettel mit mich zu einem Spezialisten schickte. Die- gen? Da sortiert man sein Leben, schreibt
der Aufschrift »Wahlkreisbüro Jimmy ser wiederum hat mich sofort ins Kranken- Tagebuch, schreibt ein Testament, eine Pa-
Schulz MdB«. Wer den FDP-Politiker auf haus eingewiesen. tientenverfügung. Ich habe alle Verwand-
Twitter und Facebook besucht, sieht noch SPIEGEL: Wie lautete die Diagnose? ten noch mal eingeladen, die besten Freun-
immer einen wohlgenährten Mann Ende Schulz: Ich habe darüber bislang nicht öf- de. Ich lag ja im Krankenhaus. Ich habe
vierzig. Wer ihn trifft, erkennt ihn auf den fentlich gesprochen. Es ist Bauchspeichel- viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Und
ersten Blick nicht wieder. Schulz wog mal drüsenkrebs. Wie Sie vielleicht wissen, ich habe mit dem Leben abgeschlossen.
90 Kilogramm, jetzt sind es 48. Nach der gibt es da eine Überlebenschance von zwei SPIEGEL: Empfanden Sie Wut, dass es ge-
Begrüßung muss er sich die Hände des- Prozent. Zu diesen zwei Prozent gehöre rade Sie erwischt hat?
infizieren, jede Infektion ist für ihn lebens- ich nicht. Schulz: Nein, Wut ist keine Kategorie für
gefährlich. Schulz geht langsam und leicht SPIEGEL: Wie viel Zeit haben Ihnen die mich. Dann müsste ich ja irgendjemanden
gebückt, er hat kaum noch Muskeln. Zum Ärzte damals gegeben? dafür verantwortlich machen.
Sitzen braucht er ein Kissen, damit es nicht Schulz: Die Ärzte waren sehr zuversicht- SPIEGEL: Oder dachten Sie: »Das habe ich
wehtut. In seinem Büro steht eine Schlaf- lich, dass ich nach der OP mit einem Rest nicht verdient«?
couch, aber in dem gut zweistündigen Ge- Bauchspeicheldrüse überleben würde und Schulz: Nein, so bin ich nicht gestrickt,
spräch zieht er sich nur einmal kurz zurück. die Option habe, noch 10 oder 15 Jahre zu und so bin ich nicht erzogen worden. Als
leben. Aber als sie am 13. Februar vergan- ich mit anderen Patienten im Krankenhaus
SPIEGEL: Herr Schulz, wie geht es Ihnen? genen Jahres die Motorhaube aufgemacht lag, war da eine Frau, 78 Jahre alt, die klag-
Schulz: Mir geht es gut. Das ist erstaun- haben, sah das ganz anders aus. In einer te: »Warum ich? Warum straft mich Gott
lich, denn ich bin körperlich sehr ein- neunstündigen OP mit fünf Ärzten wurden mit dieser Krankheit? Ich wollte doch noch
geschränkt. Viele Dinge kann ich nicht mir Bauchspeicheldrüse, Magen, Milz und den 40. Geburtstag meines Sohnes miter-
mehr tun, aber das trübt meinen Lebens- Gallenblase entfernt. Diese Tage gehören leben.« Ich dachte nur, warum erzählt die
mut nicht. Die letzten Tage waren ein biss- mit Sicherheit zu dem Bittersten, was ich mir das? Ich kann mit Selbstmitleid nichts
chen schwieriger. Ich hatte Schmerzen im in meinem Leben erlebt habe. anfangen.
Bauchraum und habe mir Sorgen gemacht, SPIEGEL: War danach der Krebs weg? SPIEGEL: Glauben Sie an ein Leben nach
dass der Krebs wieder auf dem Vormarsch Schulz: Das dachten wir. Der Plan war, dem Tod?
ist. Aber seit gestern weiß ich, dass alles dass ich ein halbes, Dreivierteljahr Reha Schulz: Nein. Ich glaube, dass ich in den
in Ordnung ist. und Wiederaufbauphase mache und dann Erinnerungen der anderen Menschen wei-
SPIEGEL: In Ordnung? nach so anderthalb Jahren zurückkehre in terlebe, aber ich glaube nicht, dass ich als
Schulz: Der Krebs hat sich seit August vo- mein Leben. Aber im Juli waren diese Plä- Wesen nach dem Tod fortexistiere. Viele
rigen Jahres nicht verändert. Er ist da, aber ne zunichte, da wurden Metastasen in der Menschen sind schockiert, wenn ich sie
er ist durch die Chemotherapie eingefro- Leber festgestellt. damit konfrontiere: Ich sterbe bald. Auch
ren. Das ist eine sehr, sehr gute Nachricht. SPIEGEL: Die waren bei der ersten OP manche guten Freunde kommen nicht da-
Die Schmerzen haben also eine andere noch nicht da? mit klar. Sie sagen: »Du darfst die Hoff-
Ursache. Vielleicht hat es mit der Wirbel- Schulz: Nein, die haben sie da nicht gese- nung doch nicht aufgeben!« Ich gebe die
säule zu tun und damit, dass ich kaum hen, und die lassen sich auch nicht mehr Hoffnung auch nicht auf. Aber ich bin Rea-
noch Muskeln habe und keinen Sport operieren. Mein Körper würde eine zweite list genug, dass ich mich jetzt nicht an ei-
mehr treiben kann. OP nicht überstehen. Dann bekam ich nem Strohhalm festklammere. Wenn ich
SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass auch noch Fieber, und als ich im August an etwas glauben würde, was nicht ist, wür-
Sie Krebs haben? fragte, wie ist meine Lebenserwartung, ha- de ich mir ein Stück Lebensqualität rau-
Schulz: Ich hatte schon während des Bun- ben die Ärzte gesagt: drei Wochen. ben. Ich lebe unheimlich gerne, ich liebe
destagswahlkampfs 2017 Schmerzen. Ich SPIEGEL: Das heißt, Weihnachten sollten das Leben, aber ich habe keine Angst vor
dachte, das ist eine superstressige Zeit, da Sie nicht mehr erleben. dem Tod. Das ist für mich in Ordnung,
kann man Schmerzen haben vom Plaka- Schulz: Genau das war meine Frage. dass ich sterbe.
tieren, von wenig Schlaf, von schlechter Lohnt es sich noch, Weihnachtsgeschenke
Ernährung. Ich war bei drei Ärzten, aber für meine Kinder zu besorgen? Und die
die fanden nichts. Nach der Wahl war ich Antwort lautete: nein. »Wir haben zusammen geweint«
SPIEGEL: Was macht man, wenn man
* Das Gespräch führten die Redakteurn Christoph
glaubt, nur noch drei Wochen zu leben? Jimmy Schulz ist verheiratet und hat drei
Schult und Severin Weiland in Schulz’ Münchner Schulz: Ich habe überlegt, an wie vielen Kinder, zwei Töchter und einen Sohn.
Wahlkreisbüro. Tagen ich wohl noch fit bin. 10 Tage, viel- Schulz weiß, wie es sich anfühlt, früh die

54 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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SONJA OCH / DER SPIEGEL

Patient Schulz: »50 Prozent Schulmedizin, 50 Prozent eiserner Wille«

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eigenen Eltern zu verlieren. Als er 20 war,


kam seine Mutter während des Skiurlaubs
bei einem Lawinenunfall ums Leben. Der
Vater starb vor zehn Jahren.

Schulz: Durch den frühen Tod meiner


Mutter kann ich mich sehr gut hineinver-
setzen in die Situation meiner Kinder. Ich
weiß, was das bedeutet.
SPIEGEL: Wie haben Ihre Kinder reagiert?
Schulz: Die hatten das natürlich schon be-
fürchtet. Das war ja eine stufenweise Ent-
wicklung. Als ich im Spätherbst 2017 im
Krankenhaus lag, wussten wir ja schon,

WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL


dass es etwas Ernsthaftes ist. Als mir die
Ärzte von den Metastasen in der Leber
berichteten, war meine Frau bei dem Ge-
spräch dabei. Wir sind dann nach Hause
und haben uns mit den Kindern zusam-
mengesetzt. Alle waren sehr gefasst, aber
natürlich haben wir auch zusammen ge-
weint. Politiker Schulz bei Videoübertragung zur Fraktionssitzung: »Jimmy, du rauchst«
SPIEGEL: Haben sich Menschen von Ihnen
abgewendet?
Schulz: Viele haben Berührungsängste,
die kommen damit nicht klar und meiden Tätigkeiten machen mir unheimlich Spaß, kaufte ihm die Mutter einen Amiga 2000
den Kontakt. Auf der anderen Seite kenne auch um die heftigen Medikamente ab- mit PC-Karte für 3500 Mark. 1995 gründete
ich unglaublich viele Menschen. Meine Te- zubauen, die ich morgens einnehme. Ich er die CyberSolutions GmbH, mit der Mut-
lefondatenbank hat 34 000 Einträge, ich putze zum Beispiel eine halbe Stunde lang terfirma Telesens AG ging er später an die
habe 5000 Facebook-»Freunde«. Ich habe meine Pfanne. Alle finden das verwun- Börse. Seine Firma installierte 2001 die ers-
auch einen größeren Freundeskreis als viel- derlich, aber für mich ist es in dem Mo- ten WLAN-Netze im Englischen Garten.
leicht andere Menschen. Die haben mich ment das größte Glück. Danach gehe ich Schulz veranstaltete im Bundestag auch die
anfangs alle angerufen und gefragt: »Wie duschen und dann ins Büro, mein Wohn- erste LAN-Party und war der erste Abge-
geht’s dir?« Das war zwar nett, aber nach haus liegt nur 300 Meter entfernt. Dann ordnete, der seine Rede nicht vom Papier,
den ersten 15 Telefonaten habe ich gesagt, kann ich arbeiten, so drei, vier Stunden sondern von einem Tablet ablas. Das iPad
ich kann das nicht, ich kann nicht ständig täglich. liegt heute im Bonner Haus der Geschichte.
dieselbe Geschichte erzählen, ich kann die- SPIEGEL: Und Ihre IT-Firma?
ses kollektive Gruppenheulen nicht ertra- Schulz: Die liegt gleich gegenüber. Mein SPIEGEL: Wie wichtig wird das Digitale,
gen, da werde ich ja total depressiv. Kompagnon ist eine meiner ganz großen wenn man krank ist?
SPIEGEL: Wie haben Sie das geregelt? Stützen. Ich kenne ihn seit meiner Kind- Schulz: Elektronische Helferlein spielen
Schulz: Ich habe meine Schwester gebe- heit, wir haben 1995 unsere erste Internet- eine zunehmend wichtige Rolle in mei-
ten, die Verwandten anzurufen. Einen Tag firma gegründet. Wir benutzen ja kein nem Leben. Zum Beispiel wenn es um die
später ruft sie mich zurück und sagt: »Ich WhatsApp, sondern Wire, wir haben da Kontrolle meiner Gesundheit geht. Um
kann nicht mehr.« Und dann haben wir mit ein paar Freunden eine Gruppe, die meinen Zuckerwert zu messen, musste ich
das ein bisschen verteilt, auch Verena, mei- heißt »Chemotaxi«. Wenn ich da rein- mir bis vor Kurzem fünfmal am Tag in
ne Büroleiterin, hat geholfen. Ich war da- schreibe, ich muss jetzt mal zur Chemo- den Finger piksen. Danach auf der Com-
mals noch Bezirksvorsitzender der FDP therapie fahren, dann meldet sich sofort putertastatur zu tippen ist kein Spaß. Seit
Oberbayern mit ein paar Tausend Mitglie- einer, der mich hinfahren, und einer, der vier Wochen kann ich das per App
dern, die natürlich alle mitbekommen hat- mich abholen kann. machen, das Handy piepst, wenn meine
ten, dass irgendwas nicht stimmt. Ich habe SPIEGEL: Warum arbeiten Sie trotz der Zuckerwerte außer Rand und Band gera-
allen geschrieben, dass sie bitte davon ab- schweren Krankheit weiter? ten. Das ist allerneueste Technologie und
sehen sollen, ständig anzurufen. Für den Schulz: Die Ärzte haben gesagt, hören Sie steigert meine Lebensqualität enorm.
erweiterten Freundeskreis schreibe ich doch mal auf zu arbeiten, machen Sie end- Zweimal täglich Gewichtskontrolle, Blut-
eine Art Newsletter, ich nenne ihn »Le- lich, was Ihnen Spaß macht. Aber Politik druck, Puls – all das kann ich in einer App
benszeichen«. macht mir ja Spaß, ich lebe meinen Traum. sammeln. Ich entwickle mich zu einem
SPIEGEL: Die Ärzte gaben Ihnen noch drei Hybridmenschen.
Wochen, jetzt haben Sie bereits mehr als SPIEGEL: Haben Sie sich von anderen
ein halbes Jahr überlebt. Wie ist das zu er- »Ich entwickle mich zu Kranken oder von Ärzten Rat geholt?
klären? einem Hybridmenschen« Schulz: Nein, ich versuche das selber raus-
Schulz: Es heißt, 50 Prozent sind Schul- zufinden. Ich recherchiere viel, bestelle
medizin, 50 Prozent eiserner Wille und Schulz’ Leidenschaft galt schon früh Com- mir das Zeug und probiere es aus. Wenn’s
Optimismus. putern und dem Internet. Auf seinem ersten nichts taugt, schicke ich es zurück.
SPIEGEL: Gibt es so etwas wie Alltag bei eigenen Computer, einem Commodore 16, SPIEGEL: Nutzen Sie Alexa, den Sprach-
Ihnen, oder ist jeder Tag anders? programmierte Schulz einen Vokabeltrainer. assistenten von Amazon?
Schulz: Ich stehe morgens ganz langsam Als die Mutter für ihre Arztpraxis einen Schulz: Ich mache sehr viel über Smart-
auf. Dann mache ich mir zwei bis drei Computer anschaffte, richtete der Sohn da- home-Geräte. Früher musste ich mit dem
Eier und räume die Küche auf. Manuelle rauf die Praxisverwaltung ein. Zum Dank Ständer und der künstlichen Ernährung

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versteckte die Einzelteile überall im Auto.


1989 trat er den Republikanern bei. Es war
aus seiner damaligen Sicht die einzige
Partei, die sich ernsthaft um die deutsche
Wiedervereinigung bemühte. Nach einem
Jahr trat er aus und studierte in München
Politologie. Im Jahr 2000 wurde er Mitglied
der FDP, als seine Mentorin bezeichnet
er die ehemalige Justizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger. Von 2009
bis 2013 saß er erstmals für die Libera-
len im Bundestag, nach der Wahl 2017
wurde er Vorsitzender des Ausschusses
Digitale Agenda.

SPIEGEL: Haben Sie überlegt, den Aus-


schussvorsitz niederzulegen?
Schulz: Ich habe FDP-Chef Christian

SANJAR KHAKSARI
Lindner und dem Ersten Parlamentari-
schen Geschäftsführer Marco Buschmann
angeboten, meine Ausschusssitze und mei-
Harley-Fahrer Schulz 2016: »Ich würde gern noch mal Motorrad fahren« nen Ausschussvorsitz an die Fraktion zu-
rückzugeben. Da haben beide gesagt, wa-
rum denn, mach das nicht.
SPIEGEL: Wie haben die Kollegen im Bun-
aufstehen, wenn ich vergessen hatte, das seinem Handy scannen kann, das finde ich destag reagiert?
Licht auszumachen. Jetzt sage ich: Alexa, eine witzige Idee. Schulz: Ich erlebe unheimlich viel Unter-
Lampe aus! Am Ende will ich mir eine ei- SPIEGEL: Was wollen Sie darauf spielen stützung, vor allem von denjenigen, die
gene Lösung bauen, damit keine Daten lassen? ich noch aus der früheren Enquete-Kom-
mein Haus verlassen. Ich hab schon relativ Schulz: Da bin ich mir noch nicht sicher. mission Internet und Digitale Gesellschaft
viel automatisiert: Lichtschalter, Fernseher. Aber das Witzige ist, dass ich das ja so pro- kenne: Manuel Höferlin, Lars Klingbeil,
Wenn ein Paketbote an meiner Tür klin- grammieren kann, dass es sich nach mei- Konstantin von Notz, Thomas Jarzombek
gelt, sehe ich das Videobild von der Haus- nem Tod verändert. Mit einem Zitat der oder Doro Bär zum Beispiel.
tür auf meinem Handy. Dann kann ich sa- Woche zum Beispiel. SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen sagen, echte
gen: Legen Sie’s vor die Tür, ich hol’s in SPIEGEL: Spielt da nicht auch ein wenig Freundschaften gebe es in der Politik nicht.
fünf Minuten ab. der Traum von der Unsterblichkeit mit? Schulz: Das erlebe ich anders. Ich habe
SPIEGEL: Bei der Erforschung neuer Schulz: Na ja, ich will ja nicht fortexistie- im Bundestag wenige, aber dafür echte
Krankheiten spielt ja auch der digitale Fort- ren. Ich kann mir vorstellen, dass Men- Freunde. Klar gibt es in der Fraktion auch
schritt eine zunehmend wichtige Rolle. schen, die zu meinem Grab kommen, ger- Konkurrenzdenken, aber das wirkt sich
Forscher arbeiten an Nanorobotern, die ne mehr wissen würden als Foto, Name, nicht mehr so zerstörerisch aus wie in den
in unseren Blutgefäßen unterwegs sind, Geburtsdatum, Todesdatum. Das ist ja das, Jahren 2009 bis 2013. Heute gehen wir
um Krankheiten zu entdecken oder so- was auf einem Grabstein draufsteht, viel- viel kollegialer miteinander um.
gar zu heilen. Halten Sie das für den rich- leicht noch ein blöder Spruch dazu: »Den- SPIEGEL: Wie oft sind Sie in Berlin?
tigen Weg? ken Sie immer daran, mich zu vergessen.« Schulz: Selten. Ich bin sehr vorsichtig ge-
Schulz: Warum nicht? Ich finde das un- Den finde ich ziemlich cool, er stammt von worden, meide Menschenmassen. Öffent-
heimlich spannend. dem Kunstprofessor Timm Ulrichs, einem liche Verkehrsmittel nutze ich ganz selten,
SPIEGEL: Im Silicon Valley träumen Inter- Dadaisten. und wenn, dann nur mit Mundschutz. Das
netmilliardäre sogar davon, den Tod zu SPIEGEL: Aber nicht für Ihren Grabstein? ist für die Mitreisenden beängstigend,
überwinden. Sie wollen das Gehirn eines Schulz: Nee, dann schon lieber meine wenn ich da im Flugzeug sitze. Neben dem
Menschen digitalisieren und ihn per Ava- Homepage drauf laufen lassen. Mundschutz trage ich Mütze, Kapuze und
tar weiterleben lassen, unabhängig von sei- Handschuhe, weil ich ganz fürchterlich
nem Körper. Würde Ihnen das gefallen? friere.
Schulz: Nein. Die Gesellschaft hat immer »Viele aus der eigenen Fraktion SPIEGEL: Wie leiten Sie den Ausschuss
davon profitiert, dass Menschen auch ir- haben mich nicht erkannt« von München aus?
gendwann mal gehen und deswegen etwas Schulz: Die Sitzungen machen nur einen
Neues entstehen kann. Wenn ich in hun- Schulz stammt aus einer sehr politischen Bruchteil der Zeit aus, sie leitet mein Stell-
dert Jahren immer noch denselben Quark Familie. Sein Vater war Professor für Volks- vertreter Hansjörg Durz von der CSU. Ich
erzähle, wäre das das Ende von Innovation. wirtschaftslehre an der Bundeswehruni- kümmere mich um die Vorbereitung von
SPIEGEL: Auch die Art und Weise, wie wir versität in München. Seine Mutter flüchtete Entscheidungen und Vermittlung im Hin-
um Menschen trauern, verändert sich mit kurz vor dem Mauerbau in den Westen, um tergrund.
der digitalen Revolution. Todesanzeigen ihrer Verhaftung durch die DDR-Behörden SPIEGEL: Wir haben gehört, dass Sie sich
bleiben im Netz erhalten, in den Nieder- zu entgehen. Bei Besuchen der Verwandten neuerdings bei den Fraktionssitzungen der
landen gibt es Grabsteine mit eingebauten in der DDR wurde die Familie regelmäßig FDP zuschalten lassen.
Bildschirmen, wo man Filme des Verstor- schikaniert, trotzdem gelang es ihr immer Schulz: Anfangs haben meine Mitarbeiter
benen anschauen kann. wieder, verbotene Dinge in den Osten zu eine Sondererlaubnis bekommen, an den
Schulz: Ich könnte mir auf meinem Grab schmuggeln. Einmal baute Jimmy Schulz Fraktionssitzungen für mich teilzunehmen.
einen QR-Code vorstellen, den man mit einen Matrizendrucker auseinander und Im August vergangenen Jahres dachte ich

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 57


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ja nicht, dass wir so etwas wie ein Video- einandergesetzt. Für mich ist das eine Op-
konferenzsystem überhaupt noch brau- tion. Wenn ich unter erheblichen Schmer-
chen. Wozu denn, ist ja Sommerpause, die zen leide und mir die Kontrolle über mein
überlebe ich eh nicht. Aber nachdem sich Leben und meinen Körper entgleitet,
diese Erwartung nicht eingestellt hat, habe wenn ich nur in einem von Drogen verne-
ich zu Marco Buschmann gesagt: Ich hätte belten Zustand dahindämmere und nur
gern eine Lösung dafür, dass ich auch an noch eine Stunde pro Tag bewusst erlebe,
Fraktionsvorstand und Fraktionssitzung dann würde ich mich nicht scheuen zu sa-
teilnehmen kann. Wir haben recherchiert gen: Jetzt reicht’s.
und herausgefunden, dass der Bundestag SPIEGEL: Sterbehilfe ist in Deutschland
diese Technik bereitstellen kann. Seit vier umstritten, auch wegen der nationalsozia-
Wochen nehme ich jetzt per Videoschalte listischen »Euthanasie«-Verbrechen.
an den Sitzungen teil. Ich bin in dem Saal Schulz: Ich wische die Bedenken nicht

SONJA OCH / DER SPIEGEL


auf den Monitoren zu sehen. vom Tisch. Aber Sterbehilfe grundsätzlich
SPIEGEL: Und wenn im Fraktionsvorstand aus religiösen oder historischen Gründen
oder in der Fraktion abgestimmt wird? auszuschließen halte ich für eine Ein-
Schulz: Dann hebe ich die Hand oder rufe schränkung meiner Grundrechte. Ich bin
rein. Wir haben das in der Fraktion ein- für eine deutliche Liberalisierung. Dass
stimmig beschlossen. Es gab von einigen Abgeordneter Schulz man in die Schweiz fahren muss, finde
den Einwand, dass andere das ja miss- »Ich bin dankbar für jeden Tag« ich unerträglich. Ich würde dazu gern
brauchen könnten und dann kaum einer auch noch mal im Bundestag reden, weil
noch zu den Sitzungen kommt. Ich halte ich wahrscheinlich im Bundestag der Ein-
es auch für wichtig, dass man da zusam- SPIEGEL: Wussten Sie, dass der Ombuds- zige bin, der aktuell in einer solchen Situa-
menkommt. Es geht um die, die nicht kön- mann Sie in seiner Rede erwähnen würde? tion ist.
nen, nicht um die, die nicht wollen. Schulz: Nein, er hat mir das vorher nicht SPIEGEL: Haben Sie eine Liste von Din-
SPIEGEL: Und wenn im Bundestag abge- gesagt. gen, die Sie noch unbedingt machen wol-
stimmt wird? SPIEGEL: Wie fanden Sie das? len?
Schulz: Wenn per Hand abgestimmt wird, Schulz: Ich habe geweint. Schulz: (lacht) »1000 things to do before
fällt einer mehr oder weniger nicht auf. SPIEGEL: Fanden Sie das unangemessen? you die.« Ja, ich habe eine Liste, aber es
Anders ist das bei namentlichen Abstim- Schulz: Nein, es hat mich unheimlich sind nicht 1000 Dinge.
mungen. Ich habe darüber kürzlich mit gerührt, aber es war natürlich auch so eine SPIEGEL: Sondern?
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Situation, wo ich dachte: Jetzt klatschen Schulz: Ich würde gern noch mal segeln
telefoniert und ihm erzählt, wie wir das in alle, weil sie von mir Abschied nehmen. gehen. Ich würde gern noch eine Rede im
der Fraktion gelöst haben. Ich würde gern Aber es hat mir viel Rückhalt gegeben. Deutschen Bundestag halten zu meinem
daran arbeiten, dass Menschen mit Ein- SPIEGEL: Ihre letzte und bislang einzige Herzensthema, dem Recht auf Verschlüs-
schränkungen am politischen Leben teil- Rede im Bundestag nach der Diagnose ha- selung.
haben können. Wenn wir es mit der Bar- ben Sie am 29. November 2018 gehalten. SPIEGEL: Wie lange denken Sie voraus?
rierefreiheit und Nichtdiskriminierung Damals saß Ihr Sohn auf der Besucher- Schulz: Ich bin dankbar für jeden Tag. Ich
ernst nehmen, muss es möglich sein, auch tribüne. weiß nicht, wie viele Wochen oder Monate
digital an Abstimmungen teilzunehmen. Schulz: Er hatte mich noch nie live im mir noch bleiben. Ich würde gern, wenn
SPIEGEL: FDP-Abgeordnete haben uns er- Bundestag gesehen und wollte gern mit- das irgendwie machbar ist, im November
zählt, wie Sie neulich während der Frak- kommen. Ich habe die Schule gefragt, ob auf dem Internet Governance Forum mit
tionssitzung unter dem Tisch eine Zigaret- er dafür frei bekommt, und dann haben schlauen Köpfen aus der ganzen Welt über
te geraucht haben und auf dem Monitor wir das gemacht. das Thema digitale Aufklärung diskutie-
der Rauch zu sehen war. »Jimmy, man SPIEGEL: Wie war das, als Sie in den Ple- ren. Ich arbeite an einem Buch über die
sieht, dass du rauchst«, habe Christian narsaal gegangen sind? Viele Kollegen hat- Geschichte der Netzpolitik mit autobio-
Lindner daraufhin gewarnt. ten Sie ja anders in Erinnerung. grafischen Elementen. Ich würde gern mit
Schulz: Und ich habe gesagt: Na und? Ich Schulz: Die, die mich erkannt haben, ha- meinen Kindern noch ganz tolle Sachen
hab ein Dreivierteljahr nicht geraucht. ben mich umarmt und sich unheimlich ge- machen. Und ich würde gern noch mal
Aber die Ärzte haben gesagt, ich soll freut, aber sehr viele, auch aus der eigenen Motorrad fahren.
machen, was mir Spaß macht. So viel Fraktion, haben mich nicht erkannt. Ich SPIEGEL: Was für ein Motorrad haben
ist sicher: Lungenkrebs holt mich nicht habe auch Tweets von Zuschauern bekom- Sie?
mehr ein. men, die sagten: Da steht der Rednername Schulz: Ich habe eine Harley, aber die
Jimmy Schulz eingeblendet, aber das ist schaffe ich nicht, die ist zu schwer. Hier
»Für mich ist Sterbehilfe gar nicht Jimmy Schulz. auf dem Parkplatz habe ich mal eine
eine Option« SPIEGEL: Wann haben Sie Ihre Patienten- Runde gedreht, aber mehr ist momentan
verfügung geschrieben? nicht drin. So ein kleines Motorrad, das
Ende April nahm Jimmy Schulz am FDP- Schulz: Ich hatte vor zehn Jahren schon würde ich gern noch mal fahren.
Parteitag in Berlin teil. Der Ombudsmann mal eine Patientenverfügung gemacht, SPIEGEL: Herr Schulz, wir danken Ihnen
der Partei, Christopher Gohl, nutzte seinen aber jetzt, wo ich weiß, was mich erwartet, für dieses Gespräch.
Rechenschaftsbericht, um Schulz auf die habe ich die mit sehr viel mehr Details er-
Bühne zu bitten. Es gab lang anhaltenden gänzt. Es sind zehn handschriftliche Seiten
Applaus und Standing Ovations. geworden, für jede Eventualität. Video
Unterwegs mit
SPIEGEL: Sind Sie sich bei solchen Auftrit- SPIEGEL: Ist Sterbehilfe für Sie eine Op-
Jimmy Schulz
ten bewusst, dass es das letzte Mal sein tion? spiegel.de/sp252019schulz
könnte? Schulz: Ich habe mich schon vor meiner oder in der App DER SPIEGEL
Schulz: Ja. Krankheit mit dem Thema Sterbehilfe aus-

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Gesellschaft

Doktor Fleck
eines mir unbekannten Mannes, der Gerald hieß. Ich rief
wieder an. Die Schwester sagte, sie schicke mir gleich meinen
Befund. Das Blutbild von Gerald solle ich vernichten. Ich
wollte nun wirklich die Ärztin sprechen. Die sei in der Sprech-
stunde, sagte sie. Und danach habe sie ja die Operation.
Leitkultur Alexander Osang über deutsche Klar, sagte ich mit der Unterwürfigkeit eines Patienten,
Volksgesundheit, weltweit der sehr weit weg ist.
Ich setze Sie auf die Telefonliste der Ärztin, sagte die
Schwester. Sie ruft dann zurück.

I m Frühling 1990 lud Sylt fünf Ost-Berliner Journalisten


für drei Tage ein, um sich mal ein Bild von der Insel zu
machen. Darunter mich. Ich war damals Mitte zwanzig
und gerade Lokalchef der »Berliner Zeitung« geworden,
Das ist anderthalb Wochen her. Offenbar handelt es sich
um eine lange Telefonliste. In meinem Befund stehen Dinge,
die ich nicht verstehe. Manche Wörter klingen beruhigend,
andere beunruhigend. Zum Beispiel das Wort Präkanzerose.
wahrscheinlich galt ich im Norden als eine Art Influencer. Wenn man da anfängt zu googeln, sieht man sich in einen
Am ersten Abend servierten sie uns Austern, was ich als Mut- Elefantenmann verwandeln. Meine Schwiegermutter erzählte
probe und Demütigung empfand. Ich fühlte mich, als müsste meiner Frau am Telefon, dass dem Mann einer Kollegin die
ich den Spucknapf eines lokalen Fischermanns auslecken komplette Nase abgenommen werden musste, weil er zu
und dabei lächeln. Die zweite Sache, die ich nicht vergessen lange wartete. Ich dachte an Lee Marvin, der im Film »Cat
habe, war der ältere Herr, der auf dem Rückflug neben mir Ballou« mit einer Silbernase durch den Wilden Westen läuft.
saß. Er wollte nur kurz nach Berlin, um seinen Zahnarzt zu Ich fragte israelische Freunde nach Hautärzten. Eine Schau-
besuchen, erzählte er mir. Für mich war das der Gipfel kapi- spielerin gab mir eine Nummer und sagte, ich solle bei der
talistischer Dekadenz. Ein Jahr zuvor hatte ich noch an den Anmeldung ihren Namen erwähnen. Offensichtlich sind gute
Sieg der Weltrevolution geglaubt Hautärzte auf der ganze Welt
und an die Heilkraft meiner Poli- schwierig zu finden. Ich hatte mal
klinik. einen in der Upper East Side, der
Ich war nie wieder auf Sylt, mag aussah, als hätte er den Beruf
inzwischen aber Austern. Auch gewählt, weil er selbst an einer
den Rest habe ich verstanden. Prin- üblen Hautkrankheit litt. Als Kind
zipiell. Ich lebe im Ausland, gehe hatte ich einen Kieferorthopäden,
aber in Berlin zum Arzt. Ich arbei- der einen Überbiss hatte wie ein
te mein kleines Gesundheitspro- Pferd. Vielleicht hat Frau Fleck
gramm ab, wenn ich im Heimat- wirklich viel zu tun. Ich fand
urlaub bin. Dazu zählt der jähr- schließlich eine Ärztin, die mich
liche Hautarztbesuch. annahm, allerdings tausend Sche-
Meine Hautärztin heißt Frau kel für die Behandlung verlangte.
Fleck. Ich denke manchmal, es ist Das sind etwa 250 Euro.
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

ein Künstlername. Ich mag Frau Ihre Praxis hieß »Spot«. Spot
Fleck. Sie ist seit 20 Jahren meine heißt Fleck. Das klang so, als würde
Hautärztin. Ich vertraue ihr. Sie ich meine Berliner Behandlung im
kennt alle meine Sommersprossen. Nahen Osten irgendwie fortsetzen.
Ende April fand sie auf meinem Na- Eine Art deutsch-israelische Koope-
senflügel eine raue Stelle. Sie nahm ration. Ein fliegender Fleckentep-
eine Probe. In zwei Wochen sollte pich. Die eine Frau Fleck kostete
das Ergebnis da sein. Sie schrieb Hautarztpraxisschild in Tel Aviv
tausend Schekel, die andere war zu
ein Rezept für den Notfall. Ich flog beschäftigt. Michael Moore hat in
zurück nach Tel Aviv. Vier Wochen seinem Film »Sicko« europäische
später rief ich an. Ihr Ergebnis ist schon seit zwei Wochen Gesundheitssysteme hoch gelobt, weil sie so viel mensch-
hier, sagte die Schwester. Wir haben versucht, Sie zu erreichen. licher seien als die amerikanischen. Ich glaube, es ist kompli-
Das sagt mein Hausmeister in Tel Aviv auch immer. zierter. Ich habe es schon damals auf dem Rückflug von Sylt
Wie ist denn das Ergebnis?, fragte ich. gewusst. Es sind nicht wir. Das System ist krank.
Sie sagte, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Das Die israelische Frau Fleck war so nett wie die deutsche.
ist selten ein guter Anfang. Sie hätten Dinge gefunden, die Wir übersetzten gemeinsam meinen Befund. Dann lernte sie
eine Vorstufe zu weißem Hautkrebs bedeuten könnten. Sie meine Sommersprossen kennen. Die Stelle auf meinem Na-
nannte mir eine Salbe, die ich auf die Stelle aufzutragen hätte. senflügel beunruhigte sie weniger als ihre deutsche Kollegin.
Ich solle nicht zu lange warten. Maximal vier Wochen. Sie können die Salbe rauftun, aber dann entzündet sich alles,
Aber ich lebe im Ausland. Ich habe nur das deutsche und es ist ja sehr heiß hier im Sommer. Wir beobachten das,
Rezept, sagte ich. Außerdem waren ja bereits zwei Wochen sagte sie.
vorbei. Wenn sie zwei oder drei Monate warten, sei es auch Kommen Sie doch im Herbst wieder. Es klang so, als würde
nicht so schlimm, sagte die Frau am Telefon. ich den Sommer überleben. Wir redeten noch ein wenig
Mein Vertrauen in ihre Diagnose war angekratzt. Ich fragte, über Deutschland und Israel, wobei sie Israel kritisierte und
ob sie mich zu ihrer Chefin durchstellen könne. Die sei leider ich Deutschland. Und dann sagte sie: Sie haben schon viel
in der Sprechstunde, sagte die Schwester. Sie würde mir aber Sonne gesehen in Ihrem Leben. Ich nickte. Eigentlich ist das
sofort meinen Befund schicken. Zwei Stunden später war im- ein schöner Satz. Für einen Deutschen. Ich fühlte mich
mer noch kein Befund da. Ich rief an. Gucken Sie doch mal besser.
im Spam nach, sagte die Schwester. Da fand ich den Befund Den Befund von Gerald habe ich behalten. Für den Fall,
eine Stunde später, zusammen mit der ersten Nachricht. dass er auch noch auf seinen Anruf wartet. Ich hab mir mal
Allerdings war es nicht mein Befund, sondern das Blutbild Ihr Blutbild angeguckt, Gerald. Das sieht so weit gut aus. I

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Wirtschaft
»Geld ist ein Gegner, den ich nicht aus den Augen lasse.« ‣ S. 70

Windpark in Brandenburg

PATRICK PLEUL / DPA


Energie

Weltklasse beim Stromexport


Die Energiewirtschaft erzielte im vergangenen Jahr milliardenschwere Handelsüberschüsse.
 Die deutschen Energiekonzerne haben 2018 Strom im etwa nach Polen, in die Niederlande oder die Schweiz
Wert von über drei Milliarden Euro ins benachbarte Ausland geleitet wird, entsteht in wind- oder sonnenreichen Stunden,
exportiert. Dem stehen Importe im Wert von lediglich gut wenn die Erneuerbaren viel Elektrizität ins Netz pumpen
900 Millionen Euro entgegen. Das geht aus Berechnungen des und die Preise entsprechend niedrig sind. Importiert wird
Bundeswirtschaftsministeriums hervor. Der Handelsüber- Strom vor allem, um das Ungleichgewicht im deutschen Strom-
schuss resultiert aus einer Überkapazität auf dem deutschen system auszugleichen. Die Situation wird sich bald ändern:
Stromerzeugungsmarkt. Neben den konventionellen Kraft- 2022 schließen die letzten Atomkraftwerke. Gleichzeitig sol-
werken sind in den vergangenen Jahren viele Anlagen ans len rund drei Gigawatt an Leistung aus Braun- und vier
Netz gegangen, die Strom aus Wind, Sonne und Biomasse Gigawatt aus Steinkohlekraftwerken verschwinden. Grünen-
produzieren. Die grünen Quellen machten 2018 über 35 Pro- Energieexperte Oliver Krischer begrüßt die Entwicklung:
zent des deutschen Elektrizitätsmixes aus. Die Konzerne »Es ist überfällig, dass die Überkapazitäten abgebaut und da-
profitieren nicht wirklich von der Ausfuhr. Der Strom, der mit erste Kohlekraftwerke abgeschaltet werden.« GT

Umfrage Flüchtlingshilfe Deutschland. Die Umfra- stellung von Flüchtlingen. Jedes sechste
Mittelständler stellen gern ge ist nicht repräsentativ, befragt wurden Unternehmen nennt Unklarheiten etwa
93 Mittelständler, von denen 69 aktuell bei der Aufenthaltsdauer beziehungs-
Flüchtlinge ein Flüchtlinge beschäftigen. Fast alle machen weise beim rechtlichen Rahmen als größte
damit gute bis sehr gute Erfahrungen, Sorge. Mangelnde Qualifikation der
 Die meisten mittelständischen Unter- lediglich sechs Firmen berichten von nega- Flüchtlinge gaben nur acht Unternehmen
nehmen sind mit Flüchtlingen als Ar- tiven Erlebnissen. Allerdings existieren als Hindernis an. Daher fordern die
beitnehmern zufrieden. Zu diesem Ergeb- noch immer Hürden. Fast 50 Prozent der Mittelständler vor allem Sprachkurse
nis kommt eine Stichprobenumfrage Firmen sehen mangelnde Deutschkennt- sowie eine größere Rechtssicherheit für
der Agentur Pollytix im Auftrag der Uno nisse als größtes Hindernis bei der Ein- Unternehmen und Flüchtlinge. MAD

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E-Mobilität Handel che Alternativen vorhält, muss er den


BMW macht Druck »22 Cent für Plastiktüten« Verbrauchern auch starke Anreize bieten,
darauf umzusteigen. Und dafür müssen
auf Bundesregierung Thomas Fischer, 39, Recyclingexperte Supermärkte für die Plastiktüten mehr
bei der Deutschen Umwelthilfe, über den verlangen als einen Cent.
 Vor dem Autogipfel im Kanzleramt Kampf gegen Plastik im Supermarkt SPIEGEL: An welche Summe denken Sie?
am 24. Juni kursiert ein Forderungs- Fischer: Irland hat vor einigen Jahren
katalog von BMW in den zuständigen SPIEGEL: Herr Fischer, Aldi will für die eine Abgabe von 22 Cent für Plastiktrage-
Ministerien. Darin regt der Konzern Plastiktütchen in der Obst- und Gemüse- taschen eingeführt. Das erscheint uns ein
Maßnahmen an, die der E-Mobilität abteilung künftig einen Cent pro Stück vernünftiger Preis. In Irland ist der jähr-
zum Durchbruch verhelfen sollen. verlangen. Was halten Sie davon? liche Verbrauch danach von 328 auf 14
»Deutschland hat die Chance, sich an Fischer: Aus unserer Sicht ist das bloß Tüten pro Kopf gesunken.
die Spitze der Bewegung zu setzen«, ein symbolischer Betrag. Er reicht nicht SPIEGEL: Ein Netz aus Baumwolle oder
steht in dem 16-seitigen Strategiepapier. aus, damit die Leute darüber nachden- Polyester muss ich jedes Mal mitnehmen.
Um Technologieführer in der Elektro- ken, ob sie die Dinger wirklich brauchen. Fischer: Das ist eine Frage der Gewöh-
mobilität zu werden, sei eine »ganzheit- Dass Aldi das als große Umweltaktion nung. Beim Coffee to go bringen viele
liche Förderkulisse« nötig. Ein großes präsentiert, finde ich unseriös. Verbraucher ja auch inzwischen ihren ei-
Hemmnis für den Einsatz von Elektro- SPIEGEL: Sie sehen darin eine Image- genen Becher mit.
autos seien die hohen Stromkosten. kampagne? SPIEGEL: Manche Händler bieten für
Das Münchner Unternehmen fordert, Fischer: Ja. Die Lebensmittelhändler lie- Obst und Gemüse Papiertüten an. Sind
den Preis für Ladestrom durch steuer- fern sich einen regelrechten Wettbewerb die besser für die Umwelt?
liche Erleichterungen zu senken. Außer- in Sachen Nachhaltigkeit, Fischer: Nein. Um reißfes-
dem sollen viel mehr Lademöglich- kratzen dabei aber meist te Papiertüten herzustel-
keiten entstehen. Jeder Halter eines nur an der Oberfläche. len, benötigt es Unmen-
E-Autos solle das Recht erhalten, Lade- SPIEGEL: Aldi setzt genau gen an Energie, Wasser
stecker in seiner Garage zu installieren, wie andere Händler auf und Chemikalien. Die Pro-
auch wenn diese gemeinschaftlich Mehrwegnetze, in denen duktion verschlingt sogar
genutzt wird. Zudem schlägt BMW vor, die Kunden Obst und Ge- mehr Ressourcen als die
einen Mindestanteil an elektrifizierten müse verstauen können. von Plastiktüten. Davon ab-

IMAGO STOCK
Stellplätzen in Parkhäusern vorzu- Fischer: Das halten wir gesehen: Es bringt nichts,
schreiben. Der Preis fürs Parken ließe grundsätzlich für richtig. Einwegtüten durch Ein-
sich dann je nach Schadstoffausstoß Aber wenn der Handel sol- wegtüten zu ersetzen. AKN
variieren. In dem Papier stellt der Auto-
hersteller aber auch klar, dass er nicht
an eine rein batterieelektrische Zukunft
glaubt: Vor allem auf langen Strecken Lufthansa wollte es schon im April verlängern.
könnten Fahrzeuge mit Brennstoffzelle Studentenjobs in Gefahr Dazu kam es nicht, weil die UFO-Ver-
sinnvoll sein. Allerdings sei dafür »ein treter die Vereinbarung nur im Rahmen
deutlicher Ausbau einer länderübergrei-  Der Konflikt zwischen der Lufthansa eines übergreifenden, von ihnen unlängst
fenden Wasserstoff-Tankstelleninfra- und der Flugbegleitergewerkschaft UFO gekündigten Tarifvertrags fortschreiben
struktur« nötig. Auch Benzin- und bedroht die Jobs von Studenten und Teil- wollen. Dazu aber verweigert die Luft-
Dieselmotoren haben laut BMW noch zeitkräften. Unter dem Namen »Study hansa Gespräche, weil sie die Kündigung
eine Zukunft. Der Verbrennungs- and Fly« gibt es bei der Firma ein flexi- und die Vertretungsbefugnis der amtie-
motor werde »noch für viele Jahre eine bles Arbeitsmodell, das auf diese Gruppe renden UFO-Vorstände anzweifelt. Beide
tragende Rolle spielen«. SH, GT zugeschnitten ist. Es erlaubt, nur wenige Seiten weisen sich gegenseitig die Schuld
Tage im Monat zu fliegen und häufig am drohenden Auslaufen der beliebten
erst kurz zuvor zu entscheiden, welches Teilzeitregelung zu. Die UFO-Funktio-
Datum man auswählt. Das Abkommen näre wollen trotzdem nicht aufgeben und
läuft Ende Dezember aus, der Konzern streben eine »Nachfolgeregelung« an. DID

Konjunktur zent (2020) Wachstum. Als Grund nennt


Gewerkschaftsforscher die gewerkschaftsnahe Denkfabrik die
Entwicklung des privaten Konsums, der
rechnen mit Aufschwung wegen »spürbar steigender Löhne« und
»anhaltendem Beschäftigungsaufbau«
 Die Ökonomen des Düsseldorfer Insti- weiter robust zulegen werde. Auch beim
tuts für Makroökonomie und Konjunktur- Export rechnet das IMK mit einer wei-
forschung (IMK) blicken optimistischer teren verhaltenen Expansion im Jahres-
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

in die Zukunft als die meisten anderen verlauf. Die Düsseldorfer Forscher spre-
Wirtschaftsforscher. Laut der jüngsten chen von einem »außergewöhnlichen
Prognose des IMK wird die deutsche Bild« der deutschen Konjunktur. Erst-
Wirtschaft in diesem Jahr um 1 Prozent mals seit Langem werde die Entwicklung
und 2020 um 1,6 Prozent zulegen. Die weniger vom Außenhandel als von der
Bundesregierung rechnet aktuell mit »regen Aktivität« des inländischen Dienst-
Fertigung der Hybridautoreihe BMW i8 lediglich 0,5 Prozent (2019) und 1,5 Pro- leistungs- und Bausektors getragen. MSA

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FRANZ BISCHOF / LAIF

Manager
Claassen

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Wirtschaft

Schlimmer als die Mafia


Fehden Utz Claassen, Enfant terrible der deutschen Managerkaste, will es mit einem Medizin-
Start-up noch einmal allen zeigen. Doch das Projekt leidet unter Akzeptanzproblemen,
Managementfehlern und neuem Streit mit einem zornigen Ex-Investor: Carsten Maschmeyer.

A
ls Erstes sieht man eine gewaltige Sie alle intrigieren gegen ihn, gegen sei- Vertrauensverlust – und dem archaischen
Stirn, die durch den Türrahmen ne Firma und damit genau genommen ge- Kampf zweier gewaltiger Egos.
des Chefbüros bricht. Darunter gen die ganze Welt. Denn mit den Produk- Für Utz Claassen geht es mit Syntellix
Utz Claassen in Kopf-durch-die- ten von Syntellix könnten Jahr für Jahr noch mal um alles. Der 56-Jährige will be-
Wand-Stimmung. Keine gute Idee, sich Tausende Leben gerettet und viel Leid ge- weisen, dass die Beletage der deutschen
ihm in den Weg zu stellen. mindert werden. Industrie ihn zu Unrecht ausgemustert hat.
Hektisch flitzen die Mitarbeiter aus dem Syntellix stellt Schrauben und Pins für Der Hannoveraner gilt als schwieriger
Weg, Bahn frei für den Boss. Der stampft kleine orthopädische Eingriffe her. Das Charakter, sein Ego als schwer auszuhal-
grußlos den schmalen Gang entlang, der Besondere daran ist, dass diese metalli- ten, seine Etikette als mitunter rustikal.
Boden bebt unter seinen schwarzen Buda- schen Implantate, Handelsname Magne- Und er neigt zum Prozessieren. Seit sei-
pestern. Die Zeiten, in denen die dicken zix, aus einer Magnesiumlegierung beste- nem Gastspiel bei Solar Millennium, wo
Teppiche der Vorstandsetagen jeden Miss- hen, die sich mit der Zeit im Körper auf- er nach 74 Tagen mitsamt der Antrittsprä-
klang diskret schluckten, sind Geschichte. löst, anders als etwa Titan. Zugleich wirkt mie von neun Millionen Euro wieder ging,
Nur die dicke goldene Uhr und die kost- sie antientzündlich und wird sogar zu neu- steht er zudem im Ruf, gierig zu sein. Zwar
baren Manschettenknöpfe erinnern noch em Knochengewebe umgewandelt. Das gab ihm ein Aufsichtsratsmitglied später
an seine Zeit als Herrscher in glitzernden macht eine zweite Operation zur Entfer- recht, dass die Firma ihn über ihren Zu-
Firmenzentralen. nung überflüssig und spart Zeit, Geld und stand getäuscht hatte. Das Renommee war
Der ehemalige Topmanager, der einst Schmerz. Wahrlich eine brillante Idee. trotzdem hin. Weswegen er das Unterneh-
die VW-Tochter Seat, das Pharmaunter- Und Utz Claassen wäre nicht Utz Claas- men auf Rufschädigung verklagte. 
nehmen Sartorius und den Energieriesen Seither ist der Mann schwer vermittel-
EnBW befehligte, arbeitet heute ziemlich bar. Selbst sein Angebot, die bankrotte Air
beengt im 6. Stock am Aegidientorplatz, »Wir wollen in unserer Berlin zu übernehmen, wurde vornehm
drei Etagen unter dem End- und Dick- übergangen.
darmzentrum Hannover. Von hier aus will Welt der Tesafilm Um wieder einzusteigen ins Spiel um
er die Medizinwelt aus den Angeln heben. und die Nivea-Creme Macht, Ruhm und Reichtum, startete er
Geht alles nach seinem Plan, könnte diese mit eigenem Geld als Unternehmer durch.
Büroetage einmal ein Pilgerort werden, so werden.« Als Hauptaktionär von Syntellix leitete er
berühmt wie die Garagen, in denen Apple zunächst den Aufsichtsrat und verschliss
und Microsoft geboren wurden. vier Firmenchefs in zehn Jahren. Keiner
Wenn da nur nicht dieses Sperrfeuer sen, wenn er aus solch einer Idee nicht et- fand Gnade in den Augen des Meisters.
wäre, das ihn andauernd am Aufbau sei- was besonders Großes erschaffen wollte – Verzweifelt von so viel Unfähigkeit, über-
nes Milliardenimperiums hindert. Die auch wenn sie nicht von ihm ist. Doch nahm er Anfang 2018 selbst das operative
Wut treibt ihm die Röte in den Nacken, dazu später. Geschäft, um Syntellix endlich zum Global
wenn er von den Machenschaften berich- Mit der Rhetorik des Silicon Valley be- Player zu machen.
tet: »Seit fast vier Jahren wird nach unse- schwört er den Erfolg: Syntellix sei ein Dis- Den frei gewordenen Sitz im Kontroll-
rem Eindruck mit Mitteln, wie man sie ruptor, ein Game Changer, vergleichbar gremium übertrug er seiner Gattin Annet-
von der organisierten Kriminalität kennt, mit Überfliegern wie Uber, Tesla oder der te. Assistiert wird ihr vom ehemaligen
versucht, dieses Unternehmen zu maro- Alphabet-Automobiltochter Waymo. Für Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen, den
dieren«, sagt Claassen und bebt vor Furor. alle, die von diesem neumodischen Kram Claassen als Kleininvestor und Vize-Auf-
Die Kreaturen, die seine Firmengründung nichts verstehen, übersetzt er: »Wir wol- sichtsratschef gewann.
Syntellix ausbremsen, ausplündern, viel- len in unserer Welt der Tesafilm und die Was kann da noch schiefgehen?
leicht sogar vernichten wollen, erscheinen Nivea-Creme werden.« Dass die Firma seit zehn Jahren bei be-
in seiner Schilderung skrupelloser als die Das klingt nach Goldader und reicher scheidenen Umsätzen nur Miese macht,
Camorra: »Für einen Mafia-Vergleich Beute, und genau das soll es sein, denn Claas- bestätigt Claassen nur darin, in die Liga
müsste man sich in Palermo und Neapel sen will mit Syntellix Kasse machen. Er der Ubers und Teslas zu gehören. Stolz
entschuldigen.« plant einen Börsengang in Singapur, auch verweist er auf die Auszeichnungen und
Für ihn gibt es keinen Zweifel: Da drau- wenn die 33 Mitarbeiter zehn Jahre nach Preise. Am 28. Mai wurde Syntellix erst
ßen im Markt ist eine gigantische Ver- Firmengründung am Claim nur kratzen. wieder in einer feierlichen Gala in Berlin
schwörung im Gange, angezettelt von ge- Um die Ader richtig auszubeuten, saust der German Innovation Award in Gold für
feuerten Mitarbeitern und missgünstigen Claassen als Ein-Mann-Vertriebsmaschine einen »Quantensprung in der Implantolo-
Konkurrenten, vor allem aber: von seinem um den Globus und verbreitet die Ge- gie« verliehen.
Ex-Freund und Ex-Teilhaber, dem Finanz- schichte von der Revolutionierung des Me- Ein Blick auf die Wettbewerbsbedin-
investor und ehemaligen Drückerkönig dizinmarkts. Eine andere Geschichte aber gungen enthüllt: Wer Gold verliehen
Carsten Maschmeyer, auch bekannt als TV- bleibt meist unerzählt: die von Manage- bekommt, muss Servicegebühren von
Löwe und Gatte von Veronica Ferres. mentfehlern, Absatzschwierigkeiten und 4450 Euro bezahlen. Claassen stört das

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 63


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Wirtschaft

nicht. Lächelnd posiert er mit der Urkunde größten Markt für Implantate, für China kum München sei noch nie mit Syntellix-
und lässt sich als Gründer feiern. Worüber sowie Indien stehen sie noch aus. Produkten gearbeitet worden, so ein Spre-
man fast vergisst, dass die Idee zu Syntellix In Syntellix-Präsentationen für Investo- cher. Ein dummer Fehler des Website-
nicht von ihm stammt, sondern von sei- ren scheint es dennoch keine Grenzen des Gestalters vor mehreren Jahren sei das ge-
nem einstigen Nachbarn. Wachstums zu geben: Zuerst, so wird dort wesen, der dann aber wahr wurde, erklärt
Werner Scholz, Inhaber eines darben- illustriert, gehe die Reise zum Mond, dann Claassen. Die Klinik weiß nichts davon:
den Unternehmens für Medizintechnik, zum Mars, von dort aus ins Solarsystem Nach wie vor seien »die Produkte nicht
wohnte in Hannover neben Utz Claassen. und vielleicht sogar ins Universum. bei uns im Einsatz«.
Wenn er im Garten saß, musste er oft un- Tatsächlich deutet einiges darauf hin, Auch im Universitätsklinikum Düssel-
freiwillig den Monologen seines dozieren- dass der Weg weit werden könnte. dorf hat es »in den letzten zwei Jahren kei-
den Nachbarn lauschen. Als er herausfand, Denn die Welt außerhalb des hannover- ne Bestellungen der Produkte« gegeben.
um wen es sich handelte, beschlich ihn schen Bürogebäudes will Claassens Eupho- Das Unfallkrankenhaus Berlin, das Helios
eine Idee. rie nicht so richtig teilen. Das Unterneh- Klinikum Schwelm oder das Universitäts-
Scholz hatte zu diesem Zeitpunkt be- men kämpft mit hohen Schulden und der klinikum Heidelberg: Alle geben an, nur
reits ein Patent auf eine resorbierbare Ma- millionenschweren Klage eines ehemali- eine geringe Anzahl Magnesiumschrauben
gnesiumschraube in der Tasche, doch kein gen Großinvestoren. Die Produktpalette eingesetzt zu haben. In mehr als 20 Uni-
Geld, es zu realisieren. Er lauerte dem wächst langsamer als ursprünglich geplant. versitätskliniken würden Syntellix-Produk-
Fußballfan Claassen im Stadion von Han- Vor allem aber begegnen sechs Jahre te regulär verkauft, behauptet Syntellix-
nover 96 auf und schwärmte ihm von dem nach Markteinführung diejenigen, die das Medizinvorstand Martin Kirschner, nennt
Potenzial vor, das in dieser Idee stecke. Produkt kaufen und anwenden sollen, der aber nur drei.
Der Manager biss an. Claassen-Schraube mit Skepsis: Ärzte. Vie- Die Kundenbindung wird erschwert
Anfang 2008 gründeten die beiden len ist das Produkt noch suspekt, zu un- durch Claassens unsensibles Geschäfts-
Männer Syntellix. Claassen, der das Grün- verständlich, zu kompliziert. Der Berliner gebaren. Seine Freude an juristischer Aus-
dungskapital von 50 000 Euro allein be- Orthopäde und Großanwender Hubert einandersetzung hat sich in der Szene he-
glich, bekam 60 Prozent, Scholz wurde Klauser, der schon mehrere Hundert von rumgesprochen. In Pitbullmanier geht er
Vorstandschef und erhielt wegen seiner Claassens Schrauben in Großzehen ge- gegen Ärzte vor, die negative Aussagen
»Vorleistungen« 40 Prozent. Er hatte die dreht hat, bekam mächtig Gegenwind, als zum Einsatz von Magnezix machen. Eini-
Kontakte zu Materialwissenschaftlern her- er auf einer Fußärztetagung im Frühjahr ge wurden von Syntellix aus formalen
gestellt, zu Produktionsbetrieben und vor Gründen angezeigt. Das Unternehmen
allem zu einem Arzt, der das Material an versuchte, die Glaubwürdigkeit der kriti-
der Medizinischen Hochschule Hannover Von Syntellix’ geistigem schen Aussagen zu erschüttern. Das mö-
testete und beim Zulassungsverfahren half. gen Ärzte nicht.
Dafür hat Scholz Belege. Vater will Claassen heute Dabei hat Claassen nicht immer unrecht.
Utz Claassen lernte schnell. Auch, dass nichts mehr wissen. Manch ein Mediziner mag die Schrauben
er Scholz bald nicht mehr brauchen würde. falsch eingesetzt, Röntgenbilder falsch be-
Gut vier Monate nach der Gründung, Ein Bankrotteur sei der. wertet haben, manche Studie hatte formale
Scholz war gerade mit seiner anderen Fir- Fehler. Doch wer mit einem neuartigen
ma gescheitert, entledigte sich Claassen Medizinprodukt an den Markt will, sollte
seines Kompagnons. Er drohte, Scholz we- in Augsburg einen Vortrag über den Ein- eine Diskussion um Nebenwirkungen und
gen Untreue zu belangen. Es soll um einen satz von Magnezix hielt. Auffällig viele Kontraindikationen offen führen, um Ver-
Firmenwagen gegangen sein. kritische Fragen seien aus dem Publikum trauen zu gewinnen.
Von Syntellix’ geistigem Vater will gekommen und auch ein negativer Erfah- Claassen räumt Fehler ein. Syntellix
Claassen heute nichts mehr wissen. Ein rungsbericht einer Ärztin, berichten Teil- habe versäumt, die Ärzte mit den Eigen-
Bankrotteur sei der. Nullkommanull habe nehmer. schaften des neuen Materials besser ver-
er zur Firma beigetragen. Seine beste Tat Klauser hatte im Februar zuvor schon traut zu machen und sie daran auszubil-
sei gewesen, ihm die Idee verraten zu ha- in einem Fachmagazin eine Studie veröf- den. Schuld ist nicht er: »Es gab ein totales
ben. fentlicht, in der der Einsatz von Magnesi- Versagen des damaligen Managements,
Mit einer ungeduldigen Handbewegung umschrauben mit denen von Titanschrau- die Produkte und ihre Wirkungsweise rich-
schiebt Claassen das Thema zur Seite. Er ben verglichen wurde. Das Ergebnis war tig zu erklären.« Tatsächlich ist es für eine
muss den Börsengang in Singapur vorbe- positiv: Magnesiumprodukte waren denen kleine Firma kaum zu stemmen, Ärzte zu
reiten. In seiner Vorstellung gibt es bald aus Titan im Ergebnis und in Sachen Kom- teuren Fortbildungen zu karren, wie das
keinen chinesischen Ballenzeh, keinen in- plikationen »nicht unterlegen«, hätten die Pharmakonzerne tun.
donesischen Hallux valgus mehr, der nicht aber eben den zusätzlichen Vorteil, dass Immerhin funktioniert Syntellix’ Mar-
mit einer Syntellix-Magnesiumschraube sie nicht wieder entfernt werden müssten. ketingabteilung wie geschmiert. Schaubil-
korrigiert werden kann. Allerdings steht am Ende der Veröffentli- der auf der Website zeigen Anwendungs-
Die Zeit drängt, denn weltweit forschen chung: »Der Autor arbeitet als Berater für bereiche am Ellenbogen, der Hüfte, am
zahlreiche Firmen an bioabsorbierbaren die Syntellix AG.« Oberschenkel und Knie, am Schlüsselbein,
Magnesiumimplantaten. Syntellix immer- Auch andere, unabhängige Studien ka- am Arm, Hand, Fuß, Knöchel. Eine echte
hin hat schon 2013 ein Produkt zertifiziert men im vergangenen Jahr zu positiven Ein- Allround-Wunderwaffe also?
und ist Marktführer. In einem bislang zu- schätzungen. Doch ein Run auf die Pro- Wahr ist: Die Schraube wird derzeit
gegebenermaßen winzigen Business. Tau- dukte hat offenbar nicht eingesetzt. fast ausschließlich für sehr kleine Eingriffe
sende seien erfolgreich operiert worden, Der Klinikfinder auf der Syntellix-Web- am Zeh und an der Hand eingesetzt. Die
sagt Claassen und verweist auf zufriedene site weist gerade mal 67 Einrichtungen auf, Hauptindikationen sind Kahnbeinbrüche
Ärzte und Patienten. in denen »Ärzte erfolgreich mit Magnezix- und Großzehenkorrekturen. Zwischen 145
Für die EU und einige andere Länder Implantaten arbeiten«. und 185 Euro kostet ein Schräubchen. Da
haben Claassens Schrauben und Pins Zu- Fragt man nach, wundert sich so man- fällt es mit einem Tesla doch etwas leichter,
lassungen erhalten – für die USA, dem cher der Gelisteten. Im Städtischen Klini- Geld zu machen.

