Der Spiegel - 15 06 2019 PDF
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COM/WSNWS
Nr. 25 / 15.6.2019
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KANZLERAMT
Spanien/Kanaren € 7,00
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UND
Hausmitteilung
Betr.: Utz Claassen, Schicksale, katholische Kirche, Kommunen
Der Manager Utz Claassen gilt als schwieriger Charakter, als Mann mit überdimen-
sioniertem Ego und manchmal rustikalem Auftreten. Das bekamen auch die Redak-
teure Michaela Schießl und Frank Dohmen zu spüren, als sie die Geschichte um sein
Medizin-Start-up recherchierten. Claassen plant mit der Firma, die Implantate her-
stellt, den Börsengang. Die Journalisten fanden heraus, dass die Idee zum Produkt
nicht von ihm stammt; dass vielen Ärzten die Schrauben aus Claassens Haus suspekt
sind. Und dass das Unternehmen mit der millionenschweren Klage eines ehemaligen
Großinvestors kämpft. Zehn Stunden lang sprachen Schießl und Dohmen mit Claassen.
»Er war hochemotional, hielt lange Monologe«, sagt Dohmen. »Claassen fühlt sich
von bösen Mächten umzingelt, zu denen er auch den SPIEGEL zählt.« Seite 62
Inhalt
73. Jahrgang | Heft 25 | 15. Juni 2019
Karrieren SPIEGEL-Gespräch
mit Joachim Gauck über das Wirtschaft
NICOLO LANFRANCHI / LAIF
Titelfotos [M]: Florian Gaertner / Photothek / Getty Images; Getty Images (2); Marina Rosa Weigl für den SPIEGEL 5
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M
an kann dieser Regierung wirklich nicht vorwer- Schutz seiner Kunden vor überbordender staatlicher Über-
fen, zu ambitioniert zu handeln oder allzu ideen- wachung und zum Schutz seiner Reputation.
reich. Nur in einer Sparte ist das anders, da Nun sollen die Firmen die Sicherheit ihrer Kunden auf
sprüht sie geradezu vor Ehrgeiz: bei der inneren staatliches Geheiß wieder schwächen. Das setzt sie und ihre
Sicherheit. Hier vergeht kaum eine Woche ohne Vorschlä- Kunden unnötigen Risiken aus. Denn bewusst eingebaute
ge, neue Vorhaben oder weitreichende Forderungen. Hintertüren oder »goldene Schlüssel« sind auch Einfallstore
Viele der Vorstöße stammen aus dem Haus von Bundes- für Hacker, Kriminelle oder Spione.
innenminister Horst Seehofer, die meisten haben derzeit Das ist leider keine Theorie. Die beiden bislang größten
mit dem Internet zu tun; also dem, was seine Beamten und und folgenreichsten Cyberangriffswellen vor rund zwei Jah-
auch Militärs und Geheimdienstler gern sinister den ren betrafen neben der Deutschen Bahn und Beiersdorf
»Cyberraum« nennen. Der CSU-Mann, der jüngst bekann- auch Energieversorger und Logistikfirmen und verursachten
te, Gesetze gern möglichst weltweit Milliardenschäden.
kompliziert zu gestalten, um Die Urheber nutzten dafür
sie möglichst unbemerkt eine Schadsoftware, deren
und störungsfrei durchzuset- wesentlicher Baustein zuvor
zen, hat tief greifende dem US-Geheimdienst NSA
Pläne. Nahezu alle sollen die abhandengekommen war.
Befugnisse der Sicherheits- Die geplante Gesetzes-
behörden erweitern und erweiterung ist nicht einmal
ihre Arbeit im Digitalen notwendig. Schon heute ist
erleichtern. es Behörden erlaubt, mit
Dagegen wäre nichts ein- richterlicher Erlaubnis Späh-
zuwenden, wenn diese Vor- programme (»Trojaner«)
haben denn zielgerichtet, auf die Smartphones Ver-
maßvoll oder auch nur erfolg- dächtiger aufzuspielen. Auch
versprechend wären. Doch so können sie mitlesen und
das sind sie in zu vielen Fäl- überwachen. Das Verfahren
len nicht. In der Gesamt- ist aufwendiger, entspricht
schau handelt es sich um den damit aber der Praxis in vor-
ZUMA PRESS / IMAGO
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Meinung So gesehen
Umverteilung,
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
aber richtig!
Konservative Hühner Friedrich Merz will uns alle
reich machen.
Nachdem die Sozialdemo- Mitgliedern gegründet werden. Auch G So ungerecht. Jahrelang hielten wir
kratisierung der CDU in- das war bislang eine Spezialität der Friedrich Merz (CDU) für einen kalt-
haltlich abgeschlossen wer- SPD. Dort gibt es Seeheimer, Netz- schnäuzigen Geldautomaten, tat-
den konnte, gibt es nun werker, Parlamentarische Linke, die sächlich jedoch hat der Reservekanz-
auch auf anderen Feldern Initiative #SPDerneuern, das Forum ler offensichtlich ein großes Herz
Fortschritte. Die Partei von Demokratische Linke 21 und allerhand für kleine Leute: In einem Gastbeitrag
Annegret Kramp-Karrenbauer andere Spezialformen von Sozial- für Zeit Online fordert Merz, »die
folgt der SPD nicht nur in Umfragen auf demokratie; der letzte Schrei ist die Arbeitnehmer mehr am wirtschaft-
ihrem Weg nach unten. Sie übernimmt Initiative »Die wahre SPD«, die vor lichen Erfolg der Unternehmen
jetzt auch deren Verhalten, den Hang allem deshalb gebildet wurde, um Juso- zu beteiligen, in denen sie arbeiten«.
zum Neurotischen. Chef Kevin Kühnert als Parteichef zu Zugegeben, was er danach
Das muss man der CDU lassen: Ner- verhindern. Es ist nur eine Frage der schreibt, klingt erst mal arg nach
vös oder aufgescheucht wirkte sie nie, Zeit, bis es mehr sozialdemokratische dem altbekannten Aktienheini:
all die Jahrzehnte war sie mit großer Initiativen als sozialdemokratische Der Gesetzgeber solle »eine Ver-
Gelassenheit unterwegs, der Buddha Wähler gibt. Die Arbeitsgruppe »Sozial-
unter den Volksparteien. Plötzlich aber demokraten in der SPD« wurde bis
präsentieren sich die Konservativen Redaktionsschluss indes noch nicht ins
wie ein Haufen hysterische Hühner. Leben gerufen.
So findet etwa die beliebte sozial- Die Union ist auch in dieser Hinsicht
demokratische Praxis, Vorsitzende bin- um Angleichung bemüht. In jüngerer
nen eines Jahres selbst zu erledigen, in Vergangenheit wurden unter ihrem
der CDU Anhänger, insbesondere im Dach mehr Untereinheiten entwickelt
Kreise der Möchtegernkanzler, innerpar- als Ideen zur Rettung des Klimas.
teilich auch als Laschet-Flügel bekannt. Es gibt jetzt die »WerteUnion«, die
Zudem entdecken immer mehr Christ- »Union der Mitte« und »Die Basis«.
demokraten den Reiz der Basisdemokra- Will die CDU ihre Rolle als Kanzler- pflichtung zur privaten, kapital-
tie und wollen den Kanzlerkandidaten wahlverein behalten, sollte sie den marktorientierten Vorsorge für das
per Mitgliederentscheid ermitteln. Geht neumodischen Trend zur Individuali- Alter ernsthaft prüfen«, und zwar
das so weiter, finden Vorstandssitzungen sierung und Fragmentierung schleu- »in welcher Form auch immer«.
bald im Sitzkreis auf dem Boden statt. nigst stoppen. Sonst kommt am Ende Doch halten wir kurz inne. So, wie
Schließlich sind da die immer neuen noch einer auf die Idee, eine christ- sich das anhört, kann Merz es nicht
Grüppchen, die nun auch von CDU- demokratische Volkspartei zu gründen. gemeint haben.
Denn das wäre doch ungeheuer-
lich: Der Staat zwingt seine Bürger,
privaten Unternehmen ihr Geld
auszuliefern und deren Verlust-
risiken zu tragen? Das wäre staat-
licher Raubritterkapitalismus.
Tatsächlich muss der gute Merz so
etwas nur sagen, weil er seinen Job
behalten will: Er arbeitet noch nicht
für das Land, sondern für Blackrock,
den größten Anbieter von index-
basierten Fonds. Große Teile der
zwangsangelegten Spargroschen wür-
den gewiss in dessen Anlageproduk-
ten landen. Merz macht Reklame für
seinen Arbeitgeber. Geschenkt.
Ist Merz aber endlich Kanzler,
dann wird sich zeigen, was sein omi-
nöser Nachsatz »in welcher Form
auch immer« wirklich bedeutet: Die
Bürger müssen zur Unternehmens-
beteiligung nämlich gar keine Aktien
kaufen. Enteignungen sind da viel
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Titel
S
ie hat die Blümchen vom Vor- Schlusswort bei den mächtigsten Wirt- Die Grünen müssen sich darauf vorbe-
abend gegen Streifen getauscht. schaftsbossen des Landes. reiten, nach der nächsten Bundestagswahl
Hier, auf der Bühne des Bundes- Aufgeladener kann eine Szene kaum sein, in Regierungsverantwortung zu gelangen.
verbands der Deutschen Industrie wenn man den Aufstieg der Grünen zu Und das kann ganz schnell gehen. Selbst
(BDI), trägt die Schlussrednerin Annalena Wählerlieblingen und ihr bereits Monate an- die Vorstellung, dass es einen grünen Re-
Baerbock ein dunkles Streifenkleid. Und haltendes Hoch nun sieht. Schon im vergan- gierungschef geben könnte, ist nicht mehr
kommt, wie es so ihre Art ist, zügig auf genen Herbst konnte sich knapp die Hälfte so utopisch, wie sie vor Kurzem noch
den Punkt. der Bürger vorstellen, grün zu wählen. klang. Die Operation Kanzleramt ist längst
Tja, sagt die Grünenchefin, vor nicht all- Deutschland und die Grünen, es ist eine im Gange, auch wenn das in der Partei nie-
zu langer Zeit habe sie noch über »Karp- regelrechte Amour fou im Augenblick, mand offen sagt.
fen und Forellen in Fischteichen« sinniert, eine Wahnsinnsliebe. Frage an die beiden Vorsitzenden: Fällt
aber jetzt: »So schnell kann’s gehen.« Für die Grünen geht es nun darum, wie es Ihnen manchmal schwer zu glauben,
Gelächter aus dem Publikum, Szenen- eine Partei, ausgelegt für 8 Prozent, bisher wie gut das alles gerade läuft für die Partei
applaus, wohlwollend, neugierig auch. kleinste Oppositionsfraktion im Bundes- und für Sie selbst?
Diese Art von Selbstironie kommt an bei tag, damit klarkommt, dass sie plötzlich »Ha!«, sagt Baerbock. Sie sitzt neben
denjenigen, die sich selbst noch nicht si- auf an die 30 Prozent katapultiert wird ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck in
cher sind, wie sie mit dieser aufstrebenden und zur stärksten politischen Kraft des der Bundesgeschäftsstelle, es ist Dienstag-
Partei umgehen sollen, mit diesem neuen Landes mutiert. Wie sie das regelt, mit den abend, draußen duften die Linden, im
Selbstbewusstsein, das Baerbock so schön vielen neuen Fans, die Mitglied werden Raum steht die Luft. Sie klatscht ihre
zu kaschieren weiß. wollen, mit dem fehlenden Personal, mit Handflächen auf die Tischplatte, schaut zu
So schnell also kann’s gehen: Eine grüne den viel zu kleinen Räumen in der Partei- Habeck, der, wie oft, seinen leicht amü-
Vorsitzende, mit 38 Jahren in etwa so alt zentrale, in den Geschäftsstellen, den Orts- sierten Flunsch zieht. »Man kann jeden-
wie ihre Partei, schließt mit ihrer Rede die gruppen. Es ist wie bei einem Kind nach falls nicht sagen, dass es schlecht läuft.«
Veranstaltung eines Industrieverbands, die einem kräftigen Wachstumsschub: Alle Dass es großartig laufe für sie, will kei-
ein paar Stunden zuvor eröffnet wurde Kleider sind auf einmal viel zu eng. ner laut sagen. Demut heißt die Devise.
von: Angela Merkel. Es geht aber auch um die Inhalte, um Die Grünen sprechen jetzt lieber von »gro-
Umgeben vom Industrial Chic eines al- die vielen Fragen, auf die diese Partei nun ßen Chancen«. Sie sind vorsichtig, skep-
ten Fabrikgemäuers im Berliner Osten, sit- kluge Antworten haben muss. Im Klima tisch fast. Zu oft schon in ihrer Geschichte
zen hier auf engen Stuhlreihen Unterneh- ist sie firm, was aber ist mit Themen, die haben sie erlebt, dass Umfrageergebnisse
mer und Manager. Die Männer, deutlich bislang nicht als grüne Kernkompetenz gal- Luftschlössern gleichen können, die sich –
in der Überzahl, tragen Anzug und die ten? Die Außen- und Verteidigungspolitik hast du nicht gesehen – in Nichts auflösen.
Frauen weiße Blusen. Ein Blümchenkleid etwa, die sozialen Fragen, die innere Si- Nach Fukushima, Anfang 2011, zum
sieht man nicht. cherheit? Beispiel war das so und nachdem Winfried
Anders als beim Frühsommerempfang Kretschmann in Baden-Württemberg zum
der Fraktion, wo Baerbock am Abend zu- ersten grünen Ministerpräsidenten ge-
vor in einem solchen Kleid Hof hielt, ist Grün ist die Hoffnung? wählt worden war. Prompt glaubte man,
der Auftritt beim Tag der deutschen Indus- »Welche Partei hat die besten Antworten auf die darin eine Blaupause für die gesamte Bun-
trie kein Heimspiel für sie. Fragen der Zukunft?« desrepublik entdeckt zu haben. Auch der
Wie hat sie die Veranstaltung empfun- Bundestagswahlkampf 2013 begann recht
den? Baerbock zieht die Luft durch die Grüne 27% aussichtsreich, entwickelte sich dann aber
Zähne und sagt, sie finde es lustig, wie da- zur großen Enttäuschung. Am Ende lan-
rauf jetzt abgehoben werde. Dabei habe Union 12% dete die Partei bei 8,4 Prozent.
sie dort auch im vergangenen Jahr gespro- Die Grünen, die so gern gefallen, waren
chen. Vielleicht höre man jetzt genauer zu.