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2016 wollte Syntellix knapp 14 Millio-


nen Euro umsetzen und einen Betriebs-
gewinn von knapp sieben Millionen Euro
erzielen, so zumindest hatte man es dem
Investor Maschmeyer in Aussicht gestellt,
behauptet dieser. Herausgekommen ist ein
Umsatz von 1,14 Millionen bei einem ope-
rativen Minus von 4,5 Millionen.
2017 soll der Bilanzverlust auf addiert
über zehn Millionen Euro angestiegen sein,
berichten Teilnehmer der letzten Haupt-
versammlung.
Nach den anderthalb Jahren, in denen
Claassen selbst die Firma führt, soll Syn-
tellix nun einen dreistelligen Millionen-

WOLFGANG WILDE / ROBA IMAGES


betrag wert sein, dank einer Reihe schnell
aufeinanderfolgender Kapitalerhöhungen
und natürlich der Wette auf die strahlende
Zukunft.
Wie strahlend die tatsächlich sein wird,
ist unklar. Immer noch hinkt die Firma ih-
ren Prognosen hinterher.
Eigentlich sollte der Durchbruch bereits
Ehepaar Claassen um 2007: Die Frau als Chefkontrolleurin 2018 erfolgen. Damals wollte Syntellix laut
einer Präsentation mit neuen Schrauben,
Platten und Drähten auf den Markt kom-
men, die auch bei anderen, größeren Ope-
rationen eingesetzt werden könnten, um
so endlich den ersehnten Umsatz in die
Kasse zu spülen. Doch im November 2017
wurden die Pläne erst einmal durchkreuzt.
Entwicklungschef Jan-Marten Seitz und
Medizinvorstand Martin Kirschner legten
auf einer Vorstandssitzung ein Papier vor,
in der die Brauchbarkeit der Magnesium-
legierung, aus der die neuen Produkte her-
gestellt werden sollten, angezweifelt wur-
de. Vertraulich, steht auf der Vorlage. Da-
MICHAEL LOEWA / LAIF

rin ist zu lesen: Eigene Messungen der


mechanischen Eigenschaften von Magne-
zix hätten eine Unterschreitung der erfor-
derlichen Werte ergeben.
Die Herstellung von Platten-Schrauben:
Fuß nach Behandlung mit Magnezix-Implantat, Syntellix-Sitz: Wette auf die Zukunft »Derzeitige Materialqualität lässt dies
nicht zu.« Korrosionsuntersuchungen ver-
schiedener Partien: »Das Basismaterial
zeigt auch hier absolut inhomogene Kor-
rosionseigenschaften.« Drähte: »Der Ma-
terialqualitätsfaktor behindert auch hier
die erfolgreiche Entwicklung.«
Außerdem brauche man neue Maschi-
nen. »Die Zulassung von Platten und
Schrauben sei in der ersten Hälfte 2019
unwahrscheinlich«, so die Erkenntnis.
Für Claassen ist das Schnee von gestern.
Zum einen seien die Messmethoden da-
ORE HUIYING / BLOOMBERG / GETTY IMAGES

mals ungeeignet gewesen, hätten falsche


Ergebnisse geliefert oder seien »evidente
Fehleinschätzungen«, zum anderen habe
man das Material weiterentwickelt. »Das
Ausgangsmaterial ist selbstverständlich
erprobt und geeignet«, sagt er, die Ent-
wicklung der Plattensysteme war nur
»temporär gefährdet«. Jetzt sei alles gut:
»In den derzeitigen Untersuchungen zeigt
sich eindeutig, dass Magnezix auch eine
Börse in Singapur: Der Traum vom großen Geld hervorragende Grundlage für Platten-

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Schraubensysteme dar- meyer einen höheren


stellt.« Preis geboten hatte.
Zweifel am Erfolgskurs Claassen vereitelte, was
schürte damals jedoch er für einen Übernahme-
auch eine weitere Analyse, versuch hielt. Maschmey-
erstellt vom damaligen er verklagte ihn erfolglos,
Vorstandschef für die Auf- weil er Firmengeld für Tri-
sichtsratssitzung Ende De- kotwerbung eines Fußball-
zember 2017. Demnach klubs auf Mallorca aus-
hatte Syntellix im gleichen gegeben hatte, dessen
Jahr zwar Neukunden ge- Hauptaktionär und Präsi-
wonnen, doch in Deutsch- dent er war.
land hätten sich Dutzen- Dreckige Wäsche wur-
de Bestandskunden abge- de öffentlich gewaschen,
wandt. Syntellix ging der man beschimpfte und
Sache nach – und erfuhr verklagte sich. In einem
laut Darstellung des Vor- langwierigen Vermitt-
standsvorsitzenden Uner- lungsverfahren einigten
freuliches: Fast ein Viertel sich die Streithähne ir-
der Abtrünnigen, 23 Pro- gendwann. Maschmeyer
zent, gab an, die Produkte sollte sein gesamtes Ak-
nicht mehr zu kaufen, weil tienpaket, das er seiner-
es zu »Schwellungen«, zu zeit zu einem durch-
»Schraubenbrüchen« und schnittlichen Preis von
Problemen auf den Rönt- etwa zehn Euro erworben
genbildern gekommen sei. hatte, an Claassen zurück-
Die restlichen Gründe tei- geben. Rund 5,2 Millionen
len sich auf in Dinge Euro, umgerechnet 7,325
wie  Terminschwierigkei- Euro pro Aktie, sollten so-
ten, Informationsdefizit, fort fließen, weitere 2,36
Preisverhandlungen oder Millionen, wenn Claassen
Arztwechsel.  die Aktien weiterverkauft.
In dem Papier geht der Könnte er sie teurer los-

PICTURE ALLIANCE / DPA


damalige Firmenchef auch schlagen, sollten sich die
auf die Verspätung bei der beiden Kontrahenten den
Herstellung neuer Produk- Mehrerlös teilen.
te ein: »Eine noch un- Der Vertrag sah zudem
befriedigende Konsistenz vor, dass Claassen Masch-
und Homogenität des Ma- Eheleute Ferres, Maschmeyer: Schicksalhaft verwoben
meyer bei eigenen Aktien-
terials führt zu Irritatio- verkäufen unterrichten
nen und untergräbt die musste. Bei Verkäufen über
Nachfrage nach unseren Produkten.« Al- ist sein Feind. Heute zählt Claassen den 15 Euro hatte Maschmeyer kein Vetorecht.
lein dem »effizienten Qualitätsmanage- Mann, den er selbst zur Firma geholt hatte, Das behaupten Maschmeyers Anwälte.
ment« habe man es zu verdanken, »dass zum Mittäter der systemischen Marodisie- Mit dieser als Friedensvertrag gedach-
noch keines der Implantate am Patienten rungskampagne, die Syntellix zerstören ten Einigung war die Saat zum nächsten
versagt« habe. wolle. Scharmützel gelegt. Sie sollte erst Ende
Claassen streitet nicht ab, dass es dieses Die Frage ist, ob es dazu fremder Kräfte 2018 aufgehen.
Papier gibt. Es sei aber nie präsentiert wor- bedarf. Die größte Gefahr für sein Unter- In der Zwischenzeit malocht Utz Claas-
den. Die Zahlen seien frei erfunden, die nehmen hat Claassen selbst angeschleppt. sen wie ein Berserker für den Börsengang,
zugrunde liegenden Studien für die beiden 2013 holte er seinen wenige Straßen ent- Es komme vor, dass er drei Interkontinen-
Vorlagen fehlerhaft gewesen und inzwi- fernt wohnenden damaligen Freund, den talflüge pro Woche abreiße, sagt er. Einer
schen von den Instituten korrigiert wor- ebenso reichen wie umstrittenen Finanz- wie er muss nicht bei den Ärzten Klinken
den. Eine Verzögerung von Produkten jongleur Carsten Maschmeyer als Groß- putzen, er wird zu den Klinikdirektoren
gebe es nicht, nur eine Neuausrichtung der investor in die Firma. durchgelassen und von Geldgebern emp-
Produktpalette. Es dauerte nicht lange, und das Verhal- fangen. Dort kann er sein größtes Talent
Aber warum sollte ein langjähriger Vor- ten der Freunde erinnerte an das eines wei- ausspielen: Der Mann kann reden.
standschef solch ein vollkommen falsches teren Nachbarn, des Flachlandgorillas, 2017 bis 2019 brachte er eine ganze Rei-
Papier verfassen? Dazu liefert Claassen Klan-Chef Buzandi, der in Riechweite im he Investoren dazu, Papiere von Syntellix
eine überraschende Erklärung: Der Mann hannoverschen Zoo lebt. zu erstehen und sogar Kapitalerhöhungen
sei überfordert gewesen, habe Gründe für Die beiden Alphamanager verbissen von bis zu 50 Euro pro Aktie zu zeichnen.
sein Versagen gesucht und auch bewusst sich ineinander bei dem Versuch, sich ge- Noch 2016, auf dem Höhepunkt der ersten
konstruiert. Claassen glaubt, dass der Ma- genseitig zu dominieren. Claassen arg- Auseinandersetzung mit Maschmeyer, hat-
nager das Papier einzig zu dem Zweck er- wöhnte, Maschmeyer wolle sich die Mehr- te er Aktien für 4 Euro das Stück verkauft.
stellt habe, »um später die Medien damit heit an Syntellix greifen, um sie an die Kon- Unter den Geldgebern befinden sich
zu manipulieren«. kurrenz zu verscherbeln. Maschmeyer nach internen Aufstellungen kleine Fonds
Das scheint fast schon ein Charakterzug zürnte, weil Claassen Aktien an einen an- und Family Offices, aber auch Privatinves-
Claassens zu sein: Wer nicht mit ihm ist, deren Investor verkaufte, obwohl Masch- toren wie Ex-Bankchef Jürgen Fitschen.

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Wirtschaft

SPIEGEL-Gespräch
Alle Deals sollen nach einem ähnlichen hen war. Claassen teilt mit: »Etwaige Zah-
Muster abgelaufen sein: Die Finanziers sol- lungsverpflichtungen gegenüber welchen live im Bucerius
len zunächst größere Aktienpakete von Vertragspartnern auch immer leiste ich
Claassen gekauft haben. Meist kurze Zeit stets fristgemäß.«
Kunst Forum
später sollen sie Kapitalerhöhungen zwi- Was Maschmeyer natürlich wieder auf
schen 30 und 40 Euro in ähnlicher Grö-
ßenordnung gezeichnet haben.
den Baum treibt. Die Geschäfte seien klar
gegen die vertraglichen Absprachen, be-
Italien und die Deutschen –
Doch möglicherweise hätte Claassen die haupten die Anwälte des Investors. Sie for- eine Beziehungs-
Aktienverkäufe in dieser Form nicht voll- dern eine Aufdeckung aller Transaktionen
ziehen dürfen, weil die Konsultationsklau- und eine Zahlung in Höhe von mindestens geschichte
sel nicht eingehalten wurde. Beide Behaup- 3,9 Millionen Euro. Je nachdem, welchen

© Anastasiya Lobanovskaya
tungen stehen sinngemäß in einer millio- Verkaufspreis das Gericht für die Aktien
nenschweren Klage gegen Claassen, die ermittelt, könne die Forderung noch deut-
Ende März dieses Jahres beim Landgericht lich steigen.
in Hannover eingereicht wurde und dem Für Claassen ist das alles Unsinn und
SPIEGEL vorliegt. Teil der Mafia-Strategie, mit der sein Un-
Sie stammt – Überraschung – von sei- ternehmen zerschlagen werden soll. Zu
nem alten Freund Carsten Maschmeyer. Details will er sich nicht äußern. Nur so
Der fühlt sich einmal mehr aufs Übelste viel: Er habe sich zu jeder Zeit streng an
hintergangen. Was war passiert? die vertraglichen Absprachen mit Masch-
Claassen hatte Maschmeyer laut Klage- meyer gehalten. Wenn jemand Verträge
schrift zunächst informiert, dass er die bei gebrochen habe, und zwar vielfach, dann
ihm geparkten Aktien Mitte 2017 in zwei sei es sein Kontrahent.
Tranchen verkauft habe. Das Vetorecht Und deshalb hat er persönlich – ebenso
käme nicht zum Tragen, so Claassen, was wie seine Firma Syntellix – Klage gegen Venedig
bedeuten würde, dass der Kaufpreis über Maschmeyer eingereicht: Dieser habe die
15 Euro gelegen haben musste. gemeinsame Vereinbarung gebrochen und
Wie Nachforschungen der Maschmeyer- zudem dem Unternehmen schweren Scha- Renaissance und Dolce Vita, Goethes
Anwälte ergaben, soll das auf dem Papier den zugefügt. Bildungsreise und die üblen Geschäfte der
sogar der Fall gewesen sein. Verkauft wur- Am Mittwoch vergangener Woche er- Mafia, Tourismus und nicht zuletzt auch
de das Paket danach an eine Syndrobium höhten er und seine Firma die Klagesum- das düstere Kapitel des Faschismus:
me und zerrten den Streit ans Licht der Über die vielschichtige und wechselhafte
Öffentlichkeit. Statt einer Million Euro be- Beziehung zwischen Deutschland und
Dreckige Wäsche wurde trage die Schadenshöhe nun 6,33 Millio- Italien spricht SPIEGEL -Redakteurin
nen Euro – möglicherweise müsse man
Eva-Maria Schnurr mit dem renommierten
öffentlich gewaschen, Maschmeyer sogar noch für weitere Schä-
Renaissance-Historiker und profunden
man beschimpfte den jenseits einer Milliarde Euro in An-
Italienkenner Volker Reinhardt.
spruch nehmen, heißt es in einer Presse-
und verklagte sich. mitteilung. Was wohl bedeutet: Scheitert
der Börsengang, könnte man sich ja das
Geld bei Maschmeyer holen.
GmbH in Niedersachsen, für 15,01 pro Ak- Wie er bei einem so geringen Umsatz
auf eine solche Forderung kommt, bleibt
tie. Der Eigentümer: Utz Claassen.
Nun könnte man das Armdrücken der unklar. Maschmeyers Anwalt Daniel Loch-
Dienstag, 25. Juni 2019, 20 Uhr
beiden Unternehmer unter der Rubrik ner bezeichnete die Vorwürfe am Mitt- Bucerius Kunst Forum
»ein Schlitzohr bescheißt das andere« ab- woch als »haltlos und vorgeschoben«. Alter Wall 12, 20457 Hamburg
heften. Claassen wolle damit nur ablenken, »um
Doch Maschmeyers Anwälte hegen den seine Pflichten zur Zahlung des noch ge-
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen
Verdacht, dass Claassen den Investoren schuldeten Aktienkaufpreises nicht erfül- bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich.
große Aktienpakete zu deutlich höheren len zu müssen«. Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro zzgl. Gebühren)
Preisen als 15,01 Euro verkauft und dabei Es scheint, als seien die beiden Kontra- berechtigt am Veranstaltungstag zum Besuch der
ordentlich Kasse gemacht hat. Damit habe henten so schicksalhaft ineinander verwo- Ausstellung »Here We Are Today. Das Bild der Welt in
er den Vertrag mit Maschmeyer bewusst ben, dass es kein Entkommen gibt. Foto- & Videokunst« (7. Juni – 29. September 2019).
verletzt, weil der entweder gar nicht oder Claassen kontert wie immer deftig: Im
falsch über die Verkäufe informiert wor- Zuge dieser viel schwerwiegenderen Ver- Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
den sei. Claassen sagt, er habe sich jeder- fahren würden sich die »absurden Vorwürfe 19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
geöffnet. Änderungen vorbehalten.
zeit gesetzestreu und vertragskonform ver- Maschmeyers« in Luft auflösen. Genauso
halten und niemanden getäuscht. Alle wie die gezielt gestreuten, unberechtigten
Transaktionen seien aktienrechtskonform Zweifel an der Zuverlässigkeit der Syntel-
gelaufen. lix-Produkte. Die gesamte »systemische
Dagegen behaupten Maschmeyers An- Marodisierungskampagne ist unzulässig,
wälte in der Klage, dass Claassen selbst unbegründet, haltlos und die Verkehrung
den niedrigen Kaufpreis vorerst nicht voll- der Wahrheit in ihr Gegenteil«.
umfänglich zahlen wolle. Claassens An- Frank Dohmen, Michaela Schießl
sicht sei, dass er das erst im Dezember Mail: [email protected],
2026 tun müsse. Ein Datum, das im Ver- [email protected]
trag als letztmöglicher Zeitpunkt vorgese-

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Wirtschaft

PAUL-LANGROCK.DE
Panorama von Berlin-Neukölln: »Die Menschen spüren, dass der soziale Friede durch die hohen Wohnkosten in Gefahr ist«

Berliner Häuserkampf
Immobilien Der Senat der Hauptstadt plant radikale Maßnahmen gegen die Wohnungsnot.
Er will die Mieten für fünf Jahre einfrieren. Darf er das?

K atrin Lompscher ist der Albtraum


aller Vermieter. Die Senatorin für
Stadtentwicklung und Wohnen in
Berlin hat gerade einen Sturm in der
punktepapier, das der Senat am Dienstag
beschließen soll. Wer sich nicht an die Vor-
gaben hält, muss demnach mit einer Geld-
buße von bis zu 500 000 Euro rechnen.
halb einen Mietenstopp per Gesetz durch-
drücken. Sie sei sehr zuversichtlich, dass
die nötigen etwa eine Million Unterschrif-
ten zusammenkämen, sagt Beatrix Zurek,
Hauptstadt entfacht, doch dafür sitzt die Auf diese Weise meint Lompscher dem eine der Initiatorinnen. »Die Menschen
Linkenpolitikerin ziemlich gelassen an ih- Mietenwahnsinn per Gesetz ein Ende be- spüren, dass der soziale Friede durch die
rem Besprechungstisch. Ganz so, als kön- reiten zu können. Wer heute in der Haupt- hohen Wohnkosten in Gefahr ist.«
ne ihr das Getöse da draußen nichts an- stadt eine Bleibe sucht, zahlt im Schnitt Es klingt naheliegend, die Mieten ein-
haben. für eine 60- bis 80-Quadratmeter-Woh- fach zu deckeln und so die Mieter zu ent-
»Wer den Mietendeckel als Kampfan- nung fast doppelt so viel wie 2009. Lang- lasten – aber geht das? Und vor allem:
sage an die Wohnungswirtschaft versteht, jährige Mieter werden aus ihren Wohnun- Darf man das überhaupt?
hat das politische System nicht verstan- gen vergrault, weil dem Eigentümer ein Die Wohnungswirtschaft jedenfalls rea-
den«, sagt sie. »Es ist unsere Pflicht, als neuer Mietvertrag oder ein Verkauf lukra- giert entsetzt auf Lompschers Vorstoß. Ein
Politiker einzuschreiten, wenn wir eine tiver erscheinen. Bei einer Mietpreis- Mietendeckel werde den Wohnungsmarkt
Notwendigkeit und eine mögliche Lösung Demo Anfang April gingen weit über mittel- bis langfristig »zusammenbrechen
sehen.« 10 000 Menschen auf die Straße. lassen«, warnt der Eigentümerverband
Lompscher glaubt, eine solche Lösung Nicht nur in Berlin, überall in den deut- Haus & Grund. Der Berliner Teilverband
gefunden zu haben. Sie will Eigentümern schen Ballungsräumen spitzt sich die Lage ruft seine Mitglieder sogar auf seiner
für zunächst fünf Jahre verbieten, die Mie- am Wohnungsmarkt zu, die bisherigen Website dazu auf, bis zum 17. Juni – dem
ten zu erhöhen. Auch eine noch »zu defi- politischen Maßnahmen greifen nicht. Tag vor der Abstimmung im Senat – die
nierende allgemeingültige Mietobergren- Auch in Bayern will der Mieterverein Mün- Mieten zu erhöhen, weil es danach wo-
ze« ist geplant, so steht es in einem Eck- chen mithilfe eines Volksbegehrens des- möglich nicht mehr gehe. Unter dem Auf-

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ruf zählt eine Art Countdown die Zeit bis Ein solcher Eingriff könnte für den Ver- dings nur bei der Erstvermietung. Der
dahin. mieter an die Substanz gehen. Anders ge- nachfolgende Mieter könnte sich auf den
Der Deutsche Mieterbund hingegen be- sagt: Ihm drohen Verluste. Deckel berufen. »Absurd« findet Haus
grüßt die Idee eines Mietendeckels natur- Kai Warnecke, Präsident von Haus & & Grund-Präsident Warnecke die Pläne.
gemäß. Sie sei »eine bedenkenswerte und Grund Deutschland, kündigt deshalb jetzt »Ich bewundere jeden, der jetzt noch in
naheliegende Alternative«, sagt Geschäfts- schon an, gegen einen Mietendeckel in Berlin in eine Mietwohnung investiert.«
führer Ulrich Ropertz. »Wir unterstützen Berlin klagen zu wollen, sollte er denn Rea- Auch Claus Michelsen, Wissenschaftler
diese Bestrebungen.« lität werden. Er sei aus seiner Sicht »schrei- am Deutschen Institut für Wirtschafts-
Das Mietpreisrecht zu regeln gilt eigent- end verfassungswidrig«. forschung, fürchtet, dass ein Mietendeckel
lich als Aufgabe, die dem Bund zukommt. Senatorin Lompscher dagegen findet ihr Investoren nachhaltig verschrecken könn-
Erst ein Gutachten zweier Juristen, das die Konzept differenziert. Es werde voraus- te. Es drohe ein Szenario, bei dem die Mie-
Berliner SPD-Fraktion in Auftrag gegeben sichtlich nicht den einen Deckel für alle ten für Neubauten wegen der Ausnahme-
hat, nährt neuerdings die Hoffnung der lin- Wohnungen geben, sagt sie: »Wir werden regelung noch weiter stiegen, sodass sich
ken Parteien, dass radikalere Eingriffe auf nach Alter, Zustand und Ausstattung des nur noch eine Oberschicht das leisten kön-
Landesebene doch möglich sind. Gebäudes unterscheiden. Eine Möglich- ne, sagt er. »Und der Rest kloppt sich dann
Die Bielefelder Professoren Markus keit wäre, sich dabei am aktuellen Miet- um die Wohnungen im regulierten Be-
Artz und Franz Mayer argumentieren so: spiegel zu orientieren, eine zweite, einen reich.«
Die Landesverfassung Berlin sieht, anders Mietspiegel als Grundlage heranzuziehen Selbst dem Bielefelder Gutachter Artz
als das Grundgesetz, ein ausdrückliches aus einer Zeit, als der Markt noch nicht so geht Lompschers Vorstoß an einigen Stel-
»Recht auf angemessenen Wohnraum« vor. außer Rand und Band war.« len zu weit. Die Vermieter müssten sich
Dies rechtfertige einen Eingriff über das demnach Modernisierungen genehmigen
öffentliche Recht. Es sei eine Frage der lassen, sollte sich dadurch die Brutto-
»Gefahrenabwehr«, wenn dieses Recht auf Luxus Wohnen warmmiete um mehr als 50 Cent pro Qua-
Wohnen bedroht sei, sagt Artz. Veränderung der durchschnittlichen Mieten dratmeter erhöhen; zuständig für die Ge-
Die Gefahrenlage, so sieht es Artz, sei bei Neuvermietung 2019 gegenüber 2009* nehmigung wäre auch hier die Investi-
vergleichbar mit der Bafög-Falle: »Wenn in Euro pro Quadratmeter tionsbank Berlin. Dieses »etwas seltsame
man wirklich arm ist, bekommt man fi- Verwaltungsverfahren« könne »juristisch
nanzielle Unterstützung, wer wohlhabend 2009 2019 schwierig« werden, warnt Artz. Weil es
ist, kommt auch so zurecht. Die aus der
16,42 *Wohnungen 60 bis 80 m2, alle Baujahre, energetische Sanierungen erschwere und
inserierte Preise, jeweils 1. Quartal
Mitte dagegen sind die Gelackmeierten.« damit politische Ziele des Bundes torpe-
Quelle: IDN Immodaten/Empirica
Damit meint Artz zum Beispiel Polizisten, diere, die dieser schon formuliert habe.
Lehrer oder Krankenschwestern, die sich Die Idee, dass der Mietendeckel auch
dort, wo sie arbeiten, oft keine Wohnung 10,51 für bestehende Verträge eingeführt wer-
mehr leisten können. 9,57 den soll, hält der Jurist ebenfalls für pro-
Grundsätzlich liege die Gesetzgebungs- blematisch. »Ich bezweifle, ob ein solcher
kompetenz ohnehin bei den Ländern, ar-
7,91 Eingriff in bestehende Vertragsverhältnis-
gumentieren die Professoren weiter – es 5,90 se den juristischen Anspruch der Verhält-
sei denn, der Bund regele ein Thema ab- 5,27 nismäßigkeit erfüllt.«
schließend. Das sei bei den Mieten aber Gleichwohl könnte der Mietendeckel in
nicht der Fall. Berlin schon bald konkrete Form anneh-
Ob eine solche Begründung trägt, wer- + 56% + 82% + 34% men. Beschließt der Senat am Dienstag
den wohl Gerichte klären müssen. Es gibt die Eckpunkte, würde im Herbst die Ge-
schon jetzt genügend Kollegen, die wider- München Berlin Deutschland setzgebung beginnen. Im Januar könnte
sprechen. die Neuregelung dann in Kraft treten.
Der Bund bestimme sehr wohl die Re- Auch der Mieterverein München hat
geln, wie die Mieten zu begrenzen seien, Der aktuelle Mietspiegel kommt für eine einen ambitionierten Fahrplan. Jurist Artz
die Länderparlamente dürften sie nicht 60- bis 90-Quadratmeter-Altbauwohnung und sein Kollege arbeiten gerade an einem
beliebig modifizieren oder »durch die Hin- auf eine ortsübliche Vergleichsmiete von Gesetzesvorschlag für die Initiative. Nach
tertür« aufheben, schreibt etwa der Jurist höchstens 10,92 Euro pro Quadratmeter. dem Oktoberfest wollen die Initiatoren
Thomas Dünchheim von der Kanzlei Ho- In älteren Versionen ist es noch weniger. dann die 25 000 Unterschriften sammeln,
gan Lovells in einem Gutachten für den Würde man sich tatsächlich daran orientie- die für das Volksbegehren nötig sind. In-
Zentralen Immobilien Ausschuss, dem ren, müssten sich Eigentümer in den hip- nerhalb von zwei Wochen müssten sich
Lobbyverband der Immobilienbranche. pen Berliner Vierteln auf harte Zeiten ein- danach zehn Prozent der Wahlberechtig-
Ein Mietenstopp verstößt laut Dünchheim stellen. ten, das sind rund eine Million Bürger, in
»in eklatanter Weise gegen tragende Prin- Dass dies auch etliche Privatvermieter Listen eintragen, die in den Rathäusern
zipien des Grundgesetzes«. treffen würde, die die Einnahmen aus ei- ausliegen. Ist das Ziel erreicht, kann der
Einige Juristen sehen auch die grund- ner oder einigen wenigen Wohnungen als Landtag den Gesetzentwurf annehmen.
gesetzlich geschützte Eigentumsfreiheit Alterseinkünfte einplanen, ist Lompscher Lehnt er ihn ab, startet der Volksent-
verletzt, wenn der Vermieter die Miete bewusst. Sie will deshalb für »Härtefälle« scheid.
nicht frei vereinbaren kann, sondern diese Ausnahmen erlauben, »sofern eine wirt- Die Chancen stehen nicht schlecht. Für
auf Jahre eingefroren würde. »Nicht ein- schaftliche Unterdeckung nachgewiesen das Volksbegehren für mehr Artenvielfalt
mal ein Inflationsausgleich wäre möglich«, wird«, wie es in ihrem Papier heißt. (»Rettet die Bienen!«) leisteten Anfang des
lautet die Kritik in einem Gutachten, das Wer unter die Ausnahmeregelung fällt, Jahres mehr als 1,7 Millionen Bürger in
die Kanzlei Greenberg Traurig im Auftrag soll am Ende die Investitionsbank Berlin, Bayern ihre Unterschrift.
der Berliner Sektion des Bundesverbandes ein Förderinstitut des Landes, prüfen. Alexander Jung, Anne Seith
Freier Immobilien- und Wohnungsunter- Auch den Neubau will Lompscher in Mail: [email protected]
nehmen angefertigt hat. dem geplanten Gesetz ausnehmen, aller-

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Wirtschaft

Aus dem Nichts


Karrieren Arlan Hamilton war noch vor ein paar Jahren obdachlos. Heute ist sie Investorin
und fördert junge Firmengründer, die sonst keine Chancen hätten
in der Tech-Industrie – weil sie so sind wie Hamilton selbst: schwarz, weiblich, lesbisch.

E
s war ein weiter Weg für Arlan
Hamilton in den 18. Stock dieses
Hochhauses mitten in Hollywood
mit Blick auf den Sunset Boule-
vard. Vor ein paar Jahren noch kannte sie
die Gegend, auf die sie nun von ihrem
Apartment aus hinabblickt, nur von unten,
aus der Perspektive einer Obdachlosen.
»Ich lief nachts auf den Straßen herum und
schlief tagsüber in irgendeiner Ecke, wo
es sicher war.« Viele Leute wüssten nicht,
sagt Hamilton, dass obdachlose Menschen
deshalb oft tagsüber schlafen, weil sie
nachts, wenn es gefährlich ist, wach blei-
ben, weitergehen.
Wach bleiben, weitergehen: Das scheint
auch heute noch das Lebensmotto von Ar-
lan Hamilton zu sein.
Sie ist 38 Jahre alt und hat buchstäblich
aus dem Nichts einen Risikokapitalfonds
für Tech-Start-ups aufgebaut. Auf den
Konferenzbühnen der Digitalindustrie ist
sie ein Star, ihr Gesicht war auf dem Cover
des Wirtschaftsmagazins »Fast Company«,
ihre Tweets sorgen für Schlagzeilen.
Sie vereint in sich eine Vielzahl von
Minderheiten: Sie ist schwarz, sie ist eine
Frau, sie ist lesbisch. Und sie hat daraus
für sich eine Mission abgeleitet: mit ihrer
Firma Backstage Capital exakt solche jun-
gen Firmengründer zu unterstützen, die
mindestens eines dieser Attribute aufwei-
sen – schwarz, Frau, LGBT (»Lesbian, Gay,
Bisexual, Transgender«).
Arlan Hamilton ist all das, was die Tech-
Industrie nicht ist. Und das macht sie zum
personifizierten schlechten Gewissen des
Silicon Valley.
Denn Schwarze und vor allem schwarze
Frauen dürfen in der Regel nicht mitspie-
len beim digitalen Milliarden-Monopoly.
Hier, in Nordkalifornien, von San Francis-
co bis San José, werden aus kaum gedach-
ten Ideen junger Unternehmer deswegen
globale Innovationen, weil Risikokapital-
geber und Investoren permanent auf der
Suche nach Möglichkeiten sind, ihre Mil-
lionen und Milliarden Dollar zu platzieren,
STEPHEN VOSS / REDUX / LAIF

wovon sie später, im Erfolgsfall, profitie-


ren. Davon, von Startkapital, auch »seed
money« genannt, lebt und gedeiht die
Start-up-Welt. Durch mächtige Invest-
mentfonds, die dieses »Saatgeld« groß-
zügig streuen, wuchs und wächst das Öko-
system des Silicon Valley so schnell wie
kein zweites. Risikokapitalgeberin Hamilton: Das schlechte Gewissen des Silicon Valley

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Diversity? Spielt dabei eher um Überzeugungskraft, um Cha-


keine Rolle. Gender-Gerechtig- risma. »Das hatte ich zum Glück
keit? Beginnt und endet bei der schon immer.«
Beschriftung der Firmentoiletten. Und weil sie wusste, dass
»Es ist eine komplett regellose man Kapitalisten nicht mit Mo-
Welt«, sagt Hamilton, am Ess- ral kommen muss, verpackte
tisch ihrer Wohnung sitzend. sie ihre Botschaft als Geschäfts-
Dann, lachend: »Das sieht man idee, nicht als Ethikkurs. Sie er-

SHANNON STAPLETON / REUTERS


auch daran, dass jemand wie ich zählte allen, die sie zum Zuhö-
zur Risikokapitalgeberin werden ren brachte, dass 90 Prozent
konnte.« des Wagniskapitals bei weißen
Ein paar Zahlen, wie sie auch Männern lande, dass aber die
Hamilton gern in ihre Sätze ein- guten Ideen unmöglich zu 90
baut, können die Schieflage bele- Prozent von weißen Männern
gen: Gut zwei Drittel (68,5 Pro- kommen können. Dass, wer so
zent) aller in der US-Tech-In- Republikaner Trump, Investor Thiel, Apple-Chef Tim Cook 2016 einseitig investiere, notwendi-
dustrie Beschäftigten sind weiß, »Regellose Welt« gerweise viele lohnende Anla-
allein jeder 14. (7,4 Prozent) gemöglichkeiten übersehe. Da-
ist afroamerikanisch. Betrachtet mals, als Bitcoin noch hip war,
man lediglich die Bay Area um San Fran- die zufällig ein paar schwarze Freunde ha- prägte sie den Slogan »Black ist der neue
cisco, wo die Silicon-Valley-Riesen residie- ben und gern Basketball spielen.« … »Im Bitcoin«. Sie wollte keine Almosen für
ren, sind es gut drei Prozent Schwarze. Ernst. Schickt mir eine E-Mail. ARLAN gute Zwecke, sie wollte Geschäfte ma-
Bei den Führungspositionen wird es [email protected].« … »Ladet mich zu chen. Viele Monate vergingen, bis sie ihren
noch einseitiger: 83 Prozent der Execu- euch ins Büro ein oder zum Bowling oder ersten Scheck erhielt, über 25 000 Dollar,
tives im US-Hightech-Bereich sind weiß, zu Sushi, und lasst uns darüber reden.« von einer Frau mit Geld und Einfluss
nur jeder 50. (1,9 Prozent) ist schwarz. Heute wohnt Hamilton in L. A. Gehüllt namens Susan Kimberlin. Das öffnete
Schwarze Frauen gibt es auf den Chef- in ein Sweatshirt erzählt sie davon, wie neue Türen.
etagen so gut wie gar nicht. Nah an der sie sich selbst zur Investorin ausgebildet Heute, zehn Millionen Dollar später,
Nachweisgrenze bewegen sich die Werte, hat. »Vor sieben Jahren wusste ich noch listet Backstage Capital über hundert
wenn man die Verteilung des Wagniskapi- nicht mal, was eine Risikokapitalgeberin Firmen im Portfolio, die alles Mögliche
tals anschaut: Gut 2 Prozent kommen bei überhaupt ist«, sagt sie. Sie setzte sich in herstellen oder anbieten, von Lifestyle-
Frauen an, nur 0,2 Prozent bei schwarzen die Abteilung für Businessliteratur bei produkten bis zur computergestützten
Frauen. Barnes & Noble und las dort, weil ihr die Businessanalyse. Kairos gehört dazu, ein
Wie verschafft sich jemand wie Arlan Bücher zum Kaufen zu teuer waren. Per Unternehmen für Gesichtserkennungs-
Hamilton Gehör im exklusiven Klub der YouTube studierte sie die Rhetorik und software; Uncharted Power ist dabei,
Silicon-Valley-Investoren? Wie erhält je- die Strategien von Leuten, die Geld und aus dem Bereich erneuerbare Energien.
mand wie sie Zugang zu den hermetisch Macht haben im Valley, schaute »Hunder- Zyrobotics stellt digitale Lernspiele her;
abgeschotteten Bürokomplexen an der be- te von Stunden Videoaufnahmen«, von mit Airfordable können Kunden Flug-
rühmten Sand Hill Road in Palo Alto, wo Figuren wie Chris Sacca, Sam Altman, tickets in Raten kaufen. Was Blendoor
die großen Geldgeber alle nebeneinander- Brad Feld oder auch Peter Thiel (»Den wiederum macht, klingt nach einer Idee,
sitzen; Sequoia Capital, Kleiner Perkins, mochte ich damals noch«). Gelernt habe die von Hamilton selbst stammen könnte:
Andreessen Horowitz, Greylock Partners, sie dabei vor allem, »dass die alle nichts Das Start-up hat ein Programm ent-
Khosla Ventures? haben, das ich nicht auch lernen kann«. wickelt, das Firmen hilft, sich bei der Job-
Sie kam, aus Texas aufgebrochen, vor Am Ende, so Hamilton, gehe es vor allem vergabe nicht von unbewussten Vorurtei-
ein paar Jahren ohne Collegeabschluss an len leiten zu lassen.
der Westküste an, ohne Geld, ohne Bezie- Backstage Capital bezeichnet sich selbst
hungen, eigentlich ohne Chance. Mona- Kapitalmangel als »Boutique-Investment-Fonds«, denn
telang verbrachte sie die Nächte auf dem Risikokapital insgesamt die Schecks, die Hamilton für ihre Grün-
Boden des Flughafens San Francisco, wäh- für US-Start-ups 2018: 130,9 Mrd. $ der ausstellt, sind oft eher bescheiden, es
rend sie tagsüber Investoren nachstellte, Davon für von Frauen geht um Summen zwischen 25 000 und
physisch oder telefonisch, die sie überzeu- gegründete Unternehmen: rund 3 Mrd. $ 100 000 Dollar – wenig, nach Silicon-
gen wollte, ihr Geld zu geben, das sie 14,5% Valley-Maßstäben. Kritiker lästern, dass
dann an schwarze oder anderweitig un- Hamiltons Fonds, der bestimmt mehr Auf-
sichtbare Firmengründer weiterreichen merksamkeit als Wirtschaftswachstum
wollte. 11,7% generiert, institutionellen Investoren eine
Während dieser Zeit schrieb sie ein bequeme Gelegenheit biete, sich mit we-
wütendes, witziges, viel beachtetes Blog, nig Geld eine sauberere Weste zu verschaf-
in dem sie ihre Adressaten (»Liebe weiße fen. Die strukturellen Probleme aber blie-
Risikokapitalgeber«) direkt ansprach: 6,6% Anteil am Risikokapitalmarkt ben ungelöst.
für Start-ups: Frauen als
»Ich lade euch herzlich ein, einen Stuhl Von Hamilton geförderte Unternehmer
Mitgründerin
herzuholen und mir zuzuhören, als wäre beschreiben Backstage Capital vor allem
Gründerin
ich keine Anomalie, die von einem ande- 3,0 % als Eisbrecher und als Ermutigung. Die
ren Planeten geschickt wurde.« … »Meldet 1,7% Schecksummen mögen klein sein, aber für
euch bei mir. Jeder von euch braucht einen viele ist es das erste Wagniskapital, das sie
Scout, der nach dem nächsten schwarzen überhaupt erhalten. In diesem Sinne äu-
Zuckerberg sucht.« … »Und diese Scouts 2008 2010 2012 2014 2016 2019* ßert sich jedenfalls Melissa Hanna von
müssen farbig sein, keine weißen Typen, *Stand 3. Juni Quelle: PitchBook Mahmee. Ihre Firma bietet medizinische

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Dienstleistungen für Schwangere Franciscos Innenstadt vorübergeht,


und Wöchnerinnen an. »Arlan war habe sie ja wohl doch nicht gelebt.
die Erste, die anrief, und sie sorgte Und diese versuchte Vermessung
dafür, dass andere Geldgeber nach- ihres früheren Elends empfindet sie
folgten«, sagt Hanna am Telefon. als anmaßend. Vermutlich zu Recht.
Ein weiterer Gründer aus dem Sie schweigt ziemlich lange, man
Backstage-Portfolio, Ayinde Ala- erwartet bereits, hinausgebeten zu
koye von einem Anbieter von werden, dann sagt sie: »Ich bin wäh-
Spracherkennungssoftware, erzählt, rend fast der Hälfte meines erwach-
er habe Hamilton bei einem Live- senen Lebens durch verschiedene
Talk zum ersten Mal gehört, »und Formen der Obdachlosigkeit gegan-
als sie Dinge sagte wie ›Ich will in gen. Ich habe zwar nie in einem Zelt
Schwarze investieren‹, da begannen unter einer Autobahnbrücke gelebt,
meine Hände zu zittern. Den Satz aber manchmal bin ich mit einem
hatte ich noch nie gehört. Da war einzigen Dollar in einen Donutshop
jemand, für den die Farbe meiner gegangen, um einen einzigen Donut

BARBARA MUNKER / DPA


Haut kein Stoppsignal war, sondern für den Tag zu kaufen und dann zu
eine Einladung, das war eine Pre- warten, bis sie mich rausschmeißen.
miere«. Was Arlan Hamilton aus- Ich hatte sehr lange keine Adresse,
zeichnet, ist ihre radikale Ehr- keine Postanschrift, die zu meinem
lichkeit – und ihr Medium dafür Namen gehört, und das macht das
ist Twitter. Hier spricht sie unter Obdachloser vor Twitter-Hauptquartier in San Francisco Leben schwierig. Man hört auf zu
dem Namen @ArlanWasHere über »Geld ist ein Gegner« existieren gegenüber Behörden.
persönliche Dinge wie Alkohol- Man wird unsichtbar. Es gibt in die-
probleme und Einsamkeit. Und sem Land wohl Hunderttausende sol-
hier greift sie Silicon-Valley-Legenden neen verschiedener Musikbands ein Aus- cher unsichtbarer Menschen, wie ich es
wie Peter Thiel, Elon Musk oder Paul kommen. war. Das ist die Art von Obdachlosigkeit,
Graham an. Auch heute noch gelingt ihr nicht alles, wie ich sie erlebte.«
Thiel, den in Deutschland geborenen zuletzt musste Arlan Hamilton Rückschlä- Ihre Verlobte ist eine Deutsche, eine
PayPal-Mitgründer, Tech-Milliardär und ge einstecken. Ein angekündigter, speziell Beziehung, die sie prominent in ihrem
Trump-Sympathisanten, verachtet sie mit für schwarze Gründerinnen gedachter In- Twitter-Profil vermerkt: »Verlobt mit
besonderer Verve. Als er 2016 vor der vestitionsfonds, den sie den »It’s About @queergermangirl«. Queergermangirl,
US-Präsidentschaftswahl seine politische Damn Time Fund« nannte (etwa: »Es-ist- das ist Anna Eichenauer, 30, eine Texte-
und finanzielle Unterstützung für Donald verdammt-noch-mal-endlich-Zeit-dafür- rin/Musikerin/Schauspielerin aus der
Trump offenlegte, twitterte Hamilton, Fonds«) und mit 36 Millionen Dollar füllen Nähe von Bamberg. Die beiden haben
dass sie keinem Jungunternehmer mehr wollte, ließ sich nicht verwirklichen, wich- sich online kennengelernt, nachdem sich
empfehlen werde, sich beim berühmten tige Geldgeber waren ausgestiegen. Ha- Hamilton auf Facebook als Karrierecoach
Silicon-Valley-Gründerzentrum Y Combi- milton musste Angestellte bei Backstage angeboten hatte, für 15 Dollar pro halbe
nator zu bewerben, bei dem Thiel als Be- Capital entlassen, und sie trat von ihrer Stunde Telefongespräch. »Wir quatschten
rater und Mentor tätig war. Sam Altman, Position als Geschäftsführerin zurück, um stundenlang, über Wochen, Monate. Ir-
Chef von Y Combinator und eigentlich ein sich stärker auf ihre öffentliche Rolle zu gendwann trafen wir uns und sind seither
früher Unterstützer Hamiltons, verteidigte konzentrieren, auf ein Buch, das sie plant, unzertrennlich.«
sich (»Würdest du jemanden feuern, nur auf einen neuen Podcast. Vor ein paar Tagen, Anfang Juni, flog
weil er Trump unterstützt?«), Hamilton Es gibt einen Moment bei der Begeg- Hamilton nach München, zu Eichenauer,
schoss zurück (»Bei allem Respekt, du nung mit ihr, in dem das Gespräch zu und berichtete auf Twitter von einem Er-
weißt genau, dass ›unterstützen‹ und scheitern droht, knapp vor dem Abbruch lebnis mit einem deutschen Zollbeamten
1,25 Millionen Dollar für einen rassisti- steht. »Ich kann Ihnen sagen, dass das bei der Einreise. Weil Hamiltons Twitter-
schen, sexistischen Triebtäter zu spenden meine unliebste Frage ist«, sagt sie plötz- Feed üblicherweise voll ist mit Nachrichten
nicht dasselbe ist«). lich: »Ich finde die Frage ›Wie sehr ob- von rassistischen und homophoben Vorfäl-
»Ich bin jetzt 38, und bis vor ein paar dachlos waren Sie eigentlich?‹ beleidi- len, befürchtet man beim Lesen zunächst
Jahren habe ich nie mehr als 20 000 Dol- gend.« Exakt so war sie gar nicht gestellt, das Schlimmste. Es geht aber gut aus.
lar pro Jahr verdient«, sagt sie im Ge- es war eben eine Bitte um Klärung: Wel- »@ArlanWasHere
spräch. Sie hat ein für die Tech-Branche che von all den vielen Beschreibungen ih- Auf dem Münchner Flughafen, Wort für
ungewöhnliches, fast feindseliges Verhält- rer Obdachlosigkeit, die man so lesen Wort.
nis zu Geld. »Geld ist ein Gegner, den ich kann – von jahrelangem Couch-Surfing Einschüchternder Zollbeamter: Was ist
nicht aus den Augen lasse.« So wie gut über Schlafen am Flughafen bis zum Le- der Zweck Ihrer Reise?
zwölf Prozent der amerikanischen Bevöl- ben auf der Straße –, trifft am ehesten Ich: Ich besuche meine Fiancée (Eng-
kerung, die offiziell als arm gelten, kannte zu? Wie genau lebte die obdachlose Ar- lisch für »Verlobte« –Red.).
auch Arlan Hamilton Geld ein Leben lang lan Hamilton, bevor sie zur Wagniskapi- Beamter: (ernsthaft) Sie besuchen Be-
vor allem als Mangel. Als Kind habe sie talgeberin wurde? yoncé?
es manchmal geradezu gehasst, weil es Hamilton findet einerseits, sie habe die- Ich: Ähm ...
fehlte. »Geld war etwas, das meine Mutter sen schmerzhaften Teil ihres Lebens schon Sein Kollege: (lacht los)
zum Weinen brachte und das dafür sorgte, so oft ausgebreitet, dass es sie ermüde. Ich: Schön wär’s.
dass es nichts zu essen gab.« Bevor sie Gleichzeitig scheint sie einen Unterton des Alle: (großes Gelächter)«
nach Kalifornien kam, verdiente sich Misstrauens herauszuhören, den Verdacht, Guido Mingels
Hamilton, mehr schlecht als recht, als so komplett obdachlos wie die geschunde- Mail: [email protected]
Produktionsassistentin auf Konzerttour- nen Gestalten, an denen man etwa in San

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Wirtschaft

suchen, sollten möglichst prominent Wer- in seiner Werkstatt immer wieder mit de-

Dringender bung für seinen Laden angezeigt bekom-


men und dann auf seiner Website landen.
Mindestens jeder 10. bis 15. Klick, sagt
ren Schludereien zu tun. Manche verbau-
ten Billig-Displays, bei anderen sei das
Handy nach der Reparatur weniger

Hilferuf Hassan, mündete in einer Reparatur. Seit


Googles Werbebann seien rund drei Vier-
tel der Kunden ausgeblieben – keine Delle
brauchbar als zuvor. Das Werbeverbot tref-
fe aber unterschiedslos alle. Mit acht wei-
teren betroffenen Anbietern aus Deutsch-
Marktmacht Google verbietet also, ein Desaster. land sei er schon in Kontakt. »Wir arbeiten
Der Werbe-Blackout trifft nicht nur den sauber und seriös, geben Garantie, und
Handy-Reparaturdiensten Berliner hart. Er ist auch nicht auf Deutsch- meine Kunden bewerten mich bei Google
quasi über Nacht, Anzeigen zu land beschränkt. In Internetforen wie Red- mit 4,9 von 5 Punkten«, sagt er.
schalten. Für manche Gründer dit vernetzen sich verzweifelte Unterneh- Der Konzern entscheide gerade über
mer in Indien, Kanada und den USA mit sein unternehmerisches Schicksal und das
ist das existenzbedrohend. denselben Problemen: Der Suchmaschinen- seiner mittlerweile drei Angestellten: »Es
gigant beschert ihnen sinkende Umsätze, kann doch nicht sein, dass Google die Qua-

D ie Macht von Google wird meist in


Marktanteilen und Milliarden bemes-
sen. Mohammad Hassan braucht
das nicht. Ihm reicht der Blick über seinen
macht ihre Planungen zunichte. »Eure
Spontanentscheidung killt meine Indus-
trie«, schimpft der Chef einer Werkstattket-
te in Australien. Er hat sogar eine Petition
lität meiner Arbeit beurteilt und praktisch
sogar entscheidet, ob ich sie weitermachen
kann«, sagt Hassan, »Google ist doch nicht
das Gewerbeamt.«
Tresen zur Ladentür. Sie wird seit einigen gegen Googles Geschäftsgebaren gestartet. Der Berliner hat versucht, der Sache
Wochen deutlich seltener geöffnet. Schuld Der Werbestreit um das lukrative Repa- selbst auf den Grund zu gehen, und den
sei Google, sagt er. raturbusiness verdeutlicht Googles Domi- Konzern kontaktiert – als guter Kunde,
Der 25-Jährige betreibt ein kleines Ge- nanz auf regionalen Anzeigenmärkten. wie er sagt. Immerhin habe er seit Januar
schäft in bester Lage im Berliner Stadtteil Und er zeigt, wie abhängig gerade lokale insgesamt mehr als 7000 Euro in Such-
Prenzlauer Berg. Seine Dienstleistung ist Kleinunternehmen davon sind, bei der wortanzeigen investiert. Ein deutschspra-
gefragt: In der Werkstatt hinter seinem marktbeherrschenden Suchmaschine pro- chiger Mitarbeiter aus der Google-Nieder-
Shop repariert er Handys aller großen minent platziert und gefunden zu werden. lassung in Irland habe ihm immerhin einen
Marken. Er tauscht zersplitterte Displays Mindestens drei Milliarden Euro setzt der Tipp gegeben: Statt wie früher Werbung
oder rettet Smartphones, die in der Toilet- Konzern mit seiner nach Alter, Interessen, für Endverbraucher zu schalten, könne er
te baden gingen, was erstaunlich häufig Postleitzahlen und vielem mehr passgenau sie an Geschäftskunden adressieren, das
passiert. Wie gut sein Geschäft lief, zeigt justierbaren Suchwortwerbung hierzulan- funktioniere weiterhin. Das macht der Ber-
ein Glaskasten voller Smartphone-Schrott, de nach Branchenschätzungen um. liner seither. Es kostet ihn deutlich mehr,
der in seinem Schaufenster steht. »Ruhe Die Misere der Handy-Heiler begann im wie der Ad Manager auf seinem Bild-
in Frieden« steht auf dem Handyfriedhof. vorigen Sommer, mit einem unscheinbaren schirm zeigt, bringt ihm aber weniger
Ende Mai brach das Geschäft jäh ab. Blogeintrag im Firmensprech. Google teilte Kunden.
Nach dem Grund habe er nicht lang su- darin mit, Werbung »für technische Sup- In Netzforen spekulieren andere Betrof-
chen müssen, sagt der Jungunternehmer. port-Dienstleistungen durch Drittanbieter« fene derweil über mögliche weitere Hin-
»Google hat ohne Vorwarnung und ohne für Endverbraucher fortan einzuschränken. tergründe für die Werbesperre – durch die
Begründung plötzlich alle meine dort Grund dafür sei eine Zunahme von irrefüh- Google ja auch Umsätze verloren gehen.
laufenden Werbekampagnen abgelehnt.« render Werbung und Missbrauch in diesem Manche vermuten dahinter den Einfluss
Hassan selbst und eine von ihm beauftrag- Feld. Man wolle Kunden vor »unangemes- von Apple, das den unabhängigen Repa-
te Agentur hatten auf Suchstichworte wie senen und schädlichen« Anzeigen schützen. raturmarkt kritisch beäugt. Bei Google
»Handy Reparatur Berlin« geboten. Smart- Hassan bestreitet nicht, dass es in der wollte man über die eigenen Blogeinträge
phone-Besitzer, die nach Havarien Hilfe Branche schwarze Schafe gibt – er habe hinaus keine Stellung nehmen.
Der Berliner Smartphone-Doktor ver-
sucht nun, seine Zielgruppen via Facebook
und Instagram anzusprechen, bislang ohne
durchschlagenden Erfolg. »Ohne Google
funktioniert es nicht, das ist einfach mit
Abstand der wichtigste Marktplatz für un-
ser Geschäft.« Mit seiner Frau Dilara hat
er deshalb einen »dringenden Hilferuf« an
ihre Bundestagsabgeordnete verfasst. Sie
fordern ein Eingreifen der Politik.
Die Familie habe »alles gemacht, was
politisch gewollt ist«, sei »vollkommen in-
tegriert«, habe ein Geschäft aufgebaut und
Arbeitsplätze geschaffen. Google missbrau-
MARCUS ZUMBANSEN / DER SPIEGEL

che seine »Monopolstellung« und drohe,


das »mühsam aufgebaute Business zu zer-
stören«. Wenn nicht bald etwas passiere,
»werden wir in wenigen Monaten zu einer
Geschäftsaufgabe gezwungen sein und
unsere Mitarbeiter entlassen müssen«.
Marcel Rosenbach
Mail: [email protected]
Shopbetreiber Hassan: »Wir arbeiten sauber und seriös«

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Ausland
»Eure Eminenz, ich bitte Sie inständig, mich zu retten und in dieser Sache einzugreifen.« ‣ S. 84

DELIL SOULEIMAN / AFP


Männer bekämpfen mit Tüchern ein Feuer nahe der Stadt Katanija im Norden Syriens. In den vergangenen
Wochen sind in Syrien, im Irak und in Israel Hunderte Quadratkilometer Ackerland abgebrannt. Die
Urheber der Brände sind nicht immer auszumachen, doch entfachen der »Islamische Staat«, die syrische
Armee und Kriminelle immer öfter Feuer, um Anwohner mit dieser Kriegstaktik gefügig zu machen.

Analyse

Ein Land, das einem Mann gehört


Moldau steckt in einer Staatskrise. Warum nur Druck aus dem Ausland den Konflikt am Rande der EU lösen kann.

Die kleine Republik Moldau hat seit Kurzem zwei Regierungen. son gekapert wird, hat mit Geopolitik zu tun. Moldau ist ein Land,
Die eine regiert tatsächlich, die andere würde gern, aber kann in dem Moskau und der Westen um Einfluss konkurrieren: Es teilt
nicht; die eine sitzt in den Ministerien der Hauptstadt Chisinau, mit Rumänien die Sprache und mit Moskau die sowjetische Ver-
die andere tagt bisher bloß im Parlament; die eine hat im Land gangenheit. Die rund drei Millionen Einwohner zieht es zu glei-
das Sagen, die andere im Ausland mehr Unterstützung. chen Teilen in die Arme Russlands und der EU, ein Teil des Landes
Dass es dazu kam, hat mit einem Mann zu tun: Wladimir Pla- – die Region Transnistrien – steht unter Kontrolle prorussischer
hotniuc, Milliardär und Politiker, hat über Jahre hinweg die Insti- Separatisten. Diese geopolitische Konkurrenz hat Plahotniuc aus-
tutionen Moldaus ausgehöhlt und unter seine Kontrolle gebracht. genutzt, indem er sich prowestlich gab. Nun aber haben proeuro-
Er hat sich diese Macht auch nach Neuwahlen nicht entreißen päische und prorussische Parteien eine Übergangsregierung gebil-
lassen. Als sich seine Gegner im Parlament auf eine neue Koali- det. Damit ist sein Geschäftsmodell gescheitert.
tion einigten, ließ er das ihm hörige Verfassungsgericht erklären, Lösen kann den Konflikt nur Druck aus dem Ausland. Moskau,
das Parlament gehöre aufgelöst. Wenn einem ein Staat gehört, so Brüssel und Washington könnten hier an einem Strang ziehen.
wie anderen Leuten eine Firma, kann man das machen. Dass die Dann könnte der Staat Moldau im Interesse seiner Bürger endlich
EU es zulassen konnte, dass ein Nachbarstaat von einer Einzelper- wieder, nun ja, verstaatlicht werden. Christian Esch

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Sudan RSF-Milizen ist einer der Verhandlungs-


Verhandeln mit dem partner der Opposition: Mohamed Ham-
dan Daglo, bekannt als »Hemeti«, sitzt als
Milizenführer Vizechef im Militärischen Übergangsrat
 Für die Opposition im Sudan ist es die und hat dort gegenüber moderateren Kräf-
schwierige Fortführung einer alles ent- ten offenbar die Oberhand gewonnen.
scheidenden Mission: Anfang der Woche Seine RSF-Kämpfer gehörten zu den
beendeten die Revolutionäre ihren Gene- berüchtigten Dschandschawid-Milizen,
ralstreik und erklärten sich nach Vermitt- die verantwortlich für die Massaker im
lung durch Äthiopien wieder zu Gesprä- Darfur-Konflikt waren. Auch in dieser
chen über eine Interimsregierung mit Unruheregion morden seine Milizen
dem Militärrat bereit. Schwer vorstellbar offenbar weiter: In Zentraldarfur sollen
aber, dass das Militär seine Macht abtre- in dieser Woche fast ein Dutzend Zivilis-
ten will. Die Demonstranten misstrauen ten von RSF-Kämpfern getötet worden Qureiris um 2010
dem Sicherheitsapparat mehr denn je. sein. Ende des Monats wird der Uno-
Am 3. Juni hatten Milizionäre der »Rapid Sicherheitsrat über das Mandat seiner in Saudi-Arabien
Support Forces« (RSF) unbewaffnete Bür- Darfur stationierten, bereits reduzierten Kreuzigung für
ger massakriert. Bei der Auflösung des Schutztruppe Unamid abstimmen. Men-
Protestcamps im Zentrum Khartums soll schenrechtler warnen, dass das Leben Kindertaten?
es mehr als 100 Tote und 700 Verletzte Zehntausender auf dem Spiel stünde,
gegeben haben. Der Chef dieser brutalen wenn die Mission Mitte 2020 endete. KKU  Der 18-jährige Murtaja Qureiris steht
vor Gericht für Taten, die er teilweise
als Zehnjähriger begangen haben soll.
Damals war Qureiris in Awamija mit
Botswana SPIEGEL: Gab es auch negative Reaktio- einer Gruppe von Kindern mit dem
»Gefeiert und getanzt« nen auf das Gerichtsurteil, etwa aus dem Fahrrad unterwegs. Durch ein Megafon
Lager der Traditionalisten? soll er geschrien haben: »Die Leute
Der Hohe Gerichtshof in der Hauptstadt Youngman: Einige Religionsführer äußer- brauchen Menschenrechte!« Später
Gaborone hat gleichgeschlechtliche Bezie- ten Bedenken, sie befürchten Sodom und ging er zu Demonstrationen, die in Aus-
hungen entkriminalisiert. Caine Young- Gomorrha. Aber insgesamt haben wir einandersetzung mit den Sicherheits-
man, 37, Aktivist und Rechtsexperte der Aktivisten viel Zuspruch erhalten, sogar kräften zunehmend eskalierten. Dabei
ersten Schwulen- und Lesbenbewegung die Regierungspartei hat uns gratuliert. soll Qureiris angeblich Molotowcock-
in Botswana, freut sich über das für viele SPIEGEL: Damit ist Botswana anderen tails geworfen haben, so die Anklage.
Länder Afrikas wegweisende Urteil. afrikanischen Ländern weit voraus. Mit 13 Jahren war Qureiris inhaftiert
Youngman: Ja, weil wir hier ein gutes worden. Kurz bevor er im Oktober ver-
SPIEGEL: Herr Youngman, wie wurde Fundament gelegt haben. Zwar wurden gangenen Jahres volljährig wurde, hatte
das bahnbrechende Urteil von der LGBT- auch in Mosambik und Angola gleich- der Staatsanwalt die Todesstrafe be-
Gemeinde im Land aufgenommen? geschlechtliche Beziehungen entkrimina- antragt, mit anschließender Kreuzigung
Youngman: Wir haben gefeiert und lisiert, aber in 29 afrikanischen Staaten des Leichnams. Gemäß der Uno-Kinder-
getanzt. Mir fehlen die Worte, um auszu- gilt Homosexualität als Verbrechen. In rechtskonvention, die auch Saudi-Ara-
drücken, wie glücklich wir sind. Endlich Mauretanien oder in Teilen Nigerias steht bien ratifiziert hat, ist die Anwendung
wurde dieses Gesetz aus der britischen darauf sogar die Todesstrafe. Nur weil der Todesstrafe gegen Angeklagte, die
Kolonialzeit aufgehoben. Unsere langjäh- du sexuell anders orientiert bist, töten sie zur Tatzeit minderjährig waren, verbo-
rige Kampagne hat sich ausgezahlt. dich. Es ist genauso absurd, als würde ten. Für die weltweite Kritik an dem
SPIEGEL: Wird das Leben von Schwulen man Leuten, die zu klein sind, das Recht Fall hat man in Riad wenig Verständnis.
und Lesben im Land jetzt leichter? auf Leben absprechen. »Unsere Justiz mag konservativ sein,
Youngman: Ja, aber wir müssen trotz- SPIEGEL: Könnte das Beispiel Botswana und die Strafen mögen im Westen hart
dem noch viel Aufklärungsarbeit in den sich in Afrika verbreiten? erscheinen, doch sie folgen den hier gel-
Gemeinden leisten und den Menschen Youngman: Wir hoffen, dass das tenden Gesetzen der Scharia«, sagte
erklären, dass ihre sexuelle Orientierung Gerichtsurteil positive Signale in andere ein Regierungssprecher dem SPIEGEL.
kein Verbrechen ist. Länder aussendet. Zum Beispiel nach Murtaja Qureiris stammt aus der klei-
Kenia, wo die LGBT- nen Stadt Awamija im Osten Saudi-
Gemeinde nach wie vor Arabiens. Sie war den saudischen Herr-
massiv unterdrückt wird. schern in Riad lange schon ein Dorn im
Wir sagen den Aktivisten Auge, denn dort lebten radikale schiiti-
dort: Lasst euch nicht sche Aktivisten, zugleich hatte sich eine
entmutigen, wir unter- Art Mafia ausgebreitet. Generell
stützen euch. besteht zwischen den sunnitischen Füh-
SPIEGEL: Wird das Urteil rern in Riad und der schiitischen Min-
Bestand haben? derheit im Osten seit jeher ein Misstrau-
Youngman: Wir sind ensverhältnis. Nachdem sich in Awami-
TSHEKISO TEBALO / AFP

zuversichtlich, dass der ja zuletzt angeblich Kriminelle mit


Court of Appeal, das schiitischen Aufständischen gegen die
höchste Berufungsgericht, Staatsmacht zusammengetan hatten,
das Urteil bestätigen wurde die Stadt von Sicherheitskräften
würde, falls es angefoch- eingenommen, weitgehend abgerissen
Aktivisten im Gericht in Gaborone ten werden sollte. ILL und neu aufgebaut. SUK

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Ausland

NICOLO LANFRANCHI / LAIF


Flüchtende auf dem Rettungsschiff »Aquarius«: »Es ist allen egal, ob wir hier draußen treiben«

Hart an der Grenze


Migration Die Träume von Europas Hardlinern sind in wenigen Jahren Wirklichkeit geworden:
Die Seenotrettung wurde fast ganz eingestellt, die Routen über das Mittelmeer
sind mehr oder weniger dicht. Nimmt die EU bald gar keine Flüchtlinge mehr auf?