Linke 4% damals die Unsympathen, die mit erhobe-
Das kann man so sagen. Die Wahr- AfD 4% nem Zeigefinger Verbote aussprechen. Sie
nehmung hat sich verändert. Es wird in- hatten Fehler gemacht, die Angst, es könnte
zwischen, von ganz unterschiedlichen FDP 3% jetzt genauso kommen, ist wieder da.
Seiten, genau hingehört, wenn die Grünen Doch der Lauf, den die Partei seit Mo-
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Titel
Den unbedingten Willen zu regieren at- die Treffen institutionalisiert. Einen Som- Hotel im Berliner Bezirk Friedrichshain.
testiert man auch den Vorsitzenden. Sie mer lang hat Andreae herumtelefoniert Anschließend ging man feiern – auf den
haben geschafft, was noch keinem Füh- und eingeladen. Der Vorstandschef von Frühsommerempfang der Fraktion.
rungsduo vor ihnen so recht geglückt ist: BASF ist dabei und der vom Pharmakon- Da begrüßte dann die Altlinke Claudia
Flügelkämpfe zu unterbinden, aber auch zern Roche. Roth den BASF-Vorstandschef Martin Bru-
überflüssige Eifersüchtelei. »Raus aus der Andreaes Kriterium: Sind das Personen, dermüller, der sich ihr höflich als »der von
Nische«, rufen sie, oder: »Wir wollen re- mit denen wir arbeiten können? Die nicht der bösen Chemie« vorstellte – er sei ja
gieren.« Die Partei folgt ihnen begeistert nur betriebswirtschaftlich denken, an das verantwortlich für ein Prozent der deut-
und seltsam geeint. Sie profitierten, sagt eigene Unternehmen, sondern eben auch schen Treibhausgasemissionen. Auch
Habeck, von einem »unfassbaren Zusam- volkswirtschaftlich? Die Resonanz sei Christian Knell von HeidelbergCement,
menhalt« innerhalb der Grünen. überwältigend gewesen, sagt sie. Es gab einem Konzern, der sich wohl an umstrit-
Seit anderthalb Jahren allerdings agiert zwei Absagen, der Grund: Der Weg nach tenen Projekten im Westjordanland betei-
die Partei auch vorausschauend. Beleg da- Berlin sei zu weit. Die erste Tagung vor ligt, war dabei. Der Pragmatismus, er hat
für ist, dass sich das Themenspektrum einem Jahr eröffnete Kerstin Andreae mit recht widerstandslos Einzug gehalten in
nach und nach erweitert hat. Dass die Grü- der Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie der Partei.
nen gute Fachpolitiker sind, ist nicht neu. die Grünen wären? Wie sähe Ihre Wirt- Nach dem Vorbild des Wirtschaftsbei-
Dass sie im Umwelt- und Klimaschutz als schaftspolitik aus? Es gehe in diesem Gre- rats nahm Mitte Mai ein weiteres Gremium
kompetent gelten, ebenso wenig. Mittler- mium nicht vorrangig ums Klima, sondern die Arbeit auf, der sogenannte Gewerk-
weile aber haben sie sich auch Kompetenz um den Standort Deutschland, den Stand- schafts- und Sozialrat. Hier setzen sich
in Feldern erarbeitet, die man ihnen bis- ort Europa. Abgeordnete mit Betriebsräten, Gewerk-
lang nicht zugetraut hat. Die Wirtschafts- Deutschlands Manager stellen sich auf schaftern, Verbraucherschützern und Um-
und Sozialpolitik ist so ein Bereich. die neue Zeit ein – und die Grünen eben- weltverbänden zusammen. »Wenn wir die
Kerstin Andreae empfängt in ihrem falls (siehe auch Seite 18). Gesellschaft ökologisch und sozial umbau-
Büro im Jakob-Kaiser-Haus, die Abgeord- Das jüngste Treffen des Wirtschaftsbei- en wollen, brauchen wir strategische Part-
nete hat vor einem Jahr den sogenannten rats fand vor ein paar Tagen statt, in einem nerschaften«, sagt Anton Hofreiter, der
Wirtschaftsbeirat der Grünen ins Leben das Ganze als Fraktionschef initiiert hat.
gerufen. Dreimal jährlich treffen sich rund Gleiches Muster wie beim Austausch mit
60 Manager mit Abgeordneten, Partei- Sie haben geschafft, der Wirtschaft, man trifft sich freiwillig,
chefin Baerbock ist ebenfalls dabei. Bereits was noch keinem etwa dreimal im Jahr.
früher habe es »intensiven Austausch« mit Und ganz nebenbei graben die Grünen
der Wirtschaft gegeben, erzählt Andreae.
Führungsduo vor ihnen der SPD damit die wichtigste Kernwähler-
Aber das sei punktuell gewesen, nun seien so recht geglückt ist. schaft ab – die Gewerkschaftsmitglieder. Frü-
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Titel
im Bundestag und wühlte sich durch ein tei erst mal nichts ändert. Knappe neun liegt bei 49 Jahren, die neuen Mitglieder
System fragwürdiger Finanztransaktionen, Prozent bei der vorigen Bundestagswahl, haben das Durchschnittsalter gesenkt.
bei denen im großen Stil Aktien hin- und der grüne Einfluss auf die deutsche Politik Michael Kellner, der Bundesgeschäfts-
hergeschoben wurden – einzig mit dem ist nach wie vor überschaubar. Daran än- führer, wie der Generalsekretär bei den
Ziel, Steuern vom Fiskus erstattet zu be- dern weder eine bravourös gewonnene Grünen heißt, freut sich über den Zuwachs
kommen, die nie gezahlt worden waren. Europawahl etwas noch Umfragen, sie be- und sagt beinahe im gleichen Atemzug:
Der Schaden in Deutschland beträgt bis scheren keine neue Macht. »Die Decke ist überall zu kurz.«
zu 55 Milliarden Euro. Ein anderes Problem, das in die schöne Fünf Leute in der Pressestelle, fünf in
Zu Beginn wurde Schicks Wühlarbeit neue Welt der Grünen drängt, hängt an der Öffentlichkeitsarbeit. Das ist nicht viel
auch in den eigenen Reihen eher belächelt. der Parteistruktur selbst. Man muss dafür für eine Partei, die spätestens in zwei Jah-
Komplizierte Finanzgeschichten und Steu- nur einmal die Parteizentrale am Platz vor ren wieder mitregieren möchte.
erpolitik gehören bei den Grünen nicht ge- dem Neuen Tor anschauen. Ein gemüt- Als er 2013 das Amt übernahm, war die
rade zu den Lieblingssujets. Doch ausge- licher Altbau, sanierte fünf Etagen, kein Partei verschuldet, Kellner musste sparen
rechnet hier punkten sie seit geraumer Aufzug. und schaffte die drei Dienstwagen ab. Die
Zeit. Vor allem mit Vorschlägen zum Stop- Der Innenhof ist bewachsen mit wildem könnte er jetzt wieder einführen, Wahlsie-
fen von Steuerschlupflöchern sind grüne Wein, vor einer kleinen Terrasse plätschert ge und Neumitglieder bringen Geld in die
Finanzpolitiker findig, findiger jedenfalls ein Minispringbrunnen. Größer könnte Parteikasse. Kellner will aber lieber in die
als die Kollegen anderer Parteien. der Kontrast zu den stahlgläsernen Macht- Digitalisierung investieren.
In Sachen Außen- und Sicherheitspoli- bauten von CDU und SPD kaum sein. Die CDU hat sich vor Kurzem einen
tik hat die Partei ihre Feuertaufe bereits Innerhalb der vergangenen zwei Jahre ganzen »Newsroom« geschenkt, Kellner
hinter sich, sie dauerte sieben Jahre. Die ist die Partei um ein Drittel gewachsen, im hat einen einzigen Festangestellten, der
Zeit in der Regierung unter SPD-Kanzler Osten schneller als im Westen. Sie gleicht sich um Videos und die Apps für den Wahl-
Gerhard Schröder hat Spuren bei den Grü- damit einem Pubertierenden, dessen kampf und die Mitglieder kümmert. Bei
nen hinterlassen. Die Erfahrung ist da, zu- schmaler, bubenhafter Körper im Kontrast seinem Digitalreferenten ruft auch manch-
mal die mit Rückschlägen, Enttäuschungen zu unverhältnismäßig großen Füßen steht. mal jemand aus dem Kreisverband an, um
und Verwerfungen. Auch hier hat sich die Würden die Grünen, nur ein Gedanken- schnell sein Passwort für die App zurück-
Perspektive geweitet, auch hier geht man spiel, bei der nächsten Bundestagswahl tat- setzen zu lassen.
jetzt pragmatischer ran. sächlich bei 25 Prozent liegen, könnte es Wahrscheinlich wissen die kleinen Par-
Sollten die Grünen nach der nächsten sein, dass sie so viele Sitze im Bundestag teien, wem sie ihren oft unerwarteten Er-
Bundestagswahl wieder ins Auswärtige bekommen, wie die Partei jetzt nicht ein- folg zum großen Teil verdanken. Dem In-
Amt einziehen wie einst Joschka Fischer, mal hat, wenn man die Bundestagsfraktion ternet und seinen Möglichkeiten.
wird vieles von dem, was sie heute in der plus die Sitze in allen Länderparlamenten Ohne all die Plattformen dort wäre Em-
Opposition vertreten, schwer durchzuset- zusammenrechnet. manuel Macron 2017 wohl kaum Präsident
zen sein. »Die Verlässlichkeit Deutsch- 80 000 Mitglieder haben die Grünen Frankreichs geworden. Seine Bewegung
lands gebietet Kontinuität«, sagt Omid jetzt, bei SPD und CDU sind es fünfmal En Marche, eigens für die Kampagne ge-
Nouripour, außenpolitischer Sprecher der so viele. Der Altersdurchschnitt der Partei gründet, glich einem digital versierten
Grünenbundestagsfraktion, was zumin- Pfadfinderverein.
dest schon staatstragend klingt. Eines der drängendsten Probleme aber
Ginge es nach den Grünen, würde man ist der Personalmangel auf Länder- und
erheblich mehr Geld in die Krisenpräven- David gegen Goliath Kommunalebene, vor allem in der Verwal-
tion investieren. Änderungen dürfte es bei Parteivermögen 2017, in Mio. € tung. Mit der Europawahl fanden zehn
den Rüstungsexporten geben. Die Partei Kommunalwahlen statt. Mandate gibt es
will die geltenden Exportrichtlinien der voraussichtlich mehr als je zuvor; Grüne
Bundesregierung in ein Gesetz gießen. haben auf einmal ausgezeichnete Chancen,
Grüne CDU SPD
»Dann kann man auch klagen, wenn da- Oberbürgermeister zu werden oder Dezer-
gegen verstoßen wird«, sagt Nouripour. 41,6 157,6 202,5 nenten, allerdings haben nur wenige Par-
Die Grünen wollen das umstrittene Pro- teimitglieder das dafür nötige Know-how.
jekt Nord Stream 2, die Gaspipeline zwi- An die Möglichkeit, in naher Zukunft
schen Russland und Deutschland, stoppen vielleicht zahlreiche Posten in Bundes-
und die Tonlage gegenüber autoritären Parteispenden 2017, in Mio. € ministerien besetzen zu dürfen, will man
Staaten wie der Türkei oder Russland ver- noch gar nicht denken. Es fehlten Leute
schärfen. Grüne 5,9 mit Verwaltungserfahrung, heißt es in
»Wir wissen, wir wecken Hoffnungen«, CDU 35,2 der Partei.
sagte Habeck vor Kurzem, und es war Welche die drängendsten Baustellen für
nicht ganz auszumachen, was da mit- SPD 14,5 die Partei sind, variiert je nachdem, in wel-
schwang. Freude oder Ehrfurcht, Furcht chem Teil Deutschlands man sich befindet.
oder alles zusammen. Habeck weiß, dass In München oder in Berlin-Neukölln.