E
s ist kurz vor Mitternacht, als punkt bereits auf dem Mittelmeer. Kein linge darf die Crew der »Alan Kurdi« in
Fabian Heinz den Glauben an Land will das Schiff anlegen lassen. Malta Malta nicht an Land. Die Helfer müssen
Europa verliert. Die »Alan Kurdi«, hat der Crew die Einfahrt verboten, Ita- Richtung Süden fahren. 13 Tage nach der
das Schiff der deutschen Seenot- liens Innenminister Matteo Salvini hat vor- Rettung von 64 Menschen dürfen sie von
rettungsorganisation Sea-Eye, dümpelt geschlagen, das Boot könne ja nach Ham- Bord – in Tunis.
zwischen Lampedusa und Malta. Heinz, burg fahren. An Bord werden bald die Für Flüchtlinge wird Europa immer
29 Jahre alt, Fotograf aus Würzburg, Vorräte knapp werden und medizinische mehr zu einer Festung ohne Zugangs-
schiebt in dieser Nacht im April Wache an Notfälle auftreten. pforte. Inzwischen werden freiwillige
Deck – so erinnert er sich heute. »Ich war auf all das vorbereitet«, sagt Seenotretter kriminalisiert. Häfen bleiben
Er blickt von seinem Posten auf Dutzen- Heinz. Aber in diesem Moment habe er für sie geschlossen, Schiffe werden be-
de Flüchtlinge, die er und die anderen Ret- sich unendlich einsam gefühlt. »Ich hatte schlagnahmt, Helfer vor Gericht gezerrt.
ter aus dem Meer vor der libyschen Küste das Gefühl, dass es allen egal ist, ob wir »Lifeline«-Kapitän Claus-Peter Reisch wur-
geborgen haben. Die Menschen schlafen, hier draußen treiben. So etwas darf in de in Malta gerade erst zu einer Strafe von
so gut es geht. Kreuz und quer liegen sie Europa nicht passieren.« Als Tage später 10 000 Euro verurteilt, weil sein Schiff
auf dem überfüllten Deck, durchnässt von Maltas Marine die Migranten doch noch nicht ordnungsgemäß registriert gewesen
der Gischt der Wellen. Mehr als zwei Tage von Bord holt, sind zwei Frauen bereits sei. Zehn Freiwilligen der »Iuventa« wirft
lang fährt die »Alan Kurdi« zu diesem Zeit- zusammengebrochen. Auch ohne Flücht- die italienische Staatsanwaltschaft Beihilfe

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Festung Europa
im Mai über den Seeweg in der
EU angekommene Flüchtlinge
NORWEGEN
SCHWEDEN
befestigte Grenzen

ausgewählte Grenz- und DÄNEMARK


Rettungsoperationen DEUTSCHLAND
Flüchtlingsroute
ÖSTERREICH
Schengen-Mitgliedstaaten
FRANKREICH
UNGARN
aktuell wieder eingeführte ITALIEN
Grenzkontrollen

2016 2018
19 925 3963
SPANIEN
2016 2018 GRIECHENLAND
575 3523
2016 2018
1721 2848

Indalo Minerva TUNESIEN Lampedusa


Mittelmeer

Themis Mare Nostrum Poseidon


(bis Ende Oktober 2014)
MAROKKO ALGERIEN

Sophia
(bis Ende März 2019)
LIBYEN
Quellen: Frontex, IOM, TNI-Bericht »Building Walls« 2018

zur illegalen Einwanderung vor. Der Crew Flüchtlinge nach Europa. In diesem Jahr nommen. Viele Europäer empören sich
drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis. gelangten bislang lediglich 24 000 Migran- über die Mauer, die US-Präsident Donald
Die Europäer haben durch ihre Blockade- ten über das Mittelmeer in die EU – so we- Trump an der Grenze zu Mexiko bauen
politik die Flotte der privaten Seenotretter nige wie seit Jahren nicht mehr. will. In Wahrheit schottet sich der Konti-
dezimiert. Waren es früher bis zu zwölf Schif- nent mittlerweile noch brutaler gegen Ein-
fe, so patrouilliert nun an vielen Tagen über- Die Odyssee nach Europa ist so gefährlich wanderung ab als die USA. Am kommen-
haupt kein Rettungsschiff mehr in den Ge- wie nie zuvor. Laut einer Studie der italie- den Donnerstag und Freitag treffen sich
wässern zwischen Europa und Nordafrika. nischen Denkfabrik »Istituto per gli studi Europas Staats- und Regierungschefs in
Die EU hat die Seenotrettung im Früh- di politica internazionale«, die auf Zahlen Brüssel zu einem Gipfel, um ihre Agenda
jahr komplett eingestellt. Sie überwacht des italienischen Innenministeriums ba- bis 2024 festzulegen. Migration soll dabei
das Meer nur noch aus der Luft und ko- siert, kam in den ersten vier Monaten 2019 wieder einmal eine wichtige Rolle bei den
operiert mit der libyschen Küstenwache, jeder achte Flüchtling, der von Libyen Verhandlungen spielen. Es ist jedoch un-
die ihre Suchzone seit 2017 ausgeweitet aus nach Italien aufgebrochen war, ums wahrscheinlich, dass die EU eine grund-
hat.  Die libyschen Schiffe fangen Flücht- Leben. Nach Angaben der Internationalen sätzliche Kurskorrektur vornimmt. In der
linge vor ihrer Küste ab und bringen die Organisation für Migration verlor jeder EU-Asylpolitik hat sich längst der Impe-
Menschen zurück ins Bürgerkriegsland, 17. Flüchtling dieses Jahr auf dieser Route rativ durchgesetzt, wonach Migranten
wo sie in Lager gesteckt und viele von ih- sein Leben, 2016 starb hier nur einer von ferngehalten werden müssen – egal wie.
nen gefoltert, vergewaltigt, zum Teil als 43. Eine Gruppe von Menschenrechtsan- Die »Festung Europa« hat viele Archi-
Soldaten missbraucht werden. wälten hat die EU vergangene Woche tekten: Ungarns Ministerpräsidenten Vik-
Die Grundrechtecharta der EU garan- beim Internationalen Strafgerichtshof in tor Orbán, Griechenlands linken Regie-
tiert Menschen Schutz, die vor Krieg oder Den Haag angezeigt. Die Union sei durch rungschef Alexis Tsipras, Österreichs Ex-
politischer Verfolgung fliehen. Doch die- ihre Politik verantwortlich für den »Tod Kanzler Sebastian Kurz. Sie alle betreiben
ses Recht haben die EU-Staaten de facto Tausender Menschen durch Ertrinken«, eine Politik, die darauf abzielt, Migranten
abgeschafft. Sie haben ihre Grenzen ab- heißt es in der Strafanzeige. draußen zu halten. Doch keiner geht dabei
geriegelt, Flüchtlingshelfer vertrieben Als 2013 mehrere Hundert Flüchtlinge so konsequent vor wie Matteo Salvini. Ita-
und Zäune hochgezogen. Sie bezahlen bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa liens rechtspopulistischer Innenminister
Autokraten wie den türkischen Präsiden- ertranken, löste dies bei Europas Staats- hat dafür gesorgt, dass sein Land die See-
ten Recep Tayyip Erdoğan, damit sie die und Regierungschefs noch Bestürzung aus. notrettung aufgibt. Zudem hat er auslän-
Migranten an der Weiterflucht hindern. Die EU investierte in Rettungsprogramme. dische Helfer als Kollaborateure der
Und so kommen selbst in den wärmeren Inzwischen werden Havarien von den EU- Schmugglermafia diffamiert und mit Er-
Monaten von Mai bis Oktober kaum noch Staaten als Kollateralschaden in Kauf ge- mittlungen schikaniert, woraufhin sich

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viele zurückzogen. Schließlich ließ


er italienische Häfen für Seenot-
retter sperren. Wer sich jetzt noch
für die Bergung von Flüchtlingen
einsetzt, muss ein Land finden, das
sie aufnimmt.
Salvini hat durch seine Abschot-
tungspolitik erreicht, was bis vor
wenigen Jahren nicht einmal die
AfD zu fordern wagte: dass die
Europäer Migranten im Mittel-
meer ertrinken lassen.
Migranten, die es trotzdem
noch nach Italien schaffen, finden
sich schnell im Elend wieder. Die
Koalition aus Salvinis rechtspopu-
listischer Lega und der Protestpar-
tei M5S hat vergangenen Herbst
ein Gesetz erlassen, das sogenann-
te Salvini-Dekret, das bis Ende

AYMAN AL-SAHILI / REUTERS


2020 etwa 130 000 weitere Zu-
wanderer zu Illegalen machen
könnte. Salvini hat den Schutz aus
»humanitären Gründen« kurzer-
hand abgeschafft, der vielen Asyl-
bewerbern eine befristete Mög-
lichkeit bot, legal zu arbeiten. Geborgene Leiche eines Geflüchteten in Libyen: Die Odyssee ist so gefährlich wie nie zuvor
Schon jetzt hausen deshalb Tau-
sende Männer und Frauen in Ita-
lien auf der Straße. Und ihre Zahl dürfte gern sich aus Angst vor sozialen Unruhen, Die Regierung Orbán hat beschlossen,
weiter wachsen. das Dekret umzusetzen. Die Uno sieht es lediglich zwei Flüchtlinge am Tag ins Land
Mamadou Kondé, 26 Jahre alt, Hirte aus im Widerspruch zu internationalem Recht. zu lassen, was einer Verhöhnung des eu-
dem Senegal, schläft seit Februar auf einer Die EU hat es nicht vermocht, ein Sys- ropäischen Asylrechts gleichkommt. Die
Parkbank in Rom. Er ernährt sich von Le- tem zu schaffen, das Flüchtlinge fair auf die Migranten müssen sich einer Anhörung
bensmitteln, die Freiwillige verteilen, an Mitgliedstaaten verteilt. So wie dies Bun- durch Grenzschützer unterziehen, die im
diesem Nachmittag im Mai sind es übrig deskanzlerin Angela Merkel wiederholt ge- Eilverfahren entscheiden, wer überhaupt
gebliebene Pizzabrötchen. Eigentlich heißt fordert hatte. Stattdessen hat in Europa ein eine Chance auf Asyl hat. Diejenigen, die
Kondé anders. Doch er hat Angst, mit sei- Wettbewerb eingesetzt: Die Staaten unter- nicht schon nach der ersten Prüfung in
nem echten Namen zitiert oder fotografiert bieten sich in den Asylstandards, um Flücht- einen Balkanstaat zurückgeschickt wer-
zu werden. »Wir wissen nicht, was noch linge fernzuhalten. Die Politik der Abschre- den, landen für die Dauer ihres Asylver-
auf uns zukommt«, sagt er. ckung, die Salvini in Italien eingeführt hat, fahrens in einem von landesweit zwei Auf-
Bis vergangenen Herbst hatte Kondé als betreibt Ungarns Premier Viktor Orbán im fanglagern, die beschönigend »Transit-
Flüchtling mit humanitärem Schutzstatus Osten des Kontinents mit mindestens der zonen« genannt werden, in Wahrheit
Unterschlupf in einem Erstaufnahmezen- gleichen Härte schon lange. jedoch Gefängnisse sind.
trum in Rom gefunden. Infolge des Salvini- Die Grenze zwischen Ungarn und Ser- Laut EU-Recht können abgelehnte
Dekrets wurde er aus der Unterkunft ge- bien ist längst dicht. Flüchtlinge, die aus Asylbewerber gegen einen solchen Ent-
worfen. Er kam in einem besetzten Haus dem Süden kommen, stoßen auf ein Boll- scheid Rechtsmittel einlegen. Orbán hat
unter, ehe ihn die Polizei auch von dort werk aus zwei Zäunen, Stacheldraht, Wär- auch dies ausgehebelt. Die ungarischen
vertrieb. Jetzt weiß er nicht mehr, wohin. mebildkameras, das rund um die Uhr von Behörden schikanieren immer wieder ab-
»Ohne Wohnung keine Aufenthaltsgeneh- Polizisten bewacht wird. gelehnte Asylbewerber, indem sie ihnen
migung, ohne Aufenthaltsgenehmigung Essen verweigern. NGOs, die sich in Un-
kein Job, ohne Job keine Wohnung«, fasst garn für die Rechte von Geflüchteten ein-
Kondé sein Dilemma zusammen. Er wür- Tödliche See setzen, werden mit einer Sondersteuer
de gern in den Senegal zurückkehren, Anteil der Toten und Vermissten an den belegt. »Orbáns Politik ist einzig und al-
doch dafür fehlt ihm das Geld. Sein Reise- Flüchtlingen auf der zentralen Mittelmeerroute* lein auf Abwehr von Flüchtlingen gerich-
pass, sagt er, sei ihm gestohlen worden. *über Libyen nach Italien und Malta; **Januar bis Juni; Quelle: IOM tet, egal wie gefährdet sie sind«, kritisiert
Salvini bezeichnet sein Gesetz als »Ge- die ungarische Menschenrechtlerin Márta
schenk für die Italiener«. »Schluss mit 1 von 48 Pardavi.
lustig für Migranten«, lautet einer seiner 1 von 43 Der Premier hat den Kampf gegen Mi-
Slogans. Marìka Surace, Juristin bei der gration zum Schwerpunkt seiner Regie-
»Coalizione Italiana Libertà e Diritti Ci- 1 von 31 rungsarbeit gemacht. Geschadet hat ihm
vili«, einem Netzwerk italienischer Nicht- das nicht: Seine Partei Fidesz gehört, wie
1 von 17
regierungsorganisationen, kritisiert, das die CDU und die CSU, nach wie vor der
Salvini-Dekret führe zu Verwahrlosung Fraktion Europäischer Volksparteien an,
und Gewalt. »Es hat das alte System zer- auch wenn die Mitgliedschaft wegen seiner
stört, ohne es durch ein neues zu erset- Attacken gegen EU-Kommissionschef
zen«, sagt sie. Etliche Bürgermeister wei- 2016 2017 2018 2019** Jean-Claude Juncker gerade ruht.

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Ausland

Flugzeug, um in Erfahrung zu brin-


gen, wo sich die Flüchtlinge befin-
den. Das Rettungsschiff »Spica«
bleibt im Hafen liegen.
Neben dem Schiff steht Ismael
Furió und schimpft. Der Kapitän
ist Mitglied der linken Gewerk-
schaft CGT und dort zuständig
für die Seenotretter. Auch er
selbst würde zwar gern helfen,
aber er darf nicht. »Das ist die
neue Strategie«, sagt er. »Zögern
und darauf warten, dass die ma-
rokkanische Küstenwache das
Boot findet und zurückbringt.«
Die Entscheidungen in der neu
eingerichteten Kommandozentra-
le trifft inzwischen Félix Blázquez,
ein General der spanischen Mili-
tärpolizei Guardia Civil. Auch an
Bord einiger Schiffe wurden Mili-

BALAZS SZECSODI / AFP


tärpolizisten stationiert. Viele See-
notretter sehen das kritisch, sie
betrachten die Flüchtlinge als
Schiffbrüchige und nicht als Ein-
wanderer – und sich selbst schon
Migrationsgegner Salvini, Orbán an ungarischem Grenzzaun: Die Festung Europa hat viele Architekten gar nicht als Grenzschützer.
Die Maßnahmen zeigen, wie
sehr selbst Spanien inzwischen auf
Die Abschottungspolitik von Orbán Nordafrika und Europa überwachen kann. Abschottung bedacht ist. Im Dezember hol-
und Salvini hat die Migration spürbar ein- Die sozialistische Regierung von Pedro te die rechtsextreme Partei Vox bei der Re-
geschränkt, aber nicht gänzlich versiegen Sánchez ließ private Rettungsschiffe wie- gionalwahl in Andalusien aus dem Stand
lassen. Möglicherweise verstetigt sie sie derholt in die Häfen einlaufen. Als Salvini beinahe elf Prozent der Stimmen, ähnlich
sogar. Um die Grenzen zu sichern, unter- mit der »Aquarius« erstmals ein Schiff mit viel dann bei der nationalen Parlaments-
stützen die Europäer in Libyen oder im Migranten abwies, öffnete Sánchez den wahl im April.
Sudan indirekt Milizen, die selbst in den Hafen von Valencia. Seine Regierung bil- Seitdem stehen die Retter unter Dauer-
Menschenhandel involviert sind und zum dete zunächst einen Gegenpol zu Italien beschuss. Bisher starben in diesem Jahr
Zerfall des Staates beitragen. In Ägypten unter Salvini. 166 Menschen im Meer zwischen Spanien
stehen sie weiterhin zu einem brutalen Re- und Marokko. Gewerkschafter Furió fürch-
gime, welches das 98-Millionen-Einwoh- Doch selbst die Sozialisten tun sich tet, dass es im Sommer wesentlich mehr
ner-Land knebelt und damit laut Experten schwer, ihre liberale Flüchtlingspolitik auf- werden könnten. »Wenn die Marokkaner
dessen langfristige Stabilität gefährdet. Da- rechtzuerhalten. Solange sich die EU nicht nur jede vierte Rettung vermasseln, ertrin-
durch weichen viele Migranten auf neue, auf ein gemeinsames Asylsystem verstän- ken womöglich Tausende Menschen«,
meist noch gefährlichere Routen aus. digt, stehen die Länder am Mittelmeer rechnet er vor. Außerdem melde die ma-
Ganz im Süden Europas steht Manuel weitgehend allein da. rokkanische Küstenwache die Rettungen
Barroso in seiner Kommandozentrale. Un- Seit Jahresbeginn lautet die Devise auch nicht immer gewissenhaft.
ter ihm liegt der Hafen von Almería, einer in Spanien: gern retten, aber bitte nicht so Barrosos Vorgänger im Kontrollzen-
Küstenstadt in Andalusien, Spanien. Hin- viele. Laut der Zeitung »El País« soll die trum von Almería, Miguel Zea, befürch-
ter den Fenstern trifft blauer Himmel auf illegale Einwanderung über das Mittelmeer tete Ähnliches. Im Februar löste ihn der
blaues Meer. Barroso lässt seine Hände in diesem Jahr um die Hälfte reduziert wer- zuständige Minister ab. Zea hatte selbst
über die Karte auf dem Tisch in der Mitte den. Wie andere EU-Länder setzt auch Spa- darum gebeten. Er wolle unter diesen Be-
des Raumes gleiten, als ein Alarm den nien zunehmend darauf, dass Drittstaaten dingungen nicht weitermachen, habe Zea
Chef der Seenotrettung aus seinen Gedan- den schmutzigen Job der Migrationskon- laut Rettern gesagt. Sonst könne er mor-
ken reißt. 47 Menschen sollen im Meer trolle übernehmen. Spaniens König Felipe gens nicht mehr in den Spiegel schauen.
von Alborán unterwegs sein, in einem VI. und sein Innenminister reisten Mitte Europas Politiker behaupten, die Flücht-
Boot von Marokko nach Spanien. Barroso Februar nach Marokko, um die marokka- lingskrise sei ausgestanden. Helfer wie Bar-
wirbelt umher, gibt Anweisungen.  nische Küstenwache stärker für die Flücht- roso erleben jeden Tag, dass das so nicht
Seitdem die Wege über den Balkan und lingsabwehr einzuspannen. 148 Millionen stimmt. Die Krise hat sich verlagert an die
Italien nach Nordeuropa weitestgehend Euro hat die EU dafür versprochen, 30 Mil- Ränder des Kontinents – und darüber hi-
blockiert sind, hat sich Spanien zu einem lionen Euro bereits gezahlt. Das Resultat: naus. Solange es den EU-Staaten nicht ge-
der wichtigsten Ziele für Flüchtlinge ent- 30 000 Flüchtlinge hat Marokko nach eige- lingt, sich auf ein faires Asylsystem oder
wickelt. Insgesamt haben im vergangenen nen Angaben in diesem Jahr bereits abge- menschenwürdige Auffanglager außerhalb
Jahr fast 60 000 Menschen die Überfahrt fangen und zurückgebracht. der EU zu verständigen, kann sie jederzeit
von Marokko gewagt – so viele wie nie Im Hafen von Almería lassen sich die ins Zentrum zurückkehren.
zuvor. Auswirkungen des Kurswechsels schon be- Steffen Lüdke, Maximilian Popp, Jan Puhl,
Spanien bewies lange Zeit eindrucks- sichtigen. Als im Turm der Alarm eingeht, Raniah Salloum
voll, wie effektiv man das Gebiet zwischen schicken die Spanier lieber erst mal nur ein

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 79


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Ausland

und nur durch eine Reihe von Absperrgit-

Die Ohnmacht der tern getrennt von den jungen Protestieren-


den. Die Atmosphäre schwankt zwischen
Trotz und Zuversicht. »Nehmt das Gesetz

Straße zurück! Nehmt das Gesetz zurück!«, rufen


die Demonstranten minutenlang. Dann
singen sie, genauso innig: »Sing Hallelu-
jah! Sing Hallelujah to the Lord!«
Hongkong Der Widerstand gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz Die meisten von ihnen sind Studierende,
belebt eine Opposition, die ihren Mut verloren zu haben doch stärker als während der Regenschirm-
proteste sind diesmal auch viele andere
schien. Doch er birgt die Gefahr einer Konfrontation mit Peking. Milieus vertreten: Arbeiter, Angestellte,
Rentner, Kirchengruppen. Es ist ein breiter
Querschnitt der Hongkonger Bevölkerung,

A very Ng ist zu spät dran an diesem


Mittwochmorgen, er ist verschwitzt,
atemlos und heiser, als er das Zen-
trum der Stadt erreicht. Es war heute kein
erlauben würde, Verdächtige an weitere
Staaten zu überstellen, auch auf das chi-
nesische Festland. Der Widerstand dage-
gen hat die Opposition plötzlich mit Ener-
die seit Jahren erlebt, wie sich Bild und
Selbstbild ihrer Stadt verändern.
Erzielte Hongkong vor gut 20 Jahren
noch rund ein Fünftel der chinesischen
Durchkommen auf die Hauptinsel von gie erfüllt. Hunderttausende, vielleicht Wirtschaftsleistung, sind es heute etwa
Hongkong. Straßen, Tunnel, U-Bahn: alles eine Million Menschen gingen am Sonntag drei Prozent. Vergangenes Jahr überschritt
verstopft. Ng hätte es ahnen können, es
ist ein großer Tag für ihn.
Links und rechts grüßen Demonstran-
ten den großen, schlanken Mann, als er
auf die Fußgängerbrücke am Stadtpar-
lament einbiegt. Er hat kaum einen Blick
für sie, so schnell hetzt er. Als er über die
Brüstung schaut und das Meer von Men-
schen sieht, hält er kurz inne. »100 000,
vielleicht 150 000«, sagt er und nickt zu-
frieden. Dann hetzt er weiter.
Ng, 42, Parteichef der Hongkonger Liga
der Sozialdemokraten, hat ein großes
weißes Megafon umgehängt. Auf seinem
T-Shirt ist ein berühmter Satz von Nelson
Mandela abgedruckt: »Alles erscheint un-

ANTHONY KWAN / GETTY IMAGES


möglich, bis es vollbracht ist.«
Vor ein paar Wochen erschien es der poli-
tischen Opposition in der Tat unmöglich,
in Hongkong etwas Bedeutendes zu voll-
bringen. Seit dem Scheitern der chinakri-
tischen Regenschirmbewegung von 2014
hat eine tiefe Resignation die Stadt ergrif-
fen. Still, von der Welt kaum wahrgenom- Polizeieinsatz gegen Demonstranten: Schaden für Chinas Selbstbild
men, schritt die schleichende Übernahme
der früheren britischen Kronkolonie durch
die Volksrepublik China voran. Peking hat- auf die Straße, Zehntausende am Mitt- das Bruttoinlandsprodukt der Hightech-
te den Bewohnern 1997, bei der Rückgabe woch, um gegen die zweite Lesung des Ge- Metropole Shenzhen gleich jenseits der
durch die Briten, ein »hohes Maß an Auto- setzes im Parlament zu protestieren. Die Grenze zum ersten Mal die des jahrelan-
nomie« nach dem Motto »ein Land, zwei Zahlen überraschten selbst die Initiatoren. gen Vorbilds Hongkong.
Systeme« versprochen. Bis 2047 sollte Am Donnerstag zeichnete sich bereits ab, »Das war vielleicht zu erwarten«, sagt
Hongkong weitgehend nach eigenen Re- dass es am Sonntag erneut zu einer großen Hongkongs frühere Verwaltungschefin An-
geln funktionieren – aber die Kommunis- Kundgebung kommen könnte. son Chan, 79, die in den Neunzigerjahren
tische Partei (KP) hatte es offenbar eiliger. Ist der Organisator Ng besorgt, dass die die Übergabe der Stadt an China maßgeb-
Viele Chinakritiker in der Stadt sind in Dinge außer Kontrolle geraten, dass Radi- lich steuerte. »Aber was Hongkong aus-
den vergangenen Jahren vor Gericht ge- kale die Oberhand gewinnen? »Radikal ist macht, sind unser Rechtsstaat, unsere un-
stellt, eingesperrt oder auf andere Weise der falsche Ausdruck«, sagt Ng. »Radikal abhängige Justiz, unsere – im Vergleich zum
zum Schweigen gebracht worden. Der Stu- sind wir auch. Was wir nicht wollen, sind Festland – saubere Verwaltung.« Das sei es,
dentenführer Joshua Wong, Ikone der Re- Fanatiker. Die Radikalen haben einen wofür die Demonstranten auf die Straße
genschirmbewegung, sagte im Frühjahr Plan.« Dann entschuldigt er sich und macht gingen. Peking kennt keinen Rechtsstaat, in
zum SPIEGEL: »Es wird lange dauern, bis sich auf den Weg in den »war room«, wie China gehorchen die Richter der Partei.
wir wieder so viele Menschen auf die Stra- er es nennt, ein gemeinsames Büro der Or- Peking hält nichts von einer demokrati-
ße bringen wie 2014.« Er irrte sich. Inzwi- ganisatoren in einem der Wolkenkratzer schen Wahl des Stadtoberhaupts, welche
schen sitzt auch Wong wieder in Haft, zum nahe dem Parlament. die Regenschirmbewegung 2014 forderte.
dritten Mal bereits. Die Hundertschaft junger Polizisten, die Für die Führung in Peking ist Hongkong
Doch dann kam das geplante Ausliefe- mit Helmen und Schilden Stellung bezo- ein Stück China, das dem Mutterland poli-
rungsgesetz, das der Hongkonger Justiz gen hat, ist keine zwei Schritte entfernt tisch und rechtlich angeschlossen werden

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soll – aus wirtschaftlichen Gründen nicht Zedong einst sagte. Doch Macht tritt nach demokratischen System haben wir keine
zu überstürzt, jedoch unaufhaltsam. Die wie vor nur hart und kompromisslos auf, Macht mehr, das Gesetz aufzuhalten. Die
KP weiß, dass sie auf lange Sicht am län- nicht in der Form selbstbewusster Groß- Macht liegt jetzt hier, auf der Straße.«
geren Hebel sitzt. Anfang des Jahres zügigkeit, die sich die neue Supermacht in- Medien auf dem chinesischen Festland
beschloss die Regierung, elf Metropolen zwischen vielleicht leisten könnte. unterdrücken die Nachrichten aus Hong-
am Perlflussdelta zu einem einzigen So geübt Peking darin ist, diese Macht kong, Kommentare im Internet werden
großen Ballungsraum zusammenzufassen, in China selbst auszuüben, durch Repres- strikt zensiert. Der Sprecher des Außenmi-
»Greater Bay Area« genannt. Wenn der sion, Zensur und Polizeistaat – in Hong- nisteriums sagt nur, was er »schon so oft
Plan aufgeht, wird Hongkong nur eine chi- kong kann es das in dieser Form nicht tun. gesagt« habe: Peking unterstütze das Aus-
nesische Stadt unter anderen sein – als Teil Hier steht die KP nach fünf Jahren erneut lieferungsgesetz. Und: »Hongkongs Ange-
einer gigantischen Metropolregion. einem Gegner gegenüber, der über Mittel legenheiten sind ausschließlich innere An-
Dagegen sträuben sich viele Hongkon- verfügt, mit denen sie sich schwertut. Die gelegenheiten Chinas. Kein anderes Land,
ger. Doch nichts deutet darauf hin, dass Demonstranten wissen, welche öffentliche keine Organisation und kein Einzelner hat
die chinesische Führung Hongkong die ge- Wirkung ihr Protest weltweit erzeugt. Der das Recht, sich einzumischen.«
forderten demokratischen Freiheiten zu- Schaden, den die Bilder aus Hongkong Am Mittwochabend tritt Regierungs-
gestehen könnte. Das würde dem Macht- Chinas Selbstbild von einer erwachsenen, chefin Lam vor die Kameras und verteidigt
anspruch der Kommunisten und ihres auf verantwortungsvollen Weltmacht zufügen sich: »Wie könnte ich Hongkong ver-
Lebenszeit ernannten Anführers Xi Jin- können, ist erheblich. kaufen? Ich bin hier aufgewachsen.« Sie
ping widersprechen und einen Präzedenz- Angst haben die Demonstranten zwar werde das Gesetz nicht zurückziehen.
fall schaffen, den Peking schon aus innen- vor Peking, doch ihr Zorn gilt der von Kein Wort von der Angst vieler Hongkon-
ger vor der immer erdrückenderen Macht
Pekings.
Wie der Konflikt gelöst werden kann,
ist offen. Sollte die Hongkonger Regierung
einknicken und das Gesetz zurückziehen,
wäre ihr massiver Druck aus Peking sicher,
möglicherweise müsste die Regierungs-
chefin zurücktreten. Sollte sie das Gesetz
durchdrücken, dürften Wochen und Mo-
nate weiterer Demonstrationen und Aus-
schreitungen folgen.
Als der Präsident des – nur zur Hälfte
demokratisch gewählten – Parlaments am
Mittwoch realisiert, welches Ausmaß die
Demonstration angenommen hat, ent-
scheidet er sich für einen kalkulierten
Rückzug: Er vertagt die Beratung über das
Gesetz. Das ist für die Demonstranten ein
Erfolg, doch damit sind sie jetzt nicht mehr
PHILIP FONG / AFP

umzustimmen. Sie verlangen, dass der Ge-


setzentwurf ganz zurückgezogen wird.
Der Mittwoch endet nicht friedlich,
und das könnte ein schlechtes Vorzeichen
Protestierender auf Harcourt Road: »Nehmt das Gesetz zurück!«
für die nächsten Tage sein. Es beginnt am
Abend mit einem metallischen Zischen:
Am Eingang zum Parlament reißen De-
politischen Erwägungen nicht dulden wür- einem chinafreundlichen Wahlgremium monstranten Metallsperren um. Wasser-
de. Anfang Oktober wird die Partei den ernannten Regierungschefin Carrie Lam, werfer fahren vor, Tränengaswolken stei-
70. Jahrestag der Gründung der Volksre- 62. Sie sagt, das geplante Gesetz sei nötig, gen auf. Eine Demonstration, die wie ein
publik begehen – eine patriotische Macht- um zu verhindern, dass die Stadt zur Zu- Kirchentag begonnen hat, endet mit
demonstration, die sich aus Pekings Sicht fluchtstätte für Kriminelle werde – so wie Angst, Schrecken und 79 Verletzten.
schwerlich mit Zugeständnissen gegenüber zuletzt für einen Mann, der im Verdacht Avery Ng, der den Tag unter den De-
einer demokratisch gesinnten Bürgerbe- steht, in Taiwan seine Freundin ermordet monstranten verbracht hat, ist wütend.
wegung vereinbaren lässt. zu haben. Der Einsatz von Tränengas und Gummi-
Auch außenpolitisch spricht alles dafür, Die Gegner vermuten, dass es Peking geschossen sei völlig übertrieben gewesen.
dass China hart bleiben wird. Peking ist um etwas anderes geht: kritische Mei- Wenn Lam von einem »Aufstand« spreche,
derzeit vor allem auf ein Problem konzen- nungsäußerungen gegen die Parteiführung sei das eine Lüge. Doch Ngs Plan, die Kon-
triert – sein geopolitisches und wirtschaft- eines Tages auch in Hongkong verfolgen trolle zu bewahren, ist gescheitert.
liches Ringen mit Washington, den Han- zu können. »Es gibt in Wahrheit keinen Bernhard Zand
delskrieg gegen die USA. Ende Juni wird Grund für dieses Gesetz«, sagt der Oppo- Twitter: @bzand
sich Staatschef Xi auf dem G-20-Gipfel in sitionsabgeordnete Dennis Kwok, 41, als
Japan wohl mit Donald Trump treffen, vom er nach einer kurzen Ansprache vor den
Ergebnis hängt für Xi sehr viel ab. Es ist Demonstranten von der Bühne steigt und Video
schwer vorstellbar, dass er sich in dieser sich den Schweiß von der Stirn wischt. Der Frust der Protestler
Lage den Schatten einer Blöße geben wür- »Fälle wie der in Taiwan lassen sich auch spiegel.de/sp252019hongkong
de. Macht kommt im modernen China im Rahmen des bestehenden Rechts lösen. oder in der App DER SPIEGEL
nicht mehr aus den Gewehrläufen, wie Mao Aber in diesem Parlament, in diesem halb

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 81


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Tanker »Front Altair«


Der Ölpreis stieg sofort an

bare Eskalation der Spannung


durch Iran« bezeichnete er die
Angriffe. Der Ölpreis stieg so-
fort an: Mit der Hormus-Straße
ist einer der wichtigsten Trans-
portwege für Erdöl bedroht.
Es ist nicht das erste derartige
Ereignis. Bereits im Mai waren
im Golf von Oman vier Han-
delsschiffe attackiert worden –
die US-Regierung machte auch
damals Irans Revolutionswäch-
ter (IRGC) verantwortlich. Te-
heran bestreitet jegliche Urhe-
berschaft.
Nach den Angriffen im Mai
HANDOUT / REUTERS

kamen Norwegen, die Verei-


nigten Arabischen Emirate und
Saudi-Arabien zu dem Ergeb-
nis, dass die Angriffe so ausge-
klügelt gewesen seien, dass ein
»staatlicher Akteur« dahinter-
stecken müsse, ohne Namen zu

Mysteriöse Explosionen
nennen. Ihrem Bericht zufolge seien bei der
Attacke im Mai Schnellboote in emiratische
Hoheitsgewässer eingedrungen, mit Tau-
chern an Bord, die Haftminen an den Tan-
USA-Iran-Konflikt Angriffe auf Schiffe nahe der Straße von Hormus, einer kern angebracht hätten – groß genug, um
Schaden anzurichten, aber zu klein für grö-
der wichtigsten Handelsrouten, erhöhen die Kriegsgefahr in der Region. ßere Explosionen. Auch diesmal gibt es un-
bestätigte Berichte über Minen.
Zu derart raffinierten Attacken wären

E
igentlich wollte Japans Premiermi-
nister Shinzo Abe bei einem Besuch
Mitte der Woche in Teheran Frieden
stiften: Er überbrachte Irans Revolutions-
Notruf ab, um 7 Uhr folgte der Tanker
»Kokuka Courageous« der Hamburger
Reederei Bernhard Schulte Shipmanage-
ment. Auf beiden Schiffen hatten Angriffe
die IRGC in der Lage. Sie sind teils besser
ausgerüstet als die regulären iranischen
Streitkräfte und verfügen etwa über mehr
kleine Schnellboote als die Marine. Bereits
führer Ali Khamenei eine Botschaft von von außen Detonationen ausgelöst – und während des irakisch-iranischen Kriegs in
US-Präsident Donald Trump. Khameneis sie waren nur ungefähr 50 Kilometer von- den Achtzigerjahren attackierten die IRGC
Antwort an Abe aber war eindeutig: einander entfernt im Golf von Oman, in irakische Tanker. Von den USA wurden sie
»Trump ist es nicht wert, dass ihm Nach- internationalen Gewässern zwischen den im April zur »Terrororganisation« erklärt.
richten überbracht werden, und ich habe Vereinigten Arabischen Emiraten und Iran. Immer wieder klagen die Crews amerika-
keine Antwort für ihn.« Laut Abe hatte Wer hinter der zweiten mysteriösen At- nischer Kriegsschiffe im Persischen Golf
Trump ihm auf den Weg mitgegeben, dass tacke nahe der Hormus-Straße binnen we- über Schikanen durch die Boote der IRGC.
er keine weitere Eskalation im Konflikt niger Wochen steckt, ist unklar. US-Außen- Iran möchte die Militärpräsenz der Ame-
mit Iran wünsche. minister Mike Pompeo machte noch am rikaner unmittelbar vor seinen Küsten zu-
Doch während Japans Premier selben Tag Teheran dafür verant- rückdrängen. Die USA halten sie aber für
nach Teheran reiste, ereigneten sich wortlich: Als eine »nicht hinnehm- notwendig, um ihre Interessen in der Regi-
gleich zwei Attacken, die das Poten- on abzusichern – wie etwa offene Handels-
zial dazu haben, die Krise am Per- wege über die Hormus-Straße.
sischen Golf zu verschärfen: Erst 50 km Der Konflikt zwischen den USA und
feuerten Jemens Huthi-Rebellen, IRAN Iran hat eine neue gefährliche Phase er-
die mit Iran verbündet sind, am reicht. Vor einem Jahr hatte US-Präsident
Mittwoch eine Rakete auf einen Flughafen 13. Juni Donald Trump mit seiner einseitigen Auf-
von Hor
in Saudi-Arabien ab und verletzten dabei ße kündigung des internationalen Atom-
ra Explosionen
St
m

26 Menschen. Das Ereignis kann als Stell- auf zwei abkommens eine Kehrwende eingeläutet
us

vertreterattacke interpretiert werden: Sau- OMAN Tankern und mit neuen Sanktionen »maximalen
di-Arabien ist ein zentraler Verbündeter Persischer Golf Druck« auf Iran aufgebaut. »Iran wird mit
von US-Präsident Donald Trump. Golf von O m an maximalem Widerstand antworten«, sagt
Und dann wurden am Donnerstag zwei Dubai Fudschaira Hossein Mousavian, Ex-Botschafter Irans
Tanker nahe der Straße von Hormus an- in Berlin, der inzwischen an der amerika-
gegriffen, einer der wichtigsten Handels- V. A . E . 12. Mai nischen Princeton University forscht.
Abu
routen der Welt: Um 6.12 Uhr Ortszeit Dhabi Angriffe auf vier Iran könnte das Staatsgebiet der USA
Handelsschiffe
setzte der Tanker »Front Altair« einen zwar kaum direkt angreifen, doch es ist

82 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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durchaus in der Lage, die amerikanischen


Interessen in der Region empfindlich zu SPIEGEL-Gespräch live –
treffen. Möglicherweise demonstriert es
dies gerade nahe der Straße von Hormus.
In den vergangenen Jahren hat Iran sei-
nen Einfluss in der Region stetig ausgewei-
50 Jahre
tet, indem es Milizen unterstützte und sie
mit Raketen aufrüstete. Auch deshalb kön-
nen die Huthi-Milizen im Jemen inzwi-
Christopher Street Day
schen Ziele in Saudi-Arabien angreifen.
Währenddessen hat sich Israels Lage ver-
schlechtert: Es wird nun nicht nur aus dem
Gazastreifen heraus mit Raketen beschos-
sen, sondern auch aus Syrien, von dem
jahrzehntelang keine Gefahr ausging. Im

Markus Tiarks

Katja Ruge

Kristina Kast
Libanon drohte jüngst Hassan Nasrallah,
Chef der mit Teheran verbündeten Hisbol-
lah-Miliz: »Ein Krieg gegen Iran bedeutet,
dass die ganze Region in Flammen aufge-
hen wird. Und alle amerikanischen Kräfte
und Interessen in der Region vernichtet
werden.« Die sich gegen Iran verschworen
hätten, würden dafür bezahlen – »allen
voran Israel und die al Sauds«.
Im Irak und in Syrien, wo amerikani-
sche Soldaten stationiert sind, könnte Te-
heran über verbündete Milizen angreifen.
Rosa von Praunheim Sookee Tarik Tesfu
Im Mai schlug eine »Katjuscha«-Rakete in
Bagdads grüner Zone nahe der US-Bot-
schaft ein. Trump hatte zuvor schon alles
»nicht essenzielle« diplomatische Personal
aus dem Irak evakuieren lassen.
Solche Attacken erhöhen für Trump
den Preis dafür, am »maximalen Druck« Am 28. Juni jähren sich die New Yorker Stonewall-Unruhen
festzuhalten. Mit dieser Politik hat er sich
nun in eine Sackgasse manövriert: Ver- zum 50. Mal – die Geburtsstunde des Christopher Street Day.
handlungen sind vorerst kein Ausweg, die Was hat sich seit 1969 verändert, was kam in Bewegung?
USA haben sich nach Trumps Rückzug Wie würden unsere Gäste die Folgen dieser Revolte einstufen –
von einem internationalen Abkommen als
vertrauenswürdiger Partner diskreditiert. für ihr Lebensgefühl, ihren Werdegang, im Miteinander?
Gleichzeitig kann Trump nicht mit weite- Und welche Fragen stellen sich heute der Community, der
ren Maßnahmen drohen. Denn wenn der Gesellschaft, der Politik?
»maximale Druck« ausgeschöpft ist, bleibt
nur noch der Krieg. Darüber diskutieren unsere Gäste: der Regisseur Rosa von
Die iranische Führung scheint zu glau-
ben, dass der US-Präsident dazu nicht be-
Praunheim, die Rapperin Sookee und der Moderator Tarik Tesfu.
reit ist. Trotz seiner wiederholten wüsten Moderation: Hannah Pilarczyk, SPIEGEL -Redakteurin
Drohungen und der ideologischen Hard-
liner in seinem Team deutet vieles darauf
hin, dass das stimmt: Auch in Syrien, wo
Trump Baschar al-Assad für Chemiewaf-
fenangriffe mit Konsequenzen drohte, be-
ließ er es bei symbolischen Attacken. Ähn-
lich verhielt sich der US-Präsident bei Dienstag, 18. Juni, 20 Uhr, Spiegelsaal
Nordkorea, indem er erst mit Auslöschung Clärchens Ballhaus – Spiegelsaal, Auguststraße 24, 10117 Berlin
drohte und nun Kim Jong Un weitgehend
walten lässt. Vielleicht will Teheran auch Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.spiegel-live.de
nur testen, wie weit man gehen kann – Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, Abonnenten 12 Euro zzgl. Gebühren.
wenn es denn hinter den Attacken steckt. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
Doch die Gefahr ist groß, dass es irgend- Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für unseren Newsletter
wann zu viel wird, dass ein kleiner Unfall unter spiegel-live.de an.
große Konsequenzen haben kann – wenn
es bei einem Raketenangriff auf Saudi-Ara-
bien doch zu Toten kommt oder irgend-
wann ein Schiff sinkt.
Raniah Salloum

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Ausland

Rebellion der Nonnen


Katholische Kirche Ein indischer Bischof soll eine Ordensfrau missbraucht haben, nun droht ihm
lebenslange Haft. Der Vatikan ignorierte den Fall lange. An die Öffentlichkeit
kam er nur, weil fünf Schwestern einen einzigartigen Protest anzettelten. Von Maria Stöhr

D
ie Nonne, die den Bischof heraus- Neu-Delhi: »Eure Exzellenz, ich schreibe Sie gibt der Polizei zu Protokoll, er
fordert, schwebt fast in den Ihnen, damit Sie etwas gegen den Wolf Bi- habe sie 13-mal vergewaltigt, zwischen
Raum im Kloster von Kuravilan- schof Franco tun. Ich könnte jederzeit um- 2014 und 2016. Jedes Mal habe er vorher
gad im Südwesten Indiens, 50 Ki- gebracht werden. Ich lebe in Angst.« Sie angerufen. Dass sie das Gästezimmer rich-
lometer von Kochi entfernt. Sie steuert erhält keine Antwort. ten solle. Dass er komme. Dass sie da sein
den leeren Platz auf dem Sofa an, ihre Or- Mai 2018, Schreiben an den Erzbischof solle. 13-mal habe er sie nachts zu sich
densschwestern sitzen schon da. Ihr Haar Luis Ladaria, Kopie an Papst Franziskus, gezwungen. Sie sei in sein Zimmer gegan-
verbirgt sie unter dem braunen Schleier 00120 Vatikanstadt, per Einschreiben: gen und die ganze Nacht nicht heraus-
ihrer Tracht, über dem Gewand eine blaue »Eure Eminenz, ich bitte Sie inständig, mich gekommen.
Ärmelschürze. zu retten und in dieser Sache einzugreifen. So geht die eine Version dieser Ge-
Sie darf nicht öffentlich reden über das, Ich habe Angst, dass Bischof Franco mir et- schichte, die Version des mutmaßlichen
was mit ihr geschehen ist, weil das Straf- was antut.« Sie erhält keine Antwort. Opfers. Einer Nonne von 44 Jahren, seit
verfahren noch läuft. Sie lässt ihre fünf Juni 2018, Schreiben an Kardinal Pietro 1994 im Orden der Missionaries of Jesus,
Schwestern für sich sprechen, sitzt da und Parolin, Staatssekretariat, 00120 Vatikan- vor 20 Jahren legte sie ihr Gelübde ab.
hört ihre eigene Geschichte. Manchmal stadt: »Eure Eminenz, ich habe auf Gerech- Auch ihr Name darf wegen des laufenden
nickt sie, manchmal weint sie. Nur einmal tigkeit durch die katholische Kirche gewar- Verfahrens nicht genannt werden. Alle
spricht sie dazwischen, mit dünner Stim- tet. Aber nun bleibt mir nichts anderes üb- Details, die Schlüsse auf ihre Identität zu-
me. Sie sagt, dass ihr Rücken und ihr Kopf rig, als rechtliche Schritte einzuleiten.« lassen, sind in diesem Text getilgt.
irgendwann so schmerzten, dass sie nicht Sechs Tage später zeigt die Nonne im Die Version des mutmaßlichen Täters ist,
mehr schlafen konnte. »Ich war ein Zom- indischen Bundesstaat Kerala einen der dass er unschuldig sei. Franco Mulakkal,
bie«, sagt sie. Sie habe nicht gewollt, dass mächtigsten Geistlichen ihres Landes an: 55 Jahre alt, Bischof und Patron einer Diö-
diese Sache in die Öffentlichkeit komme. Franco Mulakkal, Bischof von Jalandhar. zese im Norden Indiens. Er hat einen Jesus
Sie habe Gerechtigkeit innerhalb mit Dornenkrone als Profilbild bei
der Kirche gesucht. WhatsApp eingestellt. Er spricht am
Aber die bekam sie nicht. Es wa- Telefon mit ruhiger Stimme. »Die
ren ihre Mitkämpferinnen, die auf Vorwürfe sind falsch, erfunden und
den Fall aufmerksam machten, bis böse«, sagt er. Es werde auf diese
daraus ein Protest von Nonnen, Weise Politik betrieben, solche
schließlich ein Verfahren wurde. Vergewaltigungsvorwürfe seien in
Ein Fall, der jetzt die ganze katho- Indien zur Mode geworden. Er sei
lische Kirche in Bedrängnis bringt: Opfer einer Vendetta.
ein Bischof, der eine Nonne verge- Franco Mulakkal droht eine le-
waltigt haben soll. benslange Freiheitsstrafe. Er muss
Die fünf Frauen, die die Nonne demnächst vor Gericht erscheinen.
an diesem Tag im Kloster umringen, Die Anklage gegen ihn, in diesem
haben einen einzigartigen Aufstand April ans Gericht übergeben, um-
angezettelt: gegen ihre Vorgesetz- fasst 2000 Seiten, 83 Zeugen wur-
ten, für ihre Ordensschwester. Sie den gehört, darunter 25 Nonnen
brachten Hunderte Demonstranten und 11 katholische Priester. Alle
auf die Straße, sie kämpften ihre Aussagen wurden per Video
für das Recht, gehört zu werden, aufgezeichnet, die Gefahr ist groß,
PRAKASH ELAMAKKARA / PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO

und sie hatten Erfolg. Sie erzeugten dass sie im Nachhinein erpresst wer-
Aufmerksamkeit für einen Miss- den, dass jemand Einfluss auf sie
brauchsfall in einem Teil der Welt, nehmen könnte. Manche dieser Vi-
in dem die Macht der Kirchenväter deos sind mehr als eine Stunde lang.
bis dahin ungebrochen war. Der bevorstehende Prozess wäre
Was das mutmaßliche Opfer zu einzigartig für Indien. In einem
sagen hat, kann man nachlesen in Land, in dem alle 20 Minuten eine
den Briefen, die die Nonne an hohe Frau vergewaltigt wird, bringt eine
Kirchenvertreter und den Papst Nonne einen Bischof wegen Miss-
schrieb, als sie dachte, sie könnte auf brauch vor Gericht. Er hat aber
diesem Weg Gerechtigkeit erhalten. auch große Bedeutung für die ka-
Januar 2018, Schreiben an den tholische Kirche. Die Gläubigen for-
Botschafter des Heiligen Stuhls, Geistlicher Mulakkal nach seiner Festnahme 2018 dern Antworten auf die vielen Miss-
Giambattista Diquattro, 110021 »Falsch, erfunden und böse« brauchsfälle und die Vertuschung in-

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SAMYUKTA LAKSHMI / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF


Aufständische Klosterfrauen in Kuravilangad*: »Sie kämpfte ganz allein, sie brauchte ihre Schwestern«

nerhalb der Kirche. In Deutschland und auch ihr Nachname muss hier verschwie- Versuch unternommen habe, die Nonne
den USA wurden Tausende Kinder von gen werden, sie ist 46 Jahre alt und Witwe. zu vergewaltigen. In der Nacht darauf, so
Geistlichen missbraucht, im Februar hielt Sie bedeutet ihrem 13-jährigen Sohn, berichtet es die Schwester, habe der Bi-
der Vatikan dazu einen Gipfel ab. aus dem Raum zu gehen. Erst dann be- schof sein Vorhaben in die Tat umgesetzt.
Konservative Bischöfe und Geistliche ginnt sie zu erzählen. Sie greift den Bilder- Er habe sie unter einem Vorwand in sein
halten die Missbrauchsfälle an Kindern rahmen, der lange auf ihrem Schoß gele- Zimmer gerufen und vergewaltigt.
vor allem für eine Folge der von ihnen ver- gen hat. 6. 5. 2014 steht über dem Bild. Es gibt Bilder der Erstkommunionfeier,
urteilten Homosexualität. Doch die vielen Darunter ist ihr Sohn Joseph zu sehen in auf denen sie alle zu sehen sind: Darly, der
dokumentierten Übergriffe auf Nonnen einem weißen Anzug. Es ist das Erinne- Sohn, die Nonne, der Bischof. Die Polizei
zeigen, dass der Missbrauch in der Kirche rungsfoto an seine Erstkommunion. hat die Bilder mitgenommen.
sehr viel weiter reicht. »An diesem Tag geschah es das erste In einem Schaukasten an Darlys Wohn-
Im Februar räumte Franziskus als erster Mal«, sagt Darly. Als Mutter habe sie sich zimmerwand stehen Ikonen, Kreuze, ein
Papst den Missbrauch von Nonnen durch gewünscht, dass ein besonderer Mann die Bildnis von Jesus mit strahlendem Herzen.
katholische Geistliche ein. »Es stimmt«, erste Kommunion ihres Sohnes durchführe. Sie ist gläubige Katholikin, aber sie fragt
sagte er den Pressevertretern auf einem Ein bekannter Geistlicher mit gutem Ruf, sich jetzt immer wieder: Wie kann ein
Rückflug von Abu Dhabi nach Rom. »Ich einer wie Bischof Franco Mulakkal. Einen Mann der Kirche, ein Christ, so etwas tun?
weiß, dass Priester und Bischöfe das getan Monat vor dem Fest habe der Bischof zu- In jener Nacht im Mai 2014, sagt Darly,
haben. Ich glaube, es wird immer noch gesagt. Eine große Ehre, die Familie war habe für ihre Schwester eine Tortur begon-
getan.« In einem Fall sprach er gar von stolz. Der Bischof sollte im Gästezimmer nen. Bischof Mulakkal habe sich jedes Mal
»sexueller Sklaverei«. des nahen Ordenshauses übernachten. vorher angekündigt, sei von seinem Bi-
Dort, wo auch ihre Schwester lebt. schofssitz im Punjab zum Missionshaus in
Die Schwester des mutmaßlichen Op- Die Tränen, die ihrer Schwester wäh- Kerala angereist, fast 2500 Kilometer, drei
fers sitzt an einem Tag im April in ihrem rend der Feier übers Gesicht liefen, habe Stunden mit dem Flugzeug und zwei Stun-
Wohnzimmer nahe der Großstadt Kochi. sie für Tränen der Rührung gehalten, sagt den mit dem Auto.
Ein Deckenventilator kämpft gegen die Darly. Sie habe nicht ahnen können, dass Sie könne nicht darüber sprechen, was
Hitze an, die Luftfeuchtigkeit beträgt mehr der Bischof in der Nacht zuvor den ersten Mulakkal ihrer Schwester alles angetan
als 70 Prozent. Sie trägt eine pinkfarbene habe, sagt Darly, es widerstrebe ihrer
Kurta, die Haare sind zu einem Zopf ge- * Schwestern Alphy, Neena Rose, Ancitta, Josephine, Natur. »Ich fühlte mich wie ein lebloser
bunden. Sie heißt mit Vornamen Darly, Anupama. Körper, als wäre nichts von mir übrig«,

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 85


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Ausland

schreibt die Nonne in einem ihrer Briefe. Die Nonne denkt darüber nach, ihr nung. Hier treten keine Menschen aus der
»Ich hatte keine Stimme.« Leben im Kloster aufzugeben. Sie habe Kirche aus, hier gibt es keinen Priester-
Im September 2016 habe sie es schließ- gehofft, sagt ihre Schwester, dass sich der mangel und auch keinen Mangel an Or-
lich gewagt, sich dem Bischof körperlich Boden auftue und sie verschwinde. densschwestern.
zu widersetzen, sagt Darly. Er habe ver- Pater Paul Thelekat, der Herausgeber
sucht, ihre Schwester zu zwingen, er habe Wenn in Kerala um 5.30 Uhr der Dunst der Kirchenzeitung »Light of Truth«, kri-
gesagt, sie sei seine Frau. Doch sie habe über den Feldern liegt, türmen sich vor tisiert die Kultur der Angst in der Kirche:
es geschafft zu entkommen. Mit diesem den Kirchen schon die Sandalen, knien »Keiner in der Kirche bezieht offen Stel-
Tag habe der körperliche Missbrauch ge- drinnen dicht an dicht die Gläubigen. In lung. Keiner sagt was«, sagt er. »Nicht mal
endet, dafür habe der Bischof begonnen, Indien sind Christen eine Minderheit von andere Ordensschwestern sagen was.« Ob-
der Nonne aus der Ferne zu schaden. gut zwei Prozent. 80 Prozent der Inder wohl ein Bischof des Missbrauchs beschul-
Er habe die Nonne von allen Aufgaben sind Hindus, 13 Prozent Muslime. Aber in digt werde. Auf seinem Schreibtisch im
im Ordenshaus entbunden, ohne Begrün- Kerala, auch »God’s Own Country« ge- Verlagsbüro steht ein Glas mit ein paar
dung. Ein Priester, bei dem sie Hilfe suchte, nannt, wo einst die portugiesischen Kolo- Goldfischen, zu dem er immer mal verle-
habe ihr gesagt: »Erzähle niemandem nisten Missionen errichteten, ist fast jeder gen hinschaut. Er weiß, dass das, was er
davon. Wir regeln das intern.« Eine Vor- Fünfte Christ. Flurkapellen am Straßen- sagt, seinem Arbeitgeber nicht gefällt.
gesetzte habe ihr geraten: »Schweige, wir rand, Heiligenbilder in Apotheken und Bä- »Der Bischof hat die Macht und das
beten für dich.« Kolleginnen hätten begon- ckereien. Die Kirche unterhält Schulen Geld«, sagt Thelekat. Ausschließen könne
nen, schlecht über sie zu reden. Ein Ange- und Krankenhäuser, und sie unterstützt man nicht, dass die Kirche versuche, die
bot von Kirchenleuten habe die Familie auch die Politik mit Spenden. Politik und die Richter in dem Fall zu be-
erreicht: gut 600 000 Euro und vier Hek- Gegenden wie Kerala sind für die ka- stechen. Die Gesellschaft in Indien sei hie-
tar Land, im Tausch für ihr Schweigen. tholische Kirche eigentlich Orte der Hoff- rarchisch und männlich dominiert, genau
wie die Kirche. »Das ist nicht normal. Wir
müssen das beenden«, so Thelekat. Frauen
brauchten bessere, höhere Posten in der
Kirche. »Indien ist das Land von Mutter
Teresa. Das Land so vieler Nonnen, die
Revolutionärinnen waren. Frauen berei-
chern die Gesellschaft. Sie sind fähig. Nicht
nur die Männer.« Aber im Vergleich zu
früher würden sich viel weniger junge
Frauen für ein Leben als Ordensschwester
entscheiden, »auch wegen dieser Sache«.
Der Ort, an dem die Rebellion begann,
liegt zwischen Bananenplantagen und Ko-
kospalmen versteckt, eine kleine Straße
aus aufgeplatztem Teer führt zum Konvent
der sechs Nonnen von Kuravilangad. Ein
bescheidenes Missionshaus mit einer an-
gegliederten Kapelle.
Schwester Anupama führt vorbei an den
drei Polizisten, die am Eck im Schatten ste-
hen, in gelber Uniform, Schusswaffe am
Gürtel. Seit bald einem Jahr stehen die
Klosterschwestern unter Polizeischutz.
In einem Raum mit türkis gestrichenen
Wänden sitzen mit geradem Rücken
Schwester Alphy, Schwester Josephine,
Schwester Neena Rose und Schwester An-
citta. Schwester Anupama setzt sich. Fünf
Nonnen in brauner Tracht und braunem
Schleier, um den Hals ein Kreuz, die sich
alle nur mit Vornamen vorstellen. Nach ih-
rer Meuterei im vergangenen September
liefen ihre Fotos über die Nachrichtenticker,
ihre Gesichter sind jetzt auf YouTube.
»Sie nennen uns Teufelsanbeterinnen«,
sagt Schwester Anupama. Sie, das seien
SAMYUKTA LAKSHMI / DER SPIEGEL

andere Kirchenleute. Anupama ist die


Jüngste, Anfang dreißig, das genaue Alter
will sie nicht sagen. Sie hat die meisten
Interviews gegeben. Sie spricht leise, tas-
tend, aber sie benutzt die Worte einer Ak-
tivistin: Verschwörung. Bedrohung. Leid.
Mut. Tod. Kampf. Kraft. Gott. Sie sagt:
»Der Kampf der Straße soll nicht verge-
Kirchenblatt-Herausgeber Thelekat: »Der Bischof hat die Macht und das Geld« bens sein.«

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Im Frühjahr vergangenen Jahres, da hat-


te die Nonne schon mehr als ein Jahr lang
allein gegen den Bischof gekämpft, ver-
traute sich das mutmaßliche Opfer fünf
Nonnen an, mit denen sie seit Langem eng
vertraut war. Die Schwestern lebten da-
mals über ganz Indien verteilt, und sie ver-
ließen, ohne Erlaubnis ihrer Vorgesetzten,
ihre Dienstgemeinden und zogen zu ihr
ins Missionshaus nach Kuravilangad.
»Sie kämpfte ganz allein«, sagt Anupa-
ma. »Sie brauchte ihre Schwestern.« Nicht

ALESSANDRA BENEDETTI / GETTY IMAGES


einmal der Papst habe ihr geantwortet.
»Papst Franziskus«, sagt Anupama, »ist
ein guter Mann. Er sagt so viel. Aber wa-
rum tut er nichts?«
Die Vorgesetzten hätten mehrmals ver-
sucht, die Nonnen wieder zu trennen und
in ihre Gemeinden zurückzuführen. Sie
kürzten ihnen das Taschengeld und das
Geld für Medikamente. Eines Tages erstat-
tete Bischof Mulakkal Anzeige: Die Non- Papst Franziskus: »Er ist ein guter Mann – er sagt so viel, aber warum tut er nichts?«
nen würden ein Komplott gegen ihn pla-
nen. Doch die Frauen bleiben.
Die Nonnen sind dabei, als ihre Freundin siere sie und »fügt all jenen Schmerz zu, Ob er wisse, dass die Nonne bedroht
nicht mehr schläft und schlecht träumt, als die die Kirche lieben«. worden sein soll, unter Druck gesetzt von
die Rückenschmerzen zunehmen. Sie sind Am 14. Tag des Protests nimmt die Poli- der Kirche? »Bedrohungen?«, fragt er und
dabei, als sie schließlich zur Polizei geht. zei Franco Mulakkal fest. Er kommt in sagt, es sei andersherum. »Ich denke, diese
Danach warten sie 73 Tage. Untersuchungshaft. Die Nonnen rollen ihr Nonnen bedrohen die Kirche.«
Plakat ein. Mitte Oktober 2018 öffnen sich die Tore
Als Mulakkal weiterhin im Amt bleibt Wenn man die katholische Kirche in Ke- der Haftanstalt. Franco Mulakkal, frei auf
und die Polizei, wie sie finden, die Ermitt- rala mit dem Fall konfrontiert, erhält man Kaution, tritt auf die Straße, mit weißem
lungen verschleppt, rollen sie an einem Fragen zur Antwort: Warum hat keine Or- Gewand und blitzendem Lachen. Im Ge-
Samstag im September 2018 ein Plakat densschwester in den gut zwei Jahren et- fängnis haben ihn Bischöfe und Politiker
vor dem Gerichtsgebäude in Kochi aus, da- was von dem Missbrauch mitbekommen? besucht, nun wird er von Gläubigen emp-
rauf die Pietà von Michelangelo. Statt ei- Warum ist die Nonne nicht schwanger ge- fangen mit Jubel und Gebeten. Vor seinem
nes toten Jesus hält Maria eine tote Nonne. worden? Warum meldet sie sich erst jetzt? Bischofssitz in Jalandhar drängen sich die
Schweigend und sitzend protestieren sie Das ist der Zweifel, den Pater Varghese Menschen, sie werfen Blütenblätter in die
gegen das Schweigen der Kirche. Vallikkatt äußert, Sprecher der Bischofs- Luft, Männer haben Rosen und Gladiolen
Am nächsten Tag kommen sie wieder. konferenz in Kerala, so etwas wie das in den Händen, Frauen halten Plakate mit
Und am übernächsten. Es kommen Katho- Sprachrohr der katholischen Kirche dort. dem Gesicht des Bischofs. Mulakkal ist für
liken, Hindus, Muslime dazu, Politiker, Die Nonne, sagt er, sei zur Zeit des angeb- sie ein Märtyrer.
Frauenrechtlerinnen, Hunderte aus ganz lichen Missbrauchs Oberin in dem Mis- Die Anklageschrift liegt jetzt bei einem
Indien irgendwann. Einige treten in den sionshaus gewesen. Es sei ihre Aufgabe ge- Gericht in Kerala. Bald soll der Prozess
Hungerstreik. Sie rufen »Gerechtigkeit!«, wesen, die Schwestern vor sexuellen Über- beginnen.
und »Bischof Franco absetzen!«. griffen zu schützen. »Und nun behauptet »Mein Glaube an Priester ist erschüttert«,
Drei weitere Frauen berichten von an- sie, sie selbst sei misshandelt worden. Jetzt sagt Darly, die Schwester des mutmaßlichen
geblichen unsittlichen Handlungen durch erst beschwert sie sich – nach all diesen Opfers. »Aber ich vertraue auf Gott.«
Bischof Franco. Ein ehemaliger Richter des Jahren!« Franco Mulakkal sagt: »Ich werde wei-
Obergerichts von Kerala äußert den Ver- Vallikkatt, der seine Sätze öfter mit einem ter mit den Behörden kooperieren. Damit
dacht, Polizei und Kirche hätten eine »un- »Amen« beginnt oder beendet, sagt, es am Ende die Wahrheit ans Licht kommt.«
heilige Allianz« geschmiedet und den Fall gebe 35 000 Nonnen in Kerala, um die sich Schwester Anupama, im Missionshaus,
verschleppt. Die Nonne wartet die ganze die Kirche kümmere. »Dass es diesen einen schaut in die Runde ihrer Freundinnen. Sie
Zeit im Konvent. Zuerst ist sie aufgeregt, Fall gibt, bedeutet, dass es diesen einen sagt: »Wir sind nicht mutig. Die Situation
als sie die Gesichter ihrer Schwestern im Fall gibt«, sagt er, mehr nicht. hat uns mutig gemacht. Unsere Kraft
Fernsehen sieht und die vielen Menschen, Und der Protest? »Diese fünf Nonnen kommt von Jesus.«
die ihretwegen gekommen sind. sind nichts Besonderes.« Darly sagt, es sei ihr egal, welche Strafe
Am achten Tag des Protests gibt Bischof »Die meisten Menschen glauben nicht, Franco Mulakkal erhalte, solange er nur
Franco vorübergehend seine Aufgaben an dass an der Sache etwas dran ist«, sagt Val- nie wieder in seinem Leben eine andere
einen Stellvertreter ab. likkatt, »die meisten Ordensschwestern Nonne berühre. Sie telefoniere jeden Tag
Ein Abgeordneter nennt die Klägerin unterstützten den Protest nicht.« Er glaubt, mit ihrer Schwester, »ich glaube, es geht
eine »Prostituierte«, sie habe die Zeit mit dass es andere Gründe dafür gibt, dass fünf ihr nicht gut«. Ab und an klopfe ein Mann
dem Bischof genossen, »warum hat sie sich Nonnen auf die Straße gingen und einen aus der Nachbarschaft an ihrem Haus, »gib
nicht nach dem ersten Mal beschwert?«, zivilen Protest gegen den eigenen Orden den Fall auf, oder ich bring dich um«, sage
fragt er. Die Bischofskonferenz in Kerala anzettelten. Welche das seien, müsse die er. Darly sagt: »Ich habe keine Angst. Wir
gibt ein Statement heraus: Wer auf der Kirche erörtern. Er hoffe auf die Entschei- gehen nicht weg.«
Straße gegen die Kirche hetze, destabili- dung des Gerichts.

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 87


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Ausland

Wann ist Kritik politisch?


Analyse Der Kreml hat mit der Freilassung des Journalisten Iwan Golunow einen spektakulären
Rückzieher gemacht. Nun will er verhindern, dass die Öffentlichkeit sie falsch deutet.

R
usslands Strafjustiz ist wie eine Mühle. Sie anzuhal- der oppositionell gesinnten Öffentlichkeit, für den man
ten ist schwierig, sie rückwärtszudrehen unmöglich. ihn im Nachhinein halten könnte, dafür war er zu nah an
Wer einmal in ihr Mahlwerk geraten ist, der ist so den Dingen.
gut wie verloren. Insofern ist es ein Wunder, was die- Und eben hier wichen nun der Blick des Kreml und der
se Woche in Moskau geschehen ist: Ein unabhängiger Repor- Blick der Polizei auf Golunow voneinander ab. Golunow hat-
ter, fälschlich des Drogenhandels beschuldigt, wurde von sei- te die Korruption hoher Offiziere verfolgt, die mit Bestattern
nen erbosten Kollegen der Justiz wieder entrissen. Der Innen- zusammenarbeiteten. Vermutlich waren sie es, die ihn stop-
minister musste nach Protesten öffentlich eingestehen, dass pen wollten und deshalb Beweise fälschen ließen, wonach er
die angeblichen Beweise der Polizei keine waren; mehr noch, mit Drogen handle. Sie taten das in dem Bewusstsein, dass
er kündigte an, zwei Polizeigeneräle sollten dafür ihr Amt er ein politischer Gegner sei. Schließlich schrieb er für eine
verlieren. Das Strafverfahren sei eingestellt. Internetzeitung, die aus dem lettischen Exil veröffentlicht
Aber so groß die Freude über das Wunder war, so schnell wird, und über Korruptionsfälle, über die auch der Opposi-
erhielt sie einen Dämpfer. Schon am Tag nach der Freilassung tionsführer Alexej Nawalny in seinen beliebten Videos berich-
des Journalisten Iwan Golunow prügelte die Moskauer Poli- tet. Ihr eigenes Interesse und das des Kreml, so meinten sie
zei wieder auf Demonstranten ein, offenbar, ließe sich mit Golunows
als wäre nichts geschehen. Eine Festnahme zur Deckung bringen.
Kundgebung zum Fall Golunow Wer immer die Beweise fingier-
und gegen Polizeiwillkür führte te, stellte sich dabei so dumm an,
zu Hunderten Festnahmen. Pas- dass die Polizei blamiert dastand.
santen verbrachten Stunden auf Fotos, die sie von Golunows angeb-
der Polizeiwache, ebenso ein Mit- lichem Drogenlabor veröffentlicht
arbeiter des SPIEGEL. hatte, stammten gar nicht aus sei-
Wie passt das zusammen: erst ner Wohnung. Aber da Russlands
die Nachgiebigkeit der Behörden, Strafgerichte so gut wie immer der
dann die Härte? Warum hat sich Anklage folgen, hätte der Richter
Putins Staat überhaupt dazu sich davon nicht stören lassen,
bereitgefunden, der kritischen schon gar nicht bei einem angeb-
Öffentlichkeit im Fall Golunow lichen Drogendelikt. Gefälschte
ein Geschenk zu machen? Beweismittel sind in solchen Ver-
Es ist eine Frage, die auf das fahren keine Seltenheit.
PAVEL GOLOVKIN / AP

Selbstverständnis von Putins Und nicht einmal der Kreml hät-


Regime zielt. Sein Anspruch ist es, te sich davon stören lassen, wäre
politischen Widerstand nicht zu es denn wirklich um einen poli-
brechen, sondern ihn gar nicht tischen Gegner gegangen. Aber
erst entstehen zu lassen. Und das einen Skandal zu riskieren, nur
Mittel der Wahl ist Demotivation, Reporter Golunow am Tag seiner Freilassung um die Korruption einiger Offizie-
nicht Repression. Das heißt: Unzu- re zu schützen, das war zu viel ver-
friedenheit ist erlaubt und darf laut geäußert werden. Aber langt. Offenbar waren auch die betroffenen Beamten nicht
die Freiheit endet dort, wo sich Protest politisiert, also mit hoch genug angesiedelt und der Ärger im Kreml über den
der Machtfrage verbindet. Zeitpunkt groß – Golunows Festnahme überschattete Putins
Aber wo ist die Grenze zwischen bloßer Kritik und politi- Auftritt in Sankt Petersburg vor internationalen Investoren.
scher Opposition? Das ist die Frage, mit der sich das Regime Dieser Fall, so Putins Signal an die Behörden, geht auf eure
von Wladimir Putin nach fast zwei Jahrzehnten zunehmend Kappe, nicht auf meine.
schwertut. In Nordrussland demonstrieren derzeit Bürger Es ist ein spektakulärer Rückzieher, den der Kreml da
gegen Müllhalden, auf denen Moskauer Abfälle gelagert wer- gemacht hat, und er ist mit hohen Risiken verbunden. Wenn
den sollen. Ist das noch Unzufriedenheit oder schon Politik? man einmal nachgibt, wo hört man dann auf? Die Willkür
In Jekaterinburg protestieren Bürger gegen einen Kirchenbau. der Justiz ist eine tragende Säule des Systems, sie darf aus
Geht es ihnen um die Rettung einer Grünfläche oder um Sicht der Herrschenden nicht fallen. Und eben deshalb zückte
Ideologie? Ist am Ende alles politisch? die Moskauer Polizei schon am Tag nach Golunows Freilas-
Es ist dieselbe Frage, die sich auch die Leser von Iwan sung wieder die Knüppel. Sie wollte verhindern, dass diese
Golunows Reportagen stellen. Es sind aufregende, hervor- Freilassung falsch gedeutet würde, und falsch heißt in der
ragend recherchierte und detaillierte Ermittlungen. Es geht Logik von Putins Regime wiederum: politisch. Golunows
um Korruption in der Moskauer Stadtregierung und die Freilassung ist eine Ausnahme von der Regel und nicht etwa
gewaltsame Monopolisierung der Bestattungsbranche im eine neue Regel, das ist die Botschaft der Knüppel; ein bedau-
Land. Worum es nicht geht, oder nur am Rande, ist Wladimir erlicher Justizirrtum wurde korrigiert, mehr nicht. Und des-
Putin – sein Name taucht kaum auf. Große politische Thesen halb, liebe Bürger, bitte nicht stehen bleiben, denn es gibt
haben Golunow nicht interessiert. Er war nicht der Star nichts zu sehen. Christian Esch

88 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Sport
»Dem IOC ist mit einer gesunden Portion Skepsis zu begegnen.« ‣ S. 93

117 Mio. €
Wechselgeld Transferausgaben und Beraterhonorare in der Bundesliga 2017/18, in Millionen Euro 100
Spitzenwert absolut: 41 Mio. €
80
Spitzenwert
anteilig: 60
72 % 40

20

FC Augs- Hertha TSG 1. FSV Werder Hamburger Hannover SC Eintracht Bayer 04 Borussia VfB 1. FC FC RB VfL Borussia Bayern
burg BSC Hoffen- Mainz 05 Bremen SV 96 Freiburg Frankfurt* Lever- Mönchen- Stuttgart* Köln Schalke Leipzig Wolfs- Dortmund München
heim kusen* gladbach* 04* burg

Bundesliga zum Vergleich: * Geschäftsjahr und Transferausgaben Januar bis Dezember 2018
insgesamt Premier League Quellen: DFL, FA, Transfermarkt.de
2017/18 Höchste Transferausgaben:
Manchester City mit 318 Mio. €
Transferausgaben: 713 Mio. € 2174 Mio. € Höchste Beraterhonorare:
FC Liverpool mit 31 Mio. €
Beraterhonorare: 216 Mio. € 241 Mio. € Höchste Beraterhonorarquote:
rechnerisches Größenverhältnis von 30% 11 % AFC Bournemouth mit 26%

Hochkonjunktur haben die Berater der Fußballer, wenn die für Agenten der Profis aus wie die Premier-League-Vereine, ob-
Vereine im Sommer ihren Kader auffrischen. In Europa werden wohl in England dreimal so viel Kapital in neue Spieler investiert
Transfers für mehrere Milliarden Euro realisiert. Die Klubs der wurde. Honorare werden oft über Jahre gestreckt. Auch wenn
Bundesliga gaben in der vorvergangenen Saison fast so viel Geld Verträge verlängert werden, bekommen die Berater ihren Anteil.

Magische Momente

»Gewinnen sollten wir besser nicht«


Marko Pešić, 42, Geschäftsführer der Basketballer des FC Bayern München, über den ersten Titelgewinn
SPIEGEL: Sie sind vor fünf gescheitert. Welche Bedeutung hatte der ser nicht. Dass es dann trotzdem schon
Jahren das erste Mal mit erste Titel für den Klub? nach drei Jahren passierte, war unglaublich.
dem FC Bayern deutscher Pešić: Damit waren wir endlich einen SPIEGEL: Die Bayern-Basketballer haben
Meister geworden. Wel- gewissen Druck los, beweisen zu müssen, vom ersten Tag an polarisiert.
che Erinnerungen haben dass wir auch im Basketball einen Titel Pešić: Vor allem weil jeder dachte, wir be-
Sie an den 75:62-Auswärts- holen können. Seitdem wir 2011 in die Liga kämen unser Geld von den Fußballern,
sieg gegen Alba Berlin? gekommen waren, hatten die Leute darauf was eben nicht stimmt. Wir erwirtschaften
Pešić: Mit diesem Titel schloss sich der gewartet, dass wir Meister werden. Gleich- alles selbst. Heute wird immer noch ab und
FRANKHOERMANN / SVEN SIMON / DDP

Kreis meiner Karriere. Als Spieler hatte zeitig wollte das keiner wirklich. Alle zu gestichelt, aber da stehen wir drüber.
ich mit Alba sechs Meisterschaften gewon- waren froh, dass wir in der Bundesliga mit- SPIEGEL: In zwei Jahren, wenn die neue
nen, immer an der Seite meines Vaters mischen – aber gewinnen sollten wir bes- Münchner Sportarena fertig sein soll, will
Svetislav in der Rolle des Trainers. Nun der Klub um den Titel in der Euroleague
war uns das mit München wieder ge- mitspielen. Wie realistisch ist das?
lungen – nur dass ich nicht mehr auf dem Pešić: Es ist eine Riesenherausforderung,
Platz stand. für die wir noch Erfahrung brauchen,
SPIEGEL: Fühlte sich der Triumph so gerade in den Auswärtsspielen. Von
berauschend an wie früher als Profi? denen müssen wir mehr gewinnen, das
Pešić: (lacht) Leider nicht. Als Spieler hat sich in dieser Saison gezeigt.
haben wir Titel tagelang gefeiert SPIEGEL: Am Sonntag steht das erste
und nicht an morgen gedacht. Als Verant- Finalspiel in der Bundesliga an. Gegner ist
wortlicher bist du gedanklich schon erneut Alba Berlin, die Bayern schon
beim nächsten Sponsorenvertrag, der vergangenes Jahr geschlagen haben. Ist
DARMER / DAVIDS

Budget- oder Kaderplanung. Du genießt das nicht langweilig?


den Moment weniger. Das ist etwas Pešić: Duelle mit Berlin sind nie lang-
schade. weilig, im Gegenteil. Sie sind purer
SPIEGEL: Bis zur ersten Meisterschaft war Nervenkitzel. Darauf freue ich mich jedes
der FC Bayern zweimal in den Play-offs Finalspielszene Alba gegen Bayern 2014 Mal aufs Neue. MAF

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Sport

Unter Generalverdacht
Leichtathletik Kenia galt als Wunderland des Laufsports. Nun gibt es ein
massives Dopingproblem. Ein neues Labor in Nairobi soll gegen die Manipulationen vorgehen.
Doch die Armut und korrupte Ärzte erschweren seine Arbeit.

D
as Labor, das den Ruf der Läufer- zyten. Zwischen 25 und 30 Proben erhält Land mit maroden Verkehrswegen kämen
nation Kenia retten soll, liegt in das Labor jede Woche. Die Testergebnisse manche Proben erst kurz vor Ablauf der
Upper Hill, einem Geschäftsvier- werden automatisch von einer Wada-Soft- Analysefrist. Dann blieben mitunter nur
tel der Hauptstadt Nairobi. Die ware geprüft, die bei Unregelmäßigkeiten 30 Minuten Zeit. Immerhin. Bis vergange-
Gänge im fünften Stock eines Bürogebäu- Alarm schlägt. nen Sommer mussten Tests aus Ostafrika
des werden von Kameras überwacht, die Ihr Job sei oft ein Wettlauf gegen die zur Untersuchung zum Teil nach Doha,
Türen lassen sich nur über Zahlencodes Uhr, sagt Ombati. Viele Dopingmittel sind Paris oder Oslo geflogen werden. Viele
öffnen. Es sind Sicherheitsvorschriften, die nach der Einnahme im Blut nur bis zu waren nach der Ankunft unbrauchbar, das
die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada vor- 48 Stunden nachweisbar, und in einem Kontrollsystem eine Farce.
gegeben hat.
Eunice Ombati, 44, in weißem Kittel,
den Kopf gesenkt, steht vor einem der
vielen Laborkühlschränke des Instituts.
Sie blättert durch ihren Terminkalender.
Er hat nur wenige weiße Stellen.
Während draußen die Laufsaison in vol-
lem Gang ist, kämpft Ombati hinter blau
versiegelten Scheiben gegen die Leistungs-
manipulation auf der Mittel- und Lang-
strecke. Es sind jene Disziplinen, die Kenia
bei Weltmeisterschaften und Olympia seit
Jahren dominiert. Sechs Gold- und vier
Silbermedaillen gab es zuletzt bei den
Spielen in Rio.
Kenia bekam den Ruf eines Wunder-
lands im Laufsport, zu Hause einte der
Stolz auf die Athleten die Nation.
Doch dann gerieten Kenias Läufer unter
Generalverdacht. 95 Prozent aller positi-
ven Dopingproben des Landes kamen aus-
gerechnet von den weltweit gefeierten
Leichtathleten, wie ein Wada-Bericht zu-
letzt offenlegte.
Mehrere Dutzend Läufer aus dem ost-
afrikanischen Land wurden des Betrugs
überführt, unter ihnen die Marathonstars
Jemima Sumgong und Rita Jeptoo. Im April
war der Halbmarathon-Weltrekordler Abra-
ham Kiptum wegen Dopingverdacht vom
London-Marathon suspendiert worden.
Mit dem Labor in Nairobi, dem ersten
von der Wada anerkannten in Ostafrika,
soll nun alles besser werden – so wie frü-
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her. Gegründet und finanziert wurde es


von der Unabhängigen Integritätskommis-
sion des Leichtathletikweltverbands IAAF.
Das Gremium will die Leichtathletik
wieder glaubwürdig machen. Zu sehr hat
es dem Image geschadet, dass ausgerech-
net die viel beschriebenen Naturläufer aus
Afrika manipuliert haben.
Seit vergangenem September messen
Ombati und acht Mitarbeiter für den bio-
logischen Athletenpass Blutparameter wie
Hämatokrit, Hämoglobin und Retikulo-

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Wada-Chefermittler Günter Younger be- Erst dann verabschiedete die Regie- Rugut erzählt von einer Kooperation
zeichnet deshalb das Labor in Nairobi als rung ein Anti-Doping-Gesetz und grün- mit der Pharmaziebehörde, einem Verbot
»großen Schritt« im Kampf gegen den Be- dete 2016 die neue nationale Anti-Doping- rezeptfreier leistungssteigernder Medika-
trug. Um nachhaltig zu sein, müsse man Agentur Adak. Die Behörde mit Sitz in mente. Er spricht von Vorträgen bei Ärz-
»Athleten permanent kontrollieren«. Bis- Nairobis Stadtteil Westlands will irgend- ten, die dem leicht verdienten Geld mit
lang sei das außerhalb des Wettkampfs wann eine »World Class Anti-Doping Dopingmitteln widerstehen sollen, und
kaum geschehen. Agency« sein, so steht es unter dem Punkt von einer besseren Kooperation mit der
Es ist eine Art Zeitenwende, die Kenia »Vision« auf einem Wandschild im Ein- Polizei. So sehr Rugut auch redet, der
erlebt. Über Jahre hat man im Land das gangsbereich. Kampf gegen die Manipulation klingt wie
Dopingproblem ignoriert, kleingeredet, Ein paar Stockwerke darüber sitzt ein Appell an den guten Willen.
eine Aufklärung verweigert. Weil Funktio- Adak-Geschäftsführer Japhter Rugut in In Wahrheit läuft der Anti-Doping-
näre ihre eigenen Interessen schützten und seinem Büro und spricht über die Gegen- Kampf gerade im Hochland von Kenia,
die stolze Läufernation ihr Gesicht wahren wart. dort, wo fast alle Spitzenläufer zu Hause
wollte. Nationale Verbandsvertreter er- Er sei froh, dass das Labor in Nairobi sind, völlig an der Lebenswirklichkeit der
klärten Dopingskandale zu Einzelfällen, bis Ende des Jahres gut 1000 Blutproben Menschen vorbei. Dort, wo Jugendliche
schoben die Schuld auf ausländische Trai- analysiert haben werde, sagt Rugut. »Aber außer Feldarbeiter nicht viel werden kön-
ner und Manager, die den Medikamenten- solange ein paar Tausend Dollar Preisgeld nen, wo es keine Industrie gibt, ist der Aus-
missbrauch eingeschleppt hätten. das Leben eines Athleten und seiner Fa- dauersport für viele der einzige Weg aus
Kenia trieb das Spiel der geheuchelten milie auf einen Schlag ändern können, wer- der Armut. Die Versuchung, bei der eige-
Unwissenheit so lange, bis der Ausschluss den Kenianer versucht sein zu dopen. Kon- nen Leistung etwas nachzuhelfen, wenn
von den Olympischen Spielen in Rio drohte. trollen hin oder her.« am Ende Ruhm und Reichtum stehen,
scheint allzu verlockend.
Edwin Kibet sagt, er wäre schon froh,
wenn er endlich den Strom wieder zahlen
könnte. Das einzige künstliche Licht in
seiner Backsteinhütte mit Wellblechdach
am Ortsrand von Iten kommt momentan
vom Bildschirm seines zerkratzten Smart-
phones, das er bei einem Freund nebenan
aufladen muss.
An einem Donnerstagmittag steht Kibet
am einzigen Fenster des Raumes, tief ge-
beugt über einen Kohlekocher, und rührt
aus Maismehl und kochendem Wasser
eine Schüssel Ugali an. Der klumpige Brei
gilt unter Kenias Läufern als Kraftfutter.
Für Kibet ist es die erste Mahlzeit an die-
sem Tag, am Morgen war er 18 Kilometer
laufen. Manchmal, wenn ihn der Hunger
noch quäle, klettere er nachts über die
Mauer zu seinem Nachbarn und pflücke
sich heimlich Kochbananen vom Baum, so
erzählt er es in gebrochenem Englisch.
Kibet ist 34, ein stiller Mann mit Mittel-
glatze und tiefen Augenhöhlen, der bei ei-
ner Größe von 1,80 Meter gerade 60 Kilo-
gramm wiegt. Er nennt es »das perfekte
Läufergewicht«. Die fleckige Wand über
dem Sofa hat er mit grobmaschigem Gar-
dinenstoff geschmückt. Daran gepinnt sind
ein paar verblasste Farbfotos seiner Frau
und seines achtjährigen Sohnes. Sie erin-
nerten ihn daran, wofür er sich täglich
schinde, sagt er.
Vor sechs Jahren ließ Kibet seine Fami-
lie mit dem Versprechen zurück, als wohl-
habender Mann zurückzukehren. Mit ei-
ner Reisetasche zog er von seinem Hei-
matdorf ins drei Autostunden entfernte
Iten, im hügeligen Westen des Landes,
2400 Meter über dem Meeresspiegel. Von
einem fast mystischen Ort hatte Kibet
gehört, an dem jeder ein Champion

Läufer beim Training im Februar


im westkenianischen Iten
»Die geben immer volle Pulle«

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 91


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werden könne. Wo europäische wie weit sie kommen«, sagt ein


Coaches und Talentscouts die Norweger. »Europäer zählen lieber
nächste Laufsensation suchten. Kilometer.«

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Tatsächlich hat Iten so viele keni- Ein Erfolgsgarant sind aber of-
anische Läuferlegenden hervorge- fenbar auch die vielen Apotheken
bracht, dass Athleten und Trainer entlang der Hauptstraße zwischen
aus aller Welt jedes Jahr in den Iten und Eldoret – der zweiten
Hort der Leistungszüchtung reisen. Laufhochburg der Region. Vergan-
Inzwischen gibt es in der Gegend genen Herbst bilanzierte die Wada
allerhand Läufercamps, Hotels und in einem Ermittlungsbericht, dass
Sportläden, die meisten betrieben in Kenia »lokale Pharmazeuten
von früheren Helden der keniani- und Ärzte« bei der Versorgung mit
schen Laufszene. Dopingmitteln eine tragende Rolle
Die pompösen Villen von Lauf- spielten.
idolen wie den Weltmeistern Wil- Der Wada-Report spiegele nur
son Kipsang oder Mary Keitany die halbe Wahrheit, sagt ein Athle-
haben Iten zum Sehnsuchtsort Langstreckler Kibet tenberater, der oft in Kenia zu tun
Tausender Männer und Frauen ge- »Die Betrüger bestrafen uns, die wir es ehrlich versuchen« hat, aber nicht namentlich genannt
macht. Die meisten kommen aus werden will, weil er sonst Konse-
dem noch ärmeren Hinterland, in Iten hau- ihn unter Vertrag nehmen wollen. »Aber quenzen fürchtet. Es gebe ein Netzwerk
sen sie oft in Verschlägen ohne fließendes ich sollte meinen Flug selbst zahlen«, er- von Medizinern, das aktiv beim Betrug
Wasser, das Klo nur ein Loch im Boden. zählt Kibet. »Vollkommen utopisch.« helfe. Athleten würden Ärzte »gezielt
Viele hoffen auf einen Marathon in Aufgeben könne er nicht, sagt Kibet, nach schnellen Lösungen fragen. Und die
Nordamerika oder Europa, um ein biss- auch wenn er aus dem besten Läuferalter geben mit Medikamenten schnelle Ant-
chen Preisgeld zu verdienen – und seien langsam heraus ist. »Die Familie zählt auf worten«.
es nur ein paar Hundert Euro wie früher mich.« Dann zeigt er auf eine Medaille, Kaum ein Sportler will sich zu der Do-
bei der »Nacht von Borgholzhausen« oder die er an die Wäscheleine über seinem Bett pingpraxis äußern und womöglich als Nest-
irgendeinem anderen Volkslauf in der gezwickt hat. Ein Freund hat sie beim Ma- beschmutzer dastehen. »Jeder weiß, dass
deutschen Provinz. »Running is business«, rathon Deutsche Weinstraße gewonnen es gemacht wird, aber niemand spricht da-
Laufen ist ein Geschäft, sagen Kenianer. und ihm geschenkt. Kibet nennt sie »ein rüber«, sagt einer. Ein anderer sagt, viele
Edwin Kibet war vergangenes Jahr bei goldenes Stück Motivation«. seiner Kollegen wüssten nicht, welchem
einem Rennen über zehn Kilometer in Ba- Jeden Morgen außer sonntags läuft er Mediziner sie bei Verletzungen noch trau-
gamoyo, Tansania. Er reiste dafür tagelang mit seiner Trainingsgruppe los, meist noch en könnten. »Sie fürchten, sich unwissent-
mit dem Bus an und zahlte das Startgeld vor Sonnenaufgang, in löchrigen Schuhen, lich schuldig zu machen.«
aus eigener Tasche. Es lohnte sich. Er lief pro Woche mindestens 150 Kilometer. Er Der von Korruptionsaffären gerüttelte
31:36 Minuten, keine Topzeit, aber schnell macht Intervallläufe, Dauerläufe, Bergläu- kenianische Leichtathletikverband möchte
genug für den Sieg und ein Preisgeld von fe. Manchmal auf der Straße, lieber auf dem Sportbetrug jetzt auch mit Aufklä-
300 000 Tansania-Schilling, gut 110 Euro. der roten Erde im Umland, die seine Fuß- rungskampagnen beikommen. Bei der
Einen Teil davon schickte er seiner Familie, nägel verfärbt, aber die Gelenke schont. nationalen Crosslaufmeisterschaft im Fe-
vom Rest kaufte er sich Bohnen, Reis und Eine Stoppuhr kann sich Kibet nicht leis- bruar veranstaltete der Verband das erste
zwei Kilogramm Schaffleisch. ten. Er wisse nur, dass er schnell sein müs- Seminar zum Thema Doping.
Wie so viele Läufer kann Kibet vom se, sagt er. Im Konferenzsaal eines Hotels in Eldoret
Sport allein nicht leben. Alle zwei Monate Fragt man europäische Topläufer und sprach der Verbandsvizepräsident vor Hun-
schuftet er für vier Wochen auf der Farm Coaches, warum die Kenianer der Kon- derten Sportlern darüber, was jene erwar-
seiner Eltern, wo auch seine Frau und die kurrenz so beständig enteilen, bekommt te, die sich an dubiose Pharmazeuten und
Kinder wohnen. Er erntet Mais und Kartof- man allerlei Erklärungen zu hören. Den Ärzte wendeten. »Wer nicht nach den Re-
feln, pflügt mit dem Traktor den Acker. Er Unterschied machten das extreme Trai- geln spielt, hat keinen Platz in der Leicht-
melkt Kühe, schert Schafe, repariert Zäune. ningspensum aus, die leistungsfördernde athletik«, rief er ins Mikrofon. »Wir beob-
Kibet sagt, er wolle endlich in Europa Höhenluft, die große Konkurrenz. Kenia- achten euch. Habt ihr das verstanden?«
laufen. Anfang des Jahres hätte es fast ner würden sich keine Grenzen im Kopf Einige der jungen Zuhörer nickten
geklappt. Eine deutsche Laufagentur habe setzen. »Die geben immer volle Pulle, egal müde, andere starrten teilnahmslos auf
den Boden, viele tippten auf ihrem Handy
herum.
Zweifelhafter Ruhm Kenianische Mittel- und Langstreckenläufer Edwin Kibet sagt, nichts schade dem
Medaillen: Gold Silber Bronze Ansehen seines Landes mehr als dopende
Sportler. »Die Betrüger bestrafen uns, die
wir es ehrlich versuchen.«
Ihn selbst, sagt er, habe in all den Jahren
noch nie jemand kontrolliert.
Matthias Fiedler

Videoreportage
2004 2005 2007 2008 2009 2011 2012 2013 2015 2016 2017 Beim Lauftraining in Iten
Olympia WM WM Olympia WM WM Olympia WM WM Olympia Rio WM
Athen Helsinki Osaka Peking Berlin Daegu London Moskau Peking de Janeiro London spiegel.de/sp252019kenia

131 positive Dopingproben zwischen 2004 und 2018, darunter auch bei Medaillengewinnern
oder in der App DER SPIEGEL

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Sport

Lange Im südkoreanischen Pyeongchang, Gast-


geber von 2018, ist über ein Jahr nach
Ende der Spiele die zukünftige Verwen-
Mithilfe des Maßnahmenkatalogs ließen
sich eventuell Kosten im Vergleich zu den
Gigantismusspielen der vergangenen Jahr-

Streichliste dung einiger Sportstätten weiter ungeklärt,


es drohen Ruinen.
Und auch die kommende Ausgabe,
zehnte einsparen. Große Probleme wie die
Umweltzerstörung würden aber mit den
Thesenpapieren vom IOC nur unzurei-
2022 in China, könnte für das IOC zu chend angegangen. Boykoffs Fazit: »Das
Olympia Nachhaltigkeit statt einem PR-Gau werden. Die Skiwettbewer- ist nicht mehr als glitzerndes Geschenkpa-
Gigantismus verspricht das IOC be finden in schneearmen Regionen statt, pier für ein wenig beeindruckendes Paket,
vor der Wahl des Gastgebers für rund 1500 Menschen wurden für den Bau das die Gastgeberstadt zu erwarten hat.«
von Olympiastätten umgesiedelt. Und für Tatsächlich scheinen die Bemühungen
die Winterspiele 2026. Dennoch eine Zugstrecke nach Peking werden Berge des IOC keine Olympiaeuphorie entfa-
sprangen viele Kandidaten ab. durchbohrt. chen zu können. Zwar hatten im April
Nun aber soll alles besser werden – 2018 sieben Kandidaten ihr Interesse an
glaubt man dem IOC. »Agenda 2020« den Winterspielen hinterlegt. Doch bereits

C hristian Ekström hat nichts gegen


Olympische Winterspiele, zumin-
dest solange sie nicht in seiner Hei-
mat Schweden stattfinden. »Für die Gast-
heißt die Losung, die Präsident Thomas
Bach 2014 im Kampf gegen Gigantismus
und ausufernde Kosten ausrief. Hinter
dem Slogan verbergen sich 40 »Empfeh-
ein halbes Jahr später, zum Start der offi-
ziellen Bewerbungsphase, war die Liste
auf drei Namen zusammengekürzt: In
Graz hatte die Politik der Idee von Olym-
geberländer sind Olympische Spiele in lungen« für künftige Olympiagastgeber, pia in der Steiermark die Unterstützung
den allermeisten Fällen nicht pro- verweigert. Im schweizerischen
fitabel«, sagt Ekström, der dem Teure Spiele Sion votierten die Bürger bei einer
schwedischen Bund der Steuerzah-
Geschätzte Kosten der Pyeongchang 2018 Befragung mehrheitlich gegen eine
ler vorsteht. Olympischen Winterspiele 12,9 Bewerbung. Japans ehemalige
Wenn das zuvor kalkulierte in Milliarden Dollar Olympiastadt Sapporo zog zurück,
Budget der Organisatoren nicht man wolle sich lieber erst für 2030
ausreiche, sei die Konsequenz im- bewerben. Und einer Initiative aus
mer dieselbe, erklärt Ekström:
»Die Rechnung muss dann die Sotschi 2014 51 der Türkei, das Großereignis in
Ostanatolien auszutragen, ereilte
öffentliche Hand begleichen.« Kos- im Oktober das Aus, wohl eine
Vancouver 2010
tenexplosionen sind die Regel ge- Entscheidung zugunsten des gesun-
worden im olympischen Kosmos. 7,6 den Menschenverstands.
Turin 2006
Ekströms Sorge: ein schwedi- Salt Lake Auch Calgary in Kanada schaff-
scher Sieg bei der Abstimmung in City 2002 4,5 te es nach Protesten der Einwoh-
Lausanne. Am 24. Juni entscheidet ner nicht, die Kandidatur bis zur
dort das Internationale Olympische 2,5 finalen Abstimmung aufrechtzu-
Komitee (IOC) über den Ausrichter Nagano 1998 erhalten. Übrig blieben: Stock-
der Winterspiele 2026. Das Kon- 15,2 holm/Åre. Mailand/Cortina.
zept der Skandinavier verheißt Eis- »Diese Entwicklung zeigt, wie
hockey in der Hauptstadt Stock- sehr sich die öffentliche Meinung
holm, Ski alpin in Åre, Bob und Ro- Quellen: über die Olympischen Spiele ge-
deln im nahen Lettland. Es wäre Council on Foreign
Relations, Forbes
wandelt hat«, sagt Wissenschaftler
eine Premiere: Zwar richtete Stock- Boykoff, »und das IOC hat be-
holm bereits Sommerspiele aus, wiesen, dass es gerechtfertigt ist,
doch um die Winterausgabe bewarb sich gespickt mit Schlagwörtern wie Nachhal- ihm mit einer gesunden Portion Skepsis
Schweden bislang sechsmal vergebens. tigkeit, Transparenz, Flexibilität. zu begegnen.«
Diesmal stehen die Aussichten aber bes- Dazu kommt ein weiteres Strategie- In Lausanne gibt man sich unbeein-
ser denn je, schließlich gibt es nur einen papier: »The New Norm«, der neue Stan- druckt von schlechten Meldungen. Man
Konkurrenten: Italien mit Mailand und dard, ein »ambitioniertes Paket aus 118 sei »extrem zufrieden«, dass sich die bei-
dem Skigebiet Cortina d’Ampezzo. Reformen«, so die IOC-Eigenwerbung. den verbliebenen Kandidaten für 2026
Bei einer vom IOC in Auftrag gegebenen Ein »fundamentales Neudenken, wie zu- »der Philosophie der Agenda 2020 voll-
Umfrage sprachen sich nur rund 55 Prozent künftige Spiele organisiert werden«, ver- umfänglich verschrieben« hätten, jubiliert
der Schweden für Wettkämpfe im König- hieß Bach. Die Bewerber für die Winter- das IOC im Evaluierungsbericht, einer Art
reich aus. Die Regierung hat zwar zugesi- spiele 2026 seien die Ersten, die »vollum- Entscheidungsgrundlage für die stimm-
chert, Sicherheitskräfte für die Zeit der Spie- fänglich von den Reformen der Agenda berechtigten Mitglieder. Stockholm wie
le bereitzustellen, gibt dem IOC darüber 2020 profitieren«. Mailand werben mit grünen Spielen und
hinaus aber keine finanziellen Garantien. Jules Boykoff lacht, wenn er solche For- einem vergleichsweise schlanken Budget
Auch in vielen anderen westlichen Län- mulierungen hört. Der Politologe von der von rund 1,5 Milliarden Dollar, die Schwe-
dern sind die Vorbehalte gegen die olym- Pacific University im US-Bundesstaat Ore- den wollen den Betrag gar ausschließlich
pische Bewegung groß. Zu oft haben die gon forscht seit Jahren über das IOC. Er mithilfe privater Investoren stemmen. In
Winterspiele für Negativschlagzeilen ge- kennt die Versprechen an die zukünftigen Italien hingegen hat die Regierung trotz
sorgt. Olympiaausrichter und ist wenig beein- klammer Staatskasse bereits Garantien
2014 inszenierte Russlands Staatschef druckt: »Die Dokumente zur Agenda in Höhe von mehr als 400 Millionen Euro
Wladimir Putin in Sotschi die teuersten 2020 und zu ›The New Norm‹ sind fast gegeben; ein Zug, der bei der Wahl am
Winterspiele der Geschichte. Geschätzte schon eine Beleidigung der Intelligenz all 24. Juni den Ausschlag für Südeuropa
Gesamtkosten: über 50 Milliarden Dollar derer, die sich kritisch mit den Olympi- geben könnte. Thilo Neumann
und ein beispielloser Dopingskandal. schen Spielen auseinandersetzen.«

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 93


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Wissenschaft+Technik
Die Imkerei funktioniert wie ein Legospiel, bei dem man sich eine tüchtige Kolonie zusammenbaut. ‣ S. 96

ZUMA WIRE / ZUMA PRESS / ACTION PRESS


Sieben Kilometer hoch reicht die Aschewolke, die der Vulkan Sinabung in Nordsumatra in die Atmosphäre
stößt. Bei seinem Ausbruch Anfang Juni versetzte er die Bewohner der indonesischen Insel wieder
in Angst. Vor neun Jahren hatte der Vulkan zum ersten Mal seit Jahrhunderten Asche gespien, Tausende
Menschen mussten damals evakuiert werden. Seitdem kommt der Sinabung kaum noch zur Ruhe.

Psychologie als es im Durchschnitt zu erwarten wäre, Fußnote

2500
Und täglich schreiben die Forscher. Sie schließen
daraus, dass jeder Mensch beim Charak-
grüßt der Ex ter einen bestimmten Typ bevorzugt.
Die Daten zeigen auch: Wer sich selbst
 Menschen wählen häufig einen Partner, als offen und neugierig bezeichnet, der ist
der dem Charakter ihrer Ex-Partner flexibler bei der Wahl des Partners. MSK Jahre alte Spuren von Cannabis haben
ähnelt. Das haben Psychologen der Uni- Forscher an Feuerstellen in west-
versität Toronto herausgefunden. Sie chinesischen Gräbern entdeckt. Analy-
werteten dafür eine deutsche Langzeit- sen ergaben, dass der Gehalt an THC,
studie mit mehr als 330 Teilnehmern aus, der wichtigsten psychoaktiven Substanz,
die alle mindestens einmal ihren Partner gegenüber den meisten wilden Hanf-
gewechselt hatten. Die Teilnehmer und pflanzen erhöht war. Die Forscher ver-
deren Partner sollten unter anderem ein- muten, dass die Menschen das Can-
schätzen, wie vertrauensvoll, organisiert nabis gezielt wegen seiner Rausch-
GETTY IMAGES

oder fantasievoll sie selbst sind. Partner wirkung verbrannten, vermutlich bei
und Ex-Partner stimmten in den 21 ab- Beerdigungen. Unklar ist, ob sie die
gefragten Eigenschaften stärker überein, Rauschpflanzen schon damals züchteten.

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Mobilität SPIEGEL: Aber die Zeitersparnis


»Einfach oben fahren« ist doch eindrucksvoll. Wenn der
Brenner-Basistunnel fertig ist,
Karlheinz Rößler, 70, ist könnten Bahnreisende in rund
Verkehrsexperte und seit drei Stunden von München nach
Jahrzehnten als Berater Verona fahren.
und Gutachter mit Eisen- Rößler: Sie provoziert allerdings
bahn-Infrastruktur- auch Fahrten, die es sonst gar
projekten befasst. Er zählt nicht geben würde. Es wird dann
zu den prominenten Kritikern großer reizvoll sein, mal eben von
Tunnelbauwerke. München nach Verona zum Ein-
kaufen zu fahren. Seit es den
SPIEGEL: Verkehrsplaner sehen die gro- Kanaltunnel gibt, wohnen viele
ßen Eisenbahntunnel zur Alpenquerung Menschen in Nordfrankreich und
als Rettung aus dem Verkehrskollaps. Was pendeln zur Arbeit nach London.
haben Sie gegen diese Bauwerke? SPIEGEL: Als Musternation für
Rößler: Zunächst sind da die enormen ein funktionierendes Eisenbahn-
Kosten, die später durch den schnelleren system nennen Sie gern die
Bahnbetrieb nie hereingespielt werden. USA – ausgerechnet die Auto-
SPIEGEL: Die modernen Tunnel sind für nation schlechthin.
200 Jahre geplant. Bis dahin machen sie Rößler: Im Personenverkehr ja.
sich doch bezahlt. Doch was den Güterverkehr be-
Rößler: Das stimmt eben nicht. Tunnel er- trifft, sind uns die USA weit vo-
fordern von allen Ingenieursbauwerken raus. Dort transportiert die Bahn
den höchsten Unterhaltsaufwand, weil ein Drittel des Frachtaufkom-
mit der Zeit die Armierungen rosten und mens, in Deutschland nicht mal
der Beton brüchig wird. ein Fünftel.
SPIEGEL: Und dem Klima, sagen Sie, scha- SPIEGEL: Und ganz ohne Tunnel?

BBT SE
den die Tunnel auch? Rößler: Mit wenigen, kleineren
Rößler: Ja. Der Treibhausgasausstoß für Tunneln, aber ohne diese verrück- Tunnelbau unter dem Brenner
die Herstellung von Zement und Beweh- ten Riesenröhren, wie wir sie gra-
rungsstahl ist immens hoch. Pro Kilome- ben. In den Rocky Mountains werden Päs- Rößler: Da müsste man gar nicht
ter Tunnelröhre entstehen rund 30 000 se gequert, fast so hoch wie die Zugspitze. viel ausbauen, nur an wenigen Stellen
Tonnen CO . Ich habe am Beispiel der Und die Züge fahren meist einfach oben zusätzliche Gleise legen, damit
²
neuen ICE-Strecke Nürnberg–Berlin er- drüber. Mit sechs bis acht Lokomotiven die längeren Güterzüge überholt
rechnet, dass die Fahrgäste, die die Bahn und über 100 Waggons. Dagegen sind wir werden können. Das wäre um
vom Flugzeug weglocken will, 30 Jahre in Europa mit Spielzeugzügen unterwegs. Größenordnungen günstiger und
lang mit dem Zug fahren statt fliegen SPIEGEL: Ein Ausbau des Brenner- würde wesentlich mehr Güter
müssten, um den Klimaschaden durch die passes für längere Züge wäre also sinn- auf die Schiene holen als der Brenner-
Tunnelbauwerke zu kompensieren. voller als der Basistunnel? Basistunnel. CW

Analyse

Leicht zu täuschen
Warum es gefährlich werden kann, wenn wir uns auf automatische Bilderkennung verlassen

Manchmal ist die künstliche Intelligenz erstaunlich dumm. Selbst Schweine einen Ringelschwanz und Schlappohren haben. Stattdes-
die besten Bilderkennungsprogramme lassen sich leicht in die Irre sen wird sie mit einer Vielzahl von Schweinebildern gefüttert und
führen. Um das zu beweisen, legten Forscher über das Foto eines sucht darin nach wiederkehrenden Mustern. Versteckt man diese
Schweins ein schwaches Rauschen, vergleichbar einer Bildstörung Muster auf anderen Bildern, kann sie sich täuschen lassen.
bei einem Fernseher. Während der Mensch weiterhin einwandfrei Wie man diese Attacken abwehrt, darüber ist unter Informati-
ein Schwein erkannte, sah der Computer plötzlich: ein Flugzeug. kern eine Debatte entbrannt. Sie stecken in einem Zwiespalt:
Solche Angriffe auf die Bilderkennungssoftware lassen sich kon- Einerseits sollen ihre Programme möglichst viele Bilder erkennen.
struieren. Das macht sie so gefährlich, sollte die automatische Andererseits soll möglichst jedes Bild, das erkannt wird, auch
Bilderkennung stärker in unseren Alltag einziehen. Schon gezielt korrekt zugeordnet werden. Forscher des Massachusetts Institute
angebrachte Aufkleber auf einem Stoppschild könnten einem of Technology behaupten in einer neuen Studie, das führe zwangs-
selbstfahrenden Auto weismachen, dass es nicht bremsen muss. läufig zum Widerspruch: Wer die Vorhersagequote maximiere,
Oder eine Handykamera erkennt in einigen Pixeln irrtümlich das der öffne gleichzeitig das Tor für Täuschungsattacken.
Gesicht seines Besitzers – und entsperrt das Gerät. Die Debatte zeigt, dass die Bilderkennung weit weniger ausge-
Selbstlernende Programme sind anfällig für solche Manipulatio- reift ist, als ihre Hersteller uns einreden wollen. Solange die
nen, weil sie nicht wissen, was sie tun: Die Software versteht nicht, Software ein Schwein für ein Flugzeug hält, sollten wir uns nicht
was ein Stoppschild oder ein Schwein ist. Sie weiß nicht, dass auf sie verlassen. Martin Schlak

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 95


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Wissenschaft

Heilsamer Untergang
Tiere Die Honigbiene ist zum Liebling der Nation aufgerückt – nicht nur zu ihrem Vorteil.
Biologen ermuntern die Imker jetzt zum radikalen Umdenken: Wer die
strapazierten Insekten retten will, muss erst einmal viele Völker sterben lassen.

KARL-JOSEF HILDENBRAND / DPA

Honigbiene beim Pollensammeln

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Z
u den Bienen, die das große Völ- zelte Völker jedoch konnten dem Ansturm schweren Verlusten. Auf der schwedischen
kersterben überlebt haben, verirrt der Parasiten standhalten. Die Bienen, die Insel Gotland stellten Forscher 150 Bie-
sich kaum je ein Mensch. Sie sind jetzt in den Baumhöhlen nisten, sind die nenvölker mitsamt einer Beigabe von Mil-
zu gut versteckt. Nachfahren dieser Überlebenskünstler. Sie ben auf. In den ersten drei Jahren ging der
Der Weg führt tief in die verlassenen werden nun aus eigener Kraft mit den Mil- Großteil der Neusiedler zugrunde, aber
Wälder des US-Bundesstaats New York. ben fertig – als Pioniere der Evolution. dann war das Schlimmste überstanden.
Auf den letzten Metern stapft Thomas See- In den Bienen vom Arnot Forest sieht Heute leben die Bienen von Gotland –
ley in Gummistiefeln voraus, der Biologe Seeley Vorkämpfer für die ganze Art: nach wie vor auf sich gestellt – im Gleich-
hat eine Karte dabei. »Wir sind da«, sagt Auch den behüteten Völkern der Imker gewicht mit ihren Parasiten.
er und deutet in einen hohen Ahornbaum wäre mit einer heilsamen Katastrophe die- Ähnliches geschah nahe dem französi-
hinauf. Aber da oben ist nichts zu sehen. ser Art geholfen. Der Forscher plädiert schen Avignon und auf einer Halbinsel in
Oder doch, auf den dritten Blick: eine für ein Ende der Milbenbehandlung – Wales. Abgeschiedene Flecken eignen sich
winzige Öffnung, kaum größer als ein selbst wenn dann unzählige Völker veren- gut für solche Versuche. Ungleich schwie-
Mauseloch. Gegen den Himmel lässt sich den müssten: »Es wäre besser für die riger wäre das im dicht besiedelten
mit Mühe ein Gewusel flirrender Pünkt- Biene, wenn wir der Evolution ihren Lauf Deutschland – hier müssten Imker ganzer
chen ausmachen. Das müssen sie sein. Das ließen.« Regionen übereinkommen, eine Weile
Loch, gut fünf Meter über dem Waldbo- Freunde der fleißigen Sumsen mögen aufs Behandeln zu verzichten.
den, ist der Eingang zu einer Höhle voller das abstoßend finden. Noch mehr Tod und Immerhin, es ginge schnell. Fünf schlim-
Honigbienen. Elend? Aber Seeley hat gute Argumente. me Jahre, vielleicht zehn, dann wäre die
»Ich hätte lange nicht gedacht, dass es Nach herrschender Lehre müssen die Sache ausgestanden, glaubt Seeley. Zum
diese Kolonien überhaupt noch gibt«, sagt Milben bekämpft werden, wo immer sie Glück sei die Honigbiene genetisch enorm
der Biologe. auftreten. So kommen auch wehrlose Völ- wandlungsfähig, sie könne sich schnell auf
Die Bienen leben dort droben in ihrer ker über den Winter, die den Parasiten an- veränderte Umstände einstellen.
eigenen Welt. Ums Loch herrscht die bie- dernfalls erliegen würden – und in der Im Fall der Milbe allerdings hatte die
nentypische Geschäftigkeit eines Fracht- nächsten Saison sind sie wieder leichte Westliche Honigbiene, Apis mellifera,
flughafens; unentwegt werden Pollen und Beute. Ein fataler Kreislauf: Weil die natür- dazu kaum eine Chance. Über Jahrmillio-
Nektar umgeschlagen, das Sammelgut ver- nen kam der Parasit nur in Asien vor. Dort
schwindet im Innern des Baumes – Vorrä- lebt er bis heute in den Behausungen der
te für den oft harten Winter dieser Gegend. Die Biene als Nutztier Östlichen Honigbiene, Apis cerana, die
Aber vom Boden aus ist die summende, unterliegt einem leidlich mit dem Untermieter zurecht-
brummende Kleinstadt der Insekten nahe- kommt. Sie hat im Lauf der Evolution hilf-
zu unsichtbar. Leistungskalkül wie reiche Tricks gelernt. Zum Beispiel kann
Seeley gilt weltweit als einer der bedeu- die Legehenne. sie Milben aufspüren, die sich in den ver-
tendsten Bienenforscher. An der nahen schlossenen Brutzellen der Waben ver-
Cornell University im Städtchen Ithaca er- steckt halten. Als es den Parasiten jedoch
gründet er die erstaunliche Schwarmintel- liche Auslese ausgeschaltet ist, kann die gelang, auf die Westliche Honigbiene über-
ligenz der Tiere. In diesem entlegenen Spezies keine Abwehrstrategie entwickeln. zuspringen, trafen sie auf einen unvorbe-
Waldstück, genannt Arnot Forest, spürte Auch sonst trägt der Imker – unge- reiteten Wirt. Plötzlich waren sie in der
er schon vor Jahrzehnten neun besondere wollt – zum Erfolg der Milben bei: Mit al- Lage, ganze Völker auszulöschen.
Kolonien auf. Alle lebten sie hier wild, kei- lerhand Tricks treibt er seine Bienen zur In Deutschland wurde die Varroamilbe
nem Imker untertan. Höchstleistung an; er will große, starke erstmals 1977 beobachtet. Auch die zustän-
Diese Freiheit hätte eigentlich in den si- Völker, die viele Arbeiterinnen erbrüten digen Bienenexperten wussten zunächst
cheren Untergang führen müssen. Denn und ihm Dutzende Kilo Honig liefern. keinen Rat. Damals fürchtete man noch,
eines Tages war ein Parasit von verheeren- Dumm ist nur: Mit der Brut gedeiht eine natürliche Resistenz gegen den Para-
der Effizienz über den nordamerikani- auch die Milbe. Je machtvoller ein Volk siten sei erst nach Jahrzehnten dramati-
schen Kontinent vorgerückt, eine winzige brütet, desto mehr Parasiten bringt es in scher Verluste zu erwarten. Wer würde da
Milbe mit dem Namen Varroa destructor. der Regel hervor. Und wenn es am Ende überhaupt noch Bienen halten wollen?
Diese Achtbeiner, so groß wie ein Steck- zugrunde geht, finden die Varroen meist Und wie sollte die Landwirtschaft mit dem
nadelkopf, saugen an der Bienenbrut in problemlos einen neuen Wirt gleich in der Ausfall der Bestäuber fertig werden?
den Wabenzellen. Und sie vermehren sich Nähe: An einem Bienenstand stehen oft Deshalb wurde die Imkerei aufs Behan-
beängstigend schnell – am Ende eines zahlreiche Völker beisammen. deln eingeschworen. Und dabei blieb es
Sommers wimmeln oft Abertausende Mil- Für den Biologen Seeley ist die Bienen- bis heute. Theoretisch könnte es auch im-
ben im Stock. Die meisten Bienenvölker haltung folglich selbst zum Problem ge- mer so weitergehen. Wäre das wirklich so
kollabieren früher oder später unter dieser worden: naturfern und übermäßig strapa- schlimm? »Aus heutiger Sicht war es ein
Last. Vor den Parasiten gibt es kein Ver- ziös für die Tiere. Die Milbe bringe es nur Fehler zu behandeln«, sagt der Freiburger
steck. an den Tag. »Es ist Zeit für eine Wende.« Bienenforscher Wolfgang Ritter. »Wir sind
Millionen Imker sind deshalb heute ge- Seeley sieht kaum eine Alternative zu damit keinen Schritt weitergekommen.
zwungen, ihre Bienen mehrmals im Jahr seinem Vorstoß – auch nicht in der Zucht Im Gegenteil, die Völker werden immer
zu behandeln. In der Regel kommen dabei resistenter Bienen, der sich zahlreiche Im- anfälliger.« Früher konnten sie bis zu
Säuredämpfe zum Einsatz, die auch den ker und Forschungsinstitute verschrieben 10 000 Milben einigermaßen ertragen,
Bienen schwer zu schaffen machen. Doch haben. »Die künstliche Auslese hat bislang heute brechen sie oft bereits unter einer
um die Völker im Arnot Forest hat sich nie wenig gebracht«, sagt er. Die Bienen, so Last von 2000 Parasiten zusammen.
jemand gekümmert. Warum sind sie im- glaubt der Biologe, fänden am besten Ritter verfolgt die Lage schon lange, er
mer noch da? selbst ihren Weg aus der Not. war Experte für Bienenkrankheiten bei
»Die meisten Kolonien hier sind tatsäch- Ein paarmal hat es schon funktioniert. der Weltorganisation für Tiergesundheit
lich zugrunde gegangen«, sagt Seeley. »Das Auch an anderen Orten wurden Bienen (OIE). Dem amerikanischen Kollegen See-
zeigen uns genetische Analysen.« Verein- von selbst resistent, wenngleich erst nach ley gibt er recht. »Aber ich bin kein Fan-

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Wissenschaft

tast«, sagt der Forscher. Ein Umsturz von allem die Vergeblichkeit ihres Fleißes: Die rund 915 000 Völker. Dennoch hat sich das
heute auf morgen sei nicht machbar. Biene ist tüchtig, sie rackert sich ab wie »Bienensterben« als Großmetapher für das
Doch mittlerweile haben auch viele Im- wir alle – und doch geht es ihr offenbar reale Hinschwinden der Insektenvielfalt
ker das Behandeln satt. »Sie finden es un- gar nicht gut. Wenn selbst dieser Heldin eingebürgert – und irgendwie auch gene-
befriedigend und naturfern, immer wieder der Leistungsbereitschaft alles zu viel wird, rell für das Unbehagen an der übernutzten
mit Chemie in ihre Völker reinzugehen«, dann ist doch, so scheint es, etwas faul im Natur.
sagt Ralph Büchler, Leiter des hessischen System. Im Blick auf die Biene kann der Für das wahre Problem der Honigbiene
Bieneninstituts in Kirchhain. Als Mittel Mensch sich selbst leidtun. aber zeigen ihre Freunde bislang wenig
der Wahl wird oft Ameisensäure in den Woran sich die Liebe vor allem entzün- Interesse. Das ist und bleibt die Varroa-
Stöcken verdunstet. Die Dämpfe setzen det, zeigt der spektakuläre Erfolg der nor- milbe – und der Teufelskreis des leidigen Be-
den Völkern zu. Die Bienen fliehen im wegischen Autorin Maja Lunde. Ihr Roman handelns. Wenn nun Biologen wie Seeley
Schreck oft von den Waben; und in den »Die Geschichte der Bienen« beschwört auf die Macht der natürlichen Auslese set-
noch unverschlossenen Zellen geht ein eine Zukunft herauf, in der es keine Bienen zen, tut sich ein abgründiges Dilemma auf:
Großteil der Brut zugrunde. mehr gibt. Billiglöhner müssen Obstbäume Wer die Honigbiene retten wollte, müsste
»Wir kämpfen ständig an der Grenze und Tomaten von Hand bestäuben. In zunächst das mit Abstand größte Bienen-
der Belastbarkeit«, sagt Büchler. Auch er Deutschland wurden von der literarisch be- sterben seit Menschengedenken einleiten.
glaubt, dass die Bienenhaltung sich gehö- scheidenen Schwarzmalerei schon mehr als Wäre so etwas heute auch nur annä-
rig ändern müsse – angefangen mit klei- 980 000 Exemplare verkauft. hernd vermittelbar? Und wenn ja: Wer
nen Schritten. Am Ende sollte die Biene Aus fachlicher Sicht ist die Apokalypse sagt es den Leuten?
wieder in der Lage sein, sich selbst zu vom Bienensterben Unsinn. Die Honigbie- Den Anfang hat Thomas Seeley ge-
schützen. »Sie hat das ja auch 50 Millio- ne mag unter Druck stehen, aber sie ist macht. Gerade erst legte er ein Buch zum
nen Jahre ohne menschliches Zutun ge- keineswegs in ihrer Existenz bedroht. Thema vor*. Darin entwirft der Forscher
schafft.« Weltweit stieg die Zahl der Völker in den ein Zukunftsprogramm für die überforder-
Die Zeit für eine Wende scheint günstig. vergangenen 50 Jahren kräftig an – allein te Spezies. Er nennt es »darwinistische
Die Biene ist zum Lieblingstier der Deut- in China etwa von 3,7 Millionen auf mehr Bienenhaltung«.
schen aufgerückt. Die Sorge, sie sei in als 9 Millionen. Im Zentrum steht der Verzicht auf Säu-
akuter Not, mobilisierte in Bayern Seit 2007 geht es auch in Deutschland ren gegen die Milbe. In der Praxis ist das
1,75 Millionen Bürger – so viele unter- wieder bergauf. Mittlerweile leben hier nichts für sentimentale Gemüter. Der Im-
schrieben Anfang des Jahres das ker, schreibt Seeley, müsse Völker,
Volksbegehren »Rettet die Bienen!«. die es absehbar nicht schafften, sogar
Gemeint waren damit auch die gut Die Honigfabrik beizeiten töten – bevor sie sich am
550 einheimischen Wildbienenarten, Aufbau einer Magazinbeute Ende in »Milbenbomben« verwan-
aber wer kennt die schon? Wenn es delten und ihre Parasitenlast über die
um Rettungsbedarf geht, fällt dem Nachbarschaft verteilten.
Laien als Erstes die Honigbiene ein – Bewegliche Rähmchen Wer vor den Härten der Evolution
Die Bienen bauen ihre Waben
so wurde sie quasi zum Wappentier aus Wachs in Rähmchen, die
zurückschreckt, findet im Buch auch
der Bewegung. der Imker jederzeit herausziehen weniger krasse Vorschläge für ein art-
Überrascht von dieser politischen und inspizieren kann. gerechtes, gesünderes Bienenleben –
Wucht, will der Bayerische Landtag nach dem Vorbild der Wildlinge im
den Gesetzentwurf der Initiative im Honigraum Arnot Forest und anderswo. In Frei-
Juli annehmen. Künftig soll es im Hier lagern die heit bevorzugen die Völker zum Bei-
Freistaat mehr Blühwiesen geben Bienen den Honig spiel kleine Höhlen, ein gutes Stück
und mehr ökologischen Landbau. ein. Am Ende der von den Nachbarn entfernt. Sie sam-
Das Münchner Rathaus haben die Saison nimmt der meln nur so viel Nektar, wie sie brau-
Sumsen bereits eingenommen. Erst- Imker die Zarge ab. chen. Und sie schwärmen häufig –
mals seit 1972 bestückten die Stadt- sehr zum Verdruss ihrer Parasiten.
gärtner die neugotische Fassade am Nestanordnung So ein Schwarm ist für die Bienen
Marienplatz nicht mehr mit knallfar- Die Brut befindet das Ereignis des Jahres, sie geraten
sich gewärmt in der
benen Geranien. Denn deren Blüten- Mitte, umgeben von da in höchste Aufregung. Meist ge-
pracht ist aus Sicht der Bienen nur einem Futterkranz schieht das im Frühsommer, wenn al-
Blendwerk, Geranien bieten weder aus eingelagerten les blüht und dem wachsenden Volk
Nektar noch Pollen in nennenswer- Pollen und Honig. seine Höhle zu eng wird. Eines Tages
ter Menge. Umso nahrhafter ist der erhebt sich dann die alte Königin mit
neue Blumenschmuck: In 111 Kästen Brutraum Abertausenden Arbeitsbienen brau-
präsentiert die Landeshauptstadt ein Beherbergt auf meist send in die Lüfte. Dieser Schwarm
hängendes Büfett aus Buntnesseln, zwei Etagen Brut findet, mit etwas Glück, bald eine
Wolfsmilch und Mehlsalbei. und Vorräte. Hier legt neue Behausung im Umkreis. Zurück
die Königin bis zu
Die Nachfrage nach bienenfreund- 2000 Eier am Tag.
bleibt die andere Hälfte des Volkes;
licher Flora ist überall gestiegen. Die Ein Absperrgitter, sie zieht sich eine neue Königin heran.
fränkische Firma Rieger-Hofmann, das nur die kleineren Das ist die Art der Bienen, sich zu
Fabrikant von Wildblumensamen, Arbeiterinnen durch- vermehren. Der Schwarm ist quasi die
musste bereits den Notstand erklä- lässt, hält sie vom Geburt einer neuen Kolonie – und
ren: »Trotz Personalaufstockung« Honigraum fern. nebenher ein schwerer Schlag für die
könnten vorerst keine Privatkunden Milben. Er wirft die Lästlinge um
mehr beliefert werden. Bodenplatte
Kein Zweifel, die Honigbiene ist mit Gitter zur Belüftung Flugloch
* Thomas D. Seeley: »The Lives of Bees«.
das Tier der Zeit. Anrührend ist vor Princeton University Press; 376 Seiten.

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Wochen zurück. Denn in der alten Höhle,


wo die meisten verblieben sind, fehlt es
lange Zeit an der dringend benötigten
Brut. Es dauert immer eine Weile, bis die
junge Königin mit dem Eierlegen beginnen
kann. Da sind bereits zahlreiche Parasiten
eingegangen. Kurz: Schwärmen ist gesund.
Herkömmliche Imker setzen dagegen
allerhand Tricks ein, damit ihre Völker gar
nicht erst auf die Idee kommen – denn Bie-
nen, die abgehauen sind, produzieren kei-
nen Honig mehr. Zudem müssen die Aus-
reißer wieder eingefangen werden.
Zum Glück gibt es praktikable Kompro-
misse. Bienenforscher haben Methoden
ausgetüftelt, welche die Segenswirkung ei-
nes Schwarms simulieren, ohne dass die
Bienen tatsächlich die Flucht ergreifen.
In jedem Fall gilt: Die meisten Schritte
hin zur bienengerechteren Haltung be-
deuten mehr Arbeit, weniger Ertrag oder
beides. Seeley setzt deshalb vor allem auf
Bienenfreunde, denen es nicht ums Ge-
schäft geht. Im Zweifelsfall könnte das
durchaus die Mehrheit sein – von den rund
136 000 Bienenhaltern in Deutschland
sind weniger als ein Prozent Berufsimker.
Einer von ihnen ist Ansgar Westerhoff,
Bioimker im brandenburgischen Örtchen
Worin östlich von Berlin. Rund 6000 Völ-

BRIAN FINKE
ker fliegen für ihn, sein Betrieb gilt als
größter im Land. Westerhoff stellt seine
Bienenstöcke großteils im Umkreis auf. Er
expediert aber auch mal ein paar Hundert Biologe Seeley: Härte der natürlichen Auslese
Magazine per Lastwagen in den fernen
Schwarzwald, wenn dort der Honigtau der
Läuse von den Tannen tropft. Waldhonig Eben das ist aber auch zum Problem Gerhard Liebig, Bienenforscher in Bo-
bringt gutes Geld. geworden. Denn was die Imker wollen, chum, hat damit kein Problem. Aus seiner
Gegen die Milbe behandelt der Imker macht ihren Geschöpfen oft genug das Sicht kann den Bienen gar nichts Besseres
mit Ameisensäure, drei- bis sechsmal im Leben schwer. Wenn die Biene die Wahl passieren als ein Imker, der mit gütiger
Jahr. Keine schöne Arbeit für ihn, aber hat, siedelt sie in engen Nisthöhlen hoch Hand ihr Schicksal lenkt. »Ohne Betreu-
erträglich. Und was hält er von Thomas in den Bäumen, wo es warm ist und ewig ung könnte kaum ein Volk bei uns über-
Seeley und der darwinistischen Bienenhal- dunkel – und wo niemand stört. leben«, sagt er. »Es würde verhungern
tung? »Als Biologe kann ich das hundert- Der Imker aber ist ein notorischer Bast- oder an der Varroa eingehen.«
prozentig unterschreiben«, sagt Wester- ler. Er steckt seine Völker in geräumige Liebig gilt als einer der kundigsten unter
hoff. Als Bienenhalter hat er, kein Wunder, Kistentürme aus mehreren stapelbaren den deutschen Imkern. 37 Jahre lang forsch-
seine Bedenken. Aber vor allem graut ihm Etagen (siehe Grafik). Dort bauen die Bie- te und tüftelte er an der Universität Hohen-
vor den Jahren des Elends. »Evolution«, nen ihre Waben in bewegliche Rähmchen, heim. Auch jetzt, als Rentner, hält er noch
sagt er, »das heißt Tod und noch mal Tod.« die der Imker jederzeit herausfingern gut 250 Völker, die er unentwegt für Expe-
Ein verendetes Bienenvolk ist traurig kann wie die Akten aus einem Hängere- rimente einspannt. Liebigs Bienen mussten
anzusehen: wie eine ausgelöschte Stadt. gister. Nach Belieben hängt er sie um, zum Beispiel die Wundermittel testen, die
Kurz zuvor summten noch Zehntausende nimmt die einen heraus, setzt andere hin- diverse Erfinder gegen die fatalen Milben
geschäftige Bienen in der Kiste, aus den zu. Er zerlegt seine Völker und mischt sich aufbieten: den »Varroa-Killer-Sound«, der
Wabengassen stieg warmer Honigduft neue. die Parasiten mit hochfrequentem Sirren
auf – und dann liegt alles kalt, still und Die Imkerei funktioniert wie ein Lego- zu töten verheißt. Oder die »Bienensauna«,
verlassen da. Meist findet sich nur mehr spiel. Es gibt allerhand Klötzchen, und wer die den Stock auf 41 Grad Celsius aufheizt.
eine Handvoll toter Bienen; die meisten sie richtig zusammensteckt, kann sich eine Die Bienen halten das noch knapp aus, die
sterben draußen im Gelände. tüchtige Bienenkolonie bauen, eine Honig- Milben sterben ab – theoretisch. Bei Liebig
Ohne Behandlung droht dieses Los vier maschine aus lebenden Teilen. Sie am fielen beide Apparate durch.
von fünf Völkern. »Das müssen Sie emotio- Brummen zu halten erfordert ständige Bas- Der Forscher hat aber auch schon ver-
nal erst einmal verkraften«, sagt Westerhoff. telei, und viele Imker lieben das. suchsweise ganz auf eine Varroabehand-
»Und wirtschaftlich auch.« Er glaubt, dass Sie haben in der Regel schon auch ein lung verzichtet – bislang mit wenig Erfolg.
die große Wende wohl schon an der Klein- Herz für ihre Tiere – wenngleich sie ge- Den Berichten über resistente Völker an-
teiligkeit der Bienenhaltung in Deutschland legentlich von »Bienenmaterial« und derswo traut er nicht so recht: »Da fehlen
scheitere. 96 Prozent der Imker haben nicht »Zuchtstoff« fachsimpeln. Aber die Biene mir die genauen Daten, die das belegen.«
mehr als 25 Völker, weiß Westerhoff: »Die als Nutztier unterliegt einem Leistungskal- Liebig hält die Klagen über die Milben-
machen alle, was sie wollen.« kül wie die Milchkuh und die Legehenne. plage ohnehin für übertrieben. »Wer recht-

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»Die Räuber stehen minutenlang still auf


den Waben und saugen sich mit Honig voll.
In der Zeit können die Milben in Ruhe auf-
steigen.« Und dann werden die Parasiten
wie mit Helikoptern zu ihren neuen Wir-
ten geflogen – praktischer geht es nicht.
Schlimmer noch: Die Passagiere tragen
gefährliche Viren in sich. Das sind wohl
die wahren Killer, denen die Kolonie am
Ende erliegt. Ihre Stunde schlägt, wenn
die Milben an einer Bienenlarve zu saugen
beginnen. Dann dringen die Viren durch
die Stichwunden in ihre Opfer ein.
Besonders gefürchtet: das Flügeldefor-
mationsvirus. Die Bienen, die es befallen
hat, schlüpfen oft schon mit verkrüppelten
Flügeln. Sie sind in der Regel zu krank
zum Arbeiten und sterben früh.
Das »tödliche Duo« (Seeley) aus Milbe
und Virus führt vor, wie weit sich die Im-
kerei von der Bienennatur entfernt hat.
Umso besser, dass es noch wild lebende
Völker gibt. An ihnen lässt sich studieren,
was die Spezies braucht, um selbstständig
ihr Dasein zu meistern.

KEVIN FRAYER / GETTY IMAGES


Lange Zeit interessierte sich kaum je-
mand dafür, wie Honigbienen in Freiheit
leben. Es schien sogar ausgemacht, dass
es sie dort gar nicht mehr gibt. Das war
ein Irrtum. Thomas Seeley schätzt, dass
sich über den Bundesstaat New York rund
90 000 wild lebende Kolonien verteilen –
Sammler bei Wildhonigernte in Südchina: Das robusteste Insekt, das es gibt mehr, als es dort an betreuten Völkern gibt.
Sogar im dicht besiedelten Deutschland
verbergen sich Honigbienen, die der im-
zeitig behandelt, kommt gut damit klar«, Bauer zur Unzeit Pestizide gespritzt hat. kerlichen Obhut entkommen sind. Erst im
sagt er. »Dann macht die Arbeit auch nach Das Volk mobilisiert dann seine Reserven, vergangenen Jahr berichteten die Würz-
wie vor Freude.« Und der amerikanische und schon bald sind die Verluste durch burger Biologen Patrick Kohl und Benja-
Kollege Seeley mit seinem Aufruf zur Um- neue Brut ersetzt. min Rutschmann von einer überraschen-
kehr? »Der versteht nicht zu imkern.« Die Varroamilbe jedoch bringt das ein- den Entdeckung: Es war ihnen gelungen,
Liebig ist bekannt für Streitlust und gespielte System der Bienenhaltung an sei- unbetreute Bienenvölker in alten Buchen-
Freude am unverblümten Urteil. Befunde ne Grenzen. Ursprünglich, in ihrem asia- wäldern aufzuspüren. Dort gibt es Baum-
von Kollegen tut er gern als »ganz tischen Lebensraum, war die Milbe nur höhlen, die offenbar von entflogenen
schlimm«, als »Blödsinn« oder »großen ein Plagegeist. Zur tödlichen Gefahr wur- Schwärmen besiedelt worden sind.
Quatsch« ab. Wahrhaft zuwider ist ihm de sie erst im Westen, unter den Bedin- Im deutschen Nutzwald sind alte Höh-
aber sichtlich der Eifer der Bienenretter. gungen der modernen Imkerei. lenbäume selten, aber in der Not ent-
Er hält das für irregeleiteten Alarmismus. Normalerweise vernichtet ein Parasit decken findige Bienen selbst in der Groß-
Plötzlich fingert der Forscher an seinem seinen Wirt nicht – als Nächstes ginge er stadt vielerlei Verstecke. Das Onlineportal
Hinterkopf herum. Eine Biene hat sich ja selbst zugrunde. So war es auch bei der Beetrees.org verzeichnet allein in Mün-
dorthin verirrt. Liebig pflückt sie so behut- Milbe. Früher war sie auf die Kolonie an- chen 41 bekannte Wohnstätten. 8 davon
sam aus dem Haar, dass ihr gar nicht ein- gewiesen, in der sie lebte; die Nachbarvöl- sollen derzeit besiedelt sein.
fällt, ihn zu stechen. Dann trägt er das Tier- ker waren meist zu weit entfernt. Für den Bienenforscher Seeley ist das
chen an den Flügeln nach draußen. »Die Die Massenhaltung der Bienen dagegen ein Zeichen dafür, wie selbstständig die
Bienen, die wir Imker haben, sind schon dreht die Spielregeln um: Dem Parasiten Honigbienen im Grunde immer noch sind
in Ordnung«, sagt er, als er wiederkommt. kann das Los seiner Kolonie heute egal – nach all den Jahrhunderten der Zucht,
Wer das Wohl der Tiere vor allem an sein. Er findet ja ringsum reichlich neue des Zurichtens und der Domestizierung.
Honigleistung und Volksstärke bemisst, Opfer. Und die Milbe profitiert nun sogar »Die Bienen sind bis heute Wildtiere ge-
hat tatsächlich wenig Grund zur Sorge. vom Kollaps ihres Wirtes. Denn sterbende blieben«, sagt er. »Und egal was wir mit
Pech für die Biene, könnte man sagen, dass Völker wirken wie Köder auf ihre gesun- ihnen anstellen, sie können jederzeit wie-
sie eine Menge aushält. »Das Volk als den Nachbarn; sie werden oft ausgeraubt. der ohne uns leben.« Manfred Dworschak
Superorganismus kann unglaublich viel Tausende Plünderer kommen angebraust,
kompensieren«, erklärt der Kirchhainer überrennen die Wächterbienen am Flug-
Bienenforscher Büchler. »Unter den Insek- loch und fallen über die Honigvorräte her. Video
Was die Bienen
ten ist die Honigbiene das robusteste, das Von diesen Raubzügen bringen die In- retten könnte
es überhaupt gibt.« vasoren auch die Milben der sterbenden spiegel.de/sp252019bienen
Da können auch mal ein paar Tausend Kolonie mit nach Hause. »Wir haben uns oder in der App DER SPIEGEL
Sammelbienen verloren gehen, weil ein das aus der Nähe angesehen«, sagt Seeley.