Parteimitglieder 2018; Veränderung gegenüber 2008*
aus Hoffnung schnell Erwartung wird, die Der Münchner Kreisverband, der frü-
erfüllt werden will und muss. Grüne CDU SPD her in Hinterzimmern von Gaststätten tag-
Es gibt bei den Grünen jetzt aber nicht 75 311 414 905 437 754 te, befindet sich plötzlich in der Bredouille.
nur die Angst vor dem Hype und das Pro- Mit mittlerweile knapp 2500 Mitgliedern
blem mit dem »Erwartungsmanagement«, müssen sie dort für ihre Versammlungen
wie es im Parteisprech heißt. An Eloquenz +67 % ganze Hallen anmieten. Und auch in Neu-
mangelt es den beiden Vorsitzenden nicht. –22 % –16 % kölln wird der Platz eng, das ist aber nicht
Sie werden ihren Wählern schon verständ- das einzige Problem.
lich machen, dass sich, bis zur nächsten Es sind an diesem Dienstagabend viele
Bundestagswahl, am Status der Kleinpar- *Stand: 31. Dezember gekommen, zu viele, der letzte Bürostuhl
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wird noch in den Besprechungsraum ge- Zahl der Mitglieder in den vergangenen wenn das Klima das alles überbordende
schoben, die Nachlese der Europawahl zweieinhalb Jahren in Neukölln von 400 Thema ist, sind die Grünen keine homo-
steht auf dem Programm. Mehr als 50 sind auf rund 670 gestiegen ist, fehlt es nun an gene Partei. Je konkreter sie in ihren in-
es diesmal beim Kreisverband, in früheren Räumen, an Personal, vor allem an Erfah- haltlichen Aussagen werden, je mehr sie
Zeiten wären vielleicht ein, zwei Dutzend rung, mit dieser Wucht an Begeisterung von der Gefühls- auf die Sachebene wech-
erschienen, doch die früheren Zeiten sind umzugehen. seln müssen, desto gefährlicher könnten
vorbei. Die neue Zeit, das sind junge Men- Für Philmon Ghirmai, den Vorstands- diese Unterschiede für sie werden.
schen, in Shorts, kaum einer über 30, mit sprecher des Neuköllner Kreisverbands, Wer die Bremer Grünen sprechen möch-
neugierigen Augen sitzen sie da, die meis- fängt die Herausforderung schon damit an, te, erfährt schon am Telefon, dass es hier
ten weiß, viele Studenten, sie achten brav dass die Partei irgendwann die Gesell- etwas unorthodoxer und skurriler zugeht
die Quotenregel, spricht ein Mann, muss schaft widerspiegeln sollte, die sie reprä- als in anderen grünen Fraktionen. »Bei de-
als Nächstes zwingend eine Frau sprechen, sentiert. Dann brauchte sie aber deutlich nen piept’s wohl, werden Sie denken«, sagt
sonst ist die Diskussion zu Ende, alles mehr Menschen mit Migrationshinter- eine sonore Männerstimme und ergänzt,
political correct, keiner stört sich an den grund als Mitglieder, dann müsste sie in »recht haben Sie.« Dann springt der An-
etwas zwanghaften Ritualen. der Lage sein, auch diejenigen anzuspre- rufbeantworter an. In Deutschlands kleins-
Die Organisatoren haben längst den chen, die kein Abitur haben. »Noch diver- tem Bundesland gehen die Grünen locker
Überblick verloren, wer neues Mitglied miteinander um. Viele kennen sich bereits
ist, es ist egal, »wir freuen uns sehr«, sagt seit der Schulzeit, rund 800 Mitglieder
die Versammlungsleiterin, »wir freuen uns Die neue Zeit, das sind zählen die Grünen in der Hansestadt, seit
über euch alle hier«. Dann werden noch junge Menschen in der Bürgerschaftswahl Ende Mai sind noch
mal die Ergebnisse der Europawahl an die ein paar Dutzend dazugekommen. Spit-
Wand projiziert, mit 27,4 Prozent waren Shorts, kaum einer über zenkandidatin Maike Schaefer, 48, lange
die Grünen in Neukölln stärkste Partei, im 30, neugierige Augen. blonde Haare, Nasenpiercing, gehörte frü-
Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg her zur Punkszene, war als Au-pair in Lon-
kamen sie sogar auf 40,3 Prozent, die don und hat in Bremen Biologie studiert,
CDU auf 5,7 Prozent. Es sind die kühnsten ser zu werden«, sagt der 35-Jährige, »ist bevor sie sich für die Politik entschied. Ge-
Träume, die am 26. Mai wahr geworden dringend und drängend.« rade verhandelt sie mit der SPD und der
sind, so kühn, dass man sie noch immer Die Berliner Grünen haben sich dafür Linken über das erste rot-grün-rote Bünd-
kaum wahrhaben will. schon vor einigen Jahren ein ehrgeiziges nis in Westdeutschland.
»Wir sollten uns dem Hype nicht hin- Ziel gesetzt: Bis 2021 soll der Anteil von Wenn die Grünen nun der abgehalfter-
geben«, warnt einer der Wahlkämpfer in Mitgliedern mit Migrationshintergrund in ten SPD helfen, in Bremen auch nach fast
der anschließenden Diskussion. Er erin- der Partei dem in der Berliner Bevöl- 73 Jahren und einem verheerenden Wahl-
nert daran, dass vor nicht allzu langer kerung entsprechen, dieser liegt bei gut ergebnis weiter an der Macht zu bleiben,
Zeit die Grünen als »Verbots- und Pädo- 30 Prozent. Die Grünen, ergänzt Malena dann entspricht das nicht gerade dem Zei-
philenpartei« gehandelt worden seien Weduwen, 22, im Vorstand der Grünen Ju- chen für Aufbruch und »andere Politik«,
und bei Wahlen auch schon mal bei fünf gend in Neukölln, seien als klares Pendant das man sich in der Berliner Parteispitze
Prozent gelegen hätten. Eine andere erin- zur AfD gewählt worden. Das Bekenntnis so lautstark wünscht. Sondern einer sehr
nert an die große Erwartung, die nun auf zur offenen Gesellschaft müssten sie des- alten Logik, und die lautet: Bremen tickt
ihnen laste: »Die Leute haben uns ge- halb auch in ihrer eigenen Partei leben. ziemlich links, egal wie progressiv die Par-
wählt, weil sie endlich etwas sehen Rahul Schwenk, 44, Unternehmer und erst teichefs drauf sind.
wollen«, sagt sie, beim Klima, bei den seit Kurzem Mitglied der Grünen, sagt, die Ganz anders tritt die Partei in Baden-
Mieten, dem vielleicht drängendsten The- Partei müsse ihre Angebote so anpassen, Württemberg auf, wo sie mit Winfried
ma im Kiez. dass sie für alle kulturellen und sozialen Kretschmann seit 2011 den ersten grünen
Wie es den Grünen in Neukölln ergeht, Gruppen attraktiv werde und nicht nur für Ministerpräsidenten stellt. Das Land könn-
ergeht es den Grünen in weiten Teilen der weiße Akademiker. te man als eine Art Zukunftslabor der Par-
Republik. Überwältigt vom eigenen Er- Was in Neukölln, einem Stadtteil mit tei bezeichnen.
folg, spüren sie zugleich die Grenzen, an hohem Migrantenanteil, drängend ist, Erfolgreich sei man, heißt es dort von
die dieser Erfolg nun stößt. Während die muss nicht woanders relevant sein. Auch der Partei, und setze im durch und durch
Im Aufwind 26
Abschneiden der Grünen bei Bundestagswahlen
Reaktorkatastrophe von Fukushima 23
Dem Unglück folgt 2011 ein Umfrage- 22
hoch der Grünen; bei der Landtagswahl 20
in Baden-Württemberg kommen sie auf
zum Vergleich: 24,2 Prozent.
Jahreshöchstwerte bei
der Sonntagsfrage* 14
13
12 12 12
10 10,7
9 8,6 8,9
8,3 8,1 8,4
7,3 6,7
5,6
4 3,8 *bis 1990 Allensbach,
Westdeutschland Bündnis 90/Grüne ab 1991 Forschungsgruppe
1,5 1,2 in Ostdeutschland Wahlen: Politbarometer
1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017
16
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
BDI
Grünen bisher vor allem durch hohe Frus-
trationstoleranz aus. Statt Ganztagsschu-
len auszubauen, weitet man lieber die
Polizeibefugnisse aus.
Als der 71-jährige Kretschmann im No-
vember 2018 nach einer mutmaßlichen
Gruppenvergewaltigung in Freiburg dafür
plädierte, »junge Männerhorden« unter
den Geflüchteten »in die Pampa« zu schi-
cken, erntete er harsche Kritik aus den ei-
genen Reihen. Die Revanche folgte einige
Monate später: Habecks Satz über eine
mögliche Enteignung großer Wohnungs-
baugesellschaften kanzelte Kretschmann
kurzerhand als »Unsinn« ab.
Man könnte es als interessantes Span-
nungsverhältnis sehen, das da zwischen
Titel
Gefährlicher Flirt
Wirtschaftspolitik Die Grünen erobern nicht nur die bürgerliche Mitte, sondern auch
die Wirtschaft. Deutschlands Unternehmer haben mit der
Ökopartei längst ihren Frieden gemacht. Angst haben sie jedoch vor Grün-Rot-Rot.
A
ndré Schwämmlein hat es nach
oben geschafft. Vor sechs Jahren
gründete er mit ein paar Freun-
den Flixbus. Heute ist aus dem
Start-up ein Konzern mit weltweit 1200
Mitarbeitern und 2000 Bussen geworden,
der größte europäische Anbieter von Fern-
busverkehr.
Die Farbe, in denen die Fahrzeuge la-
ckiert sind, hat Schwämmlein bewusst aus-
gewählt. »Grün ist eine Signalfarbe«, sagt
19
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Titel
industrie etwa gehören zu jenem Typus, mer höheren Abgaben in die Knie zu ausgerechnet der französische Atomkraft-
der seinen Frieden mit der Ökopartei zwingen? »Wir leben nicht auf einer Insel, werksbetreiber EdF war.
sucht. Sie haben die amtierende Bundes- sondern agieren global«, sagt die Mana- Matthias Berninger, unter Rot-Grün
regierung bereits abgeschrieben. »Die Gro- gerin. Diesem Realitätscheck müssten sich Staatssekretär im Landwirtschaftsministe-
ße Koalition ist am Ende. Die Themen, das die Grünen erst noch unterziehen. rium, wechselte zum US-Schokoriegel-
Personal und die Partnerschaft passen Dabei zeigt die Geschichte der Grünen, Produzenten Mars als Lobbyist. Heute lei-
nicht mehr zusammen«, sagt Gesamt- dass die Partei das durchaus kann. Ge- tet er die Public-Affairs-Abteilung von
metall-Präsident Rainer Dulger. schmeidige Arrangements mit dem Estab- Bayer, jenem Unternehmen, das vor einem
Sein Hauptgeschäftsführer Oliver Zan- lishment gab es zuhauf. In den Achtziger- Jahr Monsanto übernommen hat, den Her-
der sieht die Entwicklung pragmatisch. Er jahren hatten die Grünen noch die Idee, steller des krebsverdächtigen Unkrautver-
erinnert an die Zeit, als die erste rot-grüne aus den Ford-Werken in Köln eine Fahr- nichters Glyphosat.
Koalition zustande kam. »Die Grünen ha- radfabrik zu machen. Erst Joschka Fischer Auch Josef Fischer, bis 2005 Vizekanz-
ben 1998 selbst erlebt, wie schnell Forde- verpasste ihnen 1995 ein wirtschaftspoliti- ler und Außenminister, berät inzwischen
rungen aus Oppositionstagen im Regie- sches Programm. Der Ex-Sponti und -Ta- Konzerne in Strategiefragen. 2009 grün-
rungshandeln erfreulich rückstandsfrei xifahrer erkannte an, dass Geld zunächst dete der Selfmademann das Consulting-
abgebaut werden«, sagt er. erwirtschaftet werden müsse, ehe es ver- Unternehmen Joschka Fischer & Compa-
Der dritte Typus ist der jener Manager, teilt werden könne, sei es für soziale oder ny. Zu den Klienten zählen unter anderem
die mit den Grünen nach wie vor nichts ökologische Wohltaten. Siemens, der Stromkonzern RWE und der
anfangen können. Der Wolfsburger Logis- Automobilhersteller BMW.
tikunternehmer Rolf Schnellecke ist so ei- 2013 heuerte Michael Scharfschwerdt,
ner. Er sieht zwar grüne Realpolitiker wie Das Geschäftsinteresse Büroleiter des damaligen Grünenchefs
den baden-württembergischen Minister- harmoniert mit Cem Özdemir, bei JF&C als Kommunika-
präsidenten Winfried Kretschmann durch- tionsexperte an. Drei Jahre lang blieb er
aus positiv. Es gebe aber immer noch Ideo- dem grünen in Fischers vornehmer Büroetage in der
logen, die das Auto verteufelten oder so- Parteiprogramm. Markgrafenstraße in Berlin-Mitte. Dann
zialistischen Enteignungsideen anhingen. wechselte er auf die andere Seite des Gen-
»Wenn diese Kräfte sich durchsetzen, wäre darmenmarkts zur US-Unternehmens-
das eine echte Gefahr für den Wirtschafts- Während und nach dem Ende der rot- beratung AT Kearney als Direktor für
standort Deutschland, der seinen Erfolg grünen Koalition begann das aus der Re- Kommunikation- und Marketing.
der sozialen Marktwirtschaft verdankt«, gierung gepurzelte Politpersonal einen be- Scharfschwerdt ist ein typischer Vertre-
sagt Schnellecke. merkenswerter Marsch in die Konzerne. ter der bürgerlichen Seite der 20-Prozent-
Er habe nichts gegen Klimaschutz, der Berührungsängste zu Industrie und Big Partei – smart, urban, digital und polyglott.
sei elementar. »Aber die Welt ist nun mal Money? Kaum noch. Die damalige Partei- Einer, bei dem Profitinteresse und Klima-
keine Blumenwiese.« Die Wirtschaft müs- chefin, die sächsische Lehrerin Gunda schutz unter einen Hut passen. Scharf-
se sich im internationalen Wettbewerb be- Röstel, wechselte als Managerin zu Gel- schwerdt, Anfang vierzig, hält nichts von
haupten, nur dann könne man sich Um- senwasser, einer ehemaligen Tochter des Verzichtsideologie und Konzernbashing.
weltschutz auf hohem Niveau leisten. Energiekonzerns E.on, und landete schließ- Viele Unternehmen, sagt er, »sind schon
»Diesen Zusammenhang haben noch nicht lich auf dem Geschäftsführersessel der viel grüner als die Politik«.
alle Grünen ausreichend verstanden«, sagt Stadtentwässerung Dresden. In seiner Freizeit berät er Grünenchefin
der Transportunternehmer. Rezzo Schlauch, Staatssekretär unter Baerbock. Mit ihr ist der Unternehmens-
Doch es sind nicht nur konservative Rot-Grün im Bundeswirtschaftsministeri- berater seit Jahren befreundet. Bei AT
Manager, die Probleme mit grüner Wirt- um, wurde Berater von EnBW, dem ba- Kaerney kümmerte sich Scharfschwerdt
schaftspolitik haben. Die Textilfabrikantin den-württembergischen Energiekonzern, jüngst um eine Studie für die Lebensmit-
Ingeborg Neumann stellt nachhaltige dessen wichtigster Gesellschafter damals telindustrie, die im Labor gezüchtetem
Mode her. Als sie vergangene Wo-
che in Berlin Models neue Kleider
präsentieren ließ, war kein Grüner
dabei, sondern Nordrhein-West-
falens Ministerpräsident Armin
Laschet (CDU).