100 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Wissenschaft

»Unwissen macht uns


manipulierbar«
SPIEGEL-Gespräch Der Informatiker Iyad Rahwan erklärt, wie Algorithmen unser
politisches Handeln prägen – und wie Menschen sich wehren können.

K
aum mehr als ein Schreibtisch und nach auf meinem Laptop eine Werbung, mehr über uns, als die Stasi jemals über
ein paar Stühle stehen beim Inter- die zum Inhalt unseres Gesprächs passt. ihre Bürger wusste.
viewtermin im Büro des neuen Dabei besitzen wir zu Hause weder eine SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass viele
Direktors am Max-Planck-Institut Alexa noch eine andere algorithmenge- Menschen trotzdem jede neue App aus-
für Bildungsforschung in Berlin – bislang steuerte Maschine, die uns zuhören könn- probieren wollen?
lebte Iyad Rahwan in Cambridge in den te. Jedenfalls wissen wir nichts davon. Sol- Rahwan: Sie halten sich für Profiteure des
USA. Nun wird er vom renommierten Mas- che Situationen verunsichern mich. Systems, weil sie kostenlos zahlreiche
sachusetts Institute of Technology (MIT) in SPIEGEL: Wie reagieren Sie in diesen Mo- Dienste in Anspruch nehmen können, die
die deutsche Hauptstadt wechseln; auch sei- menten? das Leben wesentlich bequemer machen.
ne Frau, eine Australierin, wird im Stadtteil Rahwan: Ich suche nach Erklärungen und Dass sie den Service mit ihrer Privatheit
Wilmersdorf forschen. Die neuen Kollegen sage mir, dass es ein Zufall sein kann. Aber und Autonomie bezahlen, bemerken sie
sind gespannt: Rahwan, 41, ist als Informa- genauso ist es denkbar, dass eines unserer nicht – auch weil wir bislang kaum eine
tikwissenschaftler weltweit bekannt; er un- digitalen Geräte die Gespräche eben doch Möglichkeit haben, genau zu erfahren,
tersucht, wie die Digitalisierung den Alltag auswertet, ohne dass wir darüber infor- welche digitalen Spuren wir hinterlassen
von Menschen verändert, und denkt dabei miert sind. Es kann sogar sein, dass all und was andere damit anstellen können.
gleichermaßen sozialwissenschaftlich und die Algorithmen, die ich ständig mit mei- Dieses Unwissen macht uns manipulierbar.
technologisch. Sein Hauptinteresse gilt nen Daten bediene, längst so viel über Internetgenerierte Fake News wie im ame-
einer zukunftsentscheidenden Frage: Wie mich wissen, dass sie vorausberechnen, rikanischen Präsidentschaftswahlkampf
können Individuen und Gesellschaften die was mich umtreibt, und dann passgenau sind dafür nur ein Beispiel.
Digitalisierung der Welt besser begreifen die entsprechende Werbung einspielen. SPIEGEL: Ihre Kollegen sind sich uneinig
und steuern? Dass Rahwan künftig in Berlin Eben darin liegt das enorme und unter- darüber, ob Computerprogramme mit ge-
arbeitet, kann als Scoop der Max-Planck- schätzte Problem unserer digitalisierten zielten Falschmeldungen in sozialen Netz-
Gesellschaft gelten. Gewöhnlich zieht es Welt: Wir verstehen nur sehr begrenzt, werken den Ausgang einer Wahl tatsäch-
Talente eher dorthin, wo Rahwan her- welche Informationen gesammelt und aus- lich entscheidend beeinflussen können.
kommt – an die amerikanischen Elite-Insti- gewertet werden, wenn wir eine Such- Rahwan: Es gibt zahlreiche Formen un-
tute. Er habe mehrere Gründe für seinen maschine benutzen, Kleidung bestellen terschwelliger algorithmengesteuerter Ein-
Wechsel, sagt Rahwan, der einer von vier oder uns überhaupt des Internets bedie- flussnahme in der Politik; manche sind
Direktoren am Max-Planck-Institut sein nen. Manche Onlineplattformen wissen sehr subtil, einige meiner Kollegen in den
wird. Neben der Aufgabe und dem großzü- USA haben das untersucht. In einer
gigen Forschungsbudget reize ihn vor allem Studie wurden Bürger per Facebook am
Berlin. Rahwan ist in Aleppo geboren, hat Wahltag daran erinnert, ihre Stimme
Syrien als Kind verlassen, kehrte als Schüler abzugeben. Eine zweite Gruppe bekam
für ein Jahr dorthin zurück und studierte zusätzlich die Information, welche ihrer
in Australien. Sein Vater lebt nach wie vor Freunde bereits gewählt hatten. Der so-
im kriegszerstörten Aleppo; die Mutter und ziale Druck hat dazu geführt, dass diese
der Bruder sind in die Vereinigten Arabi- Gruppe dann zuverlässiger zur Wahl ge-
schen Emirate geflüchtet. Er fühle sich mit gangen ist.
dieser Biografie in Berlin gut aufgehoben, SPIEGEL: Was ist an diesem Vorgehen pro-
meint der Wissenschaftler – in einer Stadt, blematisch? Die Wahlbeteiligung zu stei-
die den Krieg erlebt habe und heute frei sei. gern ist in demokratischen Gesellschaften
doch grundsätzlich erwünscht.
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Herr Rahwan, in welchen Mo- Rahwan: Das Problem entsteht, sobald
menten fühlen Sie sich der künstlichen nur die potenziellen Wähler einer Partei
Intelligenz in Ihrem Computer, Ihrem eine derartige Information bekommen und
Smartphone und anderen digitalen Gerä- damit die Chancen dieser Partei steigen.
ten ausgeliefert? Und da Algorithmen mithilfe der im Inter-
Rahwan: Wenn ich mich mit meiner Frau net verfügbaren digitalen Spuren relativ
unterhalte, erscheint manchmal kurz da- zuverlässig errechnen können, wo ein
Mensch politisch steht, lassen sich diese
Das Gespräch führte die Redakteurin Katja Thimm Forscher Rahwan Wähler ziemlich sicher finden. Die gute
in Berlin. »Wir haben als Gesellschaft die Wahl« Nachricht: Wir haben als Gesellschaft die

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ALY SONG / REUTERS


Roboterproduktion im chinesischen Suzhou: »Irgendwann werden wir ihr Verhalten nicht mehr von dem eines Menschen unterscheiden können«

Wahl. Wir müssen unsere privaten Daten geben, damit er im allgemeinen Interesse dings sind auch Informatikwissenschaftler
ja nicht an das Netz ausliefern. allgemeingültige Regeln durchsetzt. Nun häufig nicht ausreichend über die digitale
SPIEGEL: Es wird schwierig werden, die ist eine Situation entstanden, in der wir Welt informiert.
Masse der Menschen davon zu überzeugen, einen Teil unserer Freiheiten an Algorith- SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
künftig auf das Internet zu verzichten. men abgeben, die unser politisches Han- Rahwan: Unabhängigen Forschern fehlt
Rahwan: Wir könnten beides haben: den deln mitbestimmen, ohne dass wir sie mit wichtiges Wissen, weil sie kein Recht ha-
Komfort der digitalen Angebote und un- den Mitteln unserer traditionellen Gewal- ben, die Daten oder internen Studien von
sere Privatsphäre. In Forschungslabors tenteilung kontrollieren könnten. Internetunternehmen einzusehen. Das hat
wird längst an Technologien gearbeitet, SPIEGEL: Wie sollte solch ein Vertrag aus- auch damit zu tun, dass Firmen unter Ver-
die einen Einblick in private Rohdaten ver- sehen? dacht geraten, wenn sie solche Einblicke
hindern können. Wir müssten dann aller- Rahwan: Das ist eine der dringlichsten Fra- gewähren.
dings bereit sein, für Suchmaschinen, Rou- gen, und wir müssen die Antwort erst noch SPIEGEL: Das müssen Sie näher erklären.
tenplaner und andere Dienste zu bezahlen. finden. Es werden Fachleute zusammen- Rahwan: Es ist noch nicht lange her, da
Ohne öffentlichen Druck werden sich sol- arbeiten müssen, die sich bislang nicht gut haben Wissenschaftler im Auftrag von
che Lösungen nicht durchsetzen lassen. verstehen. Facebook gemeinsam mit Forschern einer
Kein Unternehmen wird freiwillig auf den SPIEGEL: Von wem reden Sie? amerikanischen Eliteuniversität eine Stu-
eigentlichen Schatz im Onlinegeschäft, auf Rahwan: Da sind zum einen wir Informa- die veröffentlicht. Sie zeigt, dass sich die
die Daten seiner Kunden, verzichten. tiker, die nutzerfreundliche Systeme ent- Stimmung eines Facebook-Nutzers ent-
SPIEGEL: Im Februar hat das Bundeskartell- wickeln können, aber üblicherweise wenig sprechend verändert, wenn man ihm die
amt die Kriterien, nach denen Facebook darüber nachdenken, ob Algorithmen un- eher positiven oder die negativen Nach-
Daten sammeln darf, deutlich verschärft. sere Persönlichkeitsrechte beschneiden richten seiner Facebook-Freunde zuerst an-
Plädieren Sie für weitere Auflagen? oder den Wettbewerb verzerren. Auf der zeigt. Es ist eine großartige Studie, weil sie
Rahwan: Wir benötigen mehr als ein paar anderen Seite stehen Juristen, Ethiker, So- belegt, dass man menschliches Befinden
neue Auflagen oder Gesetze. Wir brau- zialwissenschaftler und Ökonomen. Und auf eine vorhersagbare Weise über eine In-
chen einen neuen Gesellschaftsvertrag. die haben oft nur ein sehr begrenztes Ver- ternetplattform beeinflussen kann. Und es
Seit Jahrhunderten funktionieren demo- ständnis von Technologie. Dennoch bera- ist toll, dass Facebook diese Ergebnisse ver-
kratische Gesellschaften, indem Bürger ten sie Verwaltungen und Regierungen bei öffentlicht hat, vielleicht lässt sich solches
einen Teil ihrer persönlichen Freiheiten deren Konzepten für die digitale Zukunft. Wissen sogar therapeutisch nutzen.
an den Staat als übergeordnetes Organ ab- Das ist nicht immer zielführend. Aller- SPIEGEL: Wo lag dann der Haken?

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 103


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Wissenschaft

Rahwan: In der Öffentlichkeit war plötz- Menschen über eine Website an dem Pro- anders als wir Menschen sind sie dann
lich von Gefühlsmanipulation die Rede. jekt beteiligt. Es geht um eine wirklich zu- nicht in der Lage, reflexhaft zu reagieren.
Seither hat das Unternehmen derartige kunftsrelevante Frage: Wie beurteilen wir Wir brauchen daher Instanzen, die syste-
Studien nicht mehr publiziert, weil es einen Entscheidungen, die intelligente Maschi- matisch beobachten, ob künstliche Intelli-
Imageschaden und damit einen Wertver- nen in Konfliktsituationen treffen? Mit an- genz tatsächlich das leistet, was sie vorgibt.
lust fürchtet. deren Worten: Welche moralischen Erwar- Wir sollten das Verhalten von Robotern
SPIEGEL: Auf öffentliche Kritik zu ver- tungen haben Menschen an das Verhalten und anderen algorithmengesteuerten Ma-
zichten wäre keine Alternative. Außerdem von Robotern? schinen genauso systematisch erforschen
bedient sich Facebook der Daten seiner SPIEGEL: Und wie lautet die Antwort? wie das von Tieren.
Nutzer und müsste allein deshalb deren Rahwan: Wir haben diese Frage am Bei- SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass
Unwillen aushalten. spiel eines selbstfahrenden Autos durch- solche Maschinen irgendwann einmal ethi-
Rahwan: Aber Kritik, die auf mangeln- gespielt und Unfallszenarien ersonnen, in sche Überlegungen anstellen werden –
dem Wissen beruht, bringt uns nicht denen das Auto in ausweglose Situationen und ein selbstfahrendes Auto nach einem
weiter. Auch deswegen brauchen wir den gerät. Egal wie es sich verhält – es geht Unfall besonders aufpasst, weil es sich ge-
Zugang zu den Rohdaten der Internet- für mindestens einen Menschen tödlich wissermaßen grämt?
firmen: Es muss sichergestellt werden, aus. Das Ergebnis war in allen Ländern in Rahwan: Ob Roboter oder andere intel-
dass die Gesellschaft überhaupt in die drei Punkten eindeutig: Das Auto sollte ligente Maschinen einmal Bewusstsein ha-
Lage versetzt wird, diese neuen mächtigen sich so verhalten, dass es eher das Leben ben werden, ist schwierig zu beantworten,
Mitspieler zu kontrollieren. Frü- weil wir längst noch nicht im
her haben Industrieunterneh- Einzelnen verstehen, was das
men verseuchtes Abwasser in menschliche Bewusstsein aus-
die Flüsse geleitet, weil es in macht. Dass sich ein Roboter
ihrem Interesse war. Im über- zerknirscht seiner Fehler grämt,
tragenen Sinn können Internet- halte ich für eher unwahrschein-
unternehmen mit ihren Algo- lich. Dass er ausreichend Empa-
rithmen heute ähnliche Schäden thie aufbringt, um alte oder
anrichten. Im Unterschied zu kranke Menschen zugewandt zu
Flüssen, aus denen sich öffent- pflegen, ist hingegen realistisch.
lich Proben entnehmen lassen, Es existieren bereits Technolo-
sind die Algorithmen jedoch gien, die anhand eines Gesichts-
eine Blackbox. ausdrucks die Gefühlslage eines
SPIEGEL: Wenn man Ihnen Menschen erkennen können.
zuhört, bekommt man Ver- Gleichzeitig entwickeln Pro-
ständnis für Kulturpessimisten, grammierer Roboter, die immer
die sich am liebsten vom digi- glaubhafter so wirken, als hätten
MORALMACHINE.MIT.EDU
talen Zeitalter verabschieden sie Emotionen. Irgendwann wer-
würden: Wir werden manipu- den wir deren Verhalten nicht
liert, wir werden instrumen- mehr von dem eines Menschen
talisiert – und wir merken es unterscheiden können.
nicht einmal, weil die künst- SPIEGEL: Das klingt, als behiel-
liche Intelligenz uns längst über- ten die Autoren von Science-
legen ist. Unfallszenarien aus MIT-Experiment Fiction-Filmen recht: Wir leben
Rahwan: So düster ist die Lage »Welche moralischen Erwartungen haben Menschen an Roboter?« mit Maschinen, die uns bis in un-
nicht. Man kann auf sehr spiele- ser Innerstes verstehen – uns
rische Weise lernen, wie künst- aber immer rätselhafter werden.
liche Intelligenz unser Verhalten und un- eines Menschen als das Leben eines Tieres Rahwan: Wir könnten theoretisch Robo-
sere Wahrnehmung beeinflusst. bewahrt. Das Leben mehrerer Menschen ter entwickeln, die unsere Theorie des
SPIEGEL: Bitte nennen Sie Beispiele. ist wichtiger als das eines einzelnen. Und Geistes teilen und damit unsere Gefühle,
Rahwan: Wir haben in Boston mit einer Kinder und Jugendliche sind besonders Absichten und Schlussfolgerungen verste-
Albtraummaschine gearbeitet. Sie nutzt schützenswert. hen. Aber am Ende wird die zentrale Frage
eine Technologie, die furchterregende Ge- SPIEGEL: Solche Szenarien sind nicht sein, ob wir ihren Algorithmen zutrauen,
sichter erschafft und uns so vor Augen mehr nur spielerisch. In Arizona wurde in unserem Sinne zu handeln. Ich würde
führt, wie sich unsere Ängste mit digitalen im vergangenen Jahr eine Frau von einem heute mein Kind und seine Schulbildung
Mitteln verstärken lassen. Eine fast iden- selbstfahrenden Testauto überrollt, als keinem Roboter anvertrauen, den eine
tische Software lässt Fotos von Städten sie ihr Fahrrad im Dunkeln über eine Firma entwickelt hat, die damit Geld ver-
aussehen, als wären sie im Krieg bom- vierspurige Straße schob. Ein Hindernis dienen möchte. Aber wenn so eine Ma-
bardiert worden. Diese Bilder lösen tiefes wie sie, das sich zudem regelwidrig ver- schine in 50 Jahren der bessere Lehrer sein
Mitgefühl aus. Betrachtet man beide hielt, hatten die Programmierer nicht vor- sollte – wäre es dann nicht unverantwort-
Projekte nebeneinander, begreift man gesehen. lich, ein Kind noch zu einem menschlichen
sehr eindrücklich, dass bereits winzige Rahwan: Mit derartigen Unglücken wer- Lehrer zu schicken? Wir befinden uns in
Nuancen in der Programmierung einen den wir zu leben lernen müssen. Wir kön- einem gigantischen Experiment. Uns von
fast entgegengesetzten Effekt hervorrufen nen intelligente Maschinen wie diese Au- vornherein auf unverrückbare Positionen
können. tos zwar so ausstatten, dass sie alle gängi- festzulegen ist nicht klug. Wir sollten offen
SPIEGEL: Ein weiteres Projekt in Boston gen Situationen im Straßenverkehr perfekt bleiben für neue Antworten.
nannte sich die »Moralmaschine«. bewältigen. Aber es wird kaum möglich SPIEGEL: Herr Rahwan, wir danken Ihnen
Rahwan: Daraus haben wir viel gelernt, sein, sie vorausschauend für alle mög- für dieses Gespräch.
weltweit haben sich mehr als 2,5 Millionen lichen Momente zu programmieren. Und

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Paar des
Grauens
Geschichte Ein britischer
Historiker hat die Prostitution im
mittelalterlichen Deutschland
erforscht – und dabei verblüffende
Entdeckungen gemacht.

D ie historische Figur des Lienhart


Fryermut würde in jeder TV-Serie
einen famosen Fiesling abgeben.
Gemeinsam mit seiner Partnerin Barbara
Tarschenfeindin betrieb Fryermut im
15. Jahrhundert ein Bordell in der damali-

GETTY IMAGES
gen schwäbischen Reichsstadt Nördlingen.
Jene unglücklichen Frauen, die dort ihre
Körper anbieten mussten, beutete das
Horrorpaar schonungslos aus. Die Huren Bordellszene im 15. Jahrhundert*: »Das Leben dort konnte die Hölle sein«
wurden geschlagen, ausgeplündert und
gefangen gehalten. Doch erst ein anderes
Verbrechen brachte die grausamen Freu- unternehmen von der offiziellen Verwal- dem öffentlichen Bordell von zwölf Ange-
denhauspächter zu Fall. tung in die Hände privater Betreiber ge- stellten detailliert schildern ließen. »Da sie
Fryermut und Tarschenfeindin zwangen geben wurden. als unehrenhafte Frauen galten, war die
die schwangere Prostituierte Els von Ey- Wie schnell jedoch die Toleranz gegen- Aussage von Prostituierten vor Gericht
stett, ihr Kind mit einem Trunk aus Immer- über Prostituierten erschöpft war, die sich meist nicht viel wert«, sagt Page.
grün, Karotten, Lorbeer und Nelken un- außerhalb dieses Systems bewegten, zeigt Durch die peniblen Aufzeichnungen der
gefähr in der 20. Schwangerschaftswoche ein anderer von Page recherchierter Fall. In Ermittler blieb der Nachwelt ein schockie-
abzutreiben. Für diese Untat landete das Augsburg überquerte 1497 eine Frau mit Die- rendes Sittengemälde öffentlich organisier-
Horrorpaar vor Gericht. Dass die Details besgut im Gepäck die Stadtgrenze und zog ter Liebesdienste im Mittelalter erhalten.
ihrer damaligen Verbrechen der Nachwelt so die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf Lienhart Fryermut prügelte auf die im
erhalten blieben, ist jenen umfänglichen sich. Eine Befragung durch den Stadtrat of- Nördlinger Frauenhaus angestellten Dir-
Ermittlungen zu verdanken, die der Stadt- fenbarte, dass die Unbekannte aus dem rund nen offenbar nach Lust und Laune mit ei-
rat von Nördlingen 1471 einleitete. 60 Kilometer entfernten Kaufbeuren geflo- ner Peitsche oder einem Gürtel ein. Auch
Kaum jemand hat die Ermittlungsakten hen war, wo sie von ihrem Arbeitgeber miss- seine Partnerin Barbara Tarschenfeindin
so eingehend studiert wie der britische handelt worden sei – dem örtlichen Henker. teilte Schläge aus, wenn die Frauen nicht
Historiker Jamie Page. Der Forscher grub Im Mittelalter mussten Scharfrichter ne- genug Geld anschafften. Zudem mussten
zudem in diversen anderen Stadtarchiven ben ihrem blutigen Handwerk häufig auch die Geknechteten ihre kargen Mahlzeiten
die Akten von mittelalterlichen Fällen aus, die Beaufsichtigung käuflicher Damen be- aus eigener Tasche bezahlen – und das zu
in denen Zuhälter oder Prostituierte mit herrschen. Daher lag für die Ratsherren der deutlich überhöhten Preisen.
dem Gesetz in Konflikt gerieten. Die von Schluss nahe, dass es sich um eine flüchtige Waren die Frauen nicht ihren Freiern zu
ihm zutage geförderten Dokumente geben Hure handeln müsse. Für Historiker Page Diensten, zwang das Paar des Schreckens
einen seltenen Einblick in eine brutale bezeugen die Augsburger Akten jene »feind- sie, als Spinnerinnen zu schuften. So viel
Welt, die oft verzerrt oder verkitscht dar- liche Stimmung«, die »heimlichen Prosti- Rohheit war den mittelalterlichen Amts-
gestellt wird, etwa in dem auch verfilmten tuierten« zum Ende des 15. Jahrhundert trägern dann doch zu viel. Fryermut wurde
Roman »Die Wanderhure«. Die Wirklich- entgegenschlug. Die Richter attestierten der nach Abschluss der Ermittlungen aus der
keit war eine andere. Angeklagten ein »ellend verschmecht le- Stadt gejagt; auch Tarschenfeindin wurde
»Eine weitverbreitete Sicht auf Prosti- ben« (ein elendes, schändliches Leben). verbannt, zuvor jedoch als Verantwort-
tution im späten Mittelalter gaukelt uns Nicht mehr auffindbar sind Dokumente, die liche für die Abtreibung der Els von Eystett
vor, das Bordell sei damals ein sinnlicher Auskunft über die verhängte Strafe geben. mit einem Schandmal gebrandmarkt.
Ort voll ausgelassener Stimmung und Eine ganz andere Behandlung wurde Fortan erhielten die Prostituierten des
unschuldiger Lustbarkeit gewesen«, sagt der Prostituierten Els von Eystett in Nörd- städtischen Frauenhauses die Möglichkeit,
Page. »Tatsächlich aber konnte das Leben lingen zuteil, die zur Abtreibung gezwun- eine schlechte Behandlung zügig melden
dort die Hölle sein.« gen worden war. Schon dass man ihren zu können. Diese Reform war gleichwohl
Viele Stadtväter pflegten ein überra- Worten Glauben schenkte und in ihrem nur von kurzer Dauer.
schend lockeres Verhältnis zur käuflichen Fall ermittelte, ist für Page ein bemerkens- Ab Anfang des 16. Jahrhunderts sorgten
Liebe. Bordelle galten ihnen als Schutz ge- werter Vorgang. die sittenstrengen Verfechter der Reforma-
gen Vergewaltigungen und sonstige Beläs- Nicht minder verblüffend, dass sich die tion dafür, dass die städtischen Bordelle
tigungen von »ehrbaren Frauen« (Page). mittelalterlichen Fahnder die Zustände in nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit
Städte ließen sogar Frauenhäuser genann- verschwanden. Frank Thadeusz
te Bordelle einrichten, die wie frühe Sub- * Nachträglich kolorierter Holzstich.

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UNITED ARCHIVES / DDP IMAGES


Angebliches Ufo in New Mexico 1957: Geheimwaffe der Sowjetunion?

ein Geheimprogramm für die Jagd nach

9/11 aus dem All Ufos betrieben.


Von 2007 an bis zu seiner Auflösung
2012 habe es im Verteidigungsministerium
ein »Advanced Aerospace Threat Identi-
Esoterik Spielen Aliens mit amerikanischen Kampfpiloten Katz fication Program« gegeben, abgekürzt
und Maus? Eine Gruppe Ufologen glaubt, Beweise dafür AATIP. In anderer Form soll es mindestens
bis 2017 weitergelaufen sein, so die
zu haben, dass die nationale Sicherheit der USA in Gefahr ist. »Times«. Die internen Widerstände gegen
die Ufo-Aufspürer seien aber so groß ge-

D ie »New York Times« und die »Wa-


shington Post« gelten als beste Ta-
geszeitungen Amerikas, wenn nicht
gar der Welt. Sie stehen, besonders in tur-
Objekte rasend schnell und unaufhaltbar
in gesperrte militärische Lufträume vor-
dringen. »Wir müssen herausfinden«, so
zitiert das Blatt den Marinesprecher Joseph
wesen, dass der Chef der Truppe, ein rang-
hoher Spionageoffizier namens Luis Eli-
zondo, frustriert hingeworfen habe.
Nach Whistleblower-Manier habe sich
bulenten Zeiten, für Aufklärung und Be- Gradisher, »wer dahintersteckt, wo sie her- Elizondo dann den Journalisten offenbart.
sonnenheit – umso verblüffender ist, was kommen und was sie wollen.« Angesichts der massiven technischen Un-
beide jetzt allen Ernstes berichten: Hoch Ist es Russland? China? Iran? Die terlegenheit der USA, so habe der Infor-
über den Vereinigten Staaten gingen mys- »Times«-Autoren verschwurbeln ihren mant aus dem Pentagon gemahnt, sei die
teriöse Dinge vor sich. eigenen Verdacht so: »Niemand im Ver- nationale Sicherheit in akuter Gefahr.
Kampfpiloten, so schrieb die »Times« teidigungsministerium sagt, dass die Ob- Welch ein Scoop! Der Onlineartikel der
Ende Mai, hätten Objekte am Himmel ge- jekte außerirdischer Herkunft sind, und »Times« wurde millionenfach gelesen. Die
sehen, die sich über Stunden hinweg mit Experten betonen, dass sich gewöhnlich unscharfen Videos der unbekannten Flug-
Überschallgeschwindigkeit bewegten, kei- irdische Erklärungen für solche Ereignisse objekte – angeblich, aber nicht nachweis-
nen »erkennbaren Motor« besäßen und finden.« lich freigegeben vom Pentagon – verbrei-
kein Abgas produzierten. Vom Sommer Schon vor anderthalb Jahren hatten die teten sich viral im Cyberspace.
2014 bis zum März 2015 habe es über der drei Autoren auf der Titelseite der »Times« Sind die Aliens also wirklich schon da?
US-Ostküste fast täglich solche Begegnun- enthüllt, was Millionen Amerikaner ohne- Zwingen sie gar die hochgerüstete letzte
gen gegeben. Ein Jet sei beinahe mit einem hin ganz fest glauben: Das Pentagon habe Supermacht in die Knie? Droht ein Pearl
der Gefährte zusammengestoßen. Harbor oder ein 9/11 aus dem Weltraum?
Die »Post« erzählt ihren Lesern von Was für ein Quatsch.
kleinen kugeligen Hyper-Hightech-Gebil- Video Forscher haben zwar mittlerweile Tau-
den, die ohne Tragfläche, Rotor, Propeller Echt oder gefälscht? sende Planeten in anderen Sonnensyste-
oder Triebwerk auf rätselhafte Weise in spiegel.de/sp252019ufo men entdeckt, aber immer noch fehlt jeder
Formation flögen. Viele Male pro Monat, oder in der App DER SPIEGEL Beweis für die Existenz auch nur einer
besonders in jüngster Zeit, würden solche außerirdischen Mikrobe. Die über Jahr-

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Wissenschaft

zehnte systematisch betriebene Suche gieren sie bei einem Start-up namens »To Das lobpreisende Vorwort zu Keans Ufo-
nach Intelligenz in den Weiten des Alls ist The Stars … Academy of Arts & Science«. Werk hat der Ufo-Enthusiast John Podesta
ergebnislos geblieben. Dieses wurde 2015 mitbegründet von dem verfasst, der ebenfalls in DeLonges Serie
Dennoch werden Aliens vor allem in heißblütigen Ufo-Fan Tom DeLonge, 43 – auftritt. Podesta ist nicht irgendwer: Unter
den USA wohl niemals totzukriegen sein – dem Ex-Frontmann der nach der Jahrtau- Bill Clinton war er Stabschef im Weißen
ähnlich wie Elvis, der immer noch gesich- sendwende sehr erfolgreichen Punkrock- Haus. Später wurde er Wahlkampfleiter
tet wird, obwohl er schon mehr als 40 Jah- band Blink-182. von Hillary Clinton. Und diese warb 2016
re unter der Erde liegt. Ufos sind ein tief »To The Stars« ist eine Art Ufologen- mehrfach damit für sich, dass sie als Präsi-
verwurzelter Teil der manchmal überdreh- kirche mit Missionsauftrag: DeLonge be- dentin der USA die Archive öffnen und
ten US-Popkultur, sie schwirren durch hauptet, er sei vom Pentagon auserkoren dann endlich das Geheimwissen der Regie-
Mainstream-Medien, Hollywood, Think- worden, der Menschheit peu à peu die rung über die Ufos mit dem amerikani-
tanks, Kindsköpfe und durch die Politik. Wahrheit über Ufos nahezubringen. Des- schen Volk teilen würde.
Dass es im Pentagon hauptamtliche Ufo- wegen hat das zuletzt hoch defizitäre Un- Was Clinton in ihrem Wahlkampf nicht
Jäger gab, ist gesichert. Harry Reid, der ternehmen eine sechsteilige Fernsehdoku- sagte: Die Ufo-Geheimarchive zum Bei-
damalige Mehrheitsführer der Demokra- mentation über die einfliegenden Aliens spiel der CIA sind längst offen, zumindest
ten im US-Senat, hat AATIP 2007 erschaf- produziert. Als Kronzeugen treten darin bis in die Neunzigerjahre hinein.
fen, gemeinsam mit zwei mittlerweile ver- unter anderem DeLonge, Elizondo und Die ersten fliegenden Untertassen sich-
storbenen Senatoren, einem Republikaner Puthoff auf. Einige dieser Leute sind auch tete ein US-Privatpilot im Juni 1947 über
und einem Demokraten. Wie Reid, 79, frei- in der »New York Times« und der »Wa- dem Bundesstaat Washington. Tage später
mütig einräumte, schanzten die Männer shington Post« zu Wort gekommen – aber stürzte nahe Roswell in New Mexico an-
ihrem Herzensprojekt ein Fünf-Jahres- nicht als werbungtreibende Clowns, son- geblich ein Ufo ab. Bis Ende des Jahres
Geheimbudget von immerhin fast 22 Mil- dern als vorgeblich bestinformierte Insider. wurden den US-Behörden fast 900 Ufos
lionen Dollar zu. Die ersten Folgen von »Unidentified: gemeldet. Eine bis heute nachwirkende
Der größte Teil der AATIP-Gelder floss Inside America’s UFO Investigation« wur- Massenhysterie hatte das Land erfasst.
allerdings an den Ideengeber der Unter- den bereits auf dem Pay-TV-Sender Histo- Auch Offiziere der Air Force machten
nehmung, einen Freund und Großspender ry gesendet. Direkt davor lief die erfolg- sich Sorgen. Sie fürchteten, dass sich hinter
von Senator Reid: Robert Bigelow, 74, lebt reichste Serie des Kanals, nämlich »An- den Ufo-Phänomenen in Wahrheit über-
in Las Vegas, er besitzt eine Hotelkette cient Aliens«. Die Macher dieser Reihe legene Geheimwaffen der Sowjetunion
und eine kleine Raumfahrtfirma. Der Self- versuchen zu beweisen, dass Invasoren verbergen könnten. Mehrere Untersu-
made-Milliardär verfolgt nicht selten ex- aus dem All die Pyramiden erbaut haben chungskommissionen gingen an den Start,
zentrische oder schlicht irre Ideen. und Nazideutschland über Alien-Technik »Project Blue Book« arbeitete sogar bis
Mit seinem Vermögen und einem mitt- verfügt hat. 1969. Volle 12 618 Sichtungen wurden von
lerweile aufgelösten Privatinstitut stellt All das ist absurd genug – aber es wird Experten oft bis ins Detail analysiert.
Bigelow schon seit Jahrzehnten Ufos und noch verrückter. Ergebnis: kein Hinweis auf ausländische
Außerirdischen nach, die seiner Meinung Zu den Autoren der »Times«-Artikel Waffensysteme. Kein Hinweis auf Gefähr-
nach auf Erden ein und aus gehen. Er hat zählte die freie Journalistin Leslie Kean, dung der nationalen Sicherheit. Kein Hin-
Poltergeister studieren lassen sowie große, die 2010 ein Buch mit dem Titel »Ufos. weis auf Außerirdische. Die Air Force stell-
wütende Tiere mit stechend gelben Augen Generäle, Piloten und Regierungsvertreter te ihre Ufo-Studien ersatzlos ein.
im Nordosten Utahs, die mit Gewehrku- brechen ihr Schweigen« veröffentlicht Fast alle angeblichen Alien-Vehikel lie-
geln nicht zu verwunden sind. hat. Die deutsche Übersetzung ist im für ßen sich befriedigend erklären. Mal waren
»Bigelow Aerospace« arbeitet mit rund pseudowissenschaftliche und rechtsextre- Wetterballons im Spiel, mal Vögel, Meteo-
150 Mitarbeitern an aufblasbaren Welt- me Literatur berüchtigten Kopp Verlag er- riten, Eiskristalle oder Sinnestäuschungen;
raumstationen. Mit dem Pentagon-Geld schienen. auch Fälschungen wurden nachgewiesen.
aber gab die Firma visionäre Mini- Für viele Sichtungen seit 1955
studien in Auftrag, zum Beispiel war die CIA selbst verantwortlich.
zu durchfliegbaren Wurmlöchern Sie wusste, dass die Phänomene in
oder Antrieben, die Raumschiffe Wahrheit auf Überflüge des gehei-
schneller als das Licht beschleuni- men Spionageflugzeugs U-2 zurück-
gen. Dass viele dieser Themen die gingen, musste das im Kalten Krieg
Gesetze der Physik sprengen, störte aber stets leugnen. Nicht zuletzt so
offenbar keinen. entstand der schier unzerstörbare
Verantwortlich für viele dieser Mythos, dass die alles vertuschende
Papiere war Hal Puthoff, 82, aus US-Regierung viel mehr über Ufos
Austin, Texas. Der gelernte Physiker wisse, als sie zugebe.
steht Bigelow schon lange nahe, er Nur für etwa sechs Prozent der
ist Ex-Scientologe (»Operierender Ufo-Sichtungen haben die Experten
Thetan der siebten Stufe«), Parapsy- damals keine Erklärung finden kön-
chologe, Hellseher, kurzum: ein Eso- nen. Zeugen, die als glaubwürdig
teriker in Reinkultur. Mit zwei Söh- eingestuft wurden, hatten teils ganz
nen betreibt er ein winziges For- und gar unglaubliche Beobachtun-
schungsbüro, das nach unbekannten gen gemacht. Diese sechs Prozent
Energiequellen für die Raumfahrt Unsicherheit nähren den Ufo-Glau-
der ganz fernen Zukunft sucht. bensstreit bis heute. Er wird so lange
TTS ACADEMY

Jetzt haben Puthoff und Ufo-Jäger weitergehen, bis die Außerirdischen


Elizondo neue Jobs. Als »Vice Pre- ihn durch massenhafte Landungen
sident Science & Technology« und auf der Erde beenden. Marco Evers
»Director of Global Security« fun- Szene aus Ufo-Video der US-Navy: Flug ohne Motor

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 107


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Kultur
»Frauen dürfen machen, was sie wollen.« ‣ S. 112

Ausstellungen

Frappierende Nähe
Amateurfotos zeigen die Verfolgung der Juden.
 Dieses irritierende Bild aus dem Jahr 1944 ist ein seltenes
Dokument der Zeitgeschichte. Es zeigt den Niederländer
Juda Tas auf einem Standfahrrad, mit dem er Strom produ-
ziert, um Radio hören zu können. Er hat sich gemeinsam
mit seiner Frau Esther auf einem Dachboden in Haarlem
vor den deutschen Besatzern versteckt, die die niederlän-
dischen Juden seit 1942 in Konzentrationslager deportierten
und ermordeten. Das Bild stammt aus der Ausstellung
»The Persecution of the Jews in Photographs: The Nether-
lands, 1940 – 1945«, die bis zum 6. Oktober im Nationalen
Holocaust Museum in Amsterdam zu sehen ist. Gut die
Hälfte dieser Schau besteht aus bisher unveröffentlichten
Amateurbildern, Schnappschüssen, auch heimlich entstan-
denen Fotos. Sie zeigen lächelnde Menschen im Jahr 1942,
die einen Judenstern tragen müssen; Kinder; Hochzeits-
gesellschaften. Ein 1943 heimlich aus einem Fenster aufge-
nommenes Foto dokumentiert, wie verloren wirkende
Menschen auf ihre Deportation warten. Diese Amateur-
bilder schaffen eine frappierende Nähe zu den Abgebilde-
ten. Die Ausstellungsmacher recherchierten jahrelang,
um die Geschichten hinter den Aufnahmen ans Licht zu
bringen, und zum ersten Mal, so Kurator Erik Somers,
werde die Geschichte der Judenverfolgung anhand solcher
Fotos erzählt. Bisher habe die Täterperspektive die Wahr-
nehmung der Nachgeborenen beherrscht. Dieser neue Blick
wird über die Website der Ausstellung besonders ein-
NIOD, 1944​

drücklich: Dort gibt es eine Art bebilderten Podcast, man-


che Fotos werden von Zeitzeugen kommentiert – so funk-
tioniert lebendiges Gedenken. Die Schau wird ab dem
30. Oktober in der Berliner Gedenkstätte »Topographie des
Tas 1944 Terrors« gezeigt. KS

Literatur don – Vater, Mutter, vier Kinder –, erfolgreiche Leben. Im Kapitel


Sommeridylle sie mieten ein Wochenendhaus »Die Institution« besucht eine
mit dem Namen Light Trees, und Fernsehmoderatorin das Dorf,
 Es gab eine Zeit, in der die Großstädter Bell freundet sich mit dem jüngs- weil sie den Vater der Familie,
am Wochenende in der Stadt blieben und ten Sohn Harry an. Die englische einen Journalisten, interviewen
die Leute auf dem Land ihre Ruhe hatten. Schriftstellerin Jane Gardam, will. Nur ein sintflutartiger
»In dem Tal, in dem ich wohne, stehen deren Werk nach und nach ins Regen kann verhindern, dass
überall kleine Häuschen, bei denen das Deutsche übersetzt wird, hat »Bell sich »die Institution« auch im
Gras zwischen den Steinen rauswächst und und Harry« schon 1981 geschrie- Dorf einmietet. Bei der Lektüre
die seit Jahren niemand haben will«, be- ben. Damals staunte man in engli- beschleicht einen der Verdacht,
richtet der achtjährige Bell am Anfang die- schen Dörfern noch über die Leute es könnte genau dieses fiktive
ses anmutigen Romans. Die Familie von aus der Stadt, die in Kombis anreisten und England sein, das sich die Brexit-Befürwor-
Bell ist irgendwo im Norden Englands zu große Sofahunde dabeihatten, die vor ter wünschen. In der Realität wird es das
Hause, zwischen dem Meer und Manches- einer Kuh erschreckten. Gardams Buch hat so nie gegeben haben, als Sommerlektüre
ter; es gibt dort jede Menge Schafe, kleine einen ähnlichen Charme wie Astrid Lind- stellt es ein großes Vergnügen dar. CLV
Bäche, ein Hochmoor, und den Höhepunkt grens »Ferien auf Saltkrokan«, weil es sich Jane Gardam: »Bell und Harry«. Aus dem
des Sommers bildet die Heuernte. In diese aber an erwachsene Leser richtet, enthält Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin;
Idylle verirrt sich eine Familie aus Lon- es ein paar Seitenhiebe auf das sogenannte 188 Seiten; 20 Euro.

110 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Kino Verwüstung hinterließen. Nun ist die Nils Minkmar Zur Zeit
Unterirdisch außerirdisch Neufassung im Kino, sie heißt »Men in

 Typen in schwarzen Anzügen und mit


Black: International« und wurde von
F. Gary Gray inszeniert. Schon nach
Ruft den Retter
Sonnenbrillen gelten als Synonym für wenigen Minuten des Films hat man Es ist fester Bestandteil der
Coolness. Die Hollywoodstars Will Smith das Gefühl, auf einer Kostümparty deutschen politischen Kultur,
und Tommy Lee Jones, die 1997 in der gelandet zu sein, wo das Original in unsicheren Zeiten nach
Science-Fiction-Komödie »Men in Black« mit großem Eifer, aber sehr beschei- einer mythischen Gestalt zu
in diesem Outfit Außerirdische bekämpf- denen Mitteln nachgespielt wird. rufen. Lange Jahre verbrach-
ten, waren so etwas wie die wiedergebo- Chris Hemsworth zappelt quasselnd ten unsere Vorväter und Müt-
renen Blues Brothers, die zum Vergnügen durch die Gegend, während er mit riesi- ter damit, auf den Kyffhäuser
der Zuschauer ungerührt eine Spur der gen Kanonen rumballert. Tessa Thomp- zu schauen und darauf zu warten, dass
son guckt cool. Liam Neeson, der dort schlafende Kaiser Barbarossa
der in den vergangenen Jah- mit seinem Gefolge heraustritt und
ren gern brutale Rächer spiel- das Reich rettet. Alle 100 Jahre wacht
te, wirkt verbissen statt der Retter auf, und wenn dann noch
lakonisch. Die Witze werden die Raben um den Kyffhäuser kreisen,
umzingelt, als wären sie dann legt er sich wieder 100 Jährchen
Aliens, weigern sich aber am hin. Und wenn nicht, reitet er aus
Ende fast immer herauszu- zum Endkampf und besiegt das Böse.
SONY PICTURES ENTERTAINMENT

kommen. Die Dialoge sind Wer genau der ersehnte Friedens-


aneinandergereihte Rohrkre- kaiser sein würde, das wechselte biswei-
pierer, die Regie übt sich in len, mal ersehnte man Friedrich II.,
Verzicht auf Originalität. Der dann wieder Karl den Großen. In jün-
Film ist ein einziges Bemühen, gerer Zeit sehnten sich viele Deutsche
hip zu sein. Diesmal sind die bei jedem Fernsehauftritt von Helmut
schwarzen Anzüge gleich ein Schmidt nach dessen Wiederkehr.
Thompson, Hemsworth in »Men in Black: International« paar Nummern zu groß. LOB Letztlich ist auch die überraschende
Rückkehr von Friedrich Merz eine Sage:
Lange schlief er im Sauerland, nun
könnte er, so die stille Hoffnung vieler
Serien Angst vor Jobverlust geht um, in den Journalisten, das vertraute Lagerden-
Zerfall in viele Zeiten Eigenheimen fallen die Familien auseinan- ken restaurieren.
der. Ging es in der ersten Staffel vor allem Das Leben solch eines schlafenden
 Wenn das Zeitkontinuum ins Chaos zurück in die Vergangenheit, gibt es Retters darf man sich aber auch etwas
gestürzt wird, gerät das Bewusstsein jetzt ein erhöhtes Reiseaufkommen in die langweilig vorstellen, also ruft heut-
aus den Fugen. Die zweite Staffel des deut- Zukunft; eine altertümlich anmutende zutage der findige Friedenskaiser sich
schen Mysteryspektakels »Dark« fährt die- Maschine macht es möglich. 2052 sieht der einfach selbst. Oskar Lafontaine lässt
ser Logik gemäß verstörende Begegnun- Ort Winden, in dem der Wechsel von sein sogenanntes Umfeld verbreiten, so
gen auf: Eine Mutter schließt zärtlich ihren der Atom- zur grünen Energie offenbar ein Bericht, es sei an der Zeit, die Dif-
aus der Zukunft angereisten Sohn in doch nicht gelungen ist, aus wie die Sperr- ferenzen zwischen der SPD und der
die Arme, der vom Alter her ihr Liebhaber zone um Tschernobyl und wird von pitto- Linken zu überwinden und beide Par-
sein könnte; die Chefin eines Atomkraft- resk zerrupften, paramilitärischen Trup- teien zu vereinigen. Denn, wieder das
werks trifft auf eine greise Version ihrer pen beherrscht. Obwohl sich »Dark« brav Umfeld, er bedauere, »in welchem Zu-
selbst. Die »Dark«-Schöpfer Jantje Friese den Konventionen des Mysterygenres stand die SPD ist«. Doch ein Problem
und Baran bo Odar erzählen von der klei- unterwirft, führt die Serie doch mit Raffi- birgt dieser Plan, und Oskars Umfeld
nen (fiktiven) westdeutschen Stadt Win- nesse in die Gegenwart: Sie erzählt nicht benennt es zielsicher: das Personal. Es
den, deren Atommeiler wegen des geplan- nur vom Ende der Zeit, sondern auch vom gibt doch gar keine Politiker mehr wie
ten Ausstiegs aus der Kernenergie kurz Zerfall der deutschen Mittelklasse. CBU früher, als der SPD-Chef Oskar es hin-
vor der Abschaltung steht. Im Keller des bekam, die CDU aus dem Kanzleramt
AKW dümpeln die gelben Fässer, die »Dark«. 2. Staffel; ab 21. Juni bei Netflix. zu vertreiben. Das Profil des linken
Retters ist, trotz Rabenschwarm, deut-
lich zu erkennen: ein erfahrener Mann,
der gerade Zeit hat? Der nichts weiter
möchte, als dass sich die SPD in der
Westfalenhalle versammelt und einfach
mal von Herzen bei ihm entschuldigt?
Denn wer soll die beiden Parteien
besser vereinen können als der, der
die SPD gespalten hat, so nach dem
Verursacherprinzip?
Deutschland im Sommer 2019:
Das ganze Umfeld von Oskar Lafon-
taine ruft nach Oskar Lafontaine.
NETFLIX

An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und


Szene aus »Dark« Elke Schmitter im Wechsel.

111
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Kultur

»O weh, die
Feminismus-Keule«
SPIEGEL-Gespräch Bestsellerautorin Charlotte Roche und ihr
Mann Martin Keß über ihre Ehe, das Fremdgehen und die Vermarktung
ihrer Beziehungsprobleme

Roche, 41, wurde als TV-Moderatorin SPIEGEL: Warum sollten sie? Sind Sie Partner zu projizieren. Ihn also nicht blu-
bekannt. Ihre Romane »Feuchtgebiete«, schrecklich? ten und leiden zu lassen für alles, was man
»Schoßgebete« und »Mädchen für alles« Roche: Wir sind wie alle. Nur dass viele als Kind erlebt hat. Und wir haben gelernt,
waren Bestseller. Gemeinsam mit ihrem Paare so tun, als wäre alles toll, und über den Zwang wegzunehmen, dass man auf
Mann Martin Keß, 55, präsentiert sie vom ihre Konflikte schweigen. Ich bin sehr ge- ewig zusammenbleiben muss und dass
21. Juni an auf der Plattform Spotify den gen Schweigen. Ein Beispiel: Wir brüllen eine Trennung wie Sterben wäre.
Podcast »Paardiologie«, in dem sie scho- uns oft an, bevor wir zu Einladungen ge- SPIEGEL: Ist Ihr Podcast eine Anleitung
nungslos über ihre Ehe reden wollen. Keß hen, weil Martin lieber zu Hause bleiben zum aufgeklärten Untreusein?
war Mitgründer des TV-Unternehmens will und ich sage, da fahren wir jetzt hin. Keß: Nee.
Brainpool, heute ist er Mitbetreiber der Köl- Trotz aller Bemühungen, es zu überspie- Roche: Aber zur Freiheit.
ner Kaffeerösterei Van Dyck. Er ist bisher len, bekommen die Gastgeber dann doch Keß: Ich sage, Monogamie ist Quatsch.
nicht öffentlich aufgetreten und wollte sich mit, dass etwas nicht stimmt. Bevor sie Aber wenn ich den Gedanken an Sex mit
auch für dieses Gespräch nur so fotogra- denken, wir hätten ein Problem mit ihnen, anderen zulasse, das Bedürfnis, das Begeh-
fieren lassen, dass man ihn nicht erkennt. erzählen wir inzwischen lieber gleich, dass ren, dann ist das ja erst mal nur was im
Roche hat eine Tochter, Keß einen Sohn. wir uns gerade zwei Stunden lang ange- Kopf. Ich rufe keineswegs zur Untreue auf.
schrien haben. Dann sagen die: Ha, lustig, Das soll jeder selbst entscheiden.
SPIEGEL: Frau Roche, als junge Frau ha- wir haben uns eben auch gestritten. Dann Roche: Untreue ist ein schreckliches Wort.
ben Sie mal gesagt, dass Sie sich Ihr Leben ist der Abend sofort ganz anders. Da denkt man: Wer das macht, wird ge-
so vorstellen: Der Kerl bleibt zu Hause, SPIEGEL: Ihre Ehe scheint eine recht an- tötet.
Sie machen Karriere. Sind Sie damit zu- strengende Veranstaltung zu sein. Kann Keß: Dann eben »Fremdgehen«.
frieden, wie es gekommen ist? es sein, dass Sie permanent darauf bedacht Roche: »Fremdgehen« ist schön.
Roche: Absolut. Wir arbeiten zwar beide, sind, alles richtig zu machen? Keß: In vielen Ehen ist gerade das Festhal-
aber die häuslichen Aufgaben erfüllt mein Keß: Wir sind total unsympathische Op- ten an der Treue das Problem.
Mann um Lichtjahre besser. timierer. Roche: Wenn man untreu ist, heißt das
Keß: Bügeln. Oder Backen. Ich bin ein Roche: Es stimmt, ich bin ein totaler The- doch nicht, dass man den andern nicht
totaler Rezept-Nazi. Wenn ich mir vorneh- rapiestreber. Wenn meine Therapeutin mehr liebt. Oder dass man die Beziehung
me, Apfelstrudel zu backen, recherchiere etwas sagt, komme ich nach Hause und nicht mehr will. Viele Menschen, die den
ich die 30 besten Beiträge im Internet, ver- versuche, es zu 100 Prozent umzusetzen. Partner beim Fremdgehen erwischen, mei-
gleiche, fasse zusammen und komme so Mir geht es danach besser, meinem Mann nen aus Selbstschutz, sie müssten stolz da-
zum vermeintlichen Idealrezept. Das wird und den Kindern auch. Ich habe jahrelang mit umgehen, und machen Schluss. Damit
dann sklavisch umgesetzt. Ich neige zu pünktlich zwei Tage vor Weihnachten Zu- beenden sie vielleicht etwas, das noch vie-
Pedanterie. sammenbrüche gehabt und damit meiner le Jahre wunderbar funktioniert hätte.
Roche: Ich nicht. Als wir uns kennenge- ganzen Familie die Party versaut. Das pas- SPIEGEL: Ist Eifersucht etwas Negatives?
lernt haben, hatte ich keine Schränke, son- siert mir jetzt nicht mehr. Keß: Das hieße ja wieder, ich müsste mich
dern habe aus dunkelblauen Müllsäcken SPIEGEL: Erzählen Sie auch von Ihrer dafür schämen. Das finde ich falsch.
gelebt. Therapie? Roche: Die Frage lautet doch: Welche Re-
SPIEGEL: Nun wollen Sie Deutschland in Roche: Wir werden über alles reden, un- geln gibt es? Und wer hat die gemacht?
einem Podcast an Ihrem Eheleben teil- sere Kämpfe und unsere Tiefen und über Das ist für mich der Schlüssel zu einer
haben lassen. Wie muss man sich das vor- unsere Paartherapie. funktionierenden Beziehung. Ich war frü-
stellen: als Ehekomödie oder als Drama SPIEGEL: Wie oft waren Sie dort? her unfassbar eifersüchtig, auch weil ich
im Stil von »Wer hat Angst vor Virginia Keß: Bestimmt 30-mal, jeweils zwei Stun- sehr komplexbehaftet war. Wenn man sich
Woolf?«? den. klein fühlt, unzulänglich, dreckig, dann
Keß: Als Drama nicht. Die Leute werden Roche: Die Therapie hat uns gerettet. sind andere Frauen eine große Bedrohung.
hoffentlich nicht auf uns blicken und sagen: Ohne sie gäbe es uns nicht mehr gemein- Heute habe ich mehr Selbstbewusstsein.
Die sind total schrecklich. sam. Irgendwann hat die Therapeutin ge- SPIEGEL: Sie sind zwölf Jahre verheiratet.
sagt, dass Martin nicht mehr zu kommen Roche: Für mich ist es ein Wunder, dass
Das Gespräch führten die Redakteure Wolfgang Höbel braucht, sondern nur noch ich allein. Ich ich das geschafft habe, mit meiner Vorge-
und Alexander Kühn. lerne dort, eigene Probleme nicht auf den schichte. Ich bin ein wiederholtes Schei-

112 Fotos: Marina Weigl für den SPIEGEL


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dungskind. Als ich klein war, sind in Wimbledon. Meine Mutter hat
wir mehrmals umgezogen, ich mir erzählt, dass ich nie pupsen
habe immer wieder neue Stief- darf. Schon normale körperliche
väter vorgesetzt bekommen. Mei- Vorgänge wurden als falsch ge-
ne Mutter hat sich bei jedem ächtet. Dagegen kämpfe ich. Das
frühen Verliebtsein fürs Heira- ist immer das große Missverständ-
ten entschieden und nach ein, nis, dass alle denken, ich wäre
zwei Jahren, sobald es den ersten schamlos. Dabei bekämpfe ich
Streit gab: Scheidung! Das ist das, nur meine Ängste.
was mir als Beziehung vorgelebt SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt:
wurde: Man hält nicht durch, »Ich muss alles immer extrem ma-
man kämpft sich nicht durch chen.« Wollen Sie an die Grenzen
Probleme. gehen mit Ihrem Podcast?
Keß: Ich bin sehr viele Jahre älter Roche: Mein Anspruch ist es, ja.
als Charlotte, das Wort »Schei- Was sagst du, Martin?
dungskind« war, wo ich herkom- Keß: An Grenzen stößt man auf
me, ein Stigma, das kam gleich unbekanntes Terrain. Ich weiß
hinter »Leprakranker«. In unse- nicht, ob ich das möchte.
rer Familie blieb man zusammen. SPIEGEL: Wird es ein Drehbuch
Der Erste, der sich bei uns hat geben?
scheiden lassen, war ich, für Char- Roche: Nein, ich mache mir viel-
lotte. Dass ich meine erste Ehe in leicht einen Zettel mit vier Stich-
den Sand gesetzt habe, hat mich wörtern.
fast zerrissen. Keß: Hass, Verachtung, Erniedri-
SPIEGEL: Wie oft standen Sie bei- gung, Eifersucht.
de kurz vor der Trennung? Roche: Und: offene Beziehung.
Roche: Oft. Wirklich oft. SPIEGEL: Führen Sie eine?
SPIEGEL: Haben Sie sich schon Keß: Charlotte glaubt: ja.
einmal getrennt? Roche: Martin meint: nein. Mein
Keß: Du bist ab und zu mal aus- Ziel ist es, im Lauf des Podcasts
gezogen. eine offene Beziehung zu erschaf-
SPIEGEL: Sie nie? »Wir finden es reizvoll, dass die Leute fen, gegen seinen Willen.
Keß: Nein. Ich bin mehr so der sich den Mann in dem Podcast SPIEGEL: Haben Sie auch be-
»Ich geh mal eben um den Block«- dacht, was »Bild« & Co. aus Ihren
Typ. optisch selber vorstellen müssen.« Ehegeschichten machen könnten?
Roche: Aber in der Therapie wur- Keß: Ich glaube, »Bild« haben
Martin Keß
de dir beigebracht, dass du dich wir so zermürbt, dass da nicht
wehren sollst gegen mich, und viel kommen wird. Wir sind ge-
zwar massiv. Dass du dich nicht weiter an- ausgemalt habe, wie Odysseus aus dem gen alles vorgegangen. Nach dem Motto:
schreien lassen sollst. Ich war ja immer der Hörspiel wohl aussieht. klagen, bis der Arzt kommt.
Ausraster. Ich habe Sachen rumgeschmis- Roche: Seit wir zusammenkamen, wollte Roche: Wenn die über Martin und mich
sen, auch schwere Sachen. Martin nicht, dass über ihn geschrieben geschrieben haben, und bei mir stand in
Keß: Ich erinnere mich, wie du diesen ge- wird. Ich habe sein Privatleben wie eine Klammern 36, ich war aber 37 Jahre alt,
fühlt drei Tonnen schweren kanadischen Löwin verteidigt. Eine Zeit lang haben wir dann haben wir geklagt, weil sie mich jün-
Wurzeltisch mühelos in die Luft gestemmt auch versucht, Martin aus meinem Wiki- ger gemacht haben.
hast. Ich hatte Angst, war aber gleichzeitig pedia-Eintrag herauszukriegen, aber das Keß: Unsere erste gemeinsame Wohnung
sehr beeindruckt. hat leider nicht geklappt. lag über der des Kölner »Bild«-Chefs, was
SPIEGEL: Das klingt nicht gerade harmlos. SPIEGEL: Warum die Heimlichtuerei? wir beim Einzug nicht wussten. Da muss-
Keß: Unsere Therapeutin hat so eine Art Keß: Wir wollten die Kontrolle über unser ten wir schnell wieder raus. Der dachte,
Notruf. Da sagt man: Es ist dringend. Und Familienleben behalten. Jetzt ist die Situa- er kann auf so eine kumpelhafte nachbar-
die Therapeutin sagt: Hört sofort auf zu tion eine andere. Die Kinder sind fast er- schaftliche Weise im Treppenhaus ein In-
reden und fangt erst wieder damit an, wachsen, das Bedürfnis nach Schutz ist terview mit uns klarmachen.
wenn ihr bei mir seid. Damit man den an- nicht mehr so groß. Deshalb habe ich Ja SPIEGEL: Bevor andere mit Ihrem Privat-
deren nicht noch weiter verletzt. gesagt, als Charlotte mich gefragt hat, ob leben Geld verdienen, tun Sie es nun lieber
SPIEGEL: Herr Keß, Sie wollen in Ihrem wir einen gemeinsamen Podcast machen, selbst.
Podcast öffentlich über Ihre Eheprobleme in dem wir uns über unsere Ehe und unse- Roche: Ich schäme mich nicht zu sagen,
reden. Zugleich haben Sie darum gebeten, re Liebe unterhalten. Dass sie das vorge- dass ich mich als Geschäftsfrau sehe. Mein
bei unserem Gespräch heute nur so foto- schlagen hat, hat mich gerührt. Vater hat mir beigebracht: Gerade Mäd-
grafiert zu werden, dass man Sie nicht er- SPIEGEL: Wie exhibitionistisch muss man chen müssten lernen zu verhandeln. Bei
kennt. So recht passt das nicht zusammen. sein, um sein Eheleben so öffentlich zu ma- Viva damals habe ich so lange nachver-
Keß: Meine Frau und ich wollten, dass die chen wie Sie? handelt, bis ich mehr verdient habe als
Situation so bleibt, wie sie die ganze Zeit Keß: Exhibitionisten belästigen Menschen. meine Chefs.
war: Jeder kennt Charlotte, mit allen De- Ich finde, das tun wir nicht. SPIEGEL: Herr Keß, Sie waren ein erfolg-
tails, und mich kennt man nicht. Und wir Roche: Das angeblich Exhibitionistische reicher TV-Macher und haben auch mit
finden es auch reizvoll, dass die Leute sich ist einfach nur das Leben. Im Grunde bin Mario Barth gearbeitet. Ihr Männerbild
den Mann in dem Podcast optisch selber ich der größte Schambolzen überhaupt. scheint aber deutlich aufgeklärter zu sein
vorstellen müssen. So wie ich mir als Kind Ich komme aus einer Schickimicki-Familie als seins.

114 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Keß: Mario ist Comedian, ich Wenn sie darauf angesprochen


find den super. Er spielt auf der wird, sagt sie: stopp. Ich möchte
Bühne eine Kunstfigur, anders als nicht mit euch über die Arbeit
ich in unserem Podcast. Er spielt meiner Mutter reden. Das sind
keinen Macho, sondern einen Ver- Erwachsenenbücher.
zweifelten, der nicht mehr klar- SPIEGEL: Wird es ein viertes Buch
kommt mit der Welt. von Ihnen geben?
SPIEGEL: Verzweifeln Sie auch Roche: Ich schreibe gerade daran.
manchmal in Ihrer Rolle als SPIEGEL: Was können Sie darü-
Mann? ber erzählen?
Keß: O weh, die Feminismus-Keu- Roche: Gar nichts. Einfach zero.
le, die ist immer ein super Argu- SPIEGEL: Wann wird abgegeben?
ment bei uns zu Hause. Ich sage Roche: Sommer.
etwas Kritisches über eine belie- SPIEGEL: Sind Sie, Herr Keß, im-
bige Frau, Sängerin, Künstlerin, mer der erste Leser?
Moderatorin, und sofort heißt Keß: Ja.
es: Halt die Fresse! SPIEGEL: Sie haben bisher nie
SPIEGEL: Nur Frauen dürfen noch über die Bücher Ihrer Frau ge-
negativ über Frauen reden? sprochen. Wie ging es Ihnen als
Keß: Die dürfen machen, was sie Leser des skandalösen Werks
wollen! Die dürfen sagen, was sie »Feuchtgebiete«?
wollen. Empowerment. Die Frau- Keß: Total gut. Ich hab gedacht,
en, das habe ich verstanden und das ist so geil und so krass, das ist
akzeptiere es für den Rest meines eher Underground. Ich bin ein
Lebens, dürfen jetzt die nächsten totaler Fan davon.
30, 40 Jahre die ganzen törichten SPIEGEL: Kein Ekel, keine Be-
Sachen machen, die wir … stürzung?
Roche: … jahrhundertelang, jahr- Keß: Überhaupt nicht. Das ist ein-
tausendelang … fach Befreiung.
Keß: … gemacht haben. Ich glau- SPIEGEL: Ihre Lieblingsstelle?
be, da darf man sich auch nicht Keß: Ich glaube, tatsächlich diese
beleidigt zurückziehen. Da muss »Wenn man früh über Bett- Drogenparty, wo die Pillen erst
man sich einfach seiner Rolle be- lägerigkeit und Wundliegen spricht, ausgekotzt und dann mit der
wusst sein und sagen: Alles klar, Kotze aus dem Eimer wieder ein-
dann macht ihr jetzt mal. Wenn ist man nicht so überfordert.« geworfen werden.
Cardi B ein neues Foto postet und SPIEGEL: Haben Sie eigentlich
Charlotte Roche
ihre Brüste bis an den Oberkiefer Ihre Therapeutin gefragt, ob Sie
spannt und ich die Stirn runzle, die Podcast-Idee gut findet?
weil ich mich frage, ob das jetzt ein gutes unangenehm sind wie Windelnwechseln, Roche: Ja. Ich habe ein Donnerwetter er-
Vorbild ist, dann sagt Charlotte: nee. Die Bettlägerigkeit, Wundliegen, Beatmungs- wartet, weil sie meistens gegen das ist, was
kann machen, was sie will. maschinen, dann ist man nicht so überfor- ich mache. Sie sagt, meine Bücher seien
SPIEGEL: Sie haben’s auch nicht immer dert, wenn das kommt. nicht gut für meinen seelischen Frieden.
leicht zu Hause. SPIEGEL: Fürchten Sie sich davor? Aufschreiben sei gut, aber der Veröffentli-
Keß: Doch. Ich beklage mich nicht. Ich Keß: Total. Wenn ich körperlich so ge- chungsprozess psychisch zu anstrengend.
find’s bei uns richtig lustig. brechlich bin, dass Charlotte mit mir ma- Zum Podcast hat sie einfach gesagt: Das
SPIEGEL: Wollen Sie gemeinsam alt wer- chen kann, was sie will, schiebt sie mich will ich mir anhören.
den? einfach durch die Gegend, zieht mir lustige SPIEGEL: Sie haben früher von der Angst
Roche: Altwerden ist ein großes Thema Sachen an und zwingt mich, »Germany’s und der Lust gesprochen, für Ihre Bücher
für uns. Wir reden mehr über Altern und Next Topmodel« zu gucken. mit Dreck beworfen zu werden. Das könn-
Krankheiten und Sterben als über die Lie- Roche: Ich trichtere jetzt schon unseren te jetzt beim Podcast auch passieren.
be. Ich ändere zum Beispiel immer mein Kindern ein, dass wir vermutlich mal De- Roche: Das wäre okay. Vielleicht stelle ich
Testament, wenn ich Freunde verliere. menz kriegen. Und dass es nicht mehr ich mich hinter Martin, und er bekommt al-
Keß: Ich krieg mal mehr, mal weniger. Je bin, die Faxen macht und sie nicht mehr les ab.
nachdem, wie’s grad so läuft. erkennt, wenn sie mich im Altersheim be- Keß: Im schlimmsten Fall haben wir einen
SPIEGEL: Haben Sie sich verändert? suchen. Ich sage: Bitte seid nicht sauer, Fehler gemacht. Dann ist es immer noch
Keß: Als junge Leute fanden wir es cool, mein Gehirn wird dann aufgefressen sein. ein kleiner im Vergleich zu, sagen wir mal,
in der Stadt zu leben. Jetzt wohnen wir SPIEGEL: Was haben Ihre Kinder für ein der Idee des Bayer-Konzerns, Monsanto
auf dem Land, weil wir es nicht mehr aus- Bild von Ihnen? zu kaufen.
gehalten haben. Roche: Auf jeden Fall ein sehr anderes als SPIEGEL: Frau Roche, Herr Keß, wir dan-
Roche: Wer in der Stadt bleiben will, darf die Öffentlichkeit. Sexualität zum Beispiel ken Ihnen für dieses Gespräch.
von mir aus gern bleiben. Ich brauch die spielt überhaupt keine Rolle zu Hause. Die
Schlägereien und die ganze Kotze überall denken, glaub ich, beide, dass wir gar kei-
nicht mehr. nen Sex haben. Video
Roches Karriere
SPIEGEL: Wie stellen Sie sich das Altwer- SPIEGEL: Die kriegen doch mit, was Sie im Zeitraffer
den vor? überall erzählen, in Interviews. spiegel.de/sp252019roche
Roche: Martin ist fast 15 Jahre älter als ich. Roche: Nee, nee. Meine Tochter liest die oder in der App DER SPIEGEL
Wenn man früh über Sachen spricht, die Bücher nicht, die hält sich davon fern.

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Kultur

Der Tresor ist offen K ennen Sie »Nothing Compares 2


U«? Den Song der irischen Sängerin
Sinéad O’Connor, die im Musik-
video mit kurz geraspeltem Haar in die
Kamera blickt und weint? Den Nummer-
Pop Der amerikanische Superstar Prince nahm zu eins-Hit von 1990, in dem sich O’Connors
Lebzeiten Hunderte Songs auf – ohne sie zu veröffentlichen. Stimme fast überschlägt, so schlimm scheint
Nach und nach erscheinen nun Teile des Nachlasses. es ihr zu gehen?
Hat Prince geschrieben.
Kennen Sie »Manic Monday«? Die
Single, mit der die amerikanische Band
Bangles 1986 ihren Durchbruch hatte? Die
mit der Zeile »Wish it was Sunday« das
Montagmorgengefühl recht simpel, aber
auch treffend einfing?
Hat Prince geschrieben.
Sie kennen Prince wahrscheinlich vor
allem als den großen Performer, der er war.
Als den begnadeten Tänzer. Als den vir-
tuosen Gitarristen. Und natürlich als den
Sänger der Songs »Purple Rain«, »When
Doves Cry« oder »The Most Beautiful Girl
in the World«, die er geschrieben hat. Als
Prince Rogers Nelson im April 2016 plötz-
lich im Alter von 57 Jahren starb, hinter-
ließ er solche Songs und solche Bilder von
sich. Er hinterließ auch – für eine so be-
kannte, mythische wie mystische Gestalt
der Popkultur nicht unüblich – ein paar
Fragezeichen.
Da war, wie bei seinem Rivalen Michael
Jackson, zunächst die Frage nach der Todes-
ursache: Kurz nach seinem Tod kamen
Gerichtsmediziner zu dem Schluss, Prince
sei an einer unbeabsichtigten Überdosis des
Opioids Fentanyl gestorben, das ihm mut-
maßlich gegen Hüftschmerzen verschrie-
ben worden war. Ob Prince opioidabhängig
gewesen war, blieb allerdings ungeklärt.
Und da war, wieder wie bei Jackson, das
große Trauerspiel nach der Trauer, der
Kampf um das Erbe: Prince hatte kein Tes-
tament hinterlassen, Dutzende Menschen
gaben nach seinem Tod an, mit ihm ver-
wandt zu sein, letztlich bestimmte ein Ge-
richt, dass seiner Schwester und seinen fünf
Halbgeschwistern die auf mehrere Hundert
Millionen US-Dollar geschätzte Erbschaft
zusteht.
Und da war noch eine Frage, die bei ver-
storbenen Popstars gern mit blutleeren
Best-of-Alben beantwortet wird oder mit
Sammlungen, die noch einmal B-Seiten-
Songs zusammenfassen: die Frage nach
dem musikalischen Nachlass. Im Fall von
Prince ein durch Mundpropaganda und
jahrzehntelange Legendenbildung gewach-
senes, riesiges Fragezeichen.
Schon zu seinen Lebzeiten war der Tre-
sorraum von Prince, in dem er angeblich
Hunderte von unveröffentlichten Songs
eingeschlossen hatte, einer der großen
WARNER MUSIC

Sehnsuchtsorte des Pop. Ein Wegbegleiter


verglich Prince mit Mozart und sagte dem
»Guardian«, ein Jahr vor Prince’ Tod: »Ei-
nige seiner besten Sachen sind im Tresor.«
Sänger Prince 1984: Genug Songs für den Rest des 21. Jahrhunderts Woanders hörte man, gemeinsame Auf-

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IN DER SPIEGEL-APP

nahmen mit Miles Davis seien darunter. Girl Group Vanity 6), neben sanften, na-
Ein weiterer Wegbegleiter sagte, man müs- hezu schmalzigen Balladen: »You’re My
se das, was im Tresor liege, erst mal zehn Love«, geschrieben für Kenny Rogers,
Jahre lang sichten. Und noch ein anderer wirkt in Prince’ Demo zum Glück nicht
erinnerte sich daran, dass Prince angekün- ganz so zuckrig.
digt habe, eines Tages alles aus dem Tresor Und dann eben »Nothing Compares 2
verbrennen zu wollen. U«, das Prince inspiriert von zwei Frauen
All das hatte eine gewisse Plausibilität: schrieb, seiner damaligen Liebhaberin
Prince hatte epische Streits mit seiner Plat- und seiner persönlichen Assistentin, jener
tenfirma gehabt, deshalb änderte er zwi- Song, den Sinéad O’Connor 1990 so er-
schenzeitlich auch seinen Künstlernamen – folgreich coverte. Er klingt im Original
nicht unwahrscheinlich, dass jemand, für zwar ebenfalls ziemlich sensibel, aber,
den die Industrie der Feind war, viel Musik wir sind bei Prince, auch ziemlich cool.
unveröffentlicht ließ. Aber: Taugte sie Sein Talent zur Wandelbarkeit zeigt sich
auch etwas? Oder waren die Aufnahmen auf »Originals« mal im unterkühlten
zu Recht im Dunkel geblieben und dienten Sprechgesang, mal in der warmen Mehr-
nur dazu, den Ruf ihres Schöpfers als Zen- stimmigkeit und mal im Falsett, in dem
tralgenie des Pop zu mehren? Prince auch seinen Hit »Kiss« sang, der
Nach Prince’ Tod öffnete man den Tre- am 19. April 1986 den ersten Platz der
sor, es gibt ihn wirklich. Und darin, so hieß US-Charts belegte.
es rasch, lagerten unzählige von ihm be- Am selben Tag stand »Manic Monday«
spielte Bänder und Festplatten, so viel von den Bangles auf Platz zwei. Prince’
Material, dass im Laufe des 21. Jahrhun- Demo von »Manic Monday« findet sich
derts womöglich jedes Jahr ein neues, post- auch auf »Originals« und klingt fast wie
humes Prince-Album kommen könnte. die Version, mit der die Bangles berühmt
Die Musik, die Prince zu Lebzeiten weg- wurden. Prince hatte den Song unter dem
gesperrt hatte. Pseudonym »Christopher« geschrieben.
Jetzt erscheint »Originals«, eine Zusam- Ohne dass Prince draufstand, war Prince
menstellung von 14 bisher unveröffentlich- drin.

SPIEGEL TV
ten Prince-Aufnahmen. Es sind Demos von Prince war, anders als Michael Jackson,
Songs, die Prince für andere Musiker der in seiner ganzen Solokarriere gerade
schrieb, und sie klingen längst nicht so un- mal zehn Studioalben aufnahm, eine Art
gehobelt, wie man es von Demos erwarten nimmermüder Pop-Handwerker. Allein
könnte, sondern, passend zu Prince, der als von 1980 bis 1990 brachte er zehn Alben
Perfektionist galt, und, passend zu der Tre- heraus, produzierte nebenbei noch zahl-
sor-Geschichte, eher wie kleine Juwelen, reiche Künstler, bei seinem Arbeitsethos
die funky funkeln. »Originals« wirkt auch und seiner Besessenheit konnten Musiker
deshalb nicht blutleer, weil es, wie das im
vergangenen Jahr posthum rausgebrachte
schlappmachen. Er war nicht nur der gro-
ße Performer, sondern ein Multiinstrumen-
Die neuen Nazis
Album »Piano & a Microphone 1983«, fast talist, der im Studio gern so viel wie mög- Seit Mitte der Sechzigerjahre ver-
ausschließlich Prince-Songs aus der leben- lich selbst einspielte, ein Produzent und breitet sich in Deutschland wieder
digsten und produktivsten Schaffensphase ein Songschreiber, der auch mal hinter den
eine braune Gesinnung, von der
des Popstars enthält: der ersten Hälfte der Kulissen blieb.
Achtzigerjahre. Auch wenn »Originals« zu einem brei- man dachte, sie wäre mit dem Ende
Damals legte Prince das Fundament für teren Verständnis von Prince beiträgt, des Zweiten Weltkriegs überwunden.
seinen Aufstieg als großer Performer, in- kann man sich fragen: Ist es überhaupt in SPIEGEL TV hat in den vergangenen
dem er sich zu einer ungreifbaren Kunst- Ordnung, in seinem Nachlass zu wühlen? drei Jahrzehnten immer wieder über
figur stilisierte, die sich im Dazwischen Den Tresor zu knacken? die neuen Rechten berichtet: über
wohlfühlte: Sang er 1981 in »Controversy« Die Sängerin Jill Jones, die in den Acht- Anschläge, Populisten und Alltags-
»Am I black or white, am I straight or zigern mit Prince liiert war, sagte vor Kur- rassismus. Wieso beherrschen heute
gay?«, schien es, als knüpfte er 1984 auf zem der »New York Times«, Prince habe Rechtspopulisten den Diskurs
seinem erfolgreichsten Album »Purple Menschen, mit denen er zusammenarbei- in weiten Teilen Ostdeutschlands?
Rain« unmittelbar an die Zeile an: »I’m tete, Musiker, für die er schrieb, gebeten, Was treibt die neuen Nazis an?
not a woman, I’m not a man«, heißt es in Tagebuch zu führen, um besser in ihre
»I Would Die 4 U«, »I am something that Köpfe zu gucken. Jones hatte schon vor
you’ll never understand«. Zeilen, die gut ihrer Zusammenarbeit mit Prince ein Tage- Sehen Sie die Videostory im
in die heutige Zeit passen würden, in der buch geführt. Sie versteckte es vor ihm. digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie
Gender und Identität besonders hinter- Prince fand es, brach das Schloss auf, las den QR-Code.
fragt werden. es und schrieb dann den Song »Baby,
»Originals« fängt Prince’ exzentrische, You’re a Trip« für sie, der auf »Originals«
eklektische Art auch im Sound ein: in enthalten ist. Zum Voyeur werden, um sich
wilden Saxofonpassagen (»Dear Michael- inspiriert zu fühlen – für Prince war das
angelo«, geschrieben für Prince’ damaliges okay.
Bandmitglied Sheila E.), die auf monochro- Nun ist das Schloss zu seinem Tresor
me, irgendwie an Kraftwerk erinnernde offen. Jurek Skrobala
Synthesizer und Beats folgen (»Make-Up«, Twitter: @skrobala
geschrieben für die von Prince geförderte JETZT DIGITAL LESEN

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 117


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Kultur

Sagenhafte
armes Leben ein und gibt ihm eine Idee, einseitige Verbindung zwischen diesen
Rückgrat und einen Plan: Er will gen Welten scheitert immer neu. Eine Fähre
Westen ziehen, in die kaum erschlossene kentert, und das Wasser wäscht die Adresse

Gefahr
Weite, die zu jener Zeit noch nicht zu den auf dem Briefbündel von Bellman ab, ein
Vereinigten Staaten gehört. In der India- anderes wird vergessen, ein drittes Paket
nerstämme siedeln – und vertrieben wer- zieht ein Hund aus der Hosentasche des
den –, und in der es Wüsten und Gebirge potenziellen Überbringers; »möglicherwei-
Literatur »West«, das Roman- gibt, wo sich diese sagenhaften Tiere viel- se hatte das Papier durchdringend nach
leicht finden lassen. Der britische Einwan- Bellmans über dem Lagerfeuer geräucher-
debüt der Britin Carys Davies, derer Bellman, ein Mann von 35 Jahren, tem Abendessen gerochen«. Die Tochter
führt in die unerschlossene Weite würde der Erste sein, der sie mit eigenen Bess, an die all diese Briefe gerichtet sind,
des alten Amerika. Augen sieht und davon berichten kann. Beschwörungen der Natur und Sätze einer
Vernünftig ist das keineswegs. Die Stim- Sehnsucht, die in ihrer Unbeholfenheit be-
me der Vernunft in diesem knappen, ge- zwingend sind, bleibt ohne Nachricht.

E s gehört zu den schönen Möglichkei-


ten der Literatur, dass sie verrückte
Helden wählen kann, ohne sie zu de-
nunzieren. In ihrem ersten Roman macht
nau komponierten Roman gehört aber
einer Person, auf die niemand gern hört.
Bellmans Schwester Julie, die sich um sei-
ne Tochter kümmern soll, während der
Und mit ihrem Wachstum wächst auch
die Gefahr, der sie ausgesetzt ist, ein an-
mutiges junges Mädchen in einer dünn
besiedelten Gegend, wo in aller Regel
die britische Erzählerin Carys Da- Puritanismus und Triebstau das
vies, 59, von diesem Privileg Ge- Verhältnis der Geschlechter bestim-
brauch. Ihr Protagonist ist ein men. Ihr Vater wiederum ist auf die
Mann, der Vernunft und Tradition Hilfe von Indianern angewiesen,
beiseitelässt, um »seinem Stern zu die ihm so fremd sind wie die ge-
folgen«, wie so etwas einmal hieß. heimnisvollen Wesen, die er sucht.
Der Stern von John Cyrus Bellman, Was sind das für Leute, fragt er den
einem Maultierzüchter in Penn- Pelzhändler, der ihm einen Führer
sylvania im beginnenden 19. Jahr- namens »Alte Frau aus der Ferne«
hundert, ist ein verwittertes Über- gewissermaßen vermieten will.
bleibsel von riesigen Knochen und »Ich erzähle allen dasselbe«, sagt
ungeheuerlichen Stoßzähnen, ge- der Franzose, »nämlich dass sie
funden »im salzigen Schlamm von ebenso freigebig und loyal wie hin-
Kentucky«. Er hat davon in der Zei- terhältig und verschlagen sind. Sie
tung gelesen, in einer der vielen sind ebenso schwach wie stark,
Stunden, die er in seinem selbst ge- offen wie verschlossen. Sie sind ge-
bauten Holzhaus verbringt, allein rissen und zugleich hoffnungslos
mit seiner Tochter, seit seine Frau naiv, sie sind rachsüchtig und ge-
gestorben ist. mein und so lieb und neugierig wie
Niemand weiß, was es mit die- kleine Kinder.« Die Ureinwohner
sen Knochen auf sich hat. Ob sol- Amerikas sind die anderen in je-
che Tiere noch irgendwo leben, ob dem Sinne, Projektionen von
sie angriffslustig sind oder scheu, Herrschsucht und Angst – denn
ob sie Fleisch- oder Pflanzenfresser selbst da, wo sie sich verhalten wie
sind. Und sie könnten Bellman alle Menschen, wissen jene, die
auch gleichgültig sein. Er ist Herr sich für die Zivilisierten halten,
über einen uralten Hengst und drei nicht, warum.
unansehnliche Stuten sowie eine Die Geschichte des Abenteurers
kleine Herde von Maultieren und Bellman und seiner halbwüchsigen
Eseln, und die größte Gefahr für Tochter, fein kalibriert übersetzt
JONATHAN BEAN

sein Leben und das seiner zehn- von Eva Bonné, ist kein histori-
jährigen Tochter ist nicht die wilde scher Roman im herkömmlichen
Fauna, sondern die mühsam be- Sinne. Er gibt psychologisch mehr
zwungene Armut inmitten einer Autorin Davies: Ins Unbekannte Rätsel auf, als er löst, und seine Er-
reichen, aber ohne nennenswerten zählweise ist sparsam. Im Zeitalter
Mehrwert bewirtschafteten Fauna. des Bildes, da visuelle Eindrücke
Ein goldener Ring, ein Fingerhut mit Gra- Held ins Unbekannte reitet, ist eine bibel- aus nahezu allen Regionen und Zeiten mü-
vuren und eine Uhr bilden die Liste der feste, jedoch nüchtern gesinnte Jungfer, in helos verfügbar sind, bekommt diese skiz-
Schätze, die er sein Eigen nennt. Und der mittleren Jahren und von freudlosem Cha- zenhafte und subtile Art der Literatur viel
einzige metaphysische Trost in dieser Lage rakter. Der Nachbar soll ihr helfen, wenn Aufmerksamkeit und Begeisterung sowohl
wird sonntags in der Kirche angeboten, sie mit der Wirtschaft nicht zurechtkommt, von der Kritik als auch vom Publikum; der
einen weiten Fußmarsch entfernt und für das ist der einzige Rat, den ihr Bruder ihr Erfolg von Robert Seethaler (»Der Trafi-
ihn ohne Interesse. geben kann für die Zeit seiner Expedition. kant«, »Ein ganzes Leben«) ist im deutsch-
Wie ein Meteorit schlägt diese Zeitungs- Und selbst der wird sich als verhängnisvoll sprachigen Raum das jüngste Beispiel. Wo
meldung über einen Knochenfund in Bell- erweisen. Seethaler allerdings den Kitsch zuweilen
mans in jeder Hinsicht karges, bewegungs- Davies, bisher eine preisgekrönte Auto- streift, ist Davies herber im Stil. Bei beiden
rin der kurzen Form, erzählt ihre Geschich- heißt Lesen, Einkehr zu halten mit der
Carys Davies: »West«. Aus dem Englischen von Eva te im Wechsel zwischen dem Reisenden eigenen Fantasie. Elke Schmitter
Bonné. Luchterhand; 208 Seiten; 20 Euro. und den Sesshaften. Die einzige, ohnehin

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PLAN B
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); SAMSTAG, 15. 6., 17.35 – 18.05 UHR | ZDF
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Neuer Job im neuen Land –
Belletristik Sachbuch Fachkräfte von morgen

1 (1) Donna Leon Ein Sohn ist 1 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass
uns gegeben Diogenes; 24 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

2 (3) Ferdinand von Schirach 2 (4) Michelle Obama


Kaffee und Zigaretten Luchterhand; 20 Euro Becoming Goldmann; 26 Euro

3 (2) Ian McEwan 3 (3) Stephen Hawking Kurze Antworten


Maschinen wie ich Diogenes; 25 Euro auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro

4 (5) Dörte Hansen 4 (2) Michael Winterhoff


Mittagsstunde Penguin; 22 Euro
Deutschland verdummt
Gütersloher
Verlagshaus; 20 Euro
5 (9) Daniela Krien

SPIEGEL TV
Die Liebe im Ernstfall Diogenes; 22 Euro
Es steht sehr schlimm um
6 (4) Simon Beckett Deutschlands Kinder, diesmal
im Schulbetrieb: eine
Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro
neue Lieferung des beliebten Vertretungslehrerin Rufaida Mahmoud
Mahners und Warners.
7 (6) Martin Walker
Menu surprise Sie pflegen in Krankenhäusern, unter-
Diogenes; 24 Euro 5 (5) Meike Winnemuth
Bin im Garten Penguin; 22 Euro
richten an Schulen, arbeiten als
8 (8) Saša Stanišić Handwerker: Immer mehr Flüchtlin-
Herkunft Luchterhand; 22 Euro 6 (7) Harald Jähner ge entlasten den Arbeitsmarkt.
Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro Der Neustart ist oftmals nicht einfach.
9 (11) Axel Milberg
Düsternbrook Piper; 22 Euro 7 (8) Greta Thunberg / Svante Thunberg /
Malena Ernman / Beata Ernman SPIEGEL GESCHICHTE
10 (10) Sibylle Berg Szenen aus dem Herzen S. Fischer; 18 Euro
SONNTAG, 16. 6., 16.25 – 17.15 UHR | SKY
GRM Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
8 (6) Jürgen Todenhöfer
Die große Heuchelei Heilige Stätten – Die
11 (18) Alina Bronsky Der Zopf meiner Propyläen; 19,99 Euro
ägyptischen Priesterinnen
Großmutter Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
9 (11) Andreas Michalsen Im alten Ägypten verstanden sich
12 (15) Leïla Slimani All das Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro
die Pharaonen als gottgleiche
zu verlieren Luchterhand; 22 Euro Herrscher über ihr Volk. Doch welche
10 (9) Marcel Eris / Dennis Sand
MontanaBlack Riva; 19,99 Euro Rolle spielten Priesterinnen,
13 (7) Nora Roberts
Am dunkelsten Tag Blanvalet; 20 Euro
und wie viel Macht lag am Nil einst
11 (12) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für in weiblichen Händen?
14 (12) Walter Moers
das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro

Der Bücherdrache Penguin; 20 Euro 12 (14) Anne Fleck


Ran an das Fett Wunderlich; 24,99 Euro
SPIEGEL TV
15 (14) Sebastian Fitzek MONTAG, 17. 6., 23.25 – 0.00 UHR | RTL
Der Insasse Droemer; 22,99 Euro 13 (10) Sebastian Fitzek Fische, die auf
Bäume klettern Droemer; 18 Euro CDU-Politiker Philipp Amthor,
16 (–) Joël Dicker Das Verschwinden
YouTuber RobBubble und »Fridays for
der Stephanie Mailer Piper; 25 Euro 14 (13) Andrea Wulf Die Abenteuer des
Future«-Aktivist Kelvin Gantert –
Alexander von Humboldt
17 (16) John Ironmonger Der Wal und C. Bertelsmann; 28 Euro
Eine Generation, aber zwei Welten;
das Ende der Welt S. Fischer; 22 Euro Gebrechliche Gefangene – In
15 (19) Jürgen Kaube Ist die Schule zu blöd der JVA Waldheim steigt die Zahl
18 (20) Carmen Korn für unsere Kinder? Rowohlt Berlin; 22 Euro der pflegebedürftigen Insassen
Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro immer weiter an.
16 (17) Peter Wohlleben Das geheime
19 (–) Elif Shafak Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Unerhörte Stimmen SPIEGEL TV REPORTAGE
Kein & Aber; 24 Euro
17 (15) Dieter Nuhr
Gut für dich! Lübbe; 15 Euro DIENSTAG, 18. 6., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1
Eine Prostituierte wurde True Crime in Hannover –
ermordet. Der Roman ihres 18 (–) Anders Indset
Lebens zeigt die Türkei Quantenwirtschaft Econ; 22 Euro Die Kommissare im KDD
als gefährliches Land für
Frauen – und ist zugleich 19 (16) Theo Waigel Ehrlichkeit ist
Mord, Raub, Erpressung: Die Beam-
eine Hommage an Istanbul. eine Währung Econ; 24 Euro
ten des Kriminaldauerdienstes (KDD)
sind die Ersten am Tatort, Tag und
20 (–) Martha Grimes Inspektor Jury und 20 (–) Harald Welzer Alles könnte Nacht. SPIEGEL TV hat den KDD
der Weg des Mörders Goldmann; 20 Euro anders sein S. Fischer; 22 Euro Hannover bei seiner Arbeit begleitet.

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Kultur

Ein komisches Volk


Intellektuelle Italiensehnsucht, das ist vor allem ein deutsches Gefühl: ein Besuch in Rom, wo der
Schriftsteller Simon Strauß sein neues Buch vorstellt. Von Sebastian Hammelehle

I
rgendwann im Lauf des Abends, die
Kellner haben gerade überbackenen
Stockfisch und frittierte Zucchini-
blüten serviert, sagt eine Frau in der
Runde, doch, doch, sie könne sich noch
erinnern, Federico Fellini gesehen zu ha-
ben. Gleich hier um die Ecke. Es klingt ein
bisschen, als hätte sie damals ein Tier er-
späht, das auf der Roten Liste steht. Das
Artensterben ist ja enorm. Und Federico
Fellini, der Regisseur, tatsächlich tot, schon
lange. Ein Juniabend in Rom. Zwei Ver-
treter der deutschen Botschaft sitzen am
Tisch. Ein Stipendiat der Villa Massimo.
Ein paar Leute aus dem Literaturbetrieb.
Freunde des Dichters. Der Dichter selbst,
Simon Strauß.
Rom war immer ein Ziel für Künstler.
Besonders für diejenigen Künstler, die
nicht aus Italien kommen. Goethe trat
1786 seine italienische Reise an, sein Be-
richt ist ein Klassiker. Später kamen Rolf
Dieter Brinkmann, Ingeborg Bachmann.
Jetzt ist Simon Strauß, 30, an der Reihe,
auch er veröffentlicht ein Buch über seinen
Aufenthalt, »Römische Tage«*. Ein biss-
chen größenwahnsinnig, die Idee, über
Rom und sich selbst in dieser Stadt zu
schreiben, besonders weil Strauß, wie er
selbst sagt, diese Stadt kaum kennt. Aber
was wäre ein Dichter in Rom so ganz ohne
Größenwahn? Und zum Selbstbewusst-
sein, zur großen Geste, dazu hat Simon
Strauß einen ganz leichten Hang. Viel-
leicht wird man sich später auch an ihn
mal erinnern als Vertreter einer schon im-
mer gefährdeten Art: des bravourösen
Jungspunds.
Von Goethes Aufenthalt in Rom zeugt
heute immerhin ein kleines Museum,
finanziert noch von der Regierung Kohl,
alles sehr gründlich renoviert, wie sich
das in Deutschland gehört. Am oberen
Ende der Via del Corso, der römischen
Haupteinkaufsstraße. In der Casa di Goe- Autor Strauß in Rom: Bravouröser Jungspund
the gibt es ein Zimmerchen, das gelegent-
lich an deutschsprachige Schriftsteller und
Stipendiaten vergeben wird. Der Blick fangen, »Römische Tage« zu schreiben. Das Der junge Mann im Buch muss sich erst
geht nach hinten raus, auf den Hof, auf schmale Buch erzählt von einem jungen mal finden. Er nimmt Italienischstunden.
eine riesige Palme. Es riecht wie im Duty- Mann aus Deutschland. Der wohnt in der Lässt sich treiben, durch die Altstadt, auf
free-Shop. Unten im Haus ist ein großes Nähe der Casa di Goethe, ist zum ersten der Piazza Navona sticht ihm eine junge
Körperpflegefachgeschäft. Mal in seinem Leben länger in Rom, kultu- Italienerin im weißen Kleid ins Auge. Sie
Im Sommer 2018 war Simon Strauß in rell gebildet, interessiert. Klingt irgendwie gefällt ihm. Mal folgt er ihr, mal begegnet
diesem Zimmer zu Gast. Hier hat er ange- nach Simon Strauß. Auch wenn der betont, er ihr zufällig. Es ist eher ungewöhnlich,
sein eigener Aufenthalt in Rom sei nur der auf der Piazza Navona auf eine veritable
* Simon Strauß: »Römische Tage«. Tropen; 142 Seiten; Anstoß für das Buch gewesen, nicht aber Römerin zu treffen. Hier, wo sich die Tou-
18 Euro. Vorlage der darin erzählten Geschichte. risten drängen, die Chinesen, die Ameri-

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kaner, die Deutschen. Alle sind mehr mit Die Haare zurückgekämmt, das Hemd klingt auch in »Römische Tage« an, wo
ihren Handys beschäftigt als mit Gian Lo- bis zum dritten Knopf offen, Schuhe ohne der Erzähler auf dem alten protestanti-
renzo Berninis barockem Brunnen. Socken, sieht Simon Strauß ein bisschen schen Friedhof der Stadt vor dem Grab
Simon Strauß selbst bezeichnet »Römi- aus wie der junge Marcello Mastroianni von August Goethe steht: »Goethe filius
sche Tage« als Bilderbuch. Es ist eine Ab- in Fellinis »Dolce Vita«. Er hat einen sehr ist alles, was der Dichter seinem missrate-
folge von Szenen, die mit der Lebensrea- festen Händedruck. Er spricht schnell und nen Sohn an Ehrung zubilligte. Zu seiner
lität der Römer, die es ja in dieser Stadt klar, manchmal geht seine Stimme hoch Beerdigung war er nicht erschienen, und
noch immer geben soll, auch wenn die Alt- vor Begeisterung. Strauß kann rasant Be- auch, dass er überhaupt je am Grab stand,
züge herstellen zwischen dem Thema sei- ist nicht überliefert.«
ner Doktorarbeit, dem Blick, den deutsche Botho Strauß ist nicht Goethe. Aber das
Gelehrte im 19. und frühen 20. Jahrhun- macht die Sache nicht einfacher. Wäre
dert auf die Römische Republik warfen, Simon Strauß die Literaturdebatte erspart
und dem Zustand des heutigen Italien, geblieben, in deren Zentrum er im ver-
dem der Europäischen Union. gangenen Jahr stand, wenn er nicht der
Sohn seines Vaters wäre? »Simon Strauß,
Europa ist sein Thema. Strauß ist Teil ei- Sohn von Botho Strauß«, so begann pro-
nes intellektuellen Vereins, der sich Arbeit grammatisch der erste Satz eines vernich-
an Europa nennt. Man befragt europäische tenden Textes, der im Januar 2018 in der
Zeitzeugen und diskutiert mit europäi- »taz« erschien und einen Streit auslöste,
schen Intellektuellen. In der »FAZ«, wo bei dem es letztlich um die Frage ging, ob
er eigentlich als Theaterkritiker arbeitet, Simon Strauß irgendetwas mit der Neuen
hat Strauß im Frühjahr einen Artikel ver- Rechten zu tun habe.
öffentlicht, in dem er die Frage stellt, wa- Literaturkritik mit den Mitteln der
rum in Europa alle Zukunftszuversicht ver- Sippenhaft. Botho Strauß – der Name als
schwunden sei. Chiffre. Ein Stichwort, das genügte, um
In Rom jedenfalls hat er die Zukunft den Assoziationsraum zu öffnen: Simon
nicht gefunden. »Das Rom des 21. Jahr- Strauß, der Sohn des Mannes, der 1993 im
hunderts, was soll das sein?«, fragt er. Das SPIEGEL seinen bis heute diskutierten
Rom dieses Buches ist das Rom der Antike, Essay »Anschwellender Bocksgesang« ver-
das Rom der Renaissance, das Rom des öffentlicht hat.
19. Jahrhunderts, vielleicht gerade noch Darin prägte er die Formel vom »ver-
das Rom der Siebzigerjahre. klemmten deutschen Selbsthass«, beklagte
Strauß hat seinen Blick auf diese Stadt die Scheinheiligkeit der öffentlichen Moral,
nicht für sich allein. Es ist der Blick des die »Verhöhnung des Soldaten, die Ver-
Bildungsbürgertums, der Kanon eines Mi- höhnung von Kirche, Tradition und Auto-
lieus, dessen Selbstverständnis mittlerwei- rität«. Botho Strauß wurde mit dem »An-
le ebenso bröckelt wie die Fassaden der schwellenden Bocksgesang« zu einem der
angeblich ewigen Stadt. Der Verfall und wenigen bundesdeutschen Intellektuellen,
damit auch der Tod sind in Rom nie weit; den Linke wie Rechte ernst nehmen muss-
Cäsar ist tot, Caravaggio ist tot, Keats ist ten. An dem die einen sich reiben und die
tot. Und auch dem Erzähler der »Römi- anderen sich weiden konnten.
schen Tage« geht es schon ganz schlecht. Der eigentliche Anlass für den Angriff
Er hat, literarisch wirkt das etwas manie- auf Simon Strauß in der »taz« aber war
riert, ein Herzleiden. Einmal muss er des- sein im Sommer 2017 erschienenes Debüt
wegen sogar ins Krankenhaus. Später liegt »Sieben Nächte«. Dessen Geschichte ist
er allein auf dem Bett in der Kammer an wie ein moralischer Hürdenlauf aufge-
der Via del Corso und stellt sich vor, wie baut: Der junge Erzähler, auch er irgend-
VALERIE SCRILATTI / DER SPIEGEL

es sein wird, wenn er erfahren muss, dass wie mit Simon Strauß verwandt, will in
seine Mutter tot ist. Oder sein Vater. sieben Nächten die sieben Todsünden
In fast jedem anderen Buch wäre das durchexerzieren.
wohl nur eine weitere Beschwörung des Das Buch sticht vor allem hervor wegen
Vergänglichen, bei Simon Strauß hingegen des unerschrockenen Gestus, mit dem der
stellt sich die Frage, ob diese Szene nicht Erzähler das junge, linksliberale, großstäd-
doch einen autobiografischen Hintergrund tische Milieu verspottet: »Ich lache über
hat. Vielleicht allein deshalb, weil man die all die braven Rolltreppenfahrer, die im-
Eltern von Simon Strauß eben kennt. mer ganz rechts stehen, um zu zeigen, wie
Simon Strauß wehrt die Frage ab. Er umsichtig und sozial kompetent sie sind.
stadt längst den Touristen gehört, nicht all- spricht nicht gern öffentlich über seine El- Die das bestimmt alle gewissenhaft in ih-
zu viel zu tun haben dürfte. Ein Sommer- tern. Er kommt, wie er es nennt, »aus ei- ren Bewerbungsunterlagen vermerken, als
märchen, eine Projektion, eine Fantasie, nem Schriftstellerhaushalt«. Seine Mutter besonderes gesellschaftliches Engagement:
in der Strauß die Härten der Realität bis ist die Autorin und Journalistin Manuela ›Auf der Rolltreppe (und nur da) stehe ich
auf einen Abstecher zu einem Flüchtlings- Reichart. Wahrgenommen aber wird er immer rechts.‹«
lager größtenteils ausklammert. »Ich woll- vor allem über seinen Nachnamen. Als der War Simon Strauß anfangs noch als
te keinen Sozialkitsch machen«, sagt er, Autor, dessen Vater Botho Strauß ist. Als munterer Jungschriftsteller aufgetreten, so
»ich finde es furchtbar, wenn man als gut Sohn. hat ihn die Debatte um sein Debüt verän-
genährter Schriftsteller hingeht und sich Dass die Rolle des Sohnes eine der un- dert. Die Empörung war ihm anzumerken,
das Leiden anschaut.« dankbarsten der Literaturgeschichte ist, auch über den SPIEGEL, der die Kritik an

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 121


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öffentlichen Entschuldigung auf. Die Ge-


sellschaft trat zurück an die Tafel und dreh-
te gespannt den Kopf nach rechts, wo der
Mann saß und sich den Wein aus den Glä-
sern seiner Nachbarn in einen Wasserbe-
cher umschüttete. Nach einer Weile erhob
er sich räuspernd von seinem Klappstuhl.
Er habe niemanden verletzen wollen, flüs-
terte er, seine Ansichten seien von gestern,
er selbst fühle sich wie ein altes Eisen, das
man ins Feuer legen sollte.«
Die Passage liest sich wie eine Parabel
auf die heiß laufende öffentliche Empö-
rungs- und Anklagekultur unserer Zeit.
Und damit auch wie eine Parabel in eige-
ner Sache.
Am Abend soll Strauß sein Buch »Rö-
mische Tage« in der Casa di Goethe erst-
mals der Öffentlichkeit vorstellen. Sein

DEA PICTURE LIBRARY / BPK


Lektor begrüßt das Publikum schwung-
voll auf Italienisch, bis ihn die Leiterin
der Casa sanft unterbricht: »Es sprechen
alle deutsch hier.« Das Publikum besteht
aus in Rom lebenden Deutschen. Der
Abend wirkt wie auf der Frankfurter
Italienreisender Goethe*: Blick des Bildungsbürgers Buchmesse.
Auf dem Podium sitzen Emma Farné,
Journalistin beim italienischen Rundfunk-
ihm aufgegriffen hatte. Es folgte ein öffent- nur halten, wenn Teilhabe an ihr nicht nur sender Rai, und Angelo Bolaffi, Philosoph
licher Auftritt in Berlin, bei dem er sich individuelle Verantwortung, sondern auch und Politikwissenschaftler, der bis 2011
dagegen verwahrte, der »Posterboy der kollektive Verantwortung bedeute. das italienische Kulturinstitut in Berlin ge-
Neuen Rechten« zu sein. Dass ein Schrift- Dieser Essay ist die eigentliche Frucht leitet hat. Auch sie sprechen deutsch.
steller, ohne jemals Position für die AfD seiner Auseinandersetzung mit Rom und Farné vergleicht das Buch mit dem Film
bezogen zu haben, sich zu einer derartigen den Idealen der städtischen Gesellschaft. »La grande bellezza – Die große Schön-
Aussage genötigt fühlen musste, zeigt, wie Hier tritt ein neugieriger Intellektueller in heit«, Paolo Sorrentino hat dafür einen
aufgewühlt, fast panisch das intellektuelle die Öffentlichkeit, der sich von den engen Oscar bekommen, er ist sozusagen der Fel-
Klima nach dem Aufstieg der Rechtspopu- Gedankengrenzen, in denen viele aus dem lini unserer Zeit.
listen war. Der Vorwurf, irgendwie »rechts« akademischen Milieu seiner Generation Strauß zeige viele schöne Bilder, meint
zu sein, kann im bundesdeutschen Kultur- gefangen sind, nicht einengen lässt. Farné, aber »wenig Müll, wenig Unterent-
betrieb vernichtend sein. Der Kulturbetrieb, wo es mittlerweile wicklung in den Vororten«.
dazugehört, seine fortschrittliche Gesin- Die große Schönheit, wirft Bolaffi ein,
In seinem neuen Buch »Römische Tage«, nung mittels Gendersternchen offenzule- habe man in Rom in den Sechzigern erle-
sagt Simon Strauß, gehe es »nicht um Pro- gen, tut sich mit der viel beschworenen Di- ben können. »Damals war Rom eine euro-
klamation, nicht um die Lust an Provoka- versität vor allem dann schwer, wenn es päische Hauptstadt. Heute ist Rom eine
tion, anders als im ersten.« um abweichende Meinungen geht. In ei- antieuropäische Stadt. Partikularisierung,
Politisch ist »Römische Tage« vor allem nem Gespräch mit der »Zeit« hat die Faschisierung machen die Stadt kaputt.
insofern, als dass das Buch einen Blick in Schriftstellerin Eva Menasse gerade fest- Die Krise hat überhandgenommen.«
das Innenleben eines kulturkonservativen gestellt, offenbar sei die Welt so bedrohlich 20 000 junge Italiener seien deshalb zu-
Flaneurs wirft. Den eigentlichen, den poli- geworden, dass man die Neigung habe, letzt nach Deutschland ausgewandert, so
tischen Text hat Simon Strauß bereits im »wenigstens auf dem kleinen Feld der Farné. Auch sie haben ihr Sehnsuchtsziel.
Februar dieses Jahres veröffentlicht, an ei- Kunst, der Literatur, der Universität ein »Es ist easy-going«, meint Bolaffi. »Billig,
nem eher abgelegenen Ort: in der Beilage superintaktes Milieu zu schaffen«. freundlich. Das Gegenteil von Rom.«
»Aus Politik und Zeitgeschichte«, heraus- Nicht nur in »Sieben Nächte«, auch in Es liegt im Norden. Berlin.
gegeben von der Bundeszentrale für poli- »Römische Tage« gibt es Stellen, in denen Die Geschichte Europas ist eben auch
tische Bildung. Darin setzt er sich unter Simon Strauß sich mit diesem »super- eine Geschichte der Projektionen, der Miss-
der Überschrift »Bürgerliche Bekenntnis- intakten Milieu« auseinandersetzt und sei- verständnisse und der seltsamen Pointen.
kultur statt Identitätspolitik« mit Francis ne Skepsis offenlegt. Da ist es nur passend, dass das Rom-
Fukuyama und dessen Kritik an der von Als bei einer Konferenz zum Thema buch dieses Sommers von einem Deut-
Linken wie Rechten gleichermaßen betrie- Kindheit auf einem Landgut vor den Toren schen kommt, der die Stadt kaum kennt.
benen Identitätspolitik auseinander: hier Roms ein alter Philosoph sich gegen Ab- Ein Römer, so heißt es nachher beim
Geschlecht und Rasse, dort Nation. Und treibung ausspricht, ist das liberale Publi- Weißwein, würde niemals zu einer Lesung
kommt dann auf den antiken Bürgerbegriff kum irritiert. »Erst wurde gehüstelt und gehen. Ein Dichter, der aus einem Buch
zu sprechen und die damit verbundene vornehm gelacht, dann wurden Teile der vorträgt – was soll das?
Idee, aktiv am Gemeinwesen mitzuwirken. Tafel unruhig.« Zuhörer zischen, etliche »Ein komisches Volk«, sagt Bolaffi und
Eine Demokratie, so Strauß, könne sich Tagungsteilnehmer stehen auf und verlas- meint die Italiener. Er hätte das auch über
sen die Runde. »Wenig später forderten ei- die Deutschen sagen können.
* Auf Gemälde von Jakob Philipp Hackert, um 1790. nige Gäste den alten Philosophen zu einer

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Kultur

Eisschrank, in jeder Lebenslage auf ihren Vorteil bedacht

Großer, schöner und körperlich derart superfit, dass sie während eines
Abenteuerausflugs ins kriegerische Ausland mühelos einen
verletzten Kerl schultert und ihn aus der Gefahrenzone

Blödsinn bringt. Der blitzgescheite, aber wenig selbstbewusste Lohn-


schreiber Flarsky dagegen kämpft bei geringsten Anlässen
mit Panikattacken, wird ständig von seinen Gefühlen über-
wältigt und zittert vor Erregung, als ihm seine Geliebte be-
Filmkritik In der Komödie »Long Shot« verliebt fiehlt, wenigstens beim Sex ein bisschen Dominanzverhalten
sich Charlize Theron als US-Außen- auszuprobieren.
ministerin in einen übergewichtigen Reporter. Vermutlich kann man »Long Shot« vorwerfen, dass hier
viele drängende Weltprobleme zu Klamauknummern ver-
Kinostart: 20. Juni niedlicht werden. Den amerikanischen Politikbetrieb führt
Regisseur Levine als groteske Zirkusnummer vor, der Aus-

S ie ist eine strahlend elegante, spargeldünne Diva im


Abendkleid, er trägt einen fürchterlichen roten Strub-
belbart, eine Brille mit blitzenden Billiggläsern und die
scheußlichste Windjacke von ganz New York. So begegnen
tausch auf internationaler Ebene beschränkt sich auf hane-
büchen inszenierte Klatschstorys und willkürlich ange-
zettelte Kriege. Gender-Prediger und Freunde traditioneller
schwedischer Bauernkleidung werden hier ebenso ruchlos
sie sich im Film »Long Shot – Unwahrscheinlich, aber nicht dem Gelächter preisgegeben wie Rechtsradikale und Rassis-
unmöglich« zum ersten Mal: die Schöne und, nun ja, der
andere. Charlize Theron spielt die Außenministerin der
Vereinigten Staaten von Amerika und Seth Rogen einen ver-
krachten Journalisten, auf einer Party blicken sie sich aus
der Ferne in die Augen. Und plötzlich erinnern sich die beiden
daran, dass sie zu Jugendzeiten in derselben Straße wohnten.
Sie hatte sich als seine Babysitterin verdingt, er war schon
damals hingerissen von ihr – und glotzt sie nun an, als wäre
eine Außerirdische gelandet.
Die romantische Komödie »Long Shot« handelt von einer
Liebesgeschichte, die sich herzerfrischend wenig um die Ge-
setze des sexuellen Marktwerts und der Wahrscheinlichkeit
schert. Die beiden Liebenden, die selbstgefällig einherstak-
sende Theron in der Rolle der Politikerin Charlotte Field und
der Rumpelstilz Rogen in der Rolle des Investigativreporters
Fred Flarsky, werden im Film selbst mal mit Richard Gere
und Julia Roberts in »Pretty Woman« (1990) verglichen. Ein

STUDIOCANAL
bisschen stärker noch erinnert ihre Liaison an die Lovestory
zwischen Julia Roberts und Hugh Grant in »Notting Hill«
(1999). Nur dass in beiden Komödien der Blick der Filme-
macher auf ihre Protagonisten den Kinozuschauer keinen Darsteller Rogen, Theron: Charmanter Unernst
Moment lang zweifeln ließ, dass genau diese beiden Men-
schen trotz aller Kapital- und Herkunftsunterschiede unzwei-
felhaft füreinander bestimmt waren. Der Regisseur Jonathan ten. In einer Szene des Films wird Fred Flarsky von einer
Levine dagegen legt es in »Long Shot« darauf an, dass in Horde Nazis gejagt, die derart doof aus der Braunhemden-
jedem Augenblick des Films spürbar bleibt, was für ein him- wäsche gucken, dass wirklich keine Bedrohung von ihnen
melschreiend unmögliches Paar die Starpolitikerin Field und ausgeht.
der Schreibtischzausel Flarsky doch abgeben. Der unbestreitbare Reiz des Films entsteht aus den immer
»Long Shot« spielt in einem Land, das von einem unfassbar wieder überraschenden Bosheiten, die er einem scheinbar
eitlen, dummen Präsidenten regiert wird, den Bob Odenkirk im Kino schon tausendfach beackerten, gründlich komödi-
ein bisschen billig als Donald-Trump-Karikatur spielt. Die antisch veralberten Milieu abgewinnt – und aus der Konse-
Außenministerin Field, politisch mit linksliberalen Ansichten, quenz, mit der »Long Shot« immer wieder signalisiert, dass
ist sehr viel geschickter im Umgang mit den Medien als ihr alle Beteiligten sich selbst nicht ganz ernst nehmen. Theron
trotteliger Dienstherr. Sie hat es selbst aufs Präsidentenamt wackelt mit weichen Hüften über Traumstrände und durch
abgesehen und flirtet öffentlich mit dem sagenhaft Palastkorridore, während sie sich mit einem schma-
gut aussehenden, von Alexander Skarsgård grandios len Grinsen über ihre Dialogsätze zu belustigen
schnöselig verkörperten kanadischen Premierminis- scheint. Der durch die Arbeit mit seinem Freund
ter. Zum Erstaunen ihrer Berater-Entourage engagiert Judd Apatow (»Jungfrau (40), männlich, sucht …«)
die Karrieristin Field den just arbeitslos gewordenen geschulte Spaßmacher Rogen wirkt gerade in den
Flarsky als Redenschreiber, nachdem sich die beiden Liebesszenen so, als müsste er im nächsten Moment
im Partysaal über den Weg gelaufen sind – und es losprusten vor Begeisterung über die Rolle, die er
beginnt eine langer Hürdenlauf ins Glück, in dem Video hier spielt.
Ausschnitte
Slapstickstürze, böse Intrigen und feindlicher Gra- aus »Long Shot« schildert eine Zukunftswelt, in der
natenbeschuss überstanden werden müssen. »Long Shot« die souveräne Überlegenheit der Frauen über die
Levines Film zeigt einen tollen Mut zum hem- Männer so selbstverständlich und allgemein akzep-
spiegel.de/
mungslosen Blödsinn, der sich zuallererst aus dem sp252019kritik
tiert ist, dass offensichtlich alle damit glücklich sind.
Spiel mit radikal vertauschten Geschlechterrollen oder in der App Noch mag dieser Film ein Märchen erzählen. Er tut
speist. Die smarte Politikerin Field ist emotional ein DER SPIEGEL es mit umwerfendem Charme. Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 123


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Nachrufe
Wilhelm Wieben, 84 der Bochumer Staatsanwalt-
Er strahlte nicht nur die schaft landete. Auch in der
Sachlichkeit eines Beamten CDU-Spendenaffäre spielte
aus, ums Haar wäre er auch der gute Bekannte von Alt-
einer geworden. Nach einer bundeskanzler Helmut Kohl
Verwaltungslehre in Henn- eine Rolle. Als Kunstmäzen
stedt, Kreis Dithmarschen, baute er eine der bedeu-
zog es Wieben nach Berlin, tendsten Sammlungen der
wo er sich an der Max-Rein- klassischen Moderne in
hardt-Schule zum Schau- Europa auf, die seit 2007 als
spieler ausbilden ließ. Kar- Dauerleihgabe in der Alber-
riere machte er nicht auf tina in Wien ausgestellt
der Bühne, sondern hinterm wird. Herbert Batliner starb
Mikrofon, zunächst beim am 8. Juni in Vaduz. MAD
Sender Freies Berlin. 1974
sprach er erstmals die »Ta- Bushwick Bill, 52
gesschau«, die er bis 1998 Ein glückliches Leben sieht
prägte. Es war eine Zeit, als anders aus als das von

BRADLEY BECKER
Nachrichtensprecher noch Richard Stephen Shaw alias
Instanzen waren. Der stets Bushwick Bill, dem stilprä-
korrekte Wieben füllte diese genden Rapper aus Hous-
ton, Texas. Von Geburt an
kleinwüchsig, war er ab

JEAN-LOUIS CHOLET / ACTION PRESS


Abdul Baset Al-Sarout, 27 1986 Mitglied der Geto
Es war Menschenjagd, was die Scharfschützen der syrischen Boys, einer so kontroversen
Armee im Dezember 2011 in Bajada, einem Viertel der wie einflussreichen Rap-
Stadt Homs betrieben: Sie schossen auf alle, die in ihr Ziel- Gruppe, die psychotische
feld gerieten, Männer, Frauen, Kinder, ein SPIEGEL-Team. Erfahrungen und Horror als
Aus Bajada kam der Torwart der Junioren-Fußballnational- Themen in den Hip-Hop
mannschaft, landesweit bekannt schon bevor er die ersten einführte. 1991 schoss Shaw
Demonstrationen gegen die Diktatur der Assads mit anführ- sich bei einem Streit mit sei-
te: Abdul Baset Al-Sarout, damals 19, furchtlos und ein ner Freundin ein Auge aus,
begnadeter Sänger, der die Einheit der Protestierenden Rolle perfekt aus, bereicher- ein Foto aus dem Kranken-
beschwor. Was dann kam – der bewaffnete Kampf, Sarout, te aber auch die Popkultur, haus nahmen die Geto Boys
der nun vom Hass auf die Alawiten, Assads Glaubensge- zum Beispiel war er im auf das Cover ihres Albums
meinde sang – war das Ergebnis der Menschenjagden. Skandalsong »Jeanny« des »We Can’t Be Stopped«. Auf
Sarout blieb im belagerten Homs, seine vier Brüder wurden Sängers Falco als Sprecher ihm fand sich auch »Mind
umgebracht, auch sein Vater. 2014 floh er nach Norden, zu hören. Dass Wieben Playing Tricks on Me«,
geriet in den Machtbereich des »Islamischen Staates«, homosexuell war, hatte sei- einer der größten Popsongs
schloss ein Stillhalteabkommen mit den Dschihadisten, ent- ne Freundin Inge Meysel der Neunziger – ein düste-
kam ihrem Mordversuch und wurde dann kurz von den kon- 1995 im »Stern« ausgeplau- res Meisterwerk, das davon
kurrierenden Radikalen der Nusra-Front festgesetzt. 2017 dert. Wilhelm Wieben starb erzählt, wie Bösewichter
schloss der »Sänger der Revolution« sich einer von allen am 13. Juni in Hamburg. AKÜ durch die Erinnerung an
Lagern unabhängigen Rebellengruppe in Idlib an. Am ihre Taten in den Wahnsinn
6. Juni wurde Abdul Baset Al-Sarout im Dorf Tall Malah von Herbert Batliner, 90 getrieben werden. Er war
einer Mörsergranate schwer verletzt, er starb am 8. Juni. CRE Der Sohn einer österrei- ein großer Geschichten-
chischen Mutter und eines erzähler, doch als Solokünst-
Liechtensteiner Bankiers ler konnte Bushwick Bill nie
Gerlind Reinshagen, 93 war ein gottesfürchtiger an den Erfolg der Geto Boys
1968 gab sie ihr Debüt als Bühnenautorin. »Wenn der Gat- Mensch. Seine Verdienste anknüpfen. 2010 wurde er
te im Büro, die Töchter in der Schule waren«, so der um die katholische Kirche mit Kokain erwischt und
SPIEGEL damals, »legte sich die Berliner Hausfrau Gerlind brachten ihm unter ande- beinahe in sein Geburtsland
Reinshagen, 41, DIN-A4-Papier aufs Knie oder auf den rem den Titel eines Kam- Jamaika abgeschoben.
Couchtisch, griff zum Kugelschreiber und begann zu dich- merherrn Seiner Heiligkeit Bushwick Bill starb am
ten.« Claus Peymann inszenierte das sardonische Betriebs- des Papstes ein. Sein Millio- 9. Juni an Bauchspeicheldrü-
feststück »Doppelkopf«, mit dem ihre Laufbahn als Drama- nenvermögen machte der senkrebs. RAP
tikerin begann. Reinshagen, studierte Pharmazeutin, hat Rechtsanwalt allerdings auf
auf dem Bau gejobbt; die Realität kleiner Leute war die eher irdische Art. Über
Fundgrube für ihr Werk, Agitprop aber nie ihre Sache. Poe- Jahrzehnte war Batliner der
tisch, komisch und subtil widmete sich Reinshagen auch in wichtigste Treuhänder
AL PEREIRA / GETTY IMAGES

ihren Hörspielen und Romanen den Traumata der Kriegs- des Fürstentums und half
generation oder dem verkorksten Verhältnis der Geschlech- Reichen aus aller Welt, die
ter. Zuletzt publizierte die 1926 in Königsberg Geborene Steuern sparen wollten.
Gedichte: »Manchmal bei Sturm fliegt mir ein Sandkorn Bekannt wurde er, weil im
aus der alten Stadt ins Auge.« Gerlind Reinshagen starb in Jahr 2000 eine CD mit
der Nacht auf den 9. Juni in Berlin. ES Daten aus seiner Kanzlei bei

DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 125


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Personalien

SEBASTIEN MICKE / PARIS MATCH / CONTOUR BY GETTY IMAGES


Ewiger Junge rechnen müssen. Er fühle sich »wie ein kleiner Junge«, sagt
Douglas. Daran habe auch der Zungenkrebs nichts geändert,
der bei ihm vor neun Jahren diagnostiziert wurde. Der Ge-
G Auch Filmstars wie Michael Douglas werden älter – oder? danke an Altern oder Tod sei ihm trotz der Krankheit nie in den
»Er ist mit 74 Jahren so jung und so verführerisch wie nie zuvor«, Sinn gekommen. »Immerhin wurde meine Mutter 92, und
schrieb jetzt das französische Magazin »Paris Match« und mein Vater ist heute 102.« Auf dem Höhepunkt seiner Karriere,
lieferte dazu den fotografischen Beweis: Michael Douglas in so Douglas, habe er sich oft nach Langeweile gesehnt – und
seinem Wohnzimmer in New York, lässig, barfüßig vor seinen festgestellt, dass er es nicht lange ohne Arbeit aushalte. Offen-
beiden Oscars und anderen Filmpreisen; er scheint bezeugen bar ist das sein Geheimnis der ewigen Jugend: »Ich habe heute
zu wollen, dass Hollywood und Netflix auch in Zukunft mit ihm nur eine Obsession: Ich darf keine Zeit verlieren!« PE

ders BBC, eine neue Satire- für politische Kommunikation


TV-Star wider show erdacht zu haben: In der Universität Glasgow
Willen »Tonight with Vladimir Putin« sagte, die Show sei wenig hilf-
befragt eine digitale 3-D- reich für die bilateralen Be-
G Der russische Präsident Karikatur des Politikers mit ziehungen von Großbritan-
Wladimir Putin, 66, werde einem stereotypen russischen nien und Russland. In Moskau
das Ganze ignorieren, beeilte Akzent diverse Gäste, läuft tätige Journalisten warnten,
sich ein Kremlsprecher im Studio herum und räkelt der Sender würde »mit dem
zu versichern. Das war kurz sich an seinem Schreibtisch. Feuer spielen«. Ein definitiver
BBC TWO

nach der Bekanntgabe Die Nachricht sorgte für Ausstrahlungstermin wurde


des britischen Fernsehsen- viel Wirbel. Eine Expertin bisher nicht verkündet. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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»Wer bin ich?« treu, ihr vielfältiges Reper-


toire umfasst auch ernste
G Mit ihrer neuen Rolle habe Rollen. In letzter Zeit habe
sich ein bisschen ein Kreis sie sich Gedanken um ihre
geschlossen, findet die briti- Rollen im wahren Leben

JÉRÔME SEVRETTE / ANDA.FR / DER SPIEGEL


sche Schauspielerin Emma gemacht, so Thompson zur
Thompson, im April 60 Jah- »New York Times«: als
re alt geworden. Seit ver- Tochter, Ehefrau, Mutter.
gangener Woche Sie sei selbst
ist sie in den US- überrascht gewe-
Kinos in dem Film sen. Dem »Time
»Late Night« Magazine« sagte
als alternde TV- sie, sie habe
JAMES VEYSEY / REX FEATURES
Moderatorin und sich gefragt:
Comedian mit »Wer bin ich ei-
eigener Show zu gentlich?« Die Die Augenzeugin
sehen. Als junge Frage habe sie in
Frau versuchte
sich Thompson in
den Achtzigern
der Vergangen-
heit immer eher
gelangweilt, jetzt
»Den Schnatz fangen«
als Comedian in sei sie fasziniert Ursprünglich spielten es Figuren in der Fantasyreihe
Großbritannien – und war davon. Mit dem Älterwerden »Harry Potter«, heute treten Mannschaften auf nor-
meistens allein unter Män- setzt sich Thompson ohne- malen Sportplätzen im Quidditch gegeneinander an.
nern. Dem komödiantischen hin auseinander: »Das Ver-
Die Sportart liegt irgendwo zwischen Rugby, Völker-
Fach blieb die zweifache leugnen des Alters ist unge-
Oscarpreisträgerin immer sund«, glaubt sie. KS ball und Handball; anstatt auf Besen zu fliegen, tragen
die Spieler Plastikstöcke zwischen den Beinen. In
Tornesch, nordwestlich von Hamburg, trat Studentin
Laura Stahmer, 21, mit dem Team Mannheimer Greife
Luxus für Kunst plex zusammen mit dem
senegalesischen Architekten bei der deutschen Meisterschaft an.
G Er ist der erste schwarze Abib Djenne. Er ist spekta-
Künstler, der ein offizielles kulär am Atlantik gelegen, G »Als ich in Frankreich zum ersten Mal an einem Quidditch-
Porträt eines US-amerika- mit Infinity-Pool, modernster Spiel vorbeigelaufen bin, dachte ich erst, ich sehe nicht rich-
nischen Präsidenten gemalt Ausstattung, vielen Kunst- tig. Das ›Harry Potter‹-Spiel, mitten im Stadtpark? Es sah
hat, und es war der erste werken und einem sechs Me- aus wie ein Handballspiel, mit mehreren Bällen und auf
schwarze Präsident, dessen ter hohen Eingangsportal. Stangen angebrachten Ringen anstelle von Toren – es war
Bild im Februar 2018 in der Es soll das Tor der Wieder- ein wuselndes Durcheinander, einfach toll. Ich meldete mich
National Portrait Gallery kehr symbolisieren, die Öff- direkt zum Training an, obwohl ich da gerade zum ersten
in Washington enthüllt wur- nung Afrikas für die Nach- Mal ein ›Harry Potter‹-Buch gelesen hatte und in der Schule
de. Mit seinem Gemälde fahren derer, die einst als beim Handball immer als Letzte in eine Mannschaft gewählt
von Barack Obama gelangte Sklaven verschleppt wurden. wurde. Ich konnte anfangs nicht fangen oder werfen, aber
Kehinde Wiley, 42, zu Welt- Wiley, Sohn eines Nigeria- im Quidditch interessiert das keinen, da hilft man sich gegen-
ruhm, und seither, so sagt ners und einer Afroamerika- seitig. Um entscheidende Punkte zu bekommen, muss der
er, müsse er noch härter ar- nerin, hält sich seit mehr als Schnatz gefangen werden. Im Roman ist das ein goldener
beiten: damit er nicht nur für 20 Jahren regelmäßig in Afri- Ball mit Flügeln, bei uns ist es ein unparteiischer Spieler mit
das Obama-Bild bekannt ist. ka auf. Das Black Rock soll einem Tennisball in einer Socke, die an seinem Hosenbund
Mit dem Black Rock, einer nach seinem Willen Arbeits- befestigt ist. Wer es schafft, sich die Socke zu schnappen,
Künstlerresidenz in Senegals stätte, Inspiration und Ver- beendet das Spiel.
Hauptstadt Dakar, dürfte gnügen in einem sein: »Es Mittlerweile trainiere ich eine Mannschaft in Rennes in
ihm das gelungen sein. Wiley geht auch darum, den Künst- Frankreich, wo ich gerade studiere. Mit dem Mannheimer
gestaltete den Gebäudekom- ler einfach zu verwöhnen.« KS Team war ich vergangenes Wochenende bei der deutschen
Meisterschaft. Wir haben zwar einen der hinteren Plätze
belegt, aber das war uns egal. Die Stimmung dort war ein-
fach magisch, da treffen die größten Nerds auf muskulöse
Rugbyspieler, alle quatschen miteinander und haben Spaß.
Der Muskelkater danach war zwar weniger zauberhaft, stän-
dig mit einem Besen zwischen die Beine geklemmt zu ren-
nen ist ganz schön anstrengend, aber das war es wert. Ich
JANE HAHN/NYT / REDUX / LAIF

beobachte gerade, dass die Sportart immer mehr Menschen


begeistert, seit ich vor drei Jahren damit angefangen habe,
gibt es einen regelrechten Boom. In den gemischtgeschlecht-
lichen Mannschaften sind ›Harry Potter‹-Fans und Leistungs-
sportler, und dann gibt es noch Leute wie mich, die einfach
nur Spaß am Spiel haben. Diese Mischung macht den Sport
so besonders.« Aufgezeichnet von Anna-Lena Jaensch

127
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»Zu diesem Titel kann ich nur sagen:


Dann ist Kevin wohl bald allein zu Haus.«
Rainer Kahle, Biberach (Baden-Württemberg)