Die Mittelständlerin, die als
Schatzmeisterin und Vize zum Vor-
stand des Bundesverbands der Deut-
schen Industrie gehört, hat einen
klaren wirtschaftspolitischen Kom-
pass, wenn es um handfeste Themen
wie Strompreise, Bürokratieabbau
oder Unternehmensteuern geht.
»Ich kann nur davor warnen«, sagt
sie, »bei den Grünen die einfachen
Antworten auf Klimaschutz und
Nachhaltigkeit zu verorten.«
Was nütze es, gerade die mittel-
ständischen Industrieunternehmen,
die in Deutschland und weltweit
nach den besten Umwelt- und So-
ZDF
Ministerpräsident Kretschmann
Das Geld zunächst erwirtschaften Die Grünen wollen nicht nur,
dass Jugendliche unter 18 Jahren
umsonst die Bahn nutzen können.
Sie haben in ihrem Parteipro-
gramm auch festgeschrieben, dass
der in staatlichem Besitz befindli-
che Betrieb zerschlagen werden
soll. »Wir wollen für die Infrastruk-
tur eine Gesellschaft oder Anstalt
des Öffentlichen Rechts gründen«,
sagt Fraktionschef Anton Hofreiter.
Als private Aktiengesellschaft ver-
bleiben könne der Bereich Trans-
port, also der Betrieb von Regio-
nal-, Fern- und Güterzügen.
Bei der Bahn ist man alarmiert.
Vorsorglich verbreitet der im
MARIJAN MURAT / DPA
Deutschland
»Ich habe nicht immer alle gefragt, das war ganz gut so. Konnte keiner Nein sagen.« ‣ S. 48
HC PLAMBECK
SPD-Mitglieder beim Bundesparteitag in Wiesbaden 2018
Machtverteilung
Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) Kür der künftigen SPD-Spitze führen; am 24. Juni soll es der
fordert, ab sofort sämtliche Gliederungen der SPD von je einem Vorstand beschließen. Zwar sehnen sich viele Genossen danach,
Mann und einer Frau führen zu lassen. Das Prinzip müsse in die von der gescheiterten Partei- und Fraktionschefin Andrea
der Parteisatzung verankert werden und künftig »auf allen poli- Nahles forcierte Machtkonzentration aufzubrechen. Doppelspit-
tischen Ebenen« der Partei gelten, heißt es in einem ASF-Be- zen sehen jedoch viele skeptisch. Im Landesverband Nordrhein-
schluss. Die Doppelspitze solle »vom Ortsverein über die Kreis- Westfalen gilt die Idee als problematisch; auch der Hesse Schä-
verbände, Bezirksverbände und Landesverbände bis hin für fer-Gümbel warnte kürzlich, eine Doppelspitze dürfe kein Selbst-
die Bundestagsfraktion Regel sein«, sagt die Vorsitzende der ASF zweck sein. Die SPD-Frauen fordern zudem eine Urwahl für
Maria Noichl. Die Sozialdemokratinnen erhöhen damit den die Parteispitze allein durch SPD-Mitglieder, getrennte Geschlech-
Druck auf die Interimsvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel, terlisten sowie eine Bewerbungsfrist für Kandidatinnen und
Malu Dreyer und Manuela Schwesig. Das Trio will am Montag Kandidaten. Ein Vorziehen des für Anfang Dezember geplanten
mit dem Parteipräsidium Beratungen über das Verfahren zur Parteitags lehnt die ASF ab. VME
VW-Dieselskandal den Verkauf manipulierter Dieselfahrzeu- Brade, Projektleiter der Potsdamer Kanzlei
Hoffnung für Geschädigte ge verurteilt, ein Fahrzeug gegen Erstat- Goldenstein, die das Urteil für den Käufer
tung des Kaufpreises zurückzunehmen; eines gebrauchten VW Sharan 2.0 TDI er-
Das neue Urteil des Oberlandesgerichts der Kläger musste sich nur die genutzte stritten hat. »Das war frühestens im Februar
Koblenz im VW-Dieselskandal ermöglicht Laufleistung anrechnen lassen. Bei einem 2016 der Fall – damit sind Klagen noch
weit mehr Betroffenen als bisher, gegen solchen Anspruch beträgt die Verjährung bis Ende 2019 möglich.« Der Vorsitzende
VW auf Schadensersatz zu klagen. Denn drei Jahre und nicht nur höchstens zwei Richter im Koblenzer Verfahren hat offen-
damit greift eine andere Verjährungs- wie bei Gewährleistungsansprüchen gegen bar sogar angedeutet, dass die Verjährung
vorschrift: Ansprüche dürften sich danach Händler. Zudem habe die Verjährung erst zu laufen beginnt, wenn die staats-
noch bis mindestens Ende dieses Jahres unter diesem Aspekt »frühestens zu laufen anwaltschaftlichen Ermittlungen gegen die
einklagen lassen. Im Urteil wurde zum ers- begonnen, als VW die Käufer über den VW-Vorstände abgeschlossen sind. VW
ten Mal der VW-Konzern wegen »vorsätz- Mangel und das geplante Software-Update hat allerdings angekündigt, gegen das Ur-
licher sittenwidriger Schädigung« durch in Kenntnis gesetzt hat«, sagt Christian teil in Revision zu gehen. HIP
Bundesregierung
Millionen für Leerflüge
Die Flugbereitschaft des Verteidigungs-
ministeriums fliegt jedes Jahr für sieben
Millionen Euro leere Passagierjets von
Köln nach Berlin und zurück. Insgesamt
sind die Regierungsflieger 727 Stunden
ohne Passagier und Fracht in der Luft.
Das geht aus einer unveröffentlichten Ant-
Gesundheit Homosexuellen. Der Staat hat eine Legi- rechtfertigen; ein ausgebildeter Arzt könn-
timation, dagegen vorzugehen. te sogar zur Verantwortung gezogen wer-
»Eingriff in Grundrechte« SPIEGEL: Umpolungsversuche an Jugend- den, wenn er einen Erwachsenen behan-
Martin Burgi, 55, Jurapro- lichen zu verbieten leuchtet sofort ein. delt. Wenn das Angebot ausschließlich im
fessor an der Ludwig-Ma- Aber wenn ein Erwachsener sich einer sol- religiösen oder weltanschaulichen Kon-
ximilians-Universität in chen Behandlung freiwillig unterziehen text besteht, wird man eine Strafbarkeit
HEDDERGOTT
München, über ein Verbot möchte – würde ein Verbot ihn oder sie bei der Therapie an Erwachsenen dagegen
von »Konversionsthera- dann nicht kriminalisieren? nicht rechtfertigen können.
pien« für Homosexuelle Burgi: Das Verbot zielt nicht auf Behan- SPIEGEL: Freiwillig kann man doch vieles
delte oder Behandlungswillige, sondern tun, das einem gesundheitlich schadet.
SPIEGEL: Gesundheitsminister Jens Spahn auf Anbieter solcher Therapien. Wir müs- Müsste man nach der Logik nicht etwa
(CDU) will die sogenannten Konversions- sen dabei differenzieren: Wenn ein so- auch Schönheits-OPs verbieten?
therapien verbieten lassen. Sie haben dazu genannter Profi eine Konversionstherapie Burgi: Es gibt einen erheblichen Unter-
ein Gutachten verfasst. Steht das Vor- anbietet, also ein Arzt, Therapeut oder schied: Die Form einer Brust oder Nase ist
haben im Konflikt mit dem Grundgesetz? Heilpraktiker, kann man die Strafbarkeit kein eine Gruppe stigmatisierendes Merk-
Burgi: Jedes Verbot, das der Staat auf- mal. Dadurch dass ein
stellt, ist ein Eingriff in die Grundrechte Schönheitschirurg etwa eine
des Einzelnen. So ein Eingriff kann Nasenverkleinerung anbie-
nicht einfach politisch umgesetzt werden, tet, diskriminiert er nicht
er muss gerechtfertigt werden. alle Menschen mit großer
SPIEGEL: Lässt er sich rechtfertigen? Nase. In diesem Bereich
Burgi: Man muss gewichtige öffentliche hängt alles stark von persön-
Interessen ins Feld führen. Hier gibt lichen Einschätzungen ab;
es drei: Es geht um die Unversehrtheit Schönheitsideale weichen
derer, die behandelt werden. Solche voneinander ab. Würde –
Therapien können die Gesundheit erheb- theoretisch – jemand anbie-
lich beeinträchtigen. Zweitens wird ten, dunkelhäutige Men-
die sexuelle Selbstbestimmung der Be- schen etwa durch eine Be-
troffenen beeinträchtigt – denn diese strahlung in weiße Men-
soll ja manipuliert werden. Und drittens schen umzuwandeln, hätten
gibt es einen diskriminierenden Effekt, wir den gleichen Fall. Dann
OMER MESSINGER / DDP
der sich daraus ergibt, dass ein bestimm- würde nach Hautfarbe
tes, unabänderliches Persönlichkeits- diskriminiert. Das könnte
merkmal als therapiefähige Krankheit man genauso verbieten
qualifiziert wird. Das ist eine Patho- Christopher Street Day in Berlin 2018 wie jetzt das Angebot von
logisierung und Stigmatisierung von Konversionstherapien. ABE
23
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Flüchtlinge
Ziel Zypern
Immer mehr Flüchtlinge drängen ins
EU-Land Zypern. Das geht aus einem
vertraulichen Bericht des Migrationsana-
lysezentrums GASIM hervor, zu dem
auch Bundespolizei und Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge gehören.
Demnach seien bis Mitte Mai mehr als
2750 Migranten gezählt worden,
die unerlaubt aus dem von der Türkei
besetzten Norden der Insel in die
Republik Zypern kamen, deutlich mehr
als zuvor. Hauptherkunftsland sei Sy-
rien, seit 2017 habe aber auch die Zahl
der Migranten aus Pakistan und Bang-
ladesch deutlich zugenommen. Die Ein-
(BND). Die Verbindung lief über den nen Bekannten zählte der SS-Mörder und
hohen syrischen Beamten Mamdouh Mi- BND-Informant Walther Rauff, Erfinder
dani, der Anfang der Sechzigerjahre des Gaswagens, sowie SS-Sturmbannfüh-
mehrfach München besuchte, als Goppel rer Alois Schintlholzer, der dem Holo-
Landesinnenminister war. Nach einem caust-Organisator Adolf Eichmann 1950
Herzinfarkt bat Midani Goppel um Hilfe bei der Flucht nach Argentinien geholfen
bei einem Problem mit seiner Aufenthalts- hatte. Goppel war selbst SA- und NSDAP-
erlaubnis. Derselbe Midani beschäftigte Mitglied gewesen. Unklar ist, ob der
allerdings in Damaskus den flüchtigen SS- CSU-Mann um die braunen Verbindun-
Hauptsturmführer Alois Brunner, verant- Goppel 1973 gen Midanis wusste. KLW
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DRID, Hamburg
CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer
26
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Deutschland
Auf Abruf
Parteien Die Spekulationen um die Kanzlerkandidatur offenbaren ein Machtvakuum in der CDU.
Die Vorsitzende Kramp-Karrenbauer wirkt ratlos. Eine neue Klimapolitik soll sie retten.
A
nnegret Kramp-Karrenbauer Spitze. Wo so etwas enden kann, musste lerdings wie eine normale Partei. Das ging
steht am Rednerpult in der DZ die SPD in den vergangenen 15 Jahren bit- Merkel so, als sie im Jahr 2000 Parteiche-
Bank am Pariser Platz und ter erfahren. Zahlreiche Wechsel an der fin wurde. Die eigenen Parteifreunde kri-
spricht über das transatlantische Parteispitze und ständig neue Kanzlerkan- tisierten sie unentwegt. Die volle Autorität
Verhältnis. Sie spricht leise, stellenweise didaten haben zu immer schlechteren hatte sie erst, als sie sich im Kanzleramt
stockend, manchmal ist sie kaum zu ver- Wahlergebnissen geführt. Der CDU droht etabliert hatte.
stehen. Sie hält sich, so wirkt es, streng an die gleiche Erfahrung. Solche Phasen gab es immer wieder. Die
ihr Manuskript. Wie prekär die Situation für Kramp- CDU war dann allerdings in der Opposi-
Wenig erinnert an diesem Mittwoch in Karrenbauer ist, machte in dieser Woche tion. Kramp-Karrenbauer muss als Partei-
Berlin an die Frau, die auf dem Parteitag ausgerechnet die Äußerung eines Unter- chefin um ihre Position kämpfen, obwohl
vor einem halben Jahr frei und mit kräfti- stützers deutlich. Kramp-Karrenbauer die CDU regiert. Das macht ihre Lage ein-
ger Stimme jene Rede hielt, mit der sie die habe mit der Neuaufstellung der Partei zigartig und schwierig.
CDU von sich überzeugte. Kramp-Karren- viel zu tun, sagte Fraktionschef Brinkhaus. Die neue Chefin wollte die Partei inhalt-
bauers Stimme ist inzwischen um ein paar lich eigenständiger positionieren, auch
Halbtöne nach oben gerutscht, das gibt ihr gegen die Kanzlerin. Doch Merkels Popu-
etwas mädchenhaft Schüchternes, sie larität wächst. Es würde Kramp-Karren-
klingt unsicher und wacklig. Es ist offenbar, bauers Position weiter schwächen, wenn
dass sie die Sorge umtreibt, einen Fehler sie gegen Merkel arbeitete.
zu machen. Noch einen. Wie aber soll sie dann Profil gewinnen?
Nach ihrer Rede vor der Atlantik-Brü- Eine letzte Hoffnung ist die Klimapolitik,
cke setzt sich Kramp-Karrenbauer in einen die seit der Europawahl als zentrales The-
Sessel am Ende des Podiums, sie soll noch ma gilt. Kramp-Karrenbauer hat früh da-
ein paar Fragen beantworten. Moderator rauf hingewiesen, dass die Partei in diesem
Tom Buhrow ist erstaunt: Eigentlich hatte Bereich keine Konzepte hat. Das soll im
er den Platz in der Mitte für die CDU-Che- Schnellverfahren nachgeholt werden. Da-
fin vorgesehen, »aber bescheiden, wie Sie mit, so die Hoffnung, werde sich auch der
sind, haben Sie sich an den Rand gesetzt«, liberale Flügel wieder mit der Vorsitzen-
sagt er. Bescheiden, sich an den Rand drü- den versöhnen.
MICHAEL KAPPELER / DPA
cken, das sind nicht gerade die Qualitäten Die Chancen, dass dies gelingt, stehen
einer künftigen Kanzlerkandidatin. nicht gut. Das liegt an der Zerrissenheit
Das ist mehr als eine Momentaufnahme. der Partei in dieser Frage. Es liegt aber
Bei einem Dinner für Stipendiaten des auch an Fehlern Kramp-Karrenbauers.
deutsch-amerikanischen Burns-Programms Selbst in der CDU wissen viele nicht,
am selben Abend hält Kramp-Karrenbau- wer sich gerade mit dem Thema Klima
er nahezu dieselbe Rede noch einmal. Sie Unionsfraktionsvorsitzender Brinkhaus beschäftigt. Es gibt eine informelle Arbeits-
habe fahrig gewirkt, berichten mehrere Nichts ist selbstverständlich gruppe von Experten, die der Partei-
Teilnehmer. Aus einer souveränen, selbst- vorsitzenden zuarbeitet, wie der frühere
bewussten Politikerin, die keine Nerven »Und sie wird auch unsere nächste Kanz- Bundesumweltminister Klaus Töpfer der
zeigte, als es um die Macht in der Union lerkandidatin sein.« Dass die Parteichefin »Zeit« verriet. Es gibt ein Papier zu Mobi-
ging, ist binnen weniger Monate eine ver- der CDU Kanzlerkandidatin wird, ist lität und Klima, das der stellvertretende
unsicherte Vorsitzende geworden. eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Der Parteichef Thomas Strobl und der nie-
Dass die CDU nach einem halben Jahr Wirbel, den Brinkhaus’ Äußerungen ver- dersächsische Wirtschaftsminister Bernd
Kramp-Karrenbauer in eine ernste Krise ursacht haben, zeigt, dass dies gegenwär- Althusmann erarbeitet haben.
gerutscht ist, bestreiten nicht einmal An- tig nicht gilt. Seit dem vergangenen Montag gibt es
hänger der Vorsitzenden. Kanzlerin An- Die CDU ist in den längsten Phasen ih- zudem den Beschluss des CDU-Bundes-
gela Merkel befindet sich in der letzten rer Geschichte eine disziplinierte Partei vorstands, eine Kommission unter Vorsitz
Phase ihrer Regierungszeit, den Parteivor- gewesen, die anders als die Sozialdemo- des stellvertretenden Unionsfraktionschefs
sitz hat sie bereits abgegeben. Der Frak- kraten nicht mit dem Regieren gefremdelt Andreas Jung und seines CSU-Kollegen
tionsvorsitzende Ralph Brinkhaus ist damit hat. Die Christdemokraten sind ihrem je- Georg Nüßlein einzurichten, die bis zum
beschäftigt, die eigene Macht zu sichern. weiligen Parteichef und Kanzler – oder zu- September ein klimafreundliches Steuer-
Auf Führung warten die Abgeordneten bis- letzt der Kanzlerin – gefolgt, wenn auch und Abgabensystem vorlegen soll.
lang vergebens. Die Parteivorsitzende ist oft murrend. Das hat zu langen Regie- Es ist fraglich, ob Kramp-Karrenbauer
zu schwach, diese Lücke zu füllen. rungszeiten und stabilen Verhältnissen an mit diesem Kompetenzwirrwarr in der Kli-
Die CDU steuert damit in eine Situation, der Parteispitze geführt. mapolitik in die Offensive kommen kann.
die zu den gefährlichsten im politischen In Zeiten, in denen die Führung wenig Vor einigen Wochen hatte sie im Bundes-
Geschäft gehört: ein Machtvakuum an der Autorität hat, benimmt die CDU sich al- vorstand verfügt, dass die umstrittene
CO -Steuer nicht im Papier von Strobl und liebtheitswerte sinken und die den Beweis
²
Althusmann auftauchen soll. Sie selbst will noch schuldig ist, dass sie in der Bundes-
das nicht als inhaltliche Festlegung ge- politik reüssieren kann? Für Kramp-Kar-
meint haben. Die Gegner der Steuer in der renbauer spricht derzeit vor allem, dass
CDU hatten sie aber so verstanden. es in der Partei keinen eindeutigen Favo-
Der Co-Vorsitzende Georg Nüßlein riten gibt, der ihr die Spitzenkandidatur
macht klar, dass es mit ihm keine CO - streitig machen könnte.
²
Steuer geben werde: »Bei jährlich mehr Der nordrhein-westfälische Ministerprä-
als 50 Milliarden Euro Einnahmen allein sident Armin Laschet hätte derzeit wohl
aus dem Straßenverkehr ist die Behaup- die besten Chancen. Er hat vor allem, was
tung doch absurd, dass hier zu wenig Be- Kramp-Karrenbauer derzeit fehlt: ein Re-
preisung stattfindet«, sagt Nüßlein. »Wir gierungsamt. Er zählt wie die Parteichefin
brauchen nicht mehr Steuern, sondern ge- zum liberalen Lager, pflegt aber auch ein
28
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Deutschland
Der Mann
Doch nun, nach der Wahl, stockt der ben nur auf einen Posten Anspruch – den
Karriereplan. Zwar verhandeln Christ- und des Kommissionspräsidenten.«
Sozialdemokraten sowie Liberale und Grü- Dass auch er eine Verantwortung für
im Schatten
ne im Europaparlament über eine Art das schwache Abschneiden seiner Partei
Regierungsprogramm für die nächste Kom- hat, darüber verliert Daul kein Wort. Trotz
mission, wer den höchsten Posten über- monatelanger Planung des Projekts Weber
nehmen soll, bleibt jedoch vorerst offen. war die verstaubte EVP-Zentrale für einen
EU Der EVP-Parteichef Bei den europäischen Staats- und Re- europaweiten Wahlkampf kein bisschen
gierungschefs ist der Widerstand gegen vorbereitet, als Webers Leute einzogen.
förderte Manfred Webers Aufstieg Weber groß. Neben Macron wollen auch Die heuerten als Erstes junge Profis für ein
zum Spitzenkandidaten. die Regierungschefs aus Belgien, den Nie- Social-Media-Team an.
Doch nun wird Joseph Daul zur derlanden, Portugal und Spanien das Auch die Frage, ob die Partei von Un-
Machtmonopol der EVP im Kommissions- garns Premier Viktor Orbán weiter Mit-
Belastung für den CSU-Mann. hauptquartier brechen. Auch Angela Mer- glied der EVP sein könne, vermochte Daul
kel sind die Hände gebunden, denn die bis heute nicht abschließend zu klären.
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Deutschland
SPIEGEL: Herr Gauck, vermissen Sie es, gisch gesprochen – »gesättigt«. Als 2012 Gauck: In einer Demokratie haben die Ak-
Bundespräsident zu sein? die zweite Anfrage kam, konnte ich nicht teure oft übergroße Vorstellungen von
Gauck: Nein. Es war mir schon länger klar, sagen: April, April, ich wollte nur mal ge- dem, was möglich ist. Ein Bundespräsident
dass ich nur eine Amtszeit machen wür- nannt werden, aber die Herausforderung kann nicht operativ politisch tätig werden.
de. Als die Verhältnisse etwas unsicherer gar nicht annehmen. Gut ist es, wenn von ihm eher grundlegen-
und stabilisierende Elemente gesucht wur- SPIEGEL: Und was genau war Ihr politi- de Anregungen und Impulse kommen. Für
den, habe ich zwar noch mal überlegt. sches Motiv? mich beispielsweise war und ist der Men-
Aber die Zustände waren nicht so besorg- Gauck: Mir fehlte vor allem bei den von talitätswandel der Deutschen ein wichtiges
niserregend, dass ich mein Vorhaben ge- 68 geprägten Deutschen dieses Gefühl, in Thema. Ich bin im Krieg geboren, und als
kippt hätte. einem guten Zuhause zu leben, das kost- junger Mensch stand ich im tiefsten Wi-
SPIEGEL: Sie sprechen von den Folgen bare Güter besitzt: den Rechtsstaat, die derspruch zur Elterngeneration. Ich hasste
der Migrationskrise 2015/16, vom Aufstieg Rechtstreue der Bevölkerung, die demo- dieses Land, weil ich die Tiefe des Abgrun-
der AfD. kratischen Institutionen, die wirtschaft- des nicht verstehen konnte, und es ist mir
Gauck: Es gab zwar viel Zuspruch für eine liche Stärke, das soziale Netz. Mir fehlte bis heute ein Rätsel, wie ein so kultiviertes
zweite Kandidatur. Aber ich wollte meine das Bewusstsein davon, dass wir in Zustän- Land da hineingeraten kann. Deswegen
Gesundheit oder meine psychische Leis- den lebten, die besser waren als jemals zu- habe ich mich lange Jahre meines Lebens
tungsfähigkeit nicht hochrechnen. Ich mer- vor in der Geschichte, positiv gewachsen mit der Aufarbeitung beschäftigt. Wir ha-
ke doch jetzt mit Ende siebzig, dass die aus einer Katastrophe. Mir ging es darum, ben übrigens auch, wohl aus gutem Willen,
Kräfte nachlassen. den Menschen zu sagen: Ihr habt Grund, den pädagogischen Fehler gemacht, in der
SPIEGEL: Sie sind jetzt seit zwei Jahren euch zu vertrauen, glaubt das, was ihr sel- Zeit nach 68 die junge Generation noch
nicht mehr im Amt, die Zeiten haben sich ber geschaffen habt, und bei allem Respekt mit in Haftung zu nehmen für das, was un-
nicht beruhigt. vor der großen Last, die durch die Vergan- sere Elterngenerationen getan haben.
Gauck: Mein Nachfolger Frank-Walter genheit auf uns liegt: Schätzt auch eure SPIEGEL: Welchen Fehler meinen Sie ge-
Steinmeier musste zu Beginn seiner Amts- Potenziale für die Gegenwart und Zukunft nau?
zeit beim Zustandekommen einer Regie- nicht gering. Gauck: Eine unschuldige Generation mit
rung helfen. Er kann mit den Sozialdemo- SPIEGEL: 2014 auf der Münchner Sicher- Schuld zu infizieren. Aus der guten Ab-
kraten doch ganz anders reden als ich. Ich heitskonferenz haben Sie eine Rede gehal- sicht: nie wieder!
bin parteilos, er kennt die Leute, ihre Hal- ten, in der Sie forderten, dass Deutschland SPIEGEL: Warum ist das ein Fehler?
tungen, er konnte ihnen mit Rat und Er- sich außenpolitisch stärker engagieren soll- Gauck: Weil es neurotisch ist. Die Jungen
fahrung zur Seite stehen. Ich habe nicht te – auch mit militärischen Mitteln. Das müssen wissen, was geschah, und aus die-
das Gefühl, dass ich fehle. kam nicht überall gut an. sem Wissen erwächst Verantwortung für
SPIEGEL: Vermissen Sie die Öffentlichkeit? Gauck: Ich hatte ja vor, den Deutschen das politische Handeln, aber du sollst ih-
Gauck: Eher weniger. Aber wenn ich den zu sagen: Das ist ein wunderbares Land, nen nicht das Gefühl der Scham oder der
Wunsch habe, Themen, die mir wichtig übernehmt mehr Verantwortung – aber Schuld implementieren, weil Schuld indi-
sind, mit der Öffentlichkeit zu besprechen, erst gegen Ende meiner Amtszeit. Aber viduell ist. Die Nachgeborenen aber haben
so ist das möglich. dann kam diese Debatte über den schla- keine Schuld. Sie sind junge Deutsche, an-
SPIEGEL: Warum sind Sie eigentlich Bun- fenden Riesen Deutschland, die auch im dere Deutsche.
despräsident geworden? SPIEGEL angerissen wurde (Titelgeschichte SPIEGEL: Sie meinen, Deutschland ist mit
Gauck: Ich hatte schon 2010 auf Vorschlag 13/2013 –Red.). Deswegen hielt ich es für der Aufarbeitung seiner Geschichte zu
von Rot-Grün kandidiert, und auch wenn nötig, Deutschland früher an seine Mög- weit gegangen?
es damals nicht reichte, war der Zuspruch lichkeiten und an seine Verantwortung zu Gauck: Insgesamt war der Prozess rich-
erstaunlich hoch. Das hat mich geehrt, ich erinnern. tig und wichtig. Und hat geholfen, dass
reiste danach viel als sogenannter Demo- SPIEGEL: Wie viel konnten Sie erreichen Deutschland gegenüber dem Ausland und
kratielehrer durchs Land. Eigentlich war von dem, was Sie wollten? Was kann ein gegenüber sich selbst glaubwürdig wurde.
ich politisch ausgelastet und – psycholo- Bundespräsident überhaupt erreichen? Allerdings hat eine teilweise Fokussierung
auf die eigene Schuld viele Deut- die ihnen momentan vielleicht nicht
sche dazu geführt, sich selbst grund- vor Augen stehen.
sätzlich zu misstrauen. Karl Jaspers SPIEGEL: Sind manche Ängste ty-
hat von einer Durchhellung gespro- pisch deutsch?
chen, ein Therapeut würde von ei- Gauck: Es gibt eine Zurückhaltung,
nem Durcharbeiten von Trauma die eigene Verteidigungsbereitschaft
und Schuld sprechen. Wenn wir die- zu signalisieren. Eine Zurückhal-
se Begrifflichkeit ins Politische über- tung, bereit zu sein, diese Demo-
tragen, dann hat die intensive Be- kratie zu schützen und zu verteidi-
schäftigung dazu geführt, dass wir gen, in der ich lebe und die ich für
wirklich von etwas Abschied genom- lebenswert halte. Menschen haben
men haben, das jahrzehntelang zum für diese Werte gekämpft, Milliar-
deutschen Wesen gehörte. Dieser den Menschen sehnen sich danach.
Größenwahn, dieses Gefühl, wir sei- Ich sehe aber gleichzeitig auch eine
en etwas ganz herausragend Bedeu- Politik, die sich als tröstliches An-
tendes. Andererseits haben wir das gebot für verunsicherte Bevölke-
so intensiv gemacht, dass zu viele rungsschichten anbiedert: Der neue
Deutsche basale Fähigkeiten des Nationalismus setzt die eigene Na-
Selbstvertrauens eingebüßt haben. tion an die erste Stelle und schürt
SPIEGEL: Sie haben jetzt ein Buch Fremdenhass, Antisemitismus, Is-
geschrieben. Warum? Ist das eine lamfeindlichkeit. Es empört mich,
Art Fortsetzung Ihres politischen wenn Leute jetzt so tun, als könnte
Amtes? man sich unkritisch in eine deutsche
Gauck: Ich habe ein Buch über Toleranz nahme erfährt. Das sind ungesunde Ent- Tradition stellen, die Verbrechen began-
geschrieben, weil sehr viele Menschen an wicklungen. gen hat. Es befremdet mich, wenn Politiker
ihre Toleranzgrenze gekommen sind. Zu SPIEGEL: Sie schreiben, dass das Opfer- Unterstützung gewinnen, weil sie ohne
viel wandelt sich in zu kurzer Zeit, tech- dasein nicht Freiheit produziere, sondern jede Abstriche die eigene Nation »first«
nologisch, gesellschaftlich, kulturell. Das den Wunsch nach Fürsorge. setzen und die ethnische, kulturelle und
spürt man beim Blick ins eigene Land, Gauck: Ein banales Beispiel nur: Ein Groß- sexuelle Pluralität ablehnen, die Deutsch-
aber auch in andere Länder. In die USA vater geht mit seinen Enkeln, Vorschul- land und andere europäische Staaten in
zum Beispiel. Oder nach Polen, wo große jungs, in den Garten, wo sie gerne auf ei- Zeiten der Globalisierung unwiderruflich
Koalitionen derzeit nicht denkbar sind, nen Baum klettern. Aber es ist besser, gewonnen haben.
weil die gesellschaftlichen Blöcke einander wenn die Mama nicht dabei ist. Die Liebe SPIEGEL: Sie sprechen von den Gründen
feindlich gegenüberstehen. Es sind Zeiten der Mutter sieht so viele Möglichkeiten für den Aufstieg der Rechten. Welche Rol-
des forcierten Wandels. Doch Menschen abzustürzen, dass sie den Baum am liebs- le spielen ökonomische Gründe?
fürchten sich in der Regel vor Wandel. Wir ten vor den Kindern verbergen würde. Gauck: »It’s not the economy, stupid.« Je-
leben in einer Phase, vergleichbar mit dem Ängste sind hilfreich, sie schützen uns vor denfalls nicht nur. Es ist ganz wesentlich
Beginn des Maschinenzeitalters, als die Gefahren. Aber wer im anderen oder in auch die Kultur. Schauen Sie sich Skandi-
Romantik entstand als Sehnsucht der Men- sich selbst vor allem das mögliche Opfer navien oder auch die Niederlande an. Das
schen, die unter dem Fortschritt litten und sieht, blockiert sich oder anderen den Zu- sind die höchstentwickelten Demokratien
nur Entfremdung sahen. Und im Vergleich gang zum Leben. der Welt mit den besten Lebensverhältnis-
zum Zeitalter der Informationstechnolo- SPIEGEL: Ohne Risiko keine Entwicklung. sen, und trotzdem gibt es dort einen rele-
gien war das Maschinenzeitalter eher ein Gauck: Eine erwachsene Gesellschaft muss vanten Teil der Bevölkerung, der ein Un-
milder Wandel. Die neuen Informations- die Risiken abwägen. Eine ängstliche Be- behagen an der Leitkultur der politischen
technologien, freudig begrüßt von fort- völkerung ist Verfügungsmasse für poli- Moderne hat. Das kann nicht nur soziale
schrittlichen Menschen, die sich die De- tische Manipulatoren, und auch wenn ich Gründe haben. Das Gefühl, dass Wandel
mokratisierung des Diskurses erhofften, gerne einräume, dass sogar die Guten eine Gefahr ist, weil er uns von uns selber
sind jetzt auch eine Angstmaschine. Hinzu manchmal manipulativ sind, ist es so, dass entfremdet, ist eine anthropologische Kon-
kommen Ängste vor der Globalisierung überall in Europa Kräfte reüssieren, die stante wie die Furcht vor dem Fremden.
und einer Entgrenzung im Prozess der eu- aus Entheimatungsängsten und Zukunfts- Die demokratische Moderne kann mit sol-
ropäischen Vereinigung. Und Menschen, ängsten Machtpolitik machen. chen Ängsten umgehen, weil sie die Leute
die sich ängstigen, sind immer gefährdet, SPIEGEL: Die Floskel der Politik heißt: auffordert, das öffentlich zu benennen.
weil es immer Politiker gibt, die mit diesen Man muss die Ängste und Sorgen der Men- Im öffentlichen Diskurs kann man dann
Ängsten arbeiten. schen ernst nehmen. Ängste relativieren. Funktioniert das nicht,
SPIEGEL: Ängste lassen auch vermeintlich Gauck: Ernst nehmen heißt nicht, den potenzieren sich die Angstwellen und su-
Gute Böses tun. Ängsten zu folgen. chen sich irrationale Wege. Natürlich gibt
Gauck: Ängste sind menschlich, aber wir SPIEGEL: Und stattdessen? es Länder, die sozial unterversorgt sind,
müssen ihnen nicht folgen: Wir haben Gauck: Die Menschen daran zu erinnern, und die Menschen haben das Gefühl, dass
die Fähigkeit zur Ermächtigung und zum dass sie Gestaltungsmöglichkeiten haben, die Demokratie das nicht richtet. In den
Mut. Aber die geht manchen Menschen Teilen Europas, in denen soziale und kul-
ab, weil sie sich im Status des Opfers ein- turelle Unsicherheit herrschen, ist Libera-
gerichtet haben. Es gibt selbstverständlich
Opfer, die unserer Solidarität und Zuwen-
»Die DDR lismus kein gutes Wort.
SPIEGEL: Warum genau?
dung bedürfen. Aber teilweise gibt es auch ist mental teilweise Gauck: In Russland und anderen Teilen
einen Wettbewerb darin, Opfer zu sein,
weil man als Opfer von Verantwortung
ähnlich geprägt Osteuropas hat sich das Versprechen von
Demokratie als Beginn eines Raubritter-
entlastet ist und sogar noch Rücksicht- wie Osteuropa.« tums dargestellt. Für die, die keine Raub-
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Deutschland
ritter sind, ist das oft schmerzhaft. In Ost- »Ich frage mich, ob mokratischer wurde, sind sie heimatlos
europa und in Russland gibt es eine andere geworden.
politische Kultur. es politisch nützlich ist, SPIEGEL: Sie meinen, die CDU muss zu-
SPIEGEL: Gilt das auch für die ehemali- rück nach rechts rücken?
ge DDR?
jeden Kandidaten Gauck: Die CDU muss für diesen Typus
Gauck: Die DDR ist mental teilweise ähn- der AfD abzulehnen.« des Konservativen wieder Heimat werden.
lich geprägt wie Osteuropa. Das sage ich, Deswegen werbe ich im Buch auch für eine
auch wenn sich jetzt viele im Osten nega- erweiterte Toleranz in Richtung rechts.
tiv bewertet fühlen. Da waren Eigensinn deutschen in zwei Fraktionen trennen: in Wir müssen zwischen rechts – im Sinne
und Eigenständigkeit ganz schlecht und jene, die von Herzen die Demokratie be- von konservativ – und rechtsextremistisch
Gehorsam und Anpassung gut. Es gab Mi- jahen, und jene, die sagen: Das Neue ist oder rechtsradikal unterscheiden.
lieus, die sich davon freimachten, aber die nicht das, wonach wir uns gesehnt haben. SPIEGEL: Toleranz, schreiben Sie in Ihrem
großen Mehrheiten wurden zum Funktio- SPIEGEL: Von diesen Protestwählern sind Buch, sei auch eine Zumutung.
nieren erzogen. Sie sehnten sich nach Ver- viele zur AfD abgewandert. Gauck: Ja, denn sie fordert viele – und auch
änderungen und Verbesserungen, aber sie Gauck: Protestwähler wollen düpieren, mich – immer wieder heraus auszuhalten,
hatten das eigenverantwortliche Handeln die Regierenden erschrecken, egal unter was uns nicht gefällt. Und beispielsweise
verlernt. So entstanden systembedingt welchem Firmenschild. nicht jeden, der schwer konservativ ist, für
Haltungsdefizite an staatsbürgerlichem SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Gefahr für die Demokratie zu halten
Verhalten. die Sehnsucht nach dem Autoritären als und aus dem demokratischen Spiel am
SPIEGEL: Zugleich haben die DDR-Bürger eine Conditio humana. liebsten hinauszudrängen. Andererseits
die ermächtigendste Erfahrung überhaupt Gauck: In dem Buch zitiere ich die Arbeit müssen wir lernen, mutiger intolerant zu
gemacht: eine demokratische Revolution. der australischen Wissenschaftlerin Karen sein. Es ist Schluss mit Nachsicht, wenn
Warum sind einige von denen, die damals Stenner über autoritäre Dispositionen. Es Menschen diskriminiert werden oder Recht
aktiv waren, heute die Protagonisten der gibt Menschen, die Law-and-Order-Typen und Gesetz missachten. Das ist offen zu
Angst? sind, die in erkennbaren Ordnungen leben verurteilen und unter Umständen ein Fall
Gauck: Das ist nur eine Minderheit, die und Sicherheit wollen. Ich dachte immer, für Staatsanwälte und Richter. Toleranz ent-
meisten von ihnen sind aktiv geblieben. zu diesen Menschen muss man nur in der hält das Gebot zur Intoleranz gegenüber
Man musste Angela Merkel, Richard Schrö- richtigen Sprache sprechen und ihnen er- Intoleranten, gleichgültig ob sich diese poli-
der, Matthias Platzeck, Marianne Birthler, klären, warum die politische Moderne ein tisch links oder rechts verorten oder dem
Katrin Göring-Eckardt oder mich nicht Segen ist. islamischen Fundamentalismus angehören.
zwingen, in die Politik zu gehen. Wir sind SPIEGEL: Und nun sind Sie enttäuscht, Nur so kann die Toleranz geschützt werden.
aufgewacht: Es geht los! Für andere hin- dass nicht alle Menschen so freiheitsbe- SPIEGEL: Schwierig, wo man da die Gren-
gegen begann die Sorge: Kann ich das? geistert sind. zen zieht.
Will ich das? Dass wir uns selbst auch ver- Gauck: Wenn Sie so wollen, war das Gauck: Darüber müssen wir streiten. So-
ändern müssen, das haben sich viele nicht mein Idealismus. Ich fürchte, dass wir ak- lange das Grundgesetz nicht verletzt wird,
vorgestellt. Auch nicht, dass der Unter- zeptieren müssen, dass es immer Men- sondern nur unangenehme Thesen vertre-
schied zwischen Ost- und Westdeutschen schen geben wird, für die Sicherheit und ten werden, und solange Menschen da
häufig geringer als der zwischen Ostdeut- gesellschaftliche Konformität wichtiger sind, die widersprechen können, ist das
schen und Ostdeutschen sein kann. Und sind als Freiheit, Offenheit und Pluralität Ausdruck einer offenen Gesellschaft. Wir
dass wir in Teilen tatsächlich abgehängt und die lieber im Status quo verbleiben verlieren uns selbst, wenn wir so tun, als
werden können und manche Gegenden als einen unsicheren Fortschritt riskieren. wäre es zu gefährlich, in großer Offenheit
weitgehend veröden, hat sich auch kaum Früher waren diese Menschen in einer Probleme zu debattieren, weil das Volk so-
jemand vorzustellen vermocht. Doch es CDU/CSU von Dregger und Strauß behei- fort wieder umkippen könnte und eine
stört mich sehr, dass wir, wenn wir über matet. Doch seitdem die CDU sozialde- Diktatur wählen würde.
die Ostdeutschen sprechen, meist SPIEGEL: Wenn die Wahl eines
die Minderheit meinen, die bei Pe- AfD-Abgeordneten zum Vizepräsi-
gida unterwegs oder populistischen denten des Bundestags blockiert
Parteien zugetan ist. wird: Ist das ein Beispiel für sinn-
SPIEGEL: Ist das nur eine Minder- volle Intoleranz?
heit? Gauck: Nein, das ist ein problema-
Gauck: Ja. tischer Weg. Natürlich hat jeder
SPIEGEL: In Sachsen und in Bran- Abgeordnete das Recht, denjeni-
denburg könnte die AfD in diesem gen zu wählen, den er will. Aber
Jahr stärkste Partei werden. Wenn ich frage mich, ob es politisch nütz-
man die Stimmen für die Linke da- lich ist, jeden Kandidaten der AfD
zuzählt, die man auch als links- abzulehnen.
populistisch bezeichnen könnte SPIEGEL: Haben auch Pegida und
oder als Partei mit einer totalitären die AfD etwas grundsätzlich Er-
Wurzel, dann sind wir schon näher mächtigendes?
an einer Mehrheit. Gauck: Politisch ist es nicht gut,
Gauck: Es sind absolut immer noch wenn eine bestimmte Gruppierung
mehr, die CDU, FDP, Grüne und der Gesellschaft nicht repräsentiert
SPD wählen. Blicken Sie nach Polen wird. Es ist notwendig, auch deren
und Ungarn: Da stellen die Rechts- Themen in einer Partei zu formu-
populisten tatsächlich die Mehrheit lieren, dann sind sie auf der Agen-
im Parlament. Außerdem kann da, und man kann sie auch gerne
man auch die Linke wie die Ost- bekämpfen.
Deutschland
SPIEGEL: Die AfD ist also notwendig? das haben wir versucht, in den und den
Gauck: Ich finde die AfD verzichtbar. Nicht
»Man muss sagen können, Verhandlungen haben wir das erreicht,
verzichtbar ist es, dass die anderen Par- dass Zuwanderung in und ja auch: Entschuldigung bitte, dieses
teien alle relevanten Themen und Pro- und jenes haben wir übersehen. Außer-
bleme bearbeiten. Dabei geht es nicht
diesem Maße nicht nur dem sehe ich, dass tatsächlich eine Suche
darum, den Populisten hinterherzulaufen, Bereicherung ist.« begonnen hat, wie Menschen außerhalb
sondern ihnen umgekehrt die Deutungs- politischer Parteien und der Wahlen
hoheit zu nehmen. Doch wenn die AfD am politischen Meinungsbildungs- und
schon existiert, besteht meine Toleranz Gauck: Nicht in Panik zu verfallen. Entscheidungsprozess beteiligt werden
darin, dass ich mit ihr streite und sie als SPIEGEL: Das scheint nicht zu funktio- können.
politischen Gegner betrachte. Aber ich nieren. SPIEGEL: Kann es sein, dass in unserer
sage nicht: Ihr seid Feinde, ihr müsst zer- Gauck: Ich finde, dass eine junge Frau alles politischen Landschaft und unserer Gesell-
stört werden. Recht der Welt hat, ihr Umfeld und mei- schaft in immer schnellerem Rhythmus
SPIEGEL: Würden Sie sich mit Herrn Gau- netwegen die ganze Welt mit ihren Gefüh- neue Eruptionen hervorbrechen?
land auf ein Podium setzen? len in Aufregung zu versetzen. Doch ge- Gauck: Die Wut gegenüber der Politik
Gauck: Eher nicht. Dafür habe ich nicht wählte Politiker müssen Lösungen für den kann uns zu schnellerem, positivem Han-
genug Achtung gegenüber Herrn Gau- Klimawandel mit denen in sozialen und deln leiten, aber auch zu schrecklichen
land. Ich kann nicht tolerieren, dass er ökonomischen Bereichen verbinden. Und Rückschlägen. Als meine Eltern jung wa-
sich von extrem Rechten unterstützen es gibt nun mal unterschiedliche Ansich- ren, gab es in Deutschland das Gefühl, die
lässt. Das überschreitet meine ganz per- ten, was hilfreich ist und was nicht. Politik Demokratie tauge nichts, die Leute waren
sönliche Toleranzgrenze. Jeder darf doch durchschlägt nicht gordische Knoten, Poli- arm und arbeitslos und riefen nach einem
selbst über die Ausdrucksformen bestim- tik ist harte Auseinandersetzung und das Führer. Eine neue Zeit müsse anbrechen.
men, in denen er sich mit dem auseinan- geduldige Bohren ganz dicker Bretter. Das war ein tief empfundenes Gefühl bei
dersetzt, was er tolerieren – dulden – soll SPIEGEL: Die Antwort der Politik heißt: vielen eher unpolitischen Menschen, die
und will. Es ist kompliziert. Das hat in einer digital gar kein faschistisches Programm im Kopf
SPIEGEL: Warum fällt Ihnen das bei Herrn verfassten Gesellschaft, in der viel Wut hatten, sondern nur das Gefühl: Es muss
Gauland besonders schwer? und Empörung produziert und auch be- sich etwas ändern.
Gauck: Herr Gauland ist akademisch, hu- lohnt wird, nicht viel Durchschlagskraft. SPIEGEL: Vergleichen Sie da gerade das
manistisch gebildet, er hat sogar ein Buch Gauck: Sie werden Ihren SPIEGEL auch Jetzt mit Zuständen der Weimarer Repu-
geschrieben mit dem Titel: »Was ist Kon- nicht umstellen, nur weil Sie wissen, dass blik?
servatismus?« die meisten Leute sich eher für Unterhal- Gauck: Die sozialen Probleme waren da-
SPIEGEL: Er war eigentlich ein Urkonser- tung oder Comedy interessieren. Ihr An- mals ungleich größer, die Verunsicherung
vativer. spruch ist es, über politische Probleme an- existenziell erfahrbar, wenn du samstags
Gauck: Konservative müssen nicht unbe- gemessen zu berichten – das heißt, die un- mit einem Rucksack voller Geld nach
dingt reaktionär sein. terschiedlichen Facetten von Wirklichkeit Hause kamst, und am Montag reichte das
SPIEGEL: Sie haben vorhin gesagt, dass und diese mühsame Suche nach Kompro- gerade noch für ein Brot und eine Kanne
die Ängste vor allem auf der Rechten eine missen abzubilden. Milch. Ich mag die Gleichsetzung von
große Rolle spielen. Inzwischen hat sich SPIEGEL: Aber die Parteien, die Kompro- Weimar und dem Jetzt nicht. Damals
eine junge Protestbewegung gebildet, die misse schließen müssen, verlieren Wähler. gab es eine Demokratie, aber nicht genug
eher links und kapitalismuskritisch ist und Gauck: Ein junger Mensch sagt, Kompro- Demokraten, das ist jetzt anders. Die
vor allem von der Angst vor einer Klima- misse sind widerlich. Aber die Parteien deutsche Demokratie ist nicht in Gefahr.
apokalypse getrieben wird. sollten nicht so tun, als müssten sie sich Aber es ist auffällig, dass gewisse Themen
Gauck: Jahrelang hatten Menschen mei- nun ein jugendgemäßes Gewand anzie- nicht ausreichend von der Regierung ver-
nes Alters das Gefühl, die Jugend sei nicht hen. Stattdessen sollten sie sagen: Das und sorgt wurden.
mehr politisch. Mir gefällt es, dass SPIEGEL: Welche?
da Leute sind, die früh eine Hal- Gauck: Man muss sich beispielswei-
tung entwickeln: Ich bin verant- se manchmal eingestehen, dass die
wortlich. Das ist meine Umwelt. falschen Leute nicht immer nur et-
Es ist mein Leben. Und ich bin Ak- was Falsches sagen. Wenn in einem
teur und nicht Opfer. Andererseits politischen Lager Kontrollverlust an-
wäre es etwas leichtfertig, sich da- nonciert wird, dann muss man sich
rüber nur zu freuen. Solch ein Sze- fragen: Sind das nur Demagogen
nario des Weltuntergangs kann mit irgendwelchen Verschwörungs-
sich schnell in Empörung und Hilf- theorien? Oder ist da etwas dran?
losigkeit erschöpfen. Von Angst ge- Und vielleicht ist ja etwas dran,
triebene Aufwallungen sind schwer wenn man zugibt, die Grenzen nicht
vorherzuberechnen. Bricht die Be- ausreichend sichern zu können.
wegung in sich zusammen, oder SPIEGEL: Hat die Regierung das
wird daraus öffnende, gestalteri- 2015 und 2016 versäumt?
sche Politik? Gauck: Die Regierung würde sagen,
SPIEGEL: Der Kernsatz dieser Pro- dass sie damals angemessen reagiert
testbewegung stammt von Greta habe – und das hat sie zunächst
Thunberg: »I want you to panic.« auch, aber offensichtlich ist das
Man hat den Eindruck, dass die gro- nicht so kommuniziert worden, dass
ßen Volksparteien genau das tun: es die Leute beruhigt hätte. Die Ent-
in Panik verfallen. Was gibt es für fremdung gegenüber der Moderne
eine Antwort auf diesen Satz? oder die Sehnsucht nach einer ho-
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Das Nachrichten-Magazin
eine verlässlichere Demokratieanbindung.
SPIEGEL: Sie ist also nur noch da, um diese
Rest-Ungerechtigkeiten zu thematisieren,
und mit zwölf Prozent ganz angemessen
bedient?
testen:
muss das solidarische Gesellschaftsprinzip
weiterentwickelt werden. Es ist die große
historische Leistung der aufgeklärten So-
www.deinspiegel.de zialdemokratie, dass sie den Gedanken
einer sozialistischen Gesellschaft mit der
Demokratie und dem Prinzip der offenen
Gesellschaft verbunden hat.
SPIEGEL: Das klingt jetzt wie ein Nachruf.
Gauck: Das wird sich zeigen.
SPIEGEL: Ist der Niedergang der SPD Aus-
druck einer Fragilität unseres gesamten
politischen Systems?
Gauck: Da wollen wir mal nicht alarmis-
tisch werden. Wir sind verunsichert, aber
nicht fragil. Wir haben eine starke und
lebendige Demokratie, die sich auf den
Mehrheitswillen der Bürgerinnen und
Bürger stützt, wir haben eine starke Wirt-
schaft, zwar hinterfragte, aber doch funk-
tionierende Parteien und ein Mediensys-
tem, das neben sozialen Netzwerken durch
seine Bandbreite und Faktentreue verläss-
lich ist. Ich weiß, was Sie jetzt alles über
die Medien sagen könnten, aber wenn wir
uns vergleichen, dann wissen wir, was wir
da haben.
SPIEGEL: Herr Gauck, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Twitter: @HoffmannSpiegel
Deutschland
Finaler
Rabatt
»Gorch Fock« Die Elsflether Werft
soll die Bundeswehr um 16 Mil-
lionen Euro betrogen haben.
Nun will der Bund das Geld im
Deutschland
D
ie Nacht von Mittwoch auf Don- rauf war ein Mann tot. Aber weil im Pro- mit Farhad R. den 35-jährigen Tischler Da-
nerstag in Chemnitz, Brücken- zess darum die Darstellungen auseinan- niel Hillig erstochen hat. Die Verteidigung
straße: Im Alanya-Dönerimbiss, dergehen, will das Gericht nun vor Ort he- bezweifelt, dass die Beobachtung möglich
einen Steinwurf entfernt vom rie- rausfinden, was wirklich geschah. gewesen sein soll, zwischen Fenster und
sigen Karl-Marx-Kopf, brennt kurz nach Eine Wagenkolonne fährt vor, die Vor- mutmaßlichem Tatort liegen etwa 50 Me-
Mitternacht noch Licht. Das Areal ist sitzende Richterin Simone Herberger be- ter. Der Staatsanwalt aber hat, gestützt
weiträumig abgesperrt, überall Polizei, im tritt den Imbiss, gefolgt von den übrigen auf diese Aussage, Alaa S. wegen gemein-
Licht der Straßenlaternen blitzen rot- Verfahrensbeteiligten. Zuletzt führen Jus- schaftlich begangenen Totschlags und ge-
weiße Absperrbänder. Gegenüber an der tizbedienstete den Angeklagten hinein. fährlicher Körperverletzung angeklagt.
Straßenbahnhaltestelle haben sich einige Kurz darauf sieht man, wie alle den Kopf
Dutzend Zuschauer eingefunden, darunter aus dem Verkaufsfenster recken – Herber- Diese Tat und ihre Folgen haben Chem-
viele Freunde des Angeklagten. Polizisten ger zuerst, dann Staatsanwalt Stephan nitz zu einer anderen Stadt gemacht. Hillig
kontrollieren Taschen, Handys sind ver- Butzkies, die Schöffen, die Schwester des war Halbkubaner, auf Facebook verteilte
boten. Toten, die Verteidiger. er Likes für antirassistische Postings; er
Das Chemnitzer Landgericht hat einen Nur Alaa S. sieht man keinen Blick eignete sich nicht als Märtyrer für rechte
Ortstermin anberaumt. Während der letz- auf die Stelle werfen, an der er einen Zwecke. Aber weil die Angreifer offenbar
ten Nacht des Stadtfestes im vergangenen Menschen erstochen haben soll und wo Flüchtlinge waren, zogen in den Tagen da-
Jahr, so haben es mehrere Zeugen berich- nun eine Gedenkplatte an den Toten er- rauf Tausende in Protestmärschen gegen
tet, sei im Imbiss morgens gegen drei Uhr innert. Angela Merkels Flüchtlingspolitik durch
von draußen Geschrei zu hören gewesen. Der wichtigste Zeuge der Anklage, ein die Stadt: AfD-Funktionäre im Schulter-
Gäste rannten hinaus auf den breiten Geh- Döner-Verkäufer, will aus dem Imbissfens- schluss mit Anhängern von Pegida und der
weg, um zu schauen, was los war. Bald da- ter gesehen haben, wie Alaa S. gemeinsam rechtsextremen Gruppe Pro-Chemnitz,
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XCITEPRESS / IMAGO
Angeklagter Alaa S. (r.), Justizbeamter: Als die Polizei kam, seien sie weggerannt
Neonazis und rechte Hooligans aus Chem- Und: Sieht so die Zukunft der Justiz in ei- Sinne der von den Medien gern bemühten
nitz und dem ganzen Bundesgebiet, da- ner polarisierten Gesellschaft aus? Darstellung des Freistaats Sachsen als
zwischen Rentner und Mütter mit Kinder- Der Staatsanwalt hatte seine Anklage- ›braunes‹ Bundesland.«
wagen. schrift noch nicht verlesen, da beantragte
Bilder gingen um die Welt, weniger von Verteidigerin Ricarda Lang, Schöffen und Fünf junge Polizeischüler stehen als Sta-
Gegendemonstranten, die es auch gab, Berufsrichter sollten einen Fragenkatalog tisten an der Gedenkplatte still im Niesel-
sondern von Neonazis, die Polizisten fei- zu ihrer politischen Einstellung beantwor- regen, die Straßenlaternen geben überra-
xend den Hitlergruß zeigten. ten: »Haben Sie an einer Kundgebung der schend viel Licht. Aber nicht überall. Und
Seither ist die Stadt nicht zur Ruhe ge- Pegida teilgenommen? Sind Sie Mitglied was wäre zu erkennen, wenn sich alle be-
kommen. Ein rechtsstaatliches Verfahren oder Unterstützer der Partei AfD? Haben wegten, wenn Menschen aus dem Imbiss
vor einem unabhängigen Gericht soll das Sie nach den Vorfällen in Chemnitz an herbeigelaufen kämen, wie in der Tat-
nun heilen helfen, so lautet zumindest die Kundgebungen teilgenommen? Haben Sie nacht?
öffentliche Erwartung. Das sächsische Jus- Kränze oder Blumen an dem Gedenkstein Die Verteidiger hatten verlangt, das Tat-
tizministerium lässt sich vom Staatsanwalt niedergelegt?« geschehen und den Fluchtweg nachzustel-
über jede Wendung informieren, ein soge- Die Sorge um ein faires Verfahren sei len. Aber das Gericht hat sich auf eine sol-
nanntes Berichtsverfahren. statistisch zu begründen. In Chemnitz sei che Inszenierung nicht eingelassen. Die
Aus Sicherheitsgründen verhandelt die eine Bewegung, die die Flüchtlingspolitik Anklageschrift liefert dafür ohnehin keine
Kammer aus Chemnitz im Hochsicher- ablehne, in der Mitte der Gesellschaft an- schlüssige Vorlage. Sie krankt nämlich an
heitssaal des Oberlandesgerichts Dresden, gekommen – aus der sich wiederum Rich- einer Leerstelle: Der mutmaßliche Haupt-
am Rand der Stadt zwischen Friedhof und ter und Schöffen rekrutierten. 24,3 Pro- täter, Farhad R., 22, den Zeugen überein-
Gefängnis gelegen. zent AfD-Wähler bei der letzten Bundes- stimmend als »den kleinen Mann« be-
Am ersten Verhandlungstag bezogen tagswahl: Als Geflüchteter entspreche schreiben und der zuerst in einen Streit
stadtbekannte rechte Szenegrößen Stel- Alaa S. deren »erklärtem Feindbild«. mit Daniel Hillig verwickelt gewesen sein
lung hinter der Glasscheibe, die den Zu- Die Fragen wollte das Gericht nicht be- soll, ging der Polizei durch die Lappen.
hörerbereich abtrennt. Gerade war be- antworten, einen Befangenheitsantrag der Während sich Polizei und Staatsanwalt-
kannt geworden, dass sich die Chemnitzer Verteidiger bügelte die Nachbarkammer schaft an den beiden Tatverdächtigen ab-
Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig in ab: Eine solche »vorgelagerte Gesinnungs- arbeiteten, die ihr als Erste über den Weg
einem Interview für die Angehörigen eine prüfung« widerspreche jeglicher Rechts- gelaufen waren, setzte sich Farhad R. ins
Verurteilung wünschte; ein Freispruch staatlichkeit. »Der Schluss vom Wahlergeb- Ausland ab. Nach ihm wird international
wäre »schwierig« für Chemnitz. nis der AfD auf eine entsprechende poli- gefahndet.
Die Frage ist: Kann ein Gericht unab- tische Orientierung der Richter ist eine Yousif A., Syrer wie der Angeklagte, saß
hängig sein, auf dem solcher Druck lastet? verunglimpfende Verallgemeinerung im drei Wochen in Untersuchungshaft. Das
Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, der kommt. Der junge Mann hält sich aufrecht, rer, bekam bei der Auseinandersetzung ei-
Tatverdacht hatte sich erledigt. er tritt im Jackett vor das Gericht, die Haa- nen Stich in den Rücken ab. »Drei Tage
Am Ende blieb übrig: Alaa S. re an den Seiten kurz, kleiner, gepflegter Krankenhaus«, sagte er auf die Frage der
26 Seiten umfasst die Anklageschrift, Kinnbart, sorgfältig getrimmte Augenbrau- Vorsitzenden nach den Folgen.
136 Zeugen, acht Sachverständige, aber in en, offener Blick. Bevor er sich setzt, schaut Seine Erinnerung an die Tatnacht? Ein
der Beschreibung der Tat kann sich der er zu den Zuhörerbänken hinüber. Dort sit- Mann habe ihn zur Seite geschoben, er
Staatsanwalt nur auf die Aussage des zen an jedem Verhandlungstag seine Freun- habe sich an den Rücken gefasst, dort war
Kochs stützen. Butzkies, ein massiger de, die ihm aufmunternd zuwinken. Blut. Dann habe er gesehen, wie ein Mann
Mann mit bürstenartig aufragendem Haar- Am ersten Tag hatte die Vorsitzende mit dem Messer auf den Daniel eingesto-
schopf, braucht keine Minute, um den Alaa S. nach seinen Personalien gefragt: chen habe, der am Boden lag. Ein zweiter
Sachverhalt vorzutragen: Alaa S. habe »im Geboren, sagte Alaa S., sei er 1995 in Sy- habe Daniel geschlagen. Ob auch der ein
Zuge eines Streits mit einem Messer vier- rien. Ledig, von Beruf Friseur, Beschäfti- Messer hatte, könne er nicht sagen.
mal in den Brustkorbbereich und einmal gung zurzeit: keine. Seither schweigt er. Der Staatsanwalt zeigte sich erstaunt:
in den linken Oberarm des Geschädigten Beim Ermittlungsrichter hat er bestritten, Bei der Polizei habe er noch gesagt, er
Daniel Hillig sowie einmal in den Rücken- etwas mit der Tat zu tun zu haben. Er habe habe gar kein Messer gesehen? Dimitri M.
bereich des Geschädigten Dimitri M.« ge- lediglich einen Kumpel von der Schlägerei zog ratlos die Schultern hoch.
stochen. Dies habe er »im bewussten und weggezogen. Als die Polizei kam, seien sie Der Zeuge sollte vorführen, wie es war,
gewollten arbeitsteiligen Zusammenwir- weggerannt, aus Angst. in einem Rollenspiel. Der Staatsanwalt leg-
ken« mit Farhad R. getan, »der te sich als Opfer auf den Boden,
ebenfalls ein Messer bei sich vage führte Dimitri M. ein paar
führte und damit zustach«. Stich- und Schlagbewegungen
Während der Staatsanwalt vor. Aber der Koch aus dem
liest, schüttelt Alaa S. den Kopf. Imbiss hat eine Auseinander-
Butzkies’ Anklageschrift hat setzung im Stehen beschrieben.
mehrere Schwachstellen. Eine Das passt nicht zusammen.
ist: Sie geht von einem gemein- Dimitris Bruder Juri: »Ir-
samen Tatplan aus. Alle Zeu- gendwie ist eine Schlägerei los-
gen sagen aber, alles sei sehr gegangen. Irgendwie war ich
schnell passiert. Auch Alaa S. auch verwickelt.« Irgendje-
war aus dem Imbiss nach drau- mand muss ihn mit einer Fla-
ßen gelaufen, wo Farhad R. in sche am Kopf getroffen haben.
Streit mit Daniel Hillig geraten Aber wer?
war. Er und Farhad müssten Bei der Polizei erkannte Juri
Deutschland
blutiges Messer gezeigt und gesagt, er habe wegungen führten sicherlich dazu, dass es Die Richterin weiter: »Also erst hat der
damit zugestochen. präzisiert wurde.« Nur durch wen? Deutsche dem Juan einen Faustschlag ver-
»Der Staatsanwaltschaft haben wir das Der Koch hätte am liebsten gar nichts passt. Der Juan hat das Opfer von vorn
zeitnah mitgeteilt.« Vier Tage später kam mehr gesagt, angesichts der Widersprüche, mit der linken Hand an den Nacken ge-
der Bescheid aus dem Labor: keine Spuren in die er sich verheddert hat. Er versuchte, fasst, an sich herangezogen und hat mit
der Festgenommenen am Tatmesser. Da es kurz zu machen, die Dolmetscherin der rechten Hand mehrfach in Richtung
habe man aufwendig nach Farhad R. zu übersetzte: Am 26. August 2018 hätten Oberkörper geschlagen oder gestochen.«
suchen begonnen. Der Haftbefehl ging erst drei Leute bei ihm Döner bestellt, ein Herberger schaute den Koch prüfend
am 3. September raus. Farhad R. war da Mann namens Said, ein Libyer und der an: »Es gab kein Stechen«, sagte er trotzig.
längst über alle Berge. Juan – das ist der Spitzname des Ange- »Ich habe nur diese Faustschlägerei gese-
Auf der Suche nach einem zweiten, ähn- klagten. Dann draußen die Schreierei, die hen. Mit beiden Fäusten.« Er macht Box-
lichen Messer hoben die Beamten Gully- »Jungs« seien raus, wo der Farhad am Bo- bewegungen.
deckel und durchkämmten mehrere Ton- den gelegen habe, dann seien sie zu viert »Es sah so aus, als ob er zusticht. Es war
nen Stadtfestmüll – ohne Ergebnis. auf die anderen zugegangen. »Dann kam eine typische Stichbewegung …« Der Koch
Mehr als 150 Zeugen vernahm die Poli- eine Auseinandersetzung. Das war’s.« fällt Herberger ins Wort: »Der Dolmet-
zei auf der Suche nach Beweisen gegen »Können Sie die Auseinandersetzung scher hat gesagt, bei der Schlägerei scheint
Alaa S. Am Ende hätten ihn fünf davon beschreiben?«, fragte die Vorsitzende. ein Messer dabei gewesen zu sein. Ich habe
»mehr oder weniger am Tatort verortet«, »Ich weiß es nicht, wer wen geschlagen das NIE gesagt.« Herberger: »… gleichzei-
sagt der Kommissar. Kein ein- tig hat er das Opfer mit den
ziger hatte ihn mit einem Mes- Knien getreten.«
ser hantieren sehen. »Wer?«, fragte der Koch.
Der Kommissar hat auf »Der Juan«, sagte die Rich-
Höhe des Alanya-Döners eine terin.
Überblicksaufnahme vom Tat- Der Koch schwieg.
ort gemacht – im Fokus die »Welche Aussage ist denn
Gedenkplatte, an der nun die jetzt die richtige?« – »Ich weiß
Polizeischüler stehen. Aber nicht mehr.« Pause. »Es kann
wurde Daniel Hillig überhaupt sein, dass ich etwas gesagt
dort erstochen? Oder, wie habe, bei der Polizei, aber ich
manche Zeugenaussagen nahe- erinnere mich jetzt nicht
legen, näher beim Durchgang mehr.«
an der Sparkasse – was bedeu- Aber warum?
ten würde, dass der wichtigste Younes Al N. war zu diesem
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schrieben?« Schweigend wischte der zu schauen – es scheint nicht zu gehen. Auch an Hilligs Kleidung findet sich nicht
Zeuge mit den Fingern imaginäre Krümel Die Vorsitzende muss sich dafür halb auf das geringste Partikel des Angeklagten,
vom Tisch. die Ablage knien, andere klettern hinauf. sagt sie als Sachverständige.
In einer Vernehmung hatte er noch die Der Koch ist dick und klein, er sieht nicht
stichartigen Bewegungen demonstriert, sehr beweglich aus. An der Haltestelle Es gab Tage im Gericht, an denen vom
mit denen der Juan den Daniel attackiert steht unter den Zuschauern auch die Im- Angeklagten kaum die Rede war. Dafür
haben soll. Ein Video davon liegt bei den biss-Chefin. Sie sagt, in der Nacht des umso mehr von Farhad R.: »Der den
Akten. »Sind Sie bereit, an einer Nachstel- Stadtfestes sei die Ablage voll gewesen mit Mann getötet hat, war bei mir im Laden«,
lung vor Ort mitzuwirken?«, fragte die Dürüm-Fladen und großen Cola-Flaschen, sagte Nejirvan H., Verkäufer im Würfel-
Verteidigerin. »Nein.« – »Wieso nicht?« – die zum Verkauf bereitstanden. Döner, etwa 100 Meter entfernt vom Ala-
»Einfach so.« nya. In der fraglichen Nacht sei Farhad in
Die Verteidiger beantragten, die Perso- Auch Nawid P. verkaufte in der Tatnacht Begleitung von Yousif aufgetaucht und
nenschützer zu hören: Was hat der Koch Döner im Alanya, aus Sicht des Staatsan- habe Gäste angepöbelt.
ihnen erzählt? Lang setzt zu einer Er- walts ein wichtiger Belastungszeuge: In Kurz nachdem die beiden gegangen sei-
klärung an: »Es geht um die Aussagekon- der Nacht sei er kurz draußen gewesen, en, habe er von draußen das Geschrei ge-
stanz …« – »Aber die ist doch evident«, Luft schnappen, begann er seine Schilde- hört. Zehn Minuten nach der Tat habe er
entfährt es Staatsanwalt Butzkies, »also rung. In dem Moment sei losgegangen, Farhad angerufen und gefragt, ob er das
jedenfalls in der Kernaussage.« was er für eine normale Schlägerei gehal- gewesen sei: »Erst hat er Nein gesagt, aber
Nur, was ist der Kern, und dann: ›Ja, ich war’s. Ich habe
wie ist er zustande gekommen? die mit dem Messer gesto-
Das besagte Video wird vorge- chen.‹« Wer mit »die« gemeint
führt: Eine Amtsstube, der sei, fragte die Vorsitzende.
Staatsanwalt in Jeans und Pulli »Nicht eine, sondern mehrere
spielt Daniel Hillig, der Koch Personen.«
führt vor, was er gesehen haben Das würde zur Theorie »ein
will: »Also, das hier ist der Messer, ein Täter« passen.
Juan …«, sagt der Koch im Vi- Der Staatsanwalt verschränkte
deo, er greift Butzkies um den skeptisch die Arme: »Warum
Nacken, deutet einen Kopfstoß haben Sie von dem Telefonat
an, dann einen Stoß mit dem nicht früher berichtet?« –
Knie in den Bauch und dann die »Aus Angst habe ich nichts ge-
von unten schwingenden Bewe- sagt.« – »Vor wem hatten Sie
gungen gegen den Brustkorb. Angst?« – »Vor Farhad. Der
»Und wo stand der Far- war ja noch