Neues Leben einhauchen Ob Kevin Kühnert der geeignete SPD- Grund zur Hoffnung
Vorsitzende sein wird, kann auch ich nicht
Nr. 24/2019 Kommt jetzt Kevin? Nr. 23/2019 Wie hart die Bundestags-
Sprengkommando Kühnert – warum SPD sagen. Was ich aber weiß, ist, was sich in abgeordneten nach der Wahlschlappe mit
und GroKo den Juso-Chef fürchten müssen den letzten 20 Jahren unter maßgeblicher ihrer Chefin Andreas Nahles umgingen
Beteiligung der SPD für den »kleinen
Es ist unwürdig und unseriös, dem Dauer- Mann« verschlechtert hat: Hartz IV, ge- Der Artikel über die Nahles-Entscheidung,
provokateur und Möchtegern-Revoluzzer kürzte Rente, prekäre Jobs, keine Zinsen die Machtfrage zu stellen, macht todtraurig.
den Titel zu widmen und sich darin auf beim Sparen; dafür Doppelbelastung der Die Bundesparteiführung muss geschlos-
substanzlose Spekulationen zu beschrän- Betriebsrenten und teure Mieten. Da dürf- sen zurücktreten. Die GroKo ist sofort zu
ken. Offensichtlich mit dem Ziel, das Grab te Herr Kühnert nicht unbedingt der GAU beenden. Neue Führung aus Landes- und
für diese verdienst- und traditionsreiche für die SPD oder für Deutschland sein. Kommunalpolitikern, die die Probleme
Volkspartei ein Stück weiter auszuheben. Roland Möck, Seevetal (Nieders.) noch sehen und kennen. Also Landesmi-
Henrik Michels, Oberhausen nister, Oberbürgermeister. Minderheits-
regierung versuchen oder Neuwahlen er-
Nicht die Frage nach dem Führungsperso- zwingen. Das sagt ein SPD-Mann, der das
nal ist entscheidend für die Zukunftsfähig- seit 60 Jahren ist und seit Hartz IV im Bund

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


keit der orientierungslos gewordenen SPD. nur noch Linke oder Grüne wählen kann.
Die gängige ängstliche, kleinbürgerliche Eberhard Hirschler, Otterstadt (Rhld.-Pf.)
und technokratische SPD-Politik ist der
Motor der Dauerkrise dieser Partei. Wird Während die SPD 15 Jahre lang rückwärts-
hingegen die Leitidee des Demokratischen gewandt darüber diskutierte, ob die Agen-
Sozialismus wieder mit Leben und Inhal- da 2010 richtig oder falsch war, haben die
ten gefüllt, kann die SPD wieder zu einer Juso Kühnert bei Kneipentalk Grünen systematisch die Zukunftsthemen
programmatisch profilierten und glaub- besetzt. Gerade Andrea Nahles war weder
würdigen Partei werden. Der Artikel bringt leider nicht die Aussage inhaltlich noch von der Außendarstellung
Prof. Dr. Bernd Janssen, Hannover Kevin Kühnerts aus einer Phoenix-Runde: her in der Lage, die Partei nach vorn zu
dass die SPD darüber diskutieren muss, bringen. Coole Sprüche einer uncoolen
Das Titelbild erinnert mich an das Plakat ob sie auch weiterhin den Bauchladen aller Vorsitzenden sind eben nicht glaubwürdig.
zum Film »Jud Süß« oder auch an die Themen vor sich herschleppen will oder Matthias Glowatsch, Nürnberg
CDU-Werbung aus den Fünfzigerjahren ihren Schwerpunkt auf bestimmte Themen
»Alle Wege des Marxismus führen nach eingrenzen will. Diese Diskussion könnte Jede(r) Nachfolger(in) von Andrea Nahles
Moskau«. Was soll das? mit einem SPD-Chef Kühnert anstehen wird nicht viel besser oder schlechter sein
Karl Martell, Leinfelden-Echterdingen (Bad.-Württ.) und der SPD neues Leben einhauchen, als die bisherige Amtsinhaberin, die durch-
nicht etwa das Aufwärmen eines immer aus respektable Arbeit geleistet hat, auch
Kühnert will die mehr als 40-jährige Spal- schon nebulösen Sozialismusbegriffs. als Kabinettsmitglied, was offenbar von
tung der Gesellschaft nach Willy Brandt Prof. Dr. Johannes Heinrichs, Berlin/Duisburg der eigenen Wählerschaft nicht honoriert
wieder rückgängig machen, will den wird. Der Rücktritt ist sicherlich auch dem
Grundrechten gemäß unserer Verfassung Wo nur ist die Medienwelt, wo die SPD zunehmend ruppigen Umgang in der Ge-
wieder Geltung verschaffen und stellt den gelandet, dass einem derart unausgegore- sellschaft, auch Mediengesellschaft, und
Zustand unseres Staatswesens dar als das, nen Jüngelchen solche Aufmerksamkeit in der eigenen Partei geschuldet, den Nah-
was es de facto ist, eine als Demokratie gewidmet wird? les allerdings in ihrer eigenen Karriere ja
herausgeputzte Plutokratie. Christoph Geyer, Hamburg lange ertragen hat.
Klaus-Dieter John, Berlin Wilfried Mommert, Berlin
Von meiner Warte aus ist es sehr begrü-
Was soll dieses seitenlange Herumeiern ßenswert, dass Kevin Kühnert jetzt als Liebe SPD, Dein Programm ist gut, Deine
um den maßlos überschätzten Kevin Küh- SPD-Vorsitzender ins Gespräch kommt. Regierungsarbeit ist gut, Deine Mann-
nert? Ihr Titel hätte statt »Kommt jetzt Ke- Mit ihm bin ich optimistisch, dass meine schaft ist größtenteils gut, Dein Umgang
vin?« lauten müssen: »Kommt jetzt Ga- Partei FDP bei der Bundestagswahl vor mit Parteivorsitzenden ist schlecht, Deine
briel zurück?« den Sozialdemokraten durchs Ziel geht. Präsenz ist schlecht, Dein Zaudern, mit
Hermann Müller, Tauberbischofsheim (Bad.-Württ.) Hans Martin Esser, Arnsberg (NRW) Grünen und Linken eine seit Jahren über-
fällige linke Mehrheit dauerhaft und in Re-
Seit 1966 bin ich Mitglied dieser Partei. Es Es ist fünf vor zwölf für die SPD. Die alten gierungsverantwortung zu manifestieren,
gab immer wieder mal Gründe zu überle- Seilschaften haben fertig. Kaminkarrieren ist schlecht. Diese Bilanz gibt doch Grund
gen, ob ich bleiben soll. Immer wieder habe sind out. Ich sehe zurzeit nur eine Möglich- zur Hoffnung. Packe endlich die genann-
ich mich dafür entschieden. Kevin Kühnert keit, auf die Beine zu kommen: eine Dop- ten neuralgischen Punkte an, und gehe voll
bestärkt mich darin, dass das richtig war. pelspitze Simone Lange und Kevin Kühnert. in die Offensive.
Günther Hack, Bautzen (Sachsen) Bernd Schönecker, Idstein (Hessen) Wolfgang Greiner, Bischofswiesen (Bayern)

128 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Briefe

Kontrolle durch Wehrpflicht Sie sehen nicht, worum es wirklich geht, Schmerzliche Entzauberung
nämlich um etwas Unwiederbringliches:
Nr. 23/2019 Ein Soldat warnte vor Nr. 23/2019 Die Bloggerin Marie
den Boden! Die Grünen und die SPD hat-
Rechtsextremen in der Truppe, jetzt will Sophie Hingst hat sich eine jüdische
man ihn feuern ten sich das mal ins Programm geschrie- Familiengeschichte erfunden –
ben: ein Ende des permanenten Bodenver- inklusive falscher Opferdokumente,
Die Bundeswehr sollte dem Soldaten J. brauchs in Deutschland! Alles vergessen, die sie in Yad Vashem einreichte
eine passende höhere Position geben. Nur weil irgendwer die Parole ausgegeben hat,
dann erweckt sie glaubwürdig den Ein- dass wir mehr Wohnraum brauchen. Bo- Shalom, danke für diesen Artikel. Es ist
druck, dass sie rechtes Gedankengut und den ist ein Wunderwerk dieser Erde, je- schade, dass es überhaupt vonnöten ist,
Handeln in der Truppe nicht duldet. Wenn weils gewachsen in Hunderten und Tau- sich mit solchen traurigen, verschrobenen
die Bundeswehr das nicht tut, erweckt sie senden von Jahren, ist es der belebteste Menschen zu beschäftigen, doch ich bin
das gegenteilige Gefühl, und das wäre Raum unserer Erdkugel. sehr froh, dass sich jemand des Problems
schlimm. Karl-Heinz Richter, Villingendorf (Bad.-Württ.) annimmt, indem er der Sache nachgeht,
Henrik Schwalba, Pinneberg (Schl.-Holst.) nachforscht und diese Menschen mit sei-
Anstatt zwei Interessengruppen gegen- nen Ergebnissen konfrontiert und diese
Die nicht abreißende Reihe von rechts- einanderzustellen, wäre eine, zumindest veröffentlicht.
extremen Skandalen in der Bundeswehr teilweise, Win-win-Lösung möglich: wenn Rabbi Dr. Walter Rothschild, Berlin
zeigt, dass das Aussetzen der Wehrpflicht die Dachflächen der Neubauten begrünt
2011 vielleicht finanztechnisch und gemäß und von den Kleingärtnern bewirtschaftet

CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL


dem politischen Mainstream richtig war, würden. Oder die Schulen ihre Außenflä-
für unseren demokratischen Staat aber chen für Garten-AGs nutzen, in Koopera-
längerfristig in ein Desaster führen wird. tion mit den Kleingärtnern. Theoretisch
Zigtausende Wehrpflichtige kontrollierten denkbar? Also auch machbar!
davor als kritische Bürger in Uniform Ka- Phillip Hommel, Reichenau (Bad.-Württ.)
meraden und Vorgesetzte mit dem siche-
ren Gefühl, dass von diesen nach 12/15/18 In Freiburg beträgt die Pacht für einen
Monaten keine Repression mehr ausgehen 250 Quadratmeter großen Kleingarten
kann. lächerliche 60 Euro – wohlgemerkt: im Historikerin Hingst
Uwe Splieth, Unna Jahr! Das entspricht ungefähr der Miete
für einen halben Quadratmeter Wohn- Dieses infame Instrumentalisieren des
Wunderwerk Boden fläche. Pächter sind zum großen Teil nicht Holocausts, um die Klickzahlen des eige-
etwa einkommensschwache Familien. nen Blogs zu erhöhen, hat mich in meinen
Nr. 23/2019 In Städten sollen Kleingärtner
Und dies auf kostbaren innerstädtischen Grundwerten erschüttert. Als Tochter
ihre Lauben verlieren, damit neue
Wohnungen gebaut werden können Flächen, die sich hervorragend für urban zweier Holocaust-Überlebender, nämlich
verdichteten Wohnungsbau eignen. Der Artur und Maria (Theresa) Brauner, würde
Für mich haben die Kleingärten längst ihre Ersatz für wegfallende Kleingärten lässt es mir nicht mal annähernd in den Sinn
Daseinsberechtigung verloren. Von daher sich am Stadtrand vergleichsweise leicht kommen, meine Geschichte derart auszu-
würde es mich nicht stören, wenn einige finden. breiten, zu benutzen, zu funktionalisieren,
für den Wohnungsbau geopfert werden. Helmut Thoma, Freiburg um auf mich aufmerksam zu machen.
Der Ursprungsgedanke, dass man Radies- Zwar kämpft unsere Familie mit den Mit-
chen, Kopfsalat und Obst anbaut, weicht Kriechend in den Gefechtsstand teln des fiktionalen Erzählens in Filmen
der Vorstellung: Rasen, Rasen, Rasen. schon seit Jahrzehnten gegen das Verges-
Nr. 23/2019 Abhörprotokolle der Alliierten
Christa Lissey, Hannover sen an, aber ich ziehe doch nicht die Sinn-
zeigen, wie deutsche Soldaten die Schlacht
in der Normandie vor 75 Jahren erlebten haftigkeit meiner Existenz daraus, aus ei-
Kleingärtner sind keine Spießer, das geht ner Familie zu stammen, die wirklich viele
zu weit. Aber dass stadtnaher bezahlbarer Glückwunsch zu Ihrem D-Day-Artikel und Opfer zu beklagen hat!
Wohnraum wichtig ist und manchmal eine kleine Ergänzung: Hasso Viebig stieg Alice Brauner, Berlin
wichtiger als Kleingärten, ist auch richtig. nicht nur zum Brigadegeneral der Bundes-
Das Problem ist der Egoismus der Men- wehr auf, sondern stand zuvor auch gut zehn Die Katharsis, der sich der SPIEGEL durch
Jahre lang in Diensten Reinhard Gehlens. die konsequente Aufarbeitung des Falls Re-
Erich Schmidt-Eenboom, Weilheim/Obb. (Bayern) lotius selbst unterzogen hat, und die
Decouvrierung der gefälschten Identitäts-
Die Überschrift »Protokolle des Grauens« geschichte der Bloggerin Marie Sophie
ist treffend. Tage nach der Landung der Hingst gehören zusammen. Es sind über-
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Alliierten wurde ich schwer verwundet zeugende, wenn auch schmerzliche Beweise,
(Lungenstecksplitter links, bohnengroßer dass Fake News sich sehr wohl entzaubern
Granatsplitter re. Nierengegend, Trüm- lassen und dass dem Qualitätsjournalismus
merschussbruch re. Oberarm mit Radialis- dabei nach wie vor eine herausragende,
lähmung). Nach der Verwundung konnte durch niemanden zu ersetzende Aufgabe
ich nur kriechend den Gefechtsstand mei- zukommt. Chapeau für beides!
Kolonie in Berlin-Mariendorf nes Kompaniechefs erreichen, habe mich Prof. Dr. Harald Seubert, Nürnberg
aufgerichtet und meinem Chef gemeldet:
schen. Das sieht man beim Flughafen Tem- »Herr Oberleutnant, ich bin verwundet«.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
pelhof. Anstatt die Fläche für Wohnungen Dann bin ich zusammengebrochen. Erst ([email protected]) gekürzt
zu nutzen, soll dort ein großer Park ent- später habe ich erfahren, dass er mir das sowie digital zu veröffentlichen und unter
stehen. Mitten in Berlin, Wahnsinn. Leben gerettet hat. www.spiegel.de zu archivieren.
Matthias Jäger, Minden (NRW) Walter Böneker, Hatten (Nieders.)

129
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Hohlspiegel Rückspiegel
JETZT IM HANDEL:

Aus der »Ludwigsburger EDITION Zitat

KÜNSTLICHE
Kreiszeitung« Der Filmemacher Volker Heise sinniert
in der »Berliner Zeitung« anlässlich des
SPIEGEL-Titels »Kommt jetzt Kevin?«

INTELLIGENZ
Aus der »Rheinischen Post«: (Nr. 24/2019) über den Juso-Vorsitzenden
»Die Donau fließt mitten durch Kevin Kühnert und die SPD:
rumänische Hauptstadt
und trennt die beiden Stadthälften Allerdings ist Kühnert
Buda und Pest voneinander.« Ende der 80er-Jahre
geboren, vor der gro-
ßen Kevin-Welle, und
soll nach dem Fußball-
spieler Kevin Keegan
benannt worden sein,
der im Abklingbecken
Aus der »Mitteldeutschen Zeitung« seiner Karriere beim
über den Schlagersänger Karel Gott HSV spielte und viele
weibliche Fans hatte,
was vielleicht an seinen langen Haaren
Aus der »Oberhessischen Presse«: lag, vielleicht aber auch an seinem Vor-
»Die Anlage werde seit rund fünf Jahren namen. Kevin kommt aus dem Altirischen
›suggestiv auf den neuesten Stand‹ und bedeutet: anmutig, hübsch von Ge-
gebracht, eine ›Komplettmodernisierung‹ burt an. Die 80er hatten sowieso ihr ei-
sei geplant.« genes Kevin-Moment. Außer Kevin Kee-
gan gab es auch noch Super-Kevin, eine
Comic-Figur des Erdölkonzerns British
Petrol, der mit dem Slogan auftrat: »Of-
fenbar haben die Menschen Energiepro-
KOOPERATION bleme – Arbeit für unseren besten Mann,
für Super-Kevin.« Bei so vielen Einflüssen
Warum Mensch und ist es kein Wunder, wenn auf dem Titel-
blatt des aktuellen SPIEGEL Kevin Küh-
Maschine zusammen nert den potenziellen Leser anschaut wie
ein junges Super-Mario-Teufelchen, dem
am besten sind bald die Hörner wachsen werden, um das
Vor einem Baumarkt in Hage, Establishment zu erschrecken und die
Ostfriesland WERBUNG Macht zu erobern. Und damit wären wir
bei der guten Nachricht der auch diesmal
Wie Blockchain das wieder frohen Kolumne: Alles kommt
Von Zeit Online: wieder, nichts ist für immer verloren …
»In Deutschland besitzen wenige Marketing revolutioniert Der HSV kehrt zurück in die Bundesliga
Reiche mehr als die Hälfte und die Sozialdemokraten stellen den
des gesamten Vermögens. Und es
könnten noch mehr werden.«
SELBSTMANAGEMENT nächsten Bundeskanzler.

7 Fähigkeiten, die keine


Maschine beherrscht Der SPIEGEL berichtete …

… in »Auf verlorenem Posten« (Nr. 23/2019)


über einen Unteroffizier, der jahrelang
Anzeige in der »Berliner Woche« mutmaßliche rechtsextreme Vorfälle in der
Bundeswehr meldete. Obwohl ein
Teil seiner Hinweise zu truppeninternen
Konzertkritik aus
dem »Delmenhorster Kreisblatt«:
! Ermittlungen führte, sollte
er unehrenhaft entlassen werden.
»Reinholds Gekreische zerfleischt Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
die Luft über den ausgestellten Wagen harvardbusinessmanager.de Wenige Tage nach Erscheinen des SPIEGEL-
des Autohauses wie eine Flex.« Berichts traf der Soldat Patrick J. Vertei-
digungsstaatssekretär Gerd Hoofe. Sein
Fall soll erneut überprüft werden. In ei-
nem Schreiben teilte das Personalamt
der Bundeswehr ihm jetzt mit, man setze
»den Vollzug« der Entlassung »bis auf
Aus dem »Westfälischen Anzeiger« Weiteres aus«.

130 DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019


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Die weißen Seiten der Gewalt


Colson Whiteheads ungeheuerlicher Roman Die Nickel Boys erzählt von der brutalen Welt
eines Erziehungsheims im Florida der Sechzigerjahre und von den Kämpfen von heute.

Von Volker Weidermann in New York geboren, beschreibt seit Der Romanheld Elwood ist erfun-
vielen Jahren in seinen Büchern die Ur- den. Sehr lebendig erfunden. Er will

D as Schlimmste war die Hoffnung. Das


Schlimmste waren die Reden von Dr. Mar-
tin Luther King, die er hörte und immer
gründe der amerikanischen Finsternis,
die Ursünden Amerikas, die Tötung der
Indianer, die Sklaverei. Sein letzter
alles richtig machen. Er ist innerlich
gestählt von den Reden Martin Luther
Kings und von der Strenge und dem
wieder hörte, die ihn verbanden mit allen Schwar- Roman Underground Railroad wurde mit Mut und dem Kampfgeist seiner Oma.
zen Amerikas, mit dem Kampf der Schwarzen, dem National Book Award ausgezeich- Er gilt als Streber im schwarzen Getto
der Gewissheit des Sieges irgendwann. Dieser net. Whitehead schreibt auf der Grund- von Tallahassee, wo er lebt. Eines Tages
fatale Glaube: Wenn man nur stark ist, die lage historischer Ereignisse Fantasie- Colson
gewinnt er bei einem Wettkampf einen
Menschen liebt und sich die Gewissheit bewahrt, bücher. »Ich will nicht bei den Fakten, Whitehead: ungeheuren Schatz. Ein vielbändiges,
dass man selbst genauso viel wert ist wie die Regie- sondern bei der Wahrheit bleiben«, Die Nickel Boys. wertvoll gebundenes Lexikon. Er ist be-
renden, die Unterdrücker, die Killer, die Hasser – beschreibt er sein Programm. Eine Art Aus dem reit, die ganze Welt zu lernen. Doch alle
dann wird man am Ende triumphieren. Realismus schwarzer Magie. Englischen Bände – außer dem ersten – sind leer.
von Henning
Elwood Curtis, 16 Jahre alt, wächst Anfang der Jetzt also Elwood und das Amerika Ahrens; Hanser;
Blindbände, womöglich das Exemplar
Sechzigerjahre in Florida bei seiner Großmutter der frühen Sechzigerjahre. Und dieser 223 Seiten; eines Vertreters, der sie als Anschauungs-
auf. Die Eltern haben sich eines Nachts aus dem gutgläubige, strebsame Junge gerät 23 Euro bände möglichen Kunden vorgestellt
Staub gemacht. Sie gehen nach Kalifornien, um in ein Erziehungsheim, das hier »das hatte. Dieses Wissen der Welt – nur
eine Art Glück zu finden, der Junge würde da nur Nickel« heißt und zu dem Whitehead durch die weiße Seiten. Der erste Band immerhin hat den
stören, und schließlich: Wofür hat er eine Groß- wahre Geschichte der »Dozier School for Boys« erwarteten Inhalt. So umfasst Elwoods Klugheit
mutter? Elwoods Großmutter kämpft ihrem Enkel in Marianna, Florida, inspiriert wurde. Unglaub- schon bald alle Begriffe, die mit A beginnen, und
allein den Weg frei, mit Strenge, Fürsorge, Zuver- liche Misshandlungen fanden hier statt, die ein paar B-Wörter auch. Dieses Wissen und das
sicht. Und diesem fatalen Weihnachtsgeschenk: niemanden jenseits der Mauern der Einrichtung in der Schule Erlernte reichen aus, um ihm ein
der Schallplatte mit dem Titel »Martin Luther King je interessierten – bis Archäologen vor einer Stipendium fürs College zu ermöglichen. Er wird
At Zion Hill«. Elwood kann nicht aufhören, sie an- Weile einen Friedhof fanden. Mit sterblichen es schaffen, trägt alle Voraussetzungen für den
zuhören und sich mit Hoffnung und Mut aufzuladen. Überresten von Menschen, die nie vermisst Aufstieg in dieser feindlichen Welt in sich.
Das ist der Anfang von Colson Whiteheads wurden. Und deren Skelette die Spuren von Die erste Fahrt ins College: Er fährt per
neuem Roman Die Nickel Boys. Whitehead, 1969 Misshandlungen tragen. Anhalter, ein Schwarzer in einem Plymouth hält,
Elwood steigt ein, die Reise in das Reich des Wis-
sens, der Klugheit, der Emanzipation beginnt.
Doch der Wagen wird von der Polizei gestoppt.
Er ist gestohlen. Klar. »Den klaut nur ein Nigger«,
sagt der Beamte. Elwood hat nichts damit zu tun.
Eine ebenso wahrhaftige wie aussichtslose Ver-
teidigungsstrategie. Statt aufs College zu gehen,
wird er in das Erziehungsheim Nickel eingewie-
sen. Hier geschieht Unvorstellbares.
Der Roman ist wahnsinig schmerzhaft zu
lesen. Die Ausweglosigkeit nimmt einem beim
Lesen oft den Atem. Elwood ist so ein weicher,
offener Mensch. Er glaubt, dass er vielleicht durch
Stille, durch Anpassung an die Regeln des Hauses
die Zeit hier überstehen wird. Durch die Reden
Martin Luther Kings, die ihn mit dieser ungeheu-
ren Zuversicht gepanzert haben. Aber gerade auf
so einen, so einen Streber, so einen Richtigmacher,
so einen Durchschlüpfer haben sie hier gewartet.
Den erkennen sie gleich. Hier wird nicht durch-
geschlüpft. Hier herrscht das System der uner-
bittlichen Gewalt. Und Colson Whitehead lässt
keinen Moment lang einen Zweifel aufkommen,
dass dieses System, das im Erziehungsheim
herrscht, im ganzen Land wirkt. Die Menschen
draußen fühlen sich sicher und gut bei dem Ge-
danken: Es werden schon die Richtigen einge-
sperrt. Doch irgendwann stoßen Archäologen auf
Knochen auf einem vergessenen Friedhof, und
Titel: Stevie Remsberg; Fotos: Mollona / Leemage / Laif; Imago

die Welt ist furchtbar betroffen. Oh, das haben


wir nicht gewusst. Wie konnte es dazu kommen?
Wieso sind keine Schreie nach außen gedrungen?
Weil ihr eure Ohren verschlossen habt, sagt
der Roman. Weil ihr über Gräber geht und nicht
wissen wollt, wer da unter euch begraben liegt.
Wenn der Mob, in Charlottesville oder anderswo,
wieder mal aufsteht und für alle Welt sichtbar
marschiert und alle so überrascht tun, wo denn die-
se Gespenster jetzt wieder herkommen, dann sagt
Whitehead: Diese Gespenster waren nie fort. Sie
sind immer da. Sie sind Teil dieses Landes und
der Welt. Es hilft nur: sich zu wappnen, wachsam
zu bleiben, kampfbereit. Und an die Opfer zu
erinnern, sie ins Leben zurückerzählen und immer
zu wissen, auf welchem Grund wir alle stehen.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

3
mit dem scheinbar Unwesent-
lichen und lässt das Bekannte
neu aussehen. So ist ihm eine
alternative Geschichtsschrei-
bung gelungen, die sich gut
ergänzt mit den Wälzern der
Historiker.
Wer zwei, drei davon über
die Französische Revolution Éric Vuillard:
gelesen hat, weiß eine Menge 14. Juli.
über König Ludwig, über Aus dem
seine Gattin Marie-Antoinette, Französischen von
Nicola Denis.
über den Finanzminister Ne-
Matthes & Seitz;
cker, über die Revolutionäre 136 Seiten; 18 Euro.
Robespierre, Danton oder Des-
moulins. Auch Hilary Mantels dicker Roman
Brüder befasst sich mit diesem Personal.
Vuillard erwähnt die Revolutions-Promis nur
am Rande. Er erzählt von den kleinen Leuten, die
ihre Armut satthaben und den Aufstand wagen.
In den meisten historischen Schinken werden sie
allenfalls in der Zahl der Toten versteckt. Bei Vuil-
lard haben sie einen Namen, einen Beruf und eine
hochverdichtete Lebensgeschichte. Damit sind
sie nicht mehr anonym, nicht mehr Teil der Masse.
Sie sind jemand, sind die Akteure einer Revo-
lution, die den Westen bis heute prägt.
Vuillard erinnert »an Saveuse, den Gendar-
men; an Sassard, die Memme; Scribot, die Land-

Wie ich die Bastille


ratte; Servant, den Angestellten; an Sérusier,
den Gemüsehändler; und an die beiden Simonin,
der eine aus Ludres, der andere aus Bayonne;
und an Thurot aus Tournus; und an den großen

stürmte Athanase Tessier, den niemand kennt, aus Gi-


sors gekommen, vermutlich ganz allein, und
der mit seinen 23 Jahren glücklich mitten in der
Menge steht«.
Vuillard schreibt selbst vom »Bastille-Telefon-
Der Franzose Éric Vuillard schickt die Leser in buch«. Er hat mehr Revolutionäre mit Namen
seinem Roman 14. Juli auf eine Zeitreise. und ein paar Angaben untergebracht, als sich
irgendjemand merken kann. Sie tauchen kurz aus
Sie sollen als Revolutionäre zurückkehren. der Masse auf und werden sofort wieder Masse.
Aber sie waren da, hatten ihren Auftritt in der
Weltgeschichte. Das hat etwas Rührendes. Sogar
Von Dirk Kurbjuweit dig bei den kleinen Leuten, die die Bastille bela- an die anonymen Helden denkt Vuillard. Man
gern und erstürmen. Das klingt so: »Die Menge müsse, schreibt er, »sich von der Gelehrsamkeit

M AL AN EINER Revolution teilnehmen,


voranstürmen, sich ducken, dem Kugel-
hagel ausweichen, weiterstürmen, bis
ergießt sich in den gewundenen Weg, entlang der
Läden; man drückt sich an die Hofmauern, stiebt
schreiend auseinander. Ein Kerl versucht mit aus-
verabschieden, die Archive beiseitelassen, nach
dem Nichts schnappen und sich in den großen
Kübel stürzen, voller Namenloser«.
zur Zitadelle, Schutz suchen, abwarten. Kurz mit holenden Gesten, die anderen zusammenzutrom- Dieses Buch ist nicht so komplex gebaut wie
dem Mann reden, der neben einem hockt, ein meln, er postiert vor den Kasernen ein paar Män- zum Beispiel Die Tagesordnung, in der Vuillard von
hastiger Austausch, Name, Beruf, Herkunft, dann ner, die sofort die Türme unter Beschuss nehmen, Ereignis zu Ereignis springt. 14. Juli ist eher eine
geht’s schon weiter, hurra. Eine Kugel zischt doch die Geschosse streifen nur den Stein. Der lange Reportage, die mitreißt, die den Leser zum
heran, für wen ist sie bestimmt? Für den anderen Kerl heißt Fournier.« Zeugen macht, bei etwas Fantasie auch zum
Mann, er wird getroffen und stirbt. Weiter, immer Es folgt eine kurze Biografie von Fournier, Be- Akteur. Das ist die originelle Errungenschaft von
weiter, die Zugbrücke muss noch überwunden diensteter, dann auf Abenteuersuche in Saint- 14. Juli. Man ist dabei, bis zum Sieg. »Ein un-
werden, dann das Tor. Domingue, ungeschliffen, er kann nur mit Mühe ermesslicher Jubel bemächtigte sich der Stadt. Es
Bestimmt gibt es ein Computerspiel, das eine schreiben. wurde getanzt, gesungen und gelacht. Die Augen-
Revolution simuliert. Wer lieber liest, hat nun Dann stürmt Fournier wieder los, rettet einen zeugenberichte sprechen von einer wahnwitzigen,
auch eine Möglichkeit: den Roman 14. Juli von zwölfjährigen Jungen, der angeschossen wurde. ungezügelten, noch nie dagewesenen Stimmung.
Éric Vuillard. Am 14. Juli 1789 erstürmten die Elen- Für ein paar Seiten begleiten die Leser diesen Pure Freude.«
den und Zornigen von Paris die Bastille. Das gilt Fournier hautnah bei seiner Hatz durch die Re- Die Pointe dieses Büchleins ist, dass Vuillard
als Auftakt der Französischen Revolution, die den volution, bis ihn ein anderer ablöst. den Leser, den er gerade virtuell in eine Revolu-
Bourbonenkönig Ludwig XVI. aus dem Amt fegte Das ist das Prinzip dieses wunderbaren tion versetzt hat, am Ende auffordert, diese Stim-
und zur ersten Republik in Frankreich führte. Romans: szenische Rekonstruktion, der Leser mung mit in die Realität zu nehmen.
Vuillard erzählt diesen großen Tag der Welt- sitzt in der Zeitmaschine und rast durch den »Man müsste, wenn das Herz uns aufwühlt,
geschichte aus der Masse heraus. Er ist fast stän- 14. Juli 1789. Manches ist historisch, anderes wenn die Ordnung uns erbittert und die Verwir-
erfunden. rung uns den Atem nimmt, die Türen unserer lä-
Vuillard, 51, der Schriftsteller und Regisseur cherlichen Élysée-Paläste eintreten …«
AUSSERDEM IM Jens Balzer
LITERATUR SPIEGEL: Pop und Populismus / ist, hat sich durch intensives Erzählen einen Na- »Ja, manchmal, wenn das Wetter allzu graut,
Das entfesselte men gemacht. Seine Bücher haben selten mehr der Horizont allzu trübe ist, müsste man die
Deborah Levy Was Jahrzehnt S. 9
das Leben kostet S. 4 als 150 Seiten, und auf diesem kleinen Raum er- Schubladen öffnen, die Scheiben mit Steinen
C. Bernd Sucher zählt er von den großen Begebenheiten der Welt- einschmeißen und die Papiere aus dem Fenster
Isaac Singer Mamsi und ich S. 10
Jarmy und Keila S. 4 geschichte: zum Beispiel vom Ersten Weltkrieg werfen.«
Mario Vargas Llosa
Rachel Kushner
Der Ruf der Horde S. 11 in der Ballade vom Abendland, von den Nazijahren Das ist ein bisschen leichtsinnig in diesen Ta-
Ich bin
ein Schicksal S. 5 in Die Tagesordnung, vom belgischen Kolonial- gen. Revolutionen von unten waren bislang meis-
KULTURPROGRAMM
Lutz Raphael DES SOMMERS S. 14 regime in Kongo, von der Wildwestshow des Buf- tens Revolutionen von links, so wie die in Frank-
Jenseits von Kohle falo Bill Cody in Traurigkeit der Erde. reich 1789 oder in Russland 1917. Wer jetzt zum
und Stahl S. 6 Abgesang:
Ein Gedicht von Zusammen ergibt das ein großes Werk aus Aufstand aufruft, ohne Ziele zu nennen, wer den
Krimis von Johannes Gerhard Falkner S. 19 kleinen Büchern. Vuillard zerreißt und verdichtet Aufstand um des Aufstands willen wünscht, der
Groschupf und Liza
Cody S. 8 IMPRESSUM S. 19 die historischen Ereignisse, ordnet sie zu einer könnte auch einen von rechts bekommen. Vuillard
eigenen Geschichte, mischt das Wesentliche würde das sicherlich nicht gefallen.
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Im
gene Altern und Scheitern in einer anderen zu er-
kennen, dass an Solidarität oder Mitgefühl nicht
zu denken ist. Die Erzählerin von Was das Leben
kostet nimmt sich vor, bei der nächsten Begegnung,

Hochhaus
wenn sie der Nachbarin wieder mit schweren Ta-
schen gegenübersteht, zu sagen: »Ich werde leider
nicht jünger.«
Ein ungeheures Eingeständnis: Eine Frau in
mittleren Jahren – die Erzählerin ist einiges über
In Was das Leben kostet fragt 50 – gibt zu, dass ihr zunehmendes Alter ihr zu
Deborah Levy nach dem Preis schaffen macht. Wo doch so viele damit beschäf-
tigt sind, das Altern zu negieren oder wenigstens
weiblicher Selbstbestimmtheit. auf später zu verschieben. Die Schriftstellerin Levy sucht nach einer »Lebensweise in der
Deborah Levy, die diesen schmalen, autobiogra- postfamiliären Welt« und nimmt im zweiten Teil
fischen Band über eine schwierige Zeit in ihrem des Buches Gedanken Simone de Beauvoirs auf.
Von Claudia Voigt Leben geschrieben hat, war mit den Romanen Sie fragt sich, welche Fähigkeiten und Talente
Swimming Home und Hot Milk in der engeren Wahl Frauen gelernt haben zu verleugnen, um ihre

A LS OB ES NICHT schon schwer genug


wäre, eine langjährige Ehe aufzugeben,
das Haus zu verkaufen, in dem die Töch-
für den renommierten Booker Prize. Sie hat also
durchaus eine Karriere als Autorin vorzuweisen,
doch es verschärft ihre Probleme noch, nicht nur
Ehemänner und Männer im Allgemeinen nicht
durch Stärke zu beunruhigen oder in ihrem Über-
legenheitsgefühl aufzuschrecken.
ter groß wurden, und in einen baufälli- eine ältere, sondern auch eine beruflich Dieses faszinierende, mit klugen und über-
gen Wohnblock zu ziehen: Jedes Mal, erfolgreiche Frau zu sein. Sie löst da- raschenden Gedanken gespickte Buch beginnt
wenn die Erzählerin mit dem Fahrrad durch Anfeindungen aus. mit einer kurzen Episode, die die Erzählerin an
vom Einkaufen nach Hause kommt und Levy schaut zurück auf ihr Leben, der Karibikküste in Kolumbien beobachtet. Ein
unerlaubterweise am Vordereingang nimmt beispielsweise in den Blick, wie Mann Ende vierzig, das Haar schon silber, bittet
parkt, um die schweren Taschen abzula- viel Mühe sie als Ehefrau und Mutter eine sehr viel jüngere Frau an seinen Tisch. Doch
den, lauert ihr eine Mitbewohnerin auf investiert hat, um für ihre Familie ein statt ihm zu lauschen, erzählt die junge Frau von
und stößt mit hoher Stimme Gemeinhei- Zuhause zu schaffen. Nach der Tren- einem Tauchgang, der in einem Unwetter endete.
ten hervor. nung lösen Blumen bei ihr verlässlich Hohe Wellen, aufgepeitschtes Meer. Der Mann
Die Nachbarin, die auf eine andere Deborah Levy:
eine Welle von Traurigkeit aus, weil sie hatte nicht damit gerechnet, dass er bei diesem
Art unglücklich ist als die Erzählerin – Was das diese Mühe versinnbildlichen. Doch hat Gespräch die Nebenperson sein könnte. Schließ-
unausgelastet und zu oft übersehen –, Leben kostet. sie sich in dem hübschen Heim selbst lich verabschiedet sich die junge Frau mit einem
nimmt ausgerechnet eine andere Frau Aus dem wohlgefühlt? Ohnehin gehört nun die schlichten »Danke«, weder unhöflich noch dank-
aufs Korn, um ihre stille Wut loszuwer- Englischen von Erfahrung zu ihrem Leben, wie schnell bar, und hinterlässt einen verblüfften Mann. Wie
Barbara Schaden.
den. Frauen haben einen guten Instinkt Hoffmann und
sich so ein Zuhause auflösen lässt. Aber wenig selbstverständlich es noch immer sei, no-
für das Unglück von Frauen, und manch- Campe; 156 auch: eine neue Wohnung zu finden, tiert Levy, dass Frauen die Freiheit für sich in
mal ist es ihnen so unerträglich, das ei- Seiten; 20 Euro. neue Freundschaften, Unterstützung. Anspruch nehmen, so zu sein, wie sie sind.

Männerfantasien
Man ahnt es schon: Sin-
gers Geschichte fürchtet sich
vor keinem Klischee. Schon
die Namen in Jarmy und Keila
– die Männer heißen Itsche
Der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer macht in seinem Einauge, Morkele Feuerbrand
oder Shaya Schläger – klingen
nachgelassenen Roman Jarmy und Keila eine Hure zur Heldin. eher nach einer Karikatur als
nach einer Milieustudie. Da
Isaac B. Singer:
der Roman zudem in Fortset- Jarmy
Von Martin Doerry erst 20-jährige Singer, sei in Panik geraten und ge- zungen geschrieben wurde, und Keila.
flüchtet, die Hure habe ihm nur »Blödmann« und bekam jedes Kapitel einen Aus dem

I N SEINER AUTOBIOGRAFIE A Young Man andere Schmähungen hinterhergerufen. Cliffhanger verpasst. So etwas Amerikanischen
von Christa
in Search of Love hat Isaac Bashevis Singer Die Erinnerung an Keila hat Singer (1902 bis wie Weltliteratur hatte der
Krüger. Suhr-
von einer Begegnung mit einer rothaarigen 1991) lange verfolgt und schließlich zu einem später, 1978, mit dem Nobel- kamp; 464
Prostituierten namens Keila erzählt, die sich einst Roman inspiriert, Jarmy und Keila, die Geschichte preis ausgezeichnete Singer Seiten; 26 Euro.
in Warschau ereignet haben soll, einer Begegnung, einer ehrbaren Hure und ihres weniger ehrbaren noch nicht im Sinn; vielleicht
die für ihn zu einem Albtraum geworden sei. Auf Luden. Der Roman erschien von 1976 bis 1977 in wurde der Roman auch deswegen zu seinen Leb-
dem Weg zu Keila habe sich ihm eines Tages deren der jiddischen Zeitschrift »Forverts« in New York; zeiten nicht als Buch veröffentlicht.
Zuhälter in den Weg gestellt, er selbst, der damals als Buch wird er erst jetzt veröffentlicht. Gewiss wollte der stets nur jiddisch schreiben-
Singers Romanheldin Keila ist ein Star der de Autor mit seinen Geschichten auch der unter-
Warschauer Unterwelt, so schön und verführe- gegangenen Welt des Schtetls ein Denkmal setzen.
Foto: Plainpicture; Illustrationen Daniel Mitchell für LITERATUR SPIEGEL; Eva Bee

risch wie keine andere Prostituierte in der be- Aber im Kern enthält dieser Roman vor allem
rühmt-berüchtigten Krochmalna-Straße, und doch, eine Liebeserklärung an Keila, die einzige wirklich
natürlich, ein Opfer jener Männer, die sie begeh- gute Seele in diesem Buch. Sie hofft auf ein bes-
ren oder Geld mit ihr verdienen. Das gilt für ihren seres Leben mit dem ziemlich schnöseligen Bu-
Zuhälter Jarmy, den sie in ihrer Not sogar heiratet, nem. Der nutzt sie nur aus und genießt in der
um so etwas wie eine bürgerliche Existenz zu si- Nacht ihre professionell praktizierte Leidenschaft.
mulieren. Und es gilt für den »Lahmen Max«, den Bunem ist schwach, Keila in ihrer Liebe stark.
Saufkumpan Jarmys, der mit Keila in Südamerika Dass dieser durchaus spannende Roman heu-
ein Luxusbordell gründen will, mit ihr als Tro- te so aus der Zeit gefallen wirkt, liegt an seiner
phäe und Puffmutter. unfreiwillig komischen Amoralität. In den Sieb-
Bevor es so weit kommt, flüchtet sie mit ihrem zigerjahren, als diese Geschichte entstand, muss
Liebhaber Bunem, dem gelehrten Sohn eines Rab- es noch als Provokation gegolten haben, dass
biners, nach New York. Dort beginnen die beiden sämtliche Akteure über eine geradezu unbegrenz-
ein neues Leben, das von Hunger und Elend ge- te Libido verfügen und diese auch fast ununter-
zeichnet und von der ständigen Furcht beherrscht brochen ausleben. Selbst seine Heldin Keila, eine
ist, dass Jarmy und seine Freunde sie entdecken Frau, die tagein, tagaus mit fremden Männern ins
könnten. Bunem ist eigentlich mit einer Tochter Bett steigen muss, wird von Singer als unersättli-
aus gutem Hause verlobt, die in einem zaristi- che, stets zu allem bereite Hure gezeichnet. Solche
schen Gefängnis sitzt und von Bunem träumt, Männerfantasien waren 1976 offenbar literarisch
während der sich nun mit Keila vergnügt. angesagt. Heute wirken sie eher etwas verstaubt.
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5
als Gegenkultur begann, ist lange schon abgestor-
ben. Das gegenwärtige San Francisco ist von Ob-
dachlosen bevölkert, die auf den Bänken der Bus-
haltestellen schlafen oder im Buena Vista Park.
Viktorianische Villen und majestätische Bäume,
der Pazifik schimmernd im Hintergrund: »In Frei-
heit habe ich diese Blicke nicht zu schätzen ge-
wusst. Damals, in meiner Jugend, war der Park
der Ort, wo wir tranken. Wo ältere Männer cruis-
ten und zu ihren unter Büschen verborgenen Ma-
tratzen schlichen. Wo Jungs, die ich kannte, diese
cruisenden Männer verprügelten und einen, nach-
dem er ihnen einen Kasten Bier spendiert hatte,
von der Klippe stießen.«
Brutalität ist ein Kontinuum in der Welt, in
der Romy Hall, 29, zu zweimal lebenslänglich
plus sechs Jahren verurteilt, mit Scharfsinn zu le-
ben lernte, und dieses Kontinuum bleibt in ihrer
Haft. Es sind neue Regeln zu beachten, vor allem
gilt es zu unterscheiden, woher die Bedrohung
kommt. Die Wärter, mit Waffen und Gleichgül-
tigkeit gerüstet, sind kalkulierbar, oft auch Kom-
plizen bei den kleinen Schmuggelgeschäften zwi-
schen den Zellen und mit der Außenwelt. Die Mit-
gefangenen sind es nicht. Es gibt zwei allseits ge-
ächtete Gruppen, zu denen niemand gehören will,
das sind ehemalige Cops oder Frauen, die Kinder
getötet haben. Doch keine Gefangene gibt Auf-
schluss, wofür sie einsitzt, und falls doch, würde
niemand erwarten, dass sie die Wahrheit sagt.
Dieses Nichtwissen teilt der Leser; es ist nicht
neutral, sondern so wirksam wie ein Wissen, nur
in einer anderen Art. Es hält das Urteilen in der
Schwebe, was vermutlich das ist, was Kushner als
Autorin erreichen will – und erreicht. Denn auch
eine zweite tragende Figur ist von diesem Nicht-

Von der Klippe gestoßen wissen geprägt, der Akademiker Gordon Hauser,
der keinen Job an der Uni fand und nun die
Insassen unterrichtet. Ein Kurs über Literatur,
das einzige freundliche Angebot der Anstalt zwi-

und überlebt schen Einschluss, Hofgang und Arbeit (die Frau-


en nähen Sandsäcke zusammen), das auch Romy
nutzt.
Es entspinnt sich eine Beziehung, die sich auf

In ihrem Roman Ich bin ein Schicksal führt Rachel Kushner beiden Seiten aus Projektionen nährt: Kann Hau-
ser der Gefangenen helfen, Kontakt zu ihrem
ihre Leser in ein Gefängnis. Sohn aufzunehmen, der nach dem Tod der Groß-
mutter ein Mündel des Staates ist? Und ist Romy,
die ihn fasziniert, seine Chance, überhaupt wieder
etwas zu fühlen jenseits von Einsamkeit
Von Elke Schmitter Romy arbeitet als Stripperin in ei- und Frustration? Kushner nutzt das all-
nem jener Klubs, in dem Männer dafür gemeine Interesse an der Welt des Ver-

R ACHEL KUSHNER IST EINE bemer-


kenswerte Autorin. Ihre Sujets – Motor-
radrennen, Straßenkämpfe, die kubani-
bezahlen, ihr zuzusehen und ihr nach
der Show näherzukommen. Aber anders
als ihre Mutter hält Romy ihr Feld der
brechens auf eine geradezu besonnene
Weise. Die Privatisierung der Gefäng-
nisse in den USA hat einen Wirtschafts-
sche Revolution und nun die Parallelwelt der Ge- Beziehungen frei von Illusion oder Kal- zweig hervorgebracht, der eine tiefe
fängnisse – sind nicht unbedingt das, was man von kül; sie betrachtet sich als eine Arbeite- Kluft zwischen Drinnen und Draußen
einer Redakteurin eines amerikanischen Literatur- rin, die ein Recht auf Privatleben hat: erzeugt. Die Anstalten, weit entfernt von
magazins erwarten würde. Ihr Stil ist im besten um bemessen und ohne kurzfristig üble den Städten, sind oft nur zu erreichen,
Rachel Kushner:
Sinne eklektisch; mal sachlich und nüchtern, Folgen Drogen zu nehmen, um sich um Ich bin ein wenn man Urlaub nimmt, ein funk-
dann wieder prunkend mit überraschenden Bil- ihren Sohn zu kümmern – dessen Vater Schicksal. tionierendes Auto hat und den Sprit be-
dern. Ihre Dialoge sind scheinbar alltagsgetreu, verschwunden ist – und um die Leih- Aus dem zahlen kann. Resozialisierung ist kein
aber ganz ohne Redundanz. Die Plots ihrer drei bücherei zu frequentieren. Sie hat einen Amerikanischen politisch verfolgtes Ziel; die Gefängnisse
Romane sind ziemlich anspruchsvoll – ein ganzes Freund, der an einem College Kunst von Bettina Abar- sind Verwahranstalten für Menschen,
banell. Rowohlt;
Bündel relevanter Figuren, die aus verschiedenen unterrichtet, und betrachtet ihr Leben 400 S.; 24 Euro. die in aller Regel Missbrauch, Armut
Perspektiven erzählen. Vor allem aber ist Kushner mit Nüchternheit. Sie weiß, dass es in Lesungen: 18.6. oder Vernachlässigung schon in ihrer
eine Autorin, die geduldig und lange recherchiert, San Francisco – dem Ort ihrer Geburt Köln; 19.6. Zürich; Kindheit erlebten. Die Idee, Straffällig-
die sich fremde Wirklichkeiten erobert, um sie und ihres Lebens bis zu ihrer Flucht vor 20.6. Berlin. keit sei eine Charakterfrage, verstellt wie
dann in Fiktion zu verwandeln; ein aufwendiges einem stalkenden Kunden – spektaku- ein dramatisch gemusterter Paravent –
Verfahren, das für ihren jetzt erschienenen Roman läre Schönheit gibt, von Millionen bereist. Denn dessen Kontraste Ablenkung und wohlfeilen Hor-
mehrere Jahre erfordert hat. sie ist ein Abkömmling jener Bohemekultur, von ror bieten – die trostlose Wirklichkeit.
Ihre Hauptfigur heißt Romy, wie jene Schau- der im psychedelischen Stil bemalte Fassaden und All dies ist gegenwärtig in Kushners Roman,
spielerin, »die mal in einer Fernseh-Talkshow zu Klubs, deren Namen Legende geworden ist, Zeug- und zugleich ist er so fein gesponnen, dass aus
einem Bankräuber gesagt hatte, er gefalle ihr nis für die Touristen ablegen. Was aber einmal Kenntnissen Impressionen werden. Die lücken-
sehr«. Deren Mutter ist eine Deutsche, die davon haft bleiben und sich berühren, sodass, wer liest,
lebt, dass sie Liebhaber hat, die sie heiratet, wenn eine eigene Geschichte entwickelt, vom Urteil in
es gut geht, um sich bald wieder scheiden zu las- Ein Kurs über jener Distanz gehalten, die Sprache erzeugen
sen. Und offenbar hat ihre Namensgebung zu- kann, indem sie Nähe zu den Figuren schafft. Was
mindest eine Entsprechung in der Wirklichkeit, Literatur ist das einzig Kushner mit diesem Roman gelingt, ist so unge-
denn Tochter Romy, benannt nach Romy Schnei-
der, ist attraktiv genug, um daraus Kapital zu
freundliche Angebot wöhnlich wie eindrucksvoll, und es ist ein nicht
zu unterschätzendes Glück für ihre Leser, wie Bet-
schlagen. in der Anstalt. tina Abarbanell ihr eine deutsche Stimme gibt.
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Leere Gleise
sie zu vermarkten. Damit brachen Traditionen der
Berufswahl und der Weitergabe handwerklicher
Kenntnisse in der Familie ab. Doch der Ersatz für
die alten Jobs war nicht gleichwertig, weder waren
die neuen Dienstleistungsjobs so sicher und dau-
In Jenseits von Kohle und Stahl untersucht Lutz Raphael erhaft gut bezahlt, noch vermittelten sie große
wie das Ende der Industriearbeit die Zufriedenheit.
Die sogenannte New Economy versinnbild-
Identität des Einzelnen und der Gesellschaft verändert. lichte diesen Wandel: Mit jeder halbgaren Idee
konnte der wache Zeitgenosse reich werden – und
wer es nicht wurde, der war eben nicht wach ge-
Von Nils Minkmar Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Bei nug. Man kümmerte sich nicht mehr um die Struk-
der Lektüre realisiert man überhaupt erst, wie turen, die eine Gesellschaft tragen, und dachte

M it großer Leidenschaft und noch mehr


Fleiß haben Historikerinnen und Histo-
riker seit vielen Jahrzehnten den langen
stark die aktuellen Debatten um den Brexit, den
Aufstieg des Front National in Frankreich und die
Krise der Volksparteien unmittelbar mit dieser
nicht darüber nach, ob der individuelle Aufstieg
wirklich von allen Menschen angestrebt wird. In-
dustriearbeiter und ihre Familien verschwanden
Prozess untersucht, der zur Industrialisierung Eu- epochalen Umwälzung zusammenhängen. Man unterdessen von der politischen und künstleri-
ropas geführt hat. Diese Epoche unserer Geschich- hat leichten Herzens und in bester Absicht aus schen Bühne, das Interesse an ihnen hielt sich in
te ist eine der am besten untersuchten überhaupt, den rostigen Produktionsstätten Museen, Denk- Grenzen. Politiker wie der amerikanische Präsi-
verbanden sich mit ihr doch die zentralen politi- mäler oder sogar Zeugnisse des Weltkulturerbes dent Bill Clinton, der deutsche Bundeskanzler
schen Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts: Sozi- der Menschheit gemacht, ohne weiter darüber Gerhard Schröder und der britische Premiermi-
alismus, Liberalismus, Kapitalismus und Kom- nachzudenken, was für langfristige soziale Folgen nister Tony Blair gingen begeistert von neuen Ver-
munismus sind die politischen Kinder der Indus- der Prozess haben könnte oder gar wie der Verlust hältnissen aus, in denen man die schwere Arbeit
trialisierung. zu kompensieren wäre. Völlig offen ist auch die in der Industrie ersetzen kann durch Geld aus
Industrie begründete und formte die europä- Frage, was unter den Bedingungen des Klima- Medien, Mittelstand und Finanzbranche. Die Fol-
ische Identität nicht nur wirtschaftlich und poli- wandels eine alternative Industrieproduktion sein ge waren zunehmende soziale und kulturelle Un-
tisch, sondern prägte darüber hinaus eine Vor- könnte. sicherheiten und große Einkommensunterschiede.
stellung von Arbeitsdisziplin, Pünktlichkeit, aber Es verhungerte ja niemand, die aufkommende Wie stark sich die politische Landschaft dadurch
auch von Freiheit, von Vereinen und Massenver- Dienstleistungsgesellschaft und der Sozialstaat verändert hat, wird erst jetzt, mit der finalen Ero-
gnügungen. Daher ist es schon verblüffend, mit sprangen ein, um Auskommen zu sichern. Aber sion der französischen Kommunisten und Sozia-
welcher frivolen Leichtigkeit der Umstand akzep- über den qualitativen Unterschied von Sozialbe- listen, der Sozialdemokratie, so richtig erkennbar.
tiert wurde, dass die Industrie in vielen Teilen zügen und Dienstleistungsjobs im Ver- Raphael, der an der Uni Trier lehrt,
Europas keine Rolle mehr spielt. Und mehr noch, gleich zur Industriearbeit machten sich beschreibt diese Geschichte mit großer
wie wenig dieser Umstand erforscht und reflek- nur Nostalgiker Gedanken. Raphael Überzeugungskraft und beweist so, dass
tiert wird. Denn wenn die Europäer an ein Leben weist schlüssig auf den wichtigen Wan- der Job des Historikers nicht allein darin
in den kulturellen Formen einer Industriegesell- del der Mentalitäten hin, der mit diesem besteht, in der Vergangenheit Vorboten
schaft gewöhnt waren, es schätzten und mit den Umbruch einherging. Verteidigten Ar- dessen zu entdecken, was später passiert,
Mängeln umzugehen lernten – in was für eine beiter und ihre Familien ihre Interessen sondern ebenso auf Entwicklungen zu
Gesellschaft bewegen wir uns ohne Industrie? In- zuvor kollektiv, im Wohnviertel, der Be- verweisen, die nicht fortgeführt werden –
dustrie sind nicht nur die Betriebe, es sind auch legschaft und in Gewerkschaften, be- verlassene Gleise zu betrachten. Dies ist
die Gewerkschaften, die arbeitsnahen Wohnfor- gann nun die Zeit der individuellen Be- kein Plädoyer für eine Wiederkehr von
Foto: Brigitte Hellgoth / SZ Photo

Lutz Raphael:
men, politische Parteien und die kollektiven Frei- ratung durch Fallmanager und Optimie- Jenseits von
Kohle und Stahl, keine Tour durch den
zeitfreuden in Kinosaal und Fußballstadium. rer. Bis weit ins linke Milieu setzte sich Kohle und Stahl. industriepolitischen Nostalgiepark, son-
Der Historiker Lutz Raphael untersucht in der Gedanke durch, jeder sei seines Glü- Eine Gesell- dern mündet bei Leserin und Leser in
seinem Buch Jenseits von Kohle und Stahl die um- ckes Schmied. Wo die Menschen zuvor schaftsge- einem Angebot, darüber nachzudenken,
fassenden Umwälzungen, die mit dem Ende einer individuelle Bestätigung in der Arbeit schichte West- wie eine Zeit nach der herkömmlichen
europas nach
bestimmten Form der Industriedominanz nach und der entsprechenden Industriekul- dem Boom.
Industrie aussehen könnte, in der sich
der Jahrtausendwende einhergingen. Er betrach- tur fanden, war nun der Einzelne auf- Suhrkamp; 525 eine Gesellschaft wieder gemeinsam gro-
tet dabei die Geschichte dieses Phänomens in gerufen, Talente in sich zu suchen und Seiten; 32 Euro. ße Aufgaben vornimmt.
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VIGGO MAHERSHALA
7 MORTENSEN ALI

BELLETRISTIK-BESTSELLER AUSGEZEICHNET MIT

3
®
HARDCOVER-VERK ÄUFE I M MAI OSCARS
BESTER FILM / BESTER NEBENDARSTELLER
BESTES ORIGINAL DREHBUCH
1 Ferdinand von Schirach: 6 Saša Stanišić:
Kaffee und Zigaretten Herkunft
Luchterhand; 20 Euro Luchterhand; 22 Euro

GREEN
2 Simon Beckett: 7 Daniela Krien:
Die ewigen Toten Die Liebe im Ernstfall
Wunderlich; 22,95 Euro Diogenes; 22 Euro

3 Walter Moers: 8 Joël Dicker: Das Verschwinden


Der Bücherdrache der Stephanie Mailer

BOOK
Penguin; 20 Euro Piper; 25 Euro

4 Dörte Hansen: 9 Sibylle Berg:


Mittagsstunde GRM
Penguin; 22 Euro Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro

5 Martin Walker: 10 Anke Stelling:


Menu surprise Schäfchen im Trockenen
Diogenes; 24 Euro Verbrecher Verlag; 22 Euro

Eine besondere Freundschaft


PAPERBACK-VERK ÄUFE IM MAI

1 E. L. James: 6 Anna Todd:


The Mister After truth
Goldmann; 15 Euro Heyne; 12,99 Euro

2 Romy Hausmann: 7 Tommy Jaud:


Liebes Kind Der Löwe büllt
dtv; 15,90 Euro Fischer Scherz; 16,99 Euro
„EIN WITZIGER,WARMHERZIGER FILM,
3 Jojo Moyes: 8 Niklas Natt och Dag: DER DAS ZEUG ZUM KLASSIKER HAT.
Nächte, in denen Sturm aufzieht 1793
Rowohlt; 16,99 Euro Piper; 16,99 Euro AMÜSANT UND BEWEGEND!” TV MOVIE
4 Gil Ribeiro: 9 Mattias Edvardsson:
Weiße Fracht Die Lüge
Kiepenheuer & Witsch; 16 Euro Limes; 15 Euro

5 Anna Todd: 10 Anna Todd:


After passion After love
Heyne; 12,99 Euro Heyne; 12,99 Euro

I N S P I R I E R T V O N E I N E R
WA H R E N G E S C H I C H T E
TASCHENBUCH-VERK ÄUFE IM MAI

1 Lucinda Riley: 6 Sebastian Fitzek:


Die Perlenschwester Flugangst 7A
Goldmann; 10,99 Euro Knaur; 10,99 Euro

2 Ken Follett: 7 Maja Lunde:


Das Fundament der Ewigkeit Die Geschichte der Bienen
Lübbe; 15 Euro btb; 11 Euro

3 Klaus-Peter Wolf: 8 Volker Klüpfel, Michael Kobr:


Ostfriesennacht Kluftinger
Fischer; 10,99 Euro Ullstein; 12 Euro

4 Laetitia Colombani: 9 Vincent Kliesch:


Der Zopf Auris
Fischer; 11 Euro Droemer; 12,99 Euro

5 Juli Zeh: 10 Daniel Kehlmann:


Leere Herzen Tyll
btb; 11 Euro Rowohlt; 12 Euro

SACHBUCH-BESTSELLER
HARDCOVER-VERK ÄUFE I M MAI

1 Bas Kast: 6 Jürgen Todenhöfer:


Der Ernährungskompass Die große Heuchelei
C. Bertelsmann; 20 Euro Propyläen; 19,99 Euro

2 Dennis Sand, Marcel Eris: 7 Meike Winnemuth:


MontanaBlack Bin im Garten
Riva; 19,99 Euro Penguin; 22 Euro

3 Michelle Obama: 8 Harald Jähner:


Becoming Wolfszeit
Goldmann; 26 Euro Rowohlt, Berlin; 26 Euro

4 Stephen Hawking: 9 Andrea Wulf:


Kurze Antworten Die Abenteuer des Alexander
auf große Fragen von Humboldt
Klett-Cotta; 20 Euro C. Bertelsmann; 28 Euro

5 Sebastian Fitzek: 10 Anne Fleck:


Fische, die auf Bäume klettern Ran an das Fett
Droemer; 18 Euro Wunderlich; 24,99 Euro
JETZT ALS BLU-RAY, DVD
UND DOWNLOAD
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Nebenfiguren auf, stattdessen verwickelte

Besiegte und Besorgte


sie eine Wrestlerin, eine Obdachlose oder
eine Grundschullehrerin mit Migrationshin-
tergrund in komplexe Mordgeschichten. Es
könnte an ihrer Vorliebe für Außenseiter-
figuren und experimentelle Erzählstruk-
Johannes Groschupf thematisiert in Berlin Prepper den Hass im Netz; turen liegen, dass Cody in Großbritannien
schon länger keinen Verlag mehr hat.
Liza Cody erzählt Die Ballade einer vergessenen Toten. Freunde konventioneller Kuschelkrimis
werden auch an Codys Roman Ballade einer
vergessenen Toten, der nun in einer makel-
losen Übersetzung von Martin Grundmann
vorliegt, sicherlich wenig Freude haben.
Von Marcus Müntefering die nur jemand aufbringen kann, der mit Wer hingegen nach Geschichten sucht, die
seinem Leben schon weitgehend abge- das Genre transzendieren, der wird von der
PREPPER nennen sich Men- schlossen hat. Auch die Drohungen gegen inzwischen 75-Jährigen Cody und ihrem
schen, die sich auf den Zu- ihn und die anderen »Zensursäue, auf die Buch über die Macht der Musik und den
sammenbruch der Zivilisation schon die Laternen warten«, nimmt er Missbrauch von Talent begeistert sein.
vorbereiten. Trainieren, Vorräte nicht wirklich ernst. Doch als er nach der Um den ungeklärten Mordfall an der
anlegen, Unterschlüpfe präpa- Arbeit brutal zusammengeschlagen wird, Musikerin Elly Astoria zu lösen, schickt
rieren. So sehen sie sich gerüstet für den einige Zeit später eine Kollegin angegriffen Cody in Ballade einer vergessenen Toten keine
kommenden Weltenbrand, der wahlweise und dann sein Sohn ermordet wird, ändert professionelle Ermittlerin auf den Weg, son-
durch einen Atomkrieg, Hungersnöte, sich Noack und wird aktiv. Auf der Suche dern eine mäßig erfolgreiche Autorin. Die
Stromausfälle oder gar die Zombie-Apoka- nach den Tätern taucht er immer tiefer in Mittdreißigerin Amy, frisch verlassen von
lypse ausgelöst wird. Oder wie aktuell in eine Parallelgesellschaft der Besiegten und ihrem Mann, will die Biografie der Musike-
Großbritannien durch den Brexit. Die Bou- Besorgten ein, die vom Umsturz träumen rin schreiben. Doch um einen Verlag für
levardpresse liebt die Geschichten dieser und für ihre wahnhafte Ideologie bereit das Projekt zu interessieren, muss sie auch
überzeugten Überleber und schlachtet sie sind, über Leichen zu gehen. gleich einen Mörder präsentieren.
leidlich aus, mit Headlines wie »600 Kilo Lange Zeit kommt Berlin Prepper weni- Potenzielle Täter findet Amy während
Konserven und 4000 Liter Heizöl – Der ger wie der auf dem Cover angekündigte ihrer Recherchen, die sie von London über
Weltuntergang kann kommen« oder »So Thriller daher, sondern wie das Psycho- Bristol bis nach Las Vegas führen, im Dut-
irre bereiten Prepper sich auf Krisen vor«. gramm eines Mannes, dessen apokalyp- zend. Eifersüchtige Mitmusikerinnen, Ma-
Auf ganz andere Weise nähert sich Jo- tische Sicht auf die Welt erschreckend nager, verrückte Fans gehören zum sich
hannes Groschupf diesem gesellschaftli- und lächerlich zugleich wirkt. Dass er ver- ständig erweiternden Kreis der Verdächti-
chen Phänomen. Der in Berlin lebende glichen mit den Menschen, die er auf der gen. Doch Ballade einer vergessenen Toten ist
Journalist und Schriftsteller hat nach diver- kein Rätselkrimi. Es ist eher nebensächlich,
sen Jugendbüchern mit Berlin Prepper sei- wer am Ende als Mörder enttarnt wird.
nen ersten Thriller geschrieben und setzt Wesentlich spannender ist es, Amy da-
darin der Medienhysterie um das Thema bei zu begleiten, wie sie Interview um In-
einen fast schon unaufgeregten Roman ent- terview führt, nach und nach die profes-
gegen. Das ist umso erstaunlicher, als er sionelle Distanz zu ihrem Thema verliert
die Geschichte aus der Ichperspektive eines und sich bemüht, dem eigentlichen Ge-
Preppers erzählt. Walter Noack ist geschie- heimnis im Zentrum der Geschichte nä-
den, lebt von Gelegenheitsjobs, hat kaum herzukommen, der Frage: Wer war Elly
soziale Kontakte – sein Leben ist längst Astoria wirklich? Die Vergangenheit scheint
implodiert, jetzt bereitet er sich darauf vor, sich jedoch dagegen zu sträuben, aufge-
dass die Welt explodiert. Er hortet Ravioli- Jagd nach den Mördern seines Sohnes trifft, deckt und in eine stromlinienförmige Er-
Dosen in seiner Wohnung, versteckt weitere am Ende absolut normal wirkt, ist die schön zählung gepresst zu werden – die meisten
Vorräte im Wald, irgendwo wartet für den fiese Pointe eines Romans, der sich doch Figuren in diesem Roman beantworten
Ernstfall ein Jeep auf ihn. Seinen Weltekel noch zu einem Thriller entwickelt, rasante Amys Fragen nur widerwillig.
verbirgt der Mittvierziger unter einer Mas- Actionszenen inklusive. Ein Thriller aber, Cody erzählt die Ballade einer vergessenen
ke der Gleichgültigkeit, sein Leben besteht der – und das ist nicht nur in Deutschland Toten nicht chronologisch, die Struktur des
aus Routinen. eine absolute Ausnahme – sich aus der Rea- Romans folgt weitgehend Amys Recher-
Doch das alles ändert sich mit seinem lität herausschält und niemals die Grenzen chen. Wie die verschiedenen Stilformen und
neuen Job als sogenannter Content-Mode- der Wahrscheinlichkeit sprengt. Jeder gute Zeitebenen miteinander verwoben sind, ist
rator im Newsroom einer großen Tages- Krimi müsse politisch sein, hat der franzö- atemberaubend, diese Konstruktion fordert
zeitung, die nicht zufällig an die »Welt« sische Noir-Pionier Jean-Patrick Manchette vom Leser aber auch große Aufmerksam-
erinnert. Groschupf selbst hat dort einige einmal postuliert. Johannes Groschupf er- keit. Kapitel aus Ellys Biografie wechseln
Jahre gearbeitet. Er war dafür zuständig, füllt diese Forderungen auf subtile Weise. sich mit Gesprächsprotokollen, Aufzeich-
die Kommentare in den Foren unter den nungen, E-Mails und Nachrichten auf An-
Artikeln zu lesen und die übelsten darunter Johannes Groschupf: Berlin Prepper. rufbeantwortern ab. Cody collagiert eine
zu löschen. Ein Job, so stumpf wie mies Suhrkamp; 236 Seiten; 14,95 Euro. vielstimmige »oral history«, die ein lebendi-
bezahlt. Und schwer auszuhalten: rund ges Panorama der Musikszene der Achtzi-
20 000 Kommentare am Tag, eine endlose gerjahre ergibt, mit Seitenhieben auf den
Flut von Hass und Zorn und Verzweiflung. WER WAR ELLY Astoria? Ein Thatcherismus – als Habgier von einer Tod-
Tiraden gegen angebliche Hartz-IV-Schma- Teenager-Mädchen, das sich um sünde zu einer Tugend umgedeutet wurde.
rotzer, Flüchtlinge und immer wieder An- seine Junkie-Mutter kümmerte. Ballade einer vergessenen Toten ist weder
gela Merkel. Einer der harmloseren: »Man Ein Mädchen, das die Menschen klassischer Krimi noch nostalgieseliger
sollte ihr einen Pfahl in die Stelle ihres Kör- mochte, obwohl sie selten sein Schlüsselroman. Das Buch, das bereits in
pers treiben, wo andere ihr Herz haben.« Bestes wollten. Ein mageres Mädchen mit den Nullerjahren geschrieben wurde, gleicht
Groschupf hat diese Kommentare gesam- zu großen Füßen und Löchern in den Jeans, eher einer Reflexion über die Fallstricke
melt und in den Roman eingearbeitet. Zu aber nicht, weil es gerade Mode war. Ein der Erinnerung und die Unmöglichkeit li-
wissen, dass sie echt sind, ist bestürzend. Mädchen, das über Nacht zum Popstar wur- nearen Erzählens. Klingt abgehoben? Ist
Berlin Prepper geht der Frage nach, wie de und fast genauso schnell wieder verges- es nicht, weil Liza Cody mit Witz und Em-
kaputt eine Gesellschaft sein muss, wenn sen war. Ein Mädchen, das gequält und ge- pathie schreibt. Ihre Figuren sind höchst
Zigtausende Menschen sich berufen füh- tötet und dann in einer dreckigen Londoner lebendig – eine Rarität in einem Genre, in
len, im Schutz der Anonymität des In- Gasse wie ein Stück Müll entsorgt wurde. dem es allzu häufig nur darum geht, mög-
ternets Mordaufrufe zu verbreiten. Und: Elly Astoria ist eine Erfindung der briti- lichst fantasievoll zu morden.
Wozu sind solche Leute noch bereit? Der schen Autorin Liza Cody, die von typischen
Held des Romans, Noack, der Prepper, Krimihelden und -plots wenig hält. Polizis- Liza Cody: Ballade einer vergessenen Toten.
erledigt den Job mit einer Gleichgültigkeit, ten und Detektive tauchen in ihren Roma- Aus dem Englischen von Martin Grundmann.
Argument; 416 Seiten; 22 Euro.
nen seit über 20 Jahren höchstens als
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Wohin mit
Der Berliner Popkritiker Pop ist für Balzer durch und durch
Jens Balzer hat sich diesen Fra- Reflexion unserer heutigen Welt, Abbild
gen in seinem Essay Pop und Po- des kapitalistischen Konkurrenzkamp-
pulismus angenommen. Auch fes und Spiegel der identitären Grup-

den Bösen?
sein Geschichtsbuch Das entfes- penbildung entlang von Geschlecht
selte Jahrzehnt, das sich eigent- oder Lebensstil. Allerdings sei Pop im
lich mit dem Pop der Siebziger- Idealfall eben immer auch ein »Medium
jahre auseinandersetzt, lässt der Utopie«, eine Kunstform, in der
sich am besten als Kontrastfolie Freundschaft und Geschwister-
Der Popkritiker Jens Balzer zur Gegenwart lesen. Damals, lichkeit gefeiert werden könnten.
schreibt Balzer, sei Pop zum Charles Manson und David
untersucht in zwei Büchern »wesentlichen Feld aller kultu- Bowie sind die Bösewichter in Bal-
die dunkle Seite des Pop. rellen Transformationen« ge-
worden und habe »den Re-
zers Siebzigerjahrebuch. Und so
wichtig es sein mag, gegen die Hei-
sonanzraum einer gemeinsa- ligenverehrung anzuschreiben, die
men westlichen Kultur« er- Bowie seit seinem Tod erfährt, und
Illustrationen: Tim Möller-Kaya für LITERATUR SPIEGEL; Leandro Alzate für DER SPIEGEL

Von Tobias Rapp


schaffen. Heute lasse sich beobachten, wie diese darauf hinzuweisen, dass er Sex mit minderjährigen

D
IE ZENTRALEN FIGUREN in der Kultur unter dem Angriff von Nationalismus wie- Groupies hatte, dass die politischen Äußerungen sei-
deutschen Popkultur der Gegenwart sind der zerfalle. ner Kokainjahre fragwürdig waren – vollkommen
Bösewichter. Dass dies immer wieder für Wem das zu düster klingt, der hat einen Punkt. befriedigend ist der Hinweis auf das Böse als Aus-
Aufregung sorgt, ist weniger erstaunlich als der Denn die Pointe von Balzers Populismusessay ist druck übler Verhältnisse und übler Typen nicht.
Umstand als solcher. Ob es die Rapper Kollegah genau diese: Die Kulturtechniken des Pop sind un- Ob es die Gangsta-Rapper sind und ihre breit-
und Farid Bang sind, die rechtsverdächtigen hintergehbar. Selbst ein Volks-Rock ’n’ Roller wie beinige Männerdarstellerei, Rockstars und ihr
Frei.Wild oder die linken Feine Andreas Gabalier kann kein eth- Heimatgetue: Pop ist immer auch ein Feld, in dem
Sahne Fischfilet – die wichtigs- nisch reines Deutsch-Pop-Pro- das Böse gefeiert werden kann, um es unschädlich
ten Popkünstler werden von dukt mehr anbieten. Ob sexuel- zu machen. Ein Ventil nicht nur für die Träume
vielen Menschen als Bedro- le Identität oder ethnische Her- des Guten und Schönen, sondern auch für Alb-
hung wahrgenommen. kunft, Pop ist immer so hybrid träume und Fantasien, die besser Fantasien blei-
Wie der richtige Umgang wie unsere Welt auch. Und die ben. Dafür braucht es Stars, die stark genug sind,
mit ihnen auszusehen habe, ist neurechte Revolte, so Balzer, sei diese düsteren Szenarien aufzuführen.
ähnlich umstritten wie die Fra- deshalb auch der seltene Fall ei- So gesehen wäre heute im Vergleich mit den
ge nach dem Umgang mit der ner politischen Bewegung, die Siebzigern sogar ein Fortschritt festzustellen.
AfD. Ächten, ignorieren, akzep- ohne eigenen Soundtrack aus- Denn während es für Bowie noch selbstverständ-
Jens Balzer: Jens Balzer:
tieren? Sind Gangsta-Rapper Pop und Das entfesselte
kommt (wenn man vom Rechts- lich war, Sex mit minderjährigen Groupies zu ha-
und Identitätsrocker wirkliche Populismus. Jahrzehnt. rock absehe, der aber als Varian- ben, ist Missbrauch heute rasch ein Fall für Polizei
Problemfälle oder nur Aus- Körber Stiftung; Rowohlt; te von Punk selbst Teil des glo- und Staatsanwaltschaft – wo solche Vergehen
druck gesellschaftlicher Verwer- 210 Seiten; 432 Seiten; balen Pop sei, den diese Bewe- auch besser aufgehoben sind als bei der Kritik,
fungen? 17 Euro. 26 Euro. gung ja eigentlich ablehne). der Geschmackspolizei.

DENNIS
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10

Ersehnte Aussprache
C. Bernd Suchers berührendes Erinnerungsbuch Mamsi und ich erzählt vom Leben mit einer
Mutter, die als junges Mädchen ins Konzentrationslager verschleppt wurde.
hatte. Er erzählt, wie er, weil sein Vater es so
wollte, als Protestant erzogen wurde und sich erst
als Erwachsener entschloss, sich zum Judentum
zu bekennen. Er schildert, wie ihm als Jugend-
licher klar wurde, dass er schwul ist – und wie er,
als der Vater es erfuhr, wegen seiner Homosexua-
lität geprügelt und beschimpft wurde.
»Wie viele Qualen und Demütigungen hast
Du mir zugefügt«, schreibt der Autor im Alter
von Mitte dreißig in einem Brief an die Mutter,
den er nie abschickt. »Du hast mein Leben lang
nur gefordert und mir nicht geschenkt, was einem
Kind wichtig ist: Nähe. Du hast mich nie in den
Arm genommen, Du hast mich nie getröstet, Du
hast mich nie gestreichelt – und ich erinnere mich
nicht, je von Dir geküsst worden zu sein.«
Das Erinnerungsbuch mit dem Titel Mamsi
und ich ist eine mit Tagebuchnotizen und Briefen
angereicherte Abrechnung. Es ist die Geschichte
eines vererbten Traumas. Und das Protokoll einer
Verstörung, die auch durch die beruflichen
Erfolge des Erzählers kaum gemildert wird. C.
Bernd Sucher war von 1980 an 25 Jahre lang als
Chef-Theaterkritiker der »Süddeutschen Zeitung«
einer der wichtigen deutschen Feuilletonisten (ich
selbst habe eine Weile unter ihm gearbeitet)und
unterrichtet bis heute als Professor Studenten an
der Münchner Theaterakademie. Er tritt auf gro-
ßen Bühnen als Vortragskünstler mit einem Pro-
gramm namens »Suchers Leidenschaften« auf.
Und er hat den Mann geheiratet, den er, auch
davon schreibt er in diesem Buch, seit vielen Jah-
ren liebt.
Von seiner Mutter hat Sucher bis zu ihrem
Tod im Jahr 2005 viel Kritik und wenig Anerken-

Foto: C. Bernd Sucher; llustration: Pablo Lobato für LITERATUR SPIEGEL; Alle Bücher im Heft fotografiert von Jonas von der Hude für LiteraturSPIEGEL
nung bekommen. »Hatte ich je ein gesundes
Selbstwertgefühl besessen?«, fragt er, während er
die eigenen Eitelkeiten schildert, voller Selbstiro-
nie und oft sehr komisch. Er stellt fest: »Sie hatte
es geschafft, dass ich völlig auf sie fixiert war.
Wenn ich jemanden bewunderte, dann meine
Mutter, die sich während und nach den Grauen
im Konzentrationslager nicht aufgegeben hatte.«
In einer der Handtaschen der Mutter findet der
Autor nach ihrem Tod ein erschütterndes Doku-
ment. Es ist datiert auf den Juni 1946, aber mögli-
cherweise, so lässt die Diktion ahnen, doch erst
Jahre später entstanden. Auf den Blättern eines No-
tizblocks hat Margot Sucher detailliert aufgeschrie-
ben, was ihr im KZ angetan wurde. Sie hat notiert,
wie wenig sie ihrem intellektuell unterlegenen
Ehemann abgewinnen konnte und wie sehr ihr die
eigene Seelenhärte zu schaffen machte. »Ich habe
Angst vor meinen Kindern, die er zeugen wird«,
Von Wolfgang Höbel heiratete sie in Bitterfeld einen protestantischen schreibt sie da über ihren Gatten und den künftigen
Handwerkersohn. Nachwuchs. »Werde ich ihnen eine gute Mutter

E S HANDLE SICH um »die Geschichte ei-


ner Befreiung«, verkündet der Autor im
Untertitel dieses Buchs, das eine außer-
C. Bernd Sucher ist 69 Jahre alt und be-
schreibt die Geschichte eines lebenslangen Ver-
schweigens. Er berichtet von einer Kindheit in
sein können? Mir ist jede Zärtlichkeit ein Graus.«
Mit seinem Vater hat sich der Autor dieses auf-
richtigen und klugen Buchs vor dessen Tod Mitte
gewöhnliche und mit Unglück belastete Familien- Hamburg, in der er von seiner Mutter aus nichti- der Neunzigerjahre ausge-
geschichte erzählt. Margot Artmann, die Mutter gen Anlässen brutal geschlagen und vom Vater sprochen und versöhnt. Mit
des Autors, wurde als 17-jähriges jüdisches Mäd- mit einer Peitsche gezüchtigt wurde. Er erinnert seiner Mutter ist ihm das zu
chen im Mai 1942 aus Leipzig ins Konzentrations- sich an seine weitgehend vergeblichen Versuche, deren Lebzeiten nicht gelun-
lager Belzec deportiert. Sie wurde von SS-Män- die Mutter zum Reden zu bringen über die Schre- gen. Es trifft schon zu, dass er
nern vergewaltigt und von Aufseherinnen miss- cken, die sie im KZ und in ihrem Versteck erlebt sich mit Mamsi und ich nun
handelt und ausgepeitscht. Mit der Hilfe einer von ihr zu befreien versucht.
jungen Polin, die die zur Feldarbeit gezwungenen Aber indem er sich und uns
Mädchen und Frauen aus dem KZ bewachte, Nach dem Tod der Margot Suchers Geschichte er-
konnte Margot Artmann nach einigen Monaten zählt, holt er zugleich die
fliehen. Sie wurde auf einem polnischen Gut ver- Mutter findet der liebevolle Aussprache nach, C. Bernd
Sucher: Mamsi
steckt und schaffte es, mit gefälschten Papieren
noch kurz vor der Befreiung Deutschlands durch
Sohn ein entsetzliches um die er sich viele Jahre lang
verzweifelt und vergebens be-
und ich.
Piper; 256 Sei-
die Alliierten nach Leipzig zurückzukehren. 1946 Dokument. müht hat. ten; 20 Euro.
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Die glorreichen Sieben


Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa zeichnet
in Der Ruf der Horde seinen Weg vom Marxismus zur liberalen Lehre nach.

Von Romain Leick Der Sieg westlicher Während Thatcher und Reagan seine politi-
schen Heroen der Achtzigerjahre waren, fungie-
s war eine erlesene Runde von Intellektuel- Werte über den ren jene glorreichen Sieben – am herausragends-
E len, die sich im Herbst 1982 im Haus des
Historikers Hugh Thomas an der Ladbroke Kommunismus führte ten unter ihnen Popper und Berlin – als geistige
Leuchttürme in einem langen intellektuellen Pro-
Grove in London zum Abendessen eingefunden
hatte. Thomas, ein Spezialist der Geschichte Spa-
zur Selbstgefälligkeit. zess. Reagan, ein charmanter Praktiker des Libe-
ralismus, hielt sich mit theoretischen Grundlagen
niens und Lateinamerikas, war als Direktor des nicht lange auf. Thatcher war hier besser geschult.
Centre for Policy Studies seit Ende 1979 einer der nezuela auf der linken Seite, Margaret Thatcher Sie hatte keine Bedenken, mit Historikern und
außenpolitischen Berater der Premierministerin und Ronald Reagan auf der rechten. Philosophen zu diskutieren, sich mit dem Markt-
Margaret Thatcher. Die nicht nur in linken Krei- Die Leere unserer Zeit, so meint er, sei dem wirtschaftsökonomen Hayek zu beraten, und sie
sen heftig umstrittene Regierungschefin war als geistigen Vakuum geschuldet, das aus Selbst- las Popper, der für sie der größte zeitgenössische
Ehrengast der kleinen Versammlung geladen. gefälligkeit nach dem Sieg der westlichen Werte Denker der Freiheit war. Unter ihrem Einfluss ent-
Am Tisch saßen ein Dutzend der bedeutends- über den Kommunismus entstanden sei. In philo- deckte auch Vargas Llosa beide Autoren, »und
ten Literaten und Akademiker des Landes, dar- sophischer Sicht läuft das auf eine fast hegeliani- seither«, schreibt er, »sind Poppers Die offene Ge-
unter der Schriftsteller V. S. Naipaul und der sche Auffassung der Geschichte als Evolution des sellschaft und ihre Feinde und Hayeks Der Weg in
Philosoph Isaiah Berlin, einer der einflussreichs- Geistes hinaus. Konsequent stellt Vargas Llosa, die Knechtschaft meine Leib-und-Magen-Lektüre«.
ten Denker des Liberalismus nach dem Zweiten der in Peru selbst mehrere erfolglose Ausflüge in Dem in Österreich geborenen Philosophen
Weltkrieg. Er hatte neben Thatcher Platz ge- die Politik unternommen hatte und reumütig zu- Popper (1902 bis 1994) hat Vargas Llosa den Titel
nommen, die sich ihm den ganzen Abend mit rückgekommen war wie einst Plato aus Syrakus, für diesen Band entnommen. Der Ruf der Horde
größtem Respekt zuwandte. Mit dabei war auch weniger sich selbst in den Mittelpunkt als die sie- ist der Appell, in die Geborgenheit und Geschlos-
einer der schon damals führenden lateinamerika- ben Denker, deren Lektüre ihn auf seinen radikalen senheit der Stammesgesellschaft zurückzukehren.
nischen Romanciers und Essayisten, der Peruaner Liberalismus zubewegte: Adam Smith, José Ortega Denn die Sehnsucht nach dieser primitiven Welt
Mario Vargas Llosa, der seit 1967 in Großbritan- y Gasset, Friedrich von Hayek, Karl Popper, Isaiah »haben wir nie ganz überwunden, jener Welt, als
nien lebte. Berlin, Raymond Aron und Jean-François Revel. der Mensch noch untrennbarer Teil der Gemein-
Er erinnert sich, dass das Tischgespräch für Es ist eine sehr persönliche Liste, an der man schaft war, einer Gemeinschaft, in der er sich si-
die Premierministerin eine harte Prüfung war, fast aussetzen könnte, dass bedeutende Figuren wie cher fühlen konnte und befreit war von Verant-
so etwas wie das Rigorosum bei einer Promotion, John Stuart Mill oder, näher an der Gegenwart, wortlichkeiten«. Der »Stammesgeist«, Quell des
und weder das Feingefühl noch die britische John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit Nationalismus, hat neben dem religiösen Fana-
Höflichkeit der anwesenden Geistesgrößen konnte fehlen. Sie stellt höchst unterschiedliche Lehr- tismus die schlimmsten Verbrechen der Mensch-
deren Kampfeslust verbergen. Thatcher ließ sich meister nebeneinander, da zum Beispiel Hayek heit hervorgebracht. Nationalismus ist deshalb
nicht einschüchtern, antwortete in aller Klarheit, und Popper ziemlich gegensätzliche Ansichten der Hauptfeind der Liberalen – oder sollte es sein,
ohne jede Pose, meist mit großer Bestimmtheit, vertreten. Vargas Llosa gibt gar nicht vor, eine denn Reagan und Thatcher verstanden es vortreff-
wie es ihre Art war, räumte aber auch manchmal Ideengeschichte des Liberalismus nachzuzeich- lich, beides zu verbinden, was ihr Bewunderer ih-
Unsicherheiten ein. Vor allem bewies sie, dass sie nen; seine Schrift ist eine subjektive Hommage nen großzügig nachsieht.
nachdenklich zuhören konnte, was offenbar eini- an jene intellektuellen Vorbilder, die ihm nach Überhaupt neigt er dazu, Widersprüche und
ge überraschte. Als die Eiserne Lady am Ende des dem Verpuffen der sozialistischen Illusionen den Schwächen der liberalen Lehre zu kaschieren und
Abends gegangen war, resümierte Sir Isaiah mit Weg in eine aufklärerische Renaissance wiesen: die dunklen Seiten des Liberalismus in der politi-
britischem Understatement den Eindruck, den ein postideologisches, säkulares und undogmati- schen Praxis herunterzuspielen. Pinochet in Chile
die meisten Anwesenden wohl genauso empfan- sches Zeitalter der Vernunft, hofft und glaubt er. und die argentinischen Militärdiktatoren waren
den: »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.« Wirtschaftsliberale, Reagan und Thatcher in vie-
Sie hatte das Examen bestanden. len gesellschaftlichen und moralischen Fragen
Vargas Llosa, der die Episode erzählt, gewis- stramm konservativ oder schlicht reaktionär.
sermaßen als Gasthörer mit dabei, war womöglich Solche Exkurse in die Grenzbereiche von
noch tiefer beeindruckt als seine britischen Freun- Ideengeschichte, Philosophie und politischer Par-
de. Die Thatcher-Jahre von 1979 bis 1990 waren teinahme behaften Vargas Llosas intellektuelle Au-
für ihn, wie er sagt, eine fundamentale Erfahrung tobiografie mit einem Hautgout. Dass der Schrift-
von größter Bedeutung. Nicht nur sah ein Intel- steller und Sohn des Landes 1990 in Peru als Bewer-
lektueller wie er keinen Grund, sich dafür zu schä- ber für das Amt des Präsidenten mit seinem Bündnis
men, dass er die Falkland-Kriegerin Thatcher be- Frente Democratico kläglich scheiterte, erklärt sich
wunderte; er bekannte sich geradezu herausfor- auch aus dem Misstrauen der Armen gegenüber
dernd dazu, »stolz zu sein auf eine Regierende den Rezepten einer reichen liberalen Elite.
von solch einem Charakter, hochgebildet und mit Dennoch kann der Nobelpreisträger im Rück-
festen Überzeugungen«. blick feststellen, dass sein Werdegang vom Cas-
Der Nobelpreisträger Vargas Llosa schildert tro- zum Thatcher-Adepten,
in seinem neuen Buch die Geschichte seiner Be- von Marx zu Popper, bei man-
kehrung vom linken Aktivisten, geprägt vom Mar- chen Fehltritten, dem Pfad der
xismus und von Sartres Existenzialismus, der er Aufklärung folgte. Die liberale
in seinen jungen Jahren war, zum entschiedenen, Lehre wurde lange als pflau-
ja rabiaten Liberalen seiner späteren Jahre. Der menweich oder markthörig,
Essayband Der Ruf der Horde, in dem er seinen in- tolerant bis zur Substanzlosig-
tellektuellen und politischen Werdegang ebenso keit oder als Speerspitze des
nachzeichnet wie rechtfertigt, ist trotz des Unter- Imperialismus verachtet und
Mario Vargas
titels keine Autobiografie im üblichen Sinn. Es verunglimpft, gerade in La- Llosa: Der Ruf
geht mehr um Ideen als um Lebensabschnitte. teinamerika. Aber sie ist es, in der Horde. Eine
Hinter den großen Männern und Frauen der Ge- den Worten ihres Verteidigers intellektuelle
schichte, davon ist Vargas Llosa überzeugt, stehen Vargas Llosa, »die uns wie kei- Autobiografie.
Ideen, sie sind die treibende Kraft der Ereignisse, ne andere geschützt hat vor Aus dem Spani-
schen von
der guten und der schlechten, und sie finden ihren dem ewigen Ruf der Horde« – Thomas Brovot.
historischen Ausdruck in politischen Führern wie der neuerdings wieder ver- Suhrkamp; 316
Fidel Castro auf Kuba und Hugo Chávez in Ve- nehmlich erschallt. Seiten; 24 Euro.
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Szene aus »Mortal Engines – Krieg der Städte«

behelligt bis zu seinem Tod 1966 in der Bundes-

Recherchiert und republik.


Das Feature Der geplante Krieg – wie Hitler
Deutschland in den Zweiten Weltkrieg führte von
Hans Sarkowicz, Leiter des hr2-Ressorts Litera-

gedichtet, interpretiert tur und Hörspiel, ist eine spannende Dokumen-


tation, in der viele Akteure der Weltgeschichte
in O-Tönen zur Sprache kommen, darunter
Adolf Hitler, Otto Wels, Ernst Röhm, Rudolf

und gelesen Heß, Ferdinand Sauerbruch und Neville Cham-


berlain. Eine Einordnung der Ereignisse erfolgt
unter anderem durch renommierte Historiker
wie Ian Kershaw und Wolfgang Benz sowie den
Die Audio-CDs des Sommers: eine Rittergeschichte aus dem Naujocks-Biografen Florian Altenhöner.
Ein Hörbuch, das aufgrund der hervorragen-
Nachlass von Michael Ende; ein historischer Krimi aus Wien. den Auswahl und Zusammenstellung von histo-
rischen Tondokumenten und Zitaten Geschichte
lebendig werden lässt. Höchst interessant für ge-
Mann im Eis und mal mit weniger starkem Wiener Dialekt.
Lob gilt nicht nur dem Sprecher, sondern auch
schichtskundige Hörer, aber auch geeignet für
Jüngere, die über dieses Feature möglicherweise
Alex Beer: Der dunkle Bote. der Autorin Alex Beer. Es gelingt ihr, Zeitge- leichter einen Einstieg in die Themen National-
Ein Fall für August Emmerich. schichte mit einer unterhaltsamen Krimihand- sozialismus und Zweiter Weltkrieg finden als
Sprecher: Cornelius Obonya. lung zu verbinden. Brigitte Siegmund über Sachliteratur. Brigitte Siegmund
Random House Audio; 6 CDs; 20 Euro.

● Wien im November 1920, eine klirrende Kälte


durchzieht die Straßen. Der Glanz der Donau- Kino für die Ohren
metropole ist nach dem Ersten Weltkrieg verflo- Täter und
Philip Reeve: Mortal Engines –
gen; während Hunger und Elend den Alltag der
Menschen bestimmen, entwickelt sich das Ver-
Befehlsempfänger Krieg der Städte.
Sprecher: Robert Frank. Argon Hörbuch;
brechen in all seinen Schattierungen. Kriminal- Hans Sarkowicz: Der geplante Krieg – als Download erhältlich; circa 20,95 Euro.
inspektor August Emmerich ist auf der Suche wie Hitler Deutschland in den zweiten
nach seiner Lebensgefährtin Luise, die mitsamt Weltkrieg führte.
Sprecher: Nico Holonics, Bodo Primus,
● Im vergangenen Winter kam der Film »Mortal
ihren drei Kindern von ihrem tot geglaubten Engines – Krieg der Städte« in die Kinos: ein
Helmut Winkelmann, Andrea Wolf.
Ehemann verschleppt wurde. Parallel dazu hat Der Hörverlag; 1 CD; 14,99 Euro. Spektakel der Effekte, eine Materialschlacht, in-
er einen mysteriösen Mord aufzuklären. szeniert von dem Technikexperten Christian
Der dunkle Bote heißt der dritte Kriminal- ● 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs Rivers, produziert von Starregisseur Peter Jack-
roman, den die Schriftstellerin Alex Beer um hat der Hörverlag ein packendes Feature über son (»Herr der Ringe«).
Inspektor Emmerich und seinen Assistenten Fer- die Vorgeschichte veröffentlicht. Der geplante Aber funktioniert der Fantasystoff auch als
dinand Winter gestrickt hat. Das Mordopfer ist Krieg, produziert 2014 vom Hessischen Rund- Hörbuch? Ganz ohne visuelles Feuerwerk?
dieses Mal ein Geldschmuggler. Seine Leiche funk, verfolgt Hitlers Weg von seiner Zelle im Die Geschichte: Nach einem verheerenden
wurde bizarr zugerichtet und mit Wasser über- Landsberger Zuchthaus 1924 bis zum Einmarsch 60-Minuten-Krieg ist die Erde größtenteils ent-
gossen, das in der Kälte gefroren ist. Auch wenn in Polen 1939 – ein Weg des Terrors gegen Juden völkert. Die verbliebenen Städte bewegen sich
Emmerich glaubt, schon so einiges gesehen zu und politisch Andersdenkende, gepflastert mit auf mechanischen Konstruktionen durch die ver-
haben, erschüttert ihn der tote Mann unter der Lügen, Intrigen und Täuschungsmanövern, um wüstete Landschaft – Ungetüme auf Ketten oder
Illustrationen: David Wyatt; Thiemann Verlag

Eisschicht. die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Das Hör- Rädern, die sich gegenseitig bekämpfen, um in
Nach Der zweite Reiter (2017) und Die rote Frau buch verbindet die »große« Politik mit der Besitz wertvoller Rohstoffe zu gelangen. Krieg
(2018) hat der österreichische Schauspieler Biografie eines Mannes, der als Rädchen im der Städte, ganz wörtlich.
Cornelius Obonya nun auch den dritten Krimi- Getriebe dem NS-Staat stets dienstbar war und Der actionlastige Film war in den deutschen
nalroman von Alex Beer eingelesen. Er ist als mit seinem fingierten Überfall auf den Sender Kinos ab zwölf Jahren freigegeben, auch dem
Interpret eine gute Wahl. Man hört und spürt Gleiwitz Hitler den letzten Vorwand für den Hörbuch merkt man schnell an, dass die Vorlage
sofort, wie intensiv er sich mit der Vorlage aus- Krieg gegen Polen lieferte: NS-Geheimagent ein dystopischer Jugendroman ist. Ein klassi-
einandergesetzt haben muss. Er schreit, raunt, Alfred Naujocks, ein Befehlsempfänger, der aus- scher Plot, in dem das Schicksal zwei Teenager
flüstert. Er gibt jeder Figur eine eigene Stimme, führte, was von ihm verlangt wurde, und ohne zwischen die Fronten geraten lässt.
spricht mal lauter und mal leiser, mal selbst- jeden Skrupel auch mordete. Obwohl die Fülle Die Figuren sind leider klischeehaft gezeich-
bewusster und mal zögerlicher, mal mit mehr seiner Straftaten bekannt war, lebte er fast un- net, die Story selbst hält immerhin die eine oder
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andere Wendung bereit. Auch Sprecher Ro- mehr als 20 Jahren tot, aber seine Geschich-
bert Frank verleiht den eindimensionalen ten leben: Jim Knopf und Lukas der Lokomo-

Concarneau?
Figuren ein wenig Leben. tivführer, Momo, Die unendliche Geschichte. Es
Wer die ursprüngliche Geschichte für dürfte kaum einen Erwachsenen geben, der
Kinder und Jugendliche kennenlernen sie nicht kennt. Und liebt.
möchte, der greife zum Buch oder Hörbuch, Die neue Erzählung handelt von einem
das Effektspektakel gibt es auf DVD. kleinen Jungen namens Hastrubel Anaxi-
Christoph Ostermann mander Chrysostomos, den alle nur Knirps
nennen. Knirps zieht aus, um Ritter zu
werden – und sucht sich als Lehrherrn aus-

Hastrubel Anaximander
Chrysostomos
gerechnet den berüchtigten Raubritter Ro-
drigo Raubein aus.
Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe
ist eine schöne Geschichte für Kinder, mit
Da war
doch was ...
liebevoll ausgestalteten Figuren. Mit dabei
Michael Ende / Wieland Freund: Rodrigo sind alle, die in einer klassischen Ritterge-
Raubein und Knirps, sein Knappe. schichte dabei sein müssen: ein König und
Sprecher: Christoph Maria Herbst. eine kleine Prinzessin, ein Drache und ein
Silberfisch / Hörbuch Hamburg; 5 CDs;
böser Zauberer.
circa 20 Euro.
Die Handschrift Michael Endes ist deut-
● Die Erwartungen waren groß, als zum lich zu erkennen – der Autor und Literatur-
Jahreswechsel durchsickerte, dass ein unvoll- kritiker Wieland Freund hat das Manuskript
endetes Manuskript des Schriftstellers Mi- ganz im Sinn des berühmten Schriftstellers
chael Ende aufgetaucht sei. Ende ist für viele vollendet.
Deutsche ein Held ihrer Kindheit. Er ist seit Eine gute Geschichte verdient einen
ebenso guten Erzähler, und da kommt der
Schauspieler Christoph Maria Herbst ins
Spiel. Im Hörbuch verleiht er jeder Figur
einen unverwechselbaren Auftritt. Kaum zu
glauben, dass es stets er ist, der da spricht.
Die Stimme, so heißt es oft, sei das Instru-
ment des Erzählers. Herbst verfügt über ein
ganzes Orchester.
Ein Höhepunkt ist Herbsts Interpreta-
tion des persönlichen Lieblingsdieners des
Königs. Aber das – würde Michael Ende
schreiben – ist eine andere Geschichte und
soll ein andermal erzählt werden.
Christoph Ostermann

HÖRBUCH-BESTSELLER
Jean-Luc Bannalec
BELLE TRISTI K / SACHBUCH
Bretonisches Vermächtnis
Kommissar Dupins achter Fall
(2) Marc-Uwe Kling: (6) Ferdinand von Schirach:
1 11 Gelesen von Gerd Wameling
Die Känguru-Chroniken Kaffee und Zigaretten
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Lars Eidinger. 3 CDs. Laufzeit: 8 Stunden, 6 Minuten
Hörbuch Hamburg Der Hörverlag
7 CDs € 19,95* ISBN 978-3-8398-1731-5
(1) Marc-Uwe Kling: (–) Gisa Pauly, Christiane Blumhoff:
2 12 Ab 25. 6. 2019 im Buchhandel
Die Känguru-Apokryphen Sturmflut
*empfohlener ladenpreis
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecherin: Christiane Blumhoff. 2 MP3-CDs.
Hörbuch Hamburg Audio Media

(–) Tommy Jaud: (10) Jürgen von der Lippe:


3 13
Der Löwe büllt Nudel im Wind
Sprecher: Tommy Jaud. 5 CDs. Sprecher: Jürgen von der Lippe. 5 CDs.
Argon Random House Audio

(–) Jörg Maurer: (12) Dieter Nuhr:


4 14
Am Tatort bleibt man ungern liegen Gut für dich!
Sprecher: Jörg Maurer. 2 MP3-CDs. Sprecher: Dieter Nuhr. 4 CDs. Ein hoch spannender Fall, der zugleich
Argon Lübbe Audio

5 (3) Marc-Uwe Kling: 15 (8) Walter Moers: das wunderschöne Städtchen Concarneau
Das Känguru-Manifest Der Bücherdrache
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Andreas Fröhlich. 4 CDs.
Hörbuch Hamburg Der Hörverlag zum Protagonisten macht: seine Häfen
(–) Axel Milberg: (11) Simon Beckett:
6 16
Düsternbrook Die ewigen Toten und Strände, seine Galerien und
Sprecher: Axel Milberg. 6 CDs. Sprecher: Johannes Steck. 12 CDs.
Osterwoldaudio Argon

(5) (14)
Restaurants, seine Traditionen
7 Marc-Uwe Kling: 17 J. K. Rowling: Harry Potter.
Die Känguru-Offenbarung Die große Box zum Jubiläum
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 6 CDs. Sprecher: Rufus Beck. 14 MP3-CDs. und seine ganz besondere Geschichte.
Hörbuch Hamburg Der Hörverlag

(7) Hape Kerkeling: (–) Stefanie Stahl:


8 Der Junge muss an die frische Luft
18
Das Kind in dir muss Heimat finden
Sprecher: Hape Kerkeling. 8 CDs. Sprecherin: Stefanie Stahl. 1 MP3-CD.
Osterwoldaudio Arkana

(9)
9 Dörte Hansen: 19 (–) Agatha Christie:
Mittagsstunde Elefanten vergessen nicht
Sprecherin: Hannelore Hoger. 7 CDs. Sprecher: Martin Maria Schwarz. 5 CDs.
Random House Audio Der Hörverlag

10 (4) Marc-Uwe Kling: 20(15) Jojo Moyes:


QualityLand Nächte, in denen Sturm aufzieht
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 7 CDs.
Hörbuch Hamburg
Sprecherin: Luise Helm. 7 CDs.
Argon
www.argon-verlag.de
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14

Kino | Serien | Pop | Kunst | Jazz | Klassik | Games | Theater


Serie / DVDs
Meryl Streep wird zum Serienstar: In
der neuen Staffel von Big Little Lies
spielt sie die Schwiegermutter von
Nicole Kidman. Auf Sky.

● Am 22. Juni wird Meryl Streep 70 Jah-


re alt. Ob sie wirklich die beste Schau-
spielerin ihrer Generation ist, darüber
können Filmfans lange streiten (viel-
leicht doch eher Glenn Close?), aber
zweifellos ist Streep die populärste, viel-
seitigste und erfolgreichste. Drei Oscars
hat sie im Laufe ihrer Karriere gewon-
nen. Ob in »Jenseits von Afrika«, im
Abba-Musicalfilm oder als Margaret
Thatcher in »Die Eiserne Lady« – immer
wieder gelingt es ihr, die Zuschauer zu
überraschen. Meryl Streeps Über-
raschung in diesem Sommer: Sie tritt in
einer Fernsehserie auf, eine Rückkehr zu
ihren Anfängen. Vor mehr als 40 Jahren
war sie mit der TV-Reihe »Holocaust« be-
kannt geworden. Seitdem hat Streep fast
ausschließlich Kinofilme gedreht. Lo-
gisch, dass sie sich für ihr Fernseh-Come-
back nun ein Prestigeprojekt ausgesucht
Hauptdarsteller Patel in »Yesterday« hat: die neue Staffel der preisgekrönten
HBO-Serie »Big Little Lies«. Die erste
Staffel von 2017 war ein kleines Meister-

Kino den Abstieg stemmt. Es ist skurril und


sehr komisch, wenn der Held durch die
Ahnungslosen irrt und von ihnen als jun-
werk, eine Mischung aus Familiendrama,
Krimi und böser Milieustudie über eine
Gruppe kalifornischer Übermütter, ge-
Danny Boyles romantische Komödie ges Genie gefeiert wird. Doch Drehbuch- spielt von Nicole Kidman, Reese Wither-
Yesterday erzählt von einem ziemlich autor Richard Curtis, bekannt für Filme spoon und Laura Dern. Für die Fortset-
bizarren Gedächtnisverlust der wie »Notting Hill«, weiß nicht so recht, zung reiht sich jetzt Meryl Streep in die-
Menschheit. Kinostart: 11. Juli. wo er mit seiner tollen Idee hinwill. ses Ensemble ein. Gleichzeitig sticht sie
Kulturprogramm

Irgendwann singt Jack laut, fast brüllend heraus. Denn im Gegensatz zu ihren jün-
● Selten hat ein Film eine so großartige »Help!« – und mit ihm der Film. Curtis geren Kolleginnen – Nicole Kidman, die
Prämisse wie »Yesterday«: Nach einem zettelt eine Romanze an, die ein wenig in der Serie ihre Schwiegertochter ver-
globalen Stromausfall leidet die Welt- schlicht anmutet, gemessen daran, wie körpert, wird am 20. Juni 52 – will
bevölkerung an selektivem Gedächtnis- einfallsreich die Beatles über die Liebe Streep in dieser Rolle niemandem ge-
verlust. Jeder weiß noch, wie er heißt, gesungen haben. Am Ende steht der fallen. Eine Oma-Frisur und biedere
doch von Coca-Cola scheint noch nie- Held vor der Frage, ob er seinen rasan- Kostüme lassen sie älter wirken, als sie
mand gehört zu haben, auch die »Harry ten Aufstieg fortsetzen oder doch besser ist. Und besonders sympathisch ist die
Potter«-Romane sind gänzlich unbe- zugeben soll, dass er sich mit fremden Figur, die sie in »Big Little Lies« spielt,
kannt. Die Menschheit hat also kulinari- Federn geschmückt hat. Lars-Olav Beier auch nicht gerade: Sie kämpft für ihren
schen und kulturellen Ballast abgewor- Sohn, den die Zuschauer in der ersten
fen. Leider sind dabei auch einige der ▼ Weitere Kinofilme Staffel als brutalen Psychopathen ken-
schönsten Songs verloren gegangen, die nengelernt haben. Meryl Streep traut
je geschrieben wurden: die der Beatles. AB 4 . J ULI sich also was – wieder mal. Martin Wolf
Der junge Liedermacher Jack (Himesh Traumfabrik. In dem Liebesfilm feiert der
Patel) kann kaum glauben, dass auch die Regisseur Martin Schreier die Defa-Stu-
Platten der Band verschwunden sind und dios in Potsdam als magischen Ort voller
die Beatles unauffindbar zu sein schei- Sehnsüchte und Abenteuer. Mit Emilia
nen. Er kann sich sehr genau erinnern Schüle und Dennis Mojen.
und ihre Hits im Schlaf singen. Also gibt
er die Songs als seine eigenen aus und AB 2 5 . J ULI
versucht, damit Karriere zu machen. Leid und Herrlichkeit. Antonio Banderas
Danny Boyles romantische Komödie ist als Regisseur, der etwas schwermütig
ein Film, der auf dem Gipfel anfängt auf sein Leben zurückblickt. Ein auto-
und sich dann mit allen Kräften gegen biografisches Werk von Pedro Almodóvar.

Stars Streep, Kidman in »Big Little Lies«

SPIELFILME
▼ Weitere Serien / DVDs
(2) Bohemian Rhapsody (4) Der Vorname
1 6 Orange Is the New Black. Siebte und
20th Century Fox, FSK: ab 6 Jahren Universal Pictures / Constantin, FSK: ab 6 Jahren
letzte Staffel der preisgekrönten Frauen-
Fotos: Universal Pictures; HBO / Sky

(1) Phantastische Tierwesen. Grindelwalds ... (9) Gundermann


2 7 knastreihe. Netflix, ab 26.7.
Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren Alive / Pandora, FSK: ohne Altersbeschränkung

(–) Aquaman (–) Bumblebee


3 8 The Mule. Clint Eastwoods grandioses
Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren Universal Pictures, FSK: ab 12 Jahren
Alterswerk: In seinem wohl letzten Auftritt
4 (11) 25 km/h 9 (5) A Star Is Born (2018) als Schauspieler verkörpert er einen
Sony Pictures, FSK: ab 6 Jahren Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren Drogenkurier. Als Regisseur arbeitet der
89-Jährige weiter: Er bereitet gerade
5 (3) Mary Poppins Returns 10 (10) Avengers. Infinity War
Walt Disney, FSK: ohne Altersbeschränkung Walt Disney, FSK: ab 12 Jahren einen neuen Film vor. Warner, ab 20.6.
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Foto: www.maxpixel.net

Es ist
kompliziert.

Wird der globale Kapitalismus demnächst aus Peking gesteuert? Wo wachsen


die meisten Tomaten? Steht Rotterdam in 70 Jahren unter Wasser? Und was
hat Rheinmetall eigentlich in Südafrika verloren? Diesen und vielen anderen
Fragen geht der neue Atlas der Globalisierung »Welt in Bewegung« nach.

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16

Pop / Live Jazz
Mit ihrem jüngsten Album »Cuz I Love Die Finnen Timo Lassy und Teppo
You« steht die US-Sängerin Lizzo Mäkynen haben ein überraschend zar-
unübersehbar mitten im Feld zwischen tes Duo-Album aufgenommen. We
Hip-Hop und R & B. Nun kommt sie Jazz Records, erscheint am 14. Juni.
erstmals für ein Konzert nach Berlin
(am 8. Juli). ● Auf ihre jeweilige Art gehören der Sa-
xofonist Timo Lassy und der Schlagzeu-
● Wer den Instagram-Account von Liz- ger Teppo Mäkynen, beide aus Finnland,
zo abonniert hat, wird sich große Hoff- zu den interessantesten europäischen
nungen machen, dass die US-Amerikane- Jazzmusikern. Lassy ist einer der großen
rin bei ihrem Live-Debüt in Deutschland Könner der Jazz-Renaissance der vergan-
die Flöte auspacken wird. Denn in kur- genen Jahre, kaum jemand bewegt sich
zen Instagram-Videos zeigt sie sehr über- mit ähnlicher Souveränität zwischen den
zeugend, dass man mit einer Querflöte klassischen amerikanischen Stilen der
Wut genauso stark ausdrücken kann wie Fünfziger und Sechziger wie er, mit ei-
mit einer verzerrten E-Gitarre – und ner Freude am Spiel, die man sofort er-
dem entsprechenden Gesichtsausdruck. Künstler Kjartansson kennt. Ganz anders Mäkynen. Der hat
Melissa Jefferson, so ihr bürgerlicher zwar in mehreren Bands mit Lassy ge-
Name, hat Flöte gelernt für eine Mar- spielt, ist im Grunde aber eher ein per-
ching Band in Houston, wo sie auf-
gewachsen ist. Doch ihre Karriere als
Rapperin und Sängerin startete sie in
Kunst dorthin, wo Licht, Luft und
Atmosphäre ungefiltert sind,
nur platzierte er sich und sei-
kussiver Feinmechaniker. Ein Klöppler,
der mit einem ganz kleinen Schlagzeug-

Minneapolis. Die Wut war immer dabei: Der Isländer Ragnar ne Staffelei nicht in einem
»Ich hatte immer drei Dinge, die gegen Kjartansson ist der große grünen Idyll, sondern im
mich waren in der Welt«, sagte sie in ei- Entertainer der Kunstwelt Westjordanland und malte
nem »Teen Vogue«-Interview – sie könne und wird jetzt mit einer lauter Siedlungshäuser ab.
nicht eines Tages aufwachen und nicht auch nicht kleinen Schau Und so ist es immer bei
schwarz, keine Frau, nicht dick sein. in Stuttgart gefeiert. Kjartansson, irgendwo lauert
Weil Lizzo es schafft, aus dieser Wut Kunstmuseum, 20. Juli bis da hinter der hübschen oder
Kampfgeist (»Juice«) und Lebensfreude 20. Oktober. lustigen Oberfläche seiner
(»Boys«) zu entwickeln, wird sie als Vor- Kunst die nicht so harmlose
bild für Körperakzeptanz gefeiert – zu- ● Ragnar Kjartansson hat Realität. Ulrike Knöfel
mal ihre Songs zwischen Hip-Hop-Cool- einen ganz eigenen Humor,
ness und klassischer Soul-Ausgelassen- was man unter anderem am ▼ Weitere
heit extrem mitreißend sind. Felix Bayer Titel dieser Ausstellung er- Ausstellungen
kennt, der »Scheize – Liebe –
▼ Weitere Konzerte Sehnsucht« lautet. Und auch DÜSSELD ORF
wenn man seine Späße nicht Martin Parr. Aufnahmen von

Fotos: Warner Music; Rafael Pinho, Courtesy der Künstler, Luhring Augustine, New York und i8 Gallery, Reykjavík; Mathias Foster; Yvonne Schmedemann; NoCode
Take That. Die Neunzigerjahre-Jugend immer sofort versteht – er Urlaubern, die am Strand nicht
feiert mit ihren Idolen von damals: 15.6. in schafft es doch, das Publi- bloß bräunen, sondern regel-
Düsseldorf, 20.6. in Berlin, 24.6. in Ham- kum zu verzaubern. Ihm ge- recht rösten, sind seine Spe-
burg, 25.6. in Frankfurt am Main. lingen unvergleichliche In- zialität, doch der bekannte
szenierungen, und er setzt da britische Fotograf hat auch Musiker Mäkynen, Lassy
Gossip. Beth Ditto, ebenfalls eine auch alles ein: Musik, Male- ein Auge für deutsche Klein-
Body-Positivity-Ikone, moderiert in- rei, seine Mutter, große Ges- gärten. Diese Retrospektive set am glücklichsten scheint. Nun haben
zwischen für Arte. Zur Entspannung hat ten, Tränen und Boote. Mit zeigt die Welt, so wie der Foto- sich die beiden für eine Duo-Platte zu-
sie ihre Band wiedervereinigt: 5.7. in Köln, seinen Gegenwelten ist der satiriker Parr sie sieht. sammengetan, die voll überraschender
6.7. in Berlin. Isländer in den vergangenen NRW-Forum Düsseldorf, Momente ist: »Timo Lassy & Teppo Mä-
Jahren international zum 19.7. bis 10.11. kynen«. Dass sie auf einen Bassisten ver-
Janelle Monáe. Ihr Album »Dirty Star geworden. Vor zehn Jah- zichten, ist bemerkenswert, beide Musi-
Computer« war für den Grammy nominiert, ren durfte er für seine Hei- LOND ON ker sind doch eigentlich am Groove
als Schauspielerin wurde sie für den mat auf der Biennale von Ve- Cindy Sherman. Die Amerika- orientiert. Und genauso verblüfft es, wie
Hollywoodfilm »Hidden Figures« ausge- nedig antreten, er malte wäh- nerin gehört zu den bekann- wenig klassisch die 13 Stücke klingen.
zeichnet. Nun bringt sie ihren Funk rend der immerhin sechs Mo- testen Künstlerinnen der Alle Songs sind kurz, immer um die drei
für ein rares Konzert nach Deutschland: nate dauernden Schau jeden Gegenwart. Häufig bildet sie Minuten, und jeder ist eine kleine, zarte,
9.7. in Berlin. Tag ein Gemälde von einem sich selbst ab, nur geht es tastende Skizze, für die Lassy und Mäky-
Typen in einer Speedo-Bade- nicht um sie, sondern um Bil- nen sich umkreisen und umtänzeln. Im-
hose (das Männermodell war der von Frauen im Allgemei- mer wieder schimmert Mäkynens Interes-
ein Künstlerkumpel aus Is- nen. Oft karikiert sie mit Ver- se an House und Electronica durch, aber
land). Hinterher hatte er jede kleidungen und Maskierungen auch Lassys Kunst, sich in jede Melodie
Menge Bilder und auch eine vermeintliche Frauentypen. einfühlen zu können. Lassy und Mäky-
Menge Ruhm angesammelt, National Portrait Gallery, nen kennen sich seit vielen Jahren.
Venedig war also sein Durch- 27.6. bis 15.9. Zusammen machen sie eine Musik, die
bruch. Nun, ein Jahrzehnt in jedem Augenblick zeigt, wie sehr sie
später, ist sein Gesamtwerk MADRID im emphatischen Sinne ein »Spiel« ist.
natürlich noch umfassender, Velázquez, Rembrandt, Ver- Tobias Rapp
vielseitiger. Die US-Band meer. Parallele Visionen. Der
The National spielte für ihn berühmte Prado widmet sich ▼ Weiteres Album
eines ihrer Lieder – »Sor- der spanischen und holländi-
row« – sechs Stunden lang schen Malerei des späten Joel Ross: KingMaker. Für die »New York
immer und immer wieder, 16. und frühen 17. Jahrhunderts Times« ist der gerade einmal 23 Jahre alte
und er verarbeitete den Auf- und den epochalen Werken Vibraphonist Joel Ross »eines der Topta-
tritt zu einem ebenso langen einer ganzen Reihe von Künst- lente des zeitgenössischen Jazz«. »King-
Video. Für die Produktion lern, darunter nicht nur die Maker« ist nun sein Debüt als Kopf einer
seiner Gemäldeserie »Archi- genannten, sondern ebenso eigenen Band. Ein wunderbares Album, an
tecture and Morality« ging er Jusepe de Ribera oder Frans dem vor allem die Sicherheit und emotio-
wie einst die Franzosen des Hals. Museo del Prado, nale Tiefe erstaunt, mit der dieses junge
Sängerin Lizzo 19. Jahrhunderts ins Freie, 25.6. bis 29.9. Quintett zusammenspielt. (Blue Note)
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17

Klassik e
Für Stepan Simonian werden
Bachs Goldberg-Variationen
zum Mikrokosmos.
CAvi-Music.

● Tatsächlich: Die Goldberg-


Variationen von Johann Sebas-
tian Bach, spätestens seit Glenn
Goulds kristallharter Aufnahme
Pianist Simonian

dieser Mikrokosmos des Klang-


J. S . B A C H
von 1981 zur Klassik-Einsteiger- ausdrucks entwickeln kann,
kost verkommen, bieten noch
ungeahnte Nuancen. Freilich
sollte dafür jemand an den Tas-
wenn ein Interpret ersten Ran-
ges ihn zum Leuchten bringt.
Johannes Saltzwedel
KEITH JARRE T T
ten sitzen, der so umfassend
vorbereitet ist wie Stepan Simo- ▼ CD-Empfehlungen
nian. Der gebürtige Moskauer
Virtuose hat sich bei Jewgeni Johann Wilhelm Wilms: Zwei
Koroliow – dessen eigene Auf- Klavierquartette. Subtile Spät-
nahme Kenner maßstabsetzend klassik für Neugierige. cpo.
nennen – in die Mysterien von
Johann Sebastian Bach
Werktreue und Kontrapunkt Elena Kuschnerova spielt Liszt.
D a s W o h l t e m p e r i e r t e K l a v i e r,
vertieft. Aber er kopiert seinen Feuerwerke mit Tiefgang, alt- Buch I
Lehrer nicht. Markig, verträumt meisterlich brillant. Bella Musica.
oder tänzerisch, aber immer BW V 846 – 869
tondenkerisch souverän, lässt er ▼ Festivals, Konzerte
die Stimmen miteinander spie- Keith Jarret t: Klavier
len, erinnert hier ans Cembalo ANSBACH K o n z e r t a u f n a h m e , Tr o y ( N e w Yo r k ) , 1 9 8 7
und nutzt dort klug die Dyna- Bachwoche. Einer von vielen Hö-
mik des modernen Flügels. hepunkten: das Konzert des Pia- 2_ C D S e t
Winzige Verzierungen und Tem- nisten Robert Levin. 26.7. bis 4.8.
potricks lassen aufhorchen. Hat
sich dann der Kreis geschlossen SPE YER w w w÷ k l a s s i k a k z e n t e ÷ d e w w w÷ e c m r e c o r d s ÷ c o m
und die Aria des Anfangs er- Musikfest. Von Händel bis Satie
neuert, bleibt nur das Staunen mit der Staatsphilharmonie
darüber, welche Strahlkraft Rheinland-Pfalz. 4. bis 7.7.

Games sucht Schäden und macht sich


daran, sie zu beheben. Dabei er-
innert nicht nur das Szenario
In Observation muss der an Kubricks Film, sondern
Spieler die Rolle künstlicher auch die Geschwindigkeit. »Ob-
Intelligenz einnehmen. Er- servation« ist langsam, extrem
schienen bei Devolver Digital. langsam sogar. Jedes Öffnen ei-
ner Tür, jedes Verbinden neuer
● Einmal die Perspektive wech- Geräte dauert sehr lange. Dies
seln: Während man in Spielen liegt nicht nur daran, dass man-
im Regelfall eine Figur durch che Rätsel nicht gerade einfach
die Räume steuert, übernimmt zu lösen sind, sondern auch an
man bei dem Adventure-Game der mitunter sperrigen Steue-
»Observation« die Rolle einer rung, die Spieler immer wieder
künstlichen Intelligenz, die alle frustrieren wird. Entschädigt
Vorgänge in einer Raumstation wird man dafür von einer dich-
überwacht. Sie kann sich an ten Atmosphäre, einer Raumsta-
jeden beliebigen Ort schalten, tion, die so detailreich gestaltet
Luken öffnen und schließen, sie ist, dass man sie immer weiter
herrscht über Leben und Tod. erkunden und jedes einzelne ih-
Hier nennt sie sich SAM, Ähn- rer Details betrachten möchte –
lichkeiten mit dem Supercom- und nicht zuletzt von einer
puter Hal aus Stanley Kubricks immer mysteriöser werdenden
Science-Fiction-Klassiker »2001: Geschichte, die man unbedingt
Odyssee im Weltraum« sind da- aufklären will. Carsten Görig
bei sicher nicht zu-
fällig. SAM muss
die Raumstation
nach einem Unfall
wieder begehbar
machen und einer
Überlebenden hel-
fen. Dabei steuert
man als SAM
Überwachungska-
meras, lenkt Droh-
nen, um in dunkle
Ecken hineinzuse-
hen oder die Sta-
tion von außen zu
überprüfen. SAM Videospiel »Observation«
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18

Pop / Album Freude daran, mit den Ritualen einer


Berufspendlerfahrt zu spielen. Bei all
dem hält er den leicht sarkastischen Ton
Kaum eine Band spielt so gern mit durch, den Fans von Pop-Dandys schon
literarischen Bezügen wie die britische seit den Neunzigerjahren an The Divine

All about
Popgruppe The Divine Comedy. Auf Comedy schätzen. Musikalisch domi-
ihrem neuen Album »Office Politics« nieren Synthesizer-Sounds, bisweilen
geht es um das Büroleben. wird Keyboardmarken und Synthie-Pop-
Divine Comedy Records / PIAS, Bands gehuldigt. Es geht eben um Ma-

Writing.
erscheint am 7. Juni. schinen und um das, was Menschen mit
ihnen machen. Zum Beispiel im Büro,
● Das Büro ist künstlerischer Kreativität wo man sich mit diesem Album auf dem
selten sonderlich zuträglich. Das wird Kopfhörer sehr unterhaltsam von der
fast jeder bestätigen, der dort arbeitet. Arbeit ablenken kann. Felix Bayer

For all
Und dennoch ist dieser Ort Schau-
platz von Fernsehserien (von
»Büro, Büro« bis »Stromberg«) und
großen literarischen Werken wie
J. J. Voskuils Romanzyklus Das

Writers.
Büro – immerhin finden im Büro ja
auch zahlreiche menschliche Inter-
aktionen statt. Neil Hannon, Kopf
der Band The Divine Comedy,
stellt im neuen Album »Office Poli-
tics« die Maschinen in den Mittel-
punkt – so heißt es jedenfalls in
einem das Album begleitenden,
Willkommen stilechten »Memo an alle Abteilun-
gen«. Ja, stimmt: Im Titelsong en-
Autorinnen, Blogger, det eine Büroromanze auf dem Ko-
piergerät. Doch viel mehr interes-
Podcasterinnen siert sich Hannon für die Sprache
des Bürolebens und stellt sich die
und Self-Publisher. Trennung eines Liebespaares in
den Begriffen einer Freistellung
aus Rationalisierungsgründen vor
In unserem neuen Areal (in dem Song »Absolutely Ob-
Frankfurt Authors erwartet solete«). Und er hat auch hörbar Bandleader Hannon

Sie die spannendste

Theater
Branche der Welt. fröhliche Urständ feiert«. Er inszeniert
die Uraufführung mit zwei auch aus dem
Fernsehen bekannten Stars: Caroline Pe-
»Die Empörten« heißt die finstere Ko- ters ist die Bürgermeisterin, Silke Boden-
mödie von Theresia Walser, die bei bender ihre Gegenspielerin. Anke Dürr
den Salzburger Festspielen heraus-
buchmesse.de/frankfurt-authors
kommt. Uraufführung am 18. August im
Landestheater. ▼ Weitere Premieren und
Festivals
● Hat er – oder hat er nicht? Ein Auto
ist in die Fußgängerzone von Irberst- BERLIN
buchmesse.de/frankfurt-audio heim gerast, der Fahrer und ein Passant Das Bauhaus – Ein rettendes Requiem.
sind dabei ums Leben gekommen. So Ist die einst »strahlende Bauhaus-Erfin-
viel steht fest. Aber hat der Autofahrer dung« nur noch ein »Zombiemuseum«?
wirklich »Allahu akbar« gerufen? War es Schorsch Kamerun sucht in seiner Perfor-
also ein Attentat? Die Ausgangslage in mance nach Antworten. Uraufführung am Foto: Raphael Neal, Hannelore Foerster / Getty Images; Illustration: Sebastian Rether für LiteraturSPIEGEL

Theresia Walsers neuem Stück Die 20.6. in der Volksbühne.


Empörten ist so dramatisch wie realitäts-
Besuchen Sie uns
nah – doch die Autorin nennt ihr Werk, BOCHUM
am buchreport-Stand das im August bei den Salzburger Fest- Hamlet. Sandra Hüller spielt die Titelrolle,
Halle 3.1 L 158. spielen uraufgeführt werden soll, eine Johan Simons inszeniert. Premiere am
Komödie, wenn auch eine »finstere«. Sie 15.6. im Schauspielhaus.
lässt die Leiche des Unfallverursachers
entführen, direkt ins Rathaus der fikti- Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend.
ven Kleinstadt. Er ist nämlich der Halb- Christoph Marthaler, schon immer Träu-
bruder der Bürgermeisterin, und weil die mer und Mahner zugleich, inszeniert zum
um ihre politische Karriere fürchtet, ver- Auftakt der Ruhrtriennale ein »Weltparla-
steckt sie den vermeintlichen Attentäter ment«. Uraufführung am 21.8. im Audimax
in einer historischen Truhe. Schon tritt der Ruhr-Universität.
ihre Gegnerin auf, eine Rechtspopulistin,
die das Attentat politisch ausschlachten HAMBURG
will – nur leider ist das Opfer ein Mus- Internationales Sommerfestival. Spekta-
lim. Es entwickelt sich eine Rede- kel ohne Länder- und Genregrenzen: Per-
schlacht, halb Schwank, halb Screwball- formances, Tanz, Konzerte. Kampnagel,
#fbm19 komödie. Für den Regisseur Burkhard 7. bis 25.8.
C. Kosminski, Intendant am Schauspiel
Stuttgart, wo die Inszenierung ab Januar MANNHEIM
Jetzt Ticket sichern!
zu sehen sein wird, sind Die Empörten ein Maria Stuart. Zum Start der Internationa-
buchmesse.de/besuchen
Stück »über eine Gesellschaft im Er- len Schillertage inszeniert Claudia Bauer
regungszustand, in der die Verrohung Schillers Königinnendrama. Premiere am
Der Business Club – das exklusive Messeerlebnis. der politischen Kultur beängstigend 20.6. im Schauspielhaus.
Jetzt Business Ticket kaufen:

buchmesse.de/businessclub
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19

Abgesang
Jede Ausgabe ein neues Gedicht

Gerhard Falkner Schorfheide

Goethe, Illustration von Maria Gottweiss nach dem Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna, 1787 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Zeit ist weder ursprünglich noch genau / und
weil der Raum sich ausdehnt / wird das Univer-
sum immer leerer / Beides herbe Enttäuschungen /
die zwischen Eberswalde und Groß Schönebeck / » Im übrigen gilt für die Schau:
Informationsgehalt: hoch.
ihre imposante Bestätigung finden / Die Adler Unterhaltungswert: beträchtlich.
Staubfaktor: null.«
schweben, Moore stehen Schlange / die Große (dpa, Christoph Driessen)

Karde macht das letzte / zugespitzte Nichts


zunichte / in dem mein Hier-am-Waldrand-

GOETHE
Stehen gipfelt / der Sommer selbst steht auf
der Kippe

Schon verlangsamt sich die Erdrotation / die Verwandlung der Welt


Tage werden länger / die Abweichung von der bis 15. September 2019 in Bonn
internationalen Atomzeit / wird vom 30. Juni auf
den 1. Juli / durch eine eingeschobene zusätzliche
Sekunde ausgeglichen: Verpasse sie nicht!

Kunst- und Ausstellungshalle zeitgleich:


der Bundesrepublik Deutschland GOETHES GÄRTEN
www.bundeskunsthalle.de Grüne Welten auf dem Dach der Bundeskunsthalle

Das kritische
Sachbuch zur EU
Die Einfügung der Schaltsekunde, die für diesen Juni
geplant war, wurde verschoben. Was hätte man alles
mit ihr machen können! Wenn einen schon mal ein
Gedicht an den Luxus einer zusätzlichen Sekunde
mahnt. Das Universum wird leerer, die Erde dreht
sich langsamer – beides beobachtet von einem Waldrand, der
mit dem All ins Leere kippt. Der letzte Rat ist nicht »Nutze die zu-
sätzliche Sekunde!«, sondern »Verpasse sie nicht!«. Sieh sie kommen
und gehen. Halt sie nicht auf. Gerhard Falkner, von dem dieses
Gedicht stammt, ist einer der bedeutendsten deutschen Gegenwarts-
lyriker. Juliane Liebert

Aus dem Band »Schorfheide. Gedichte en plein air«. Berlin Verlag; 128 Seiten;
22 Euro.

I M PRESSUM Redaktion Verantwortlich


SPIEGEL -Verlag Lars-Olav Beier für Anzeigen
Rudolf Augstein Claudia Voigt André Pätzold
GmbH & Co. KG
Ericusspitze 1 Gestaltung Druckerei
20457 Hamburg Leon Lothschütz appl Druck GmbH,
Tel. 040 3007-2873 Wemding
Bildredaktion
Herausgeber Parvin Nazemi Anzeigenpreise,
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Chefredaktion Kerstin Jungenkrüger www.spiegel.media
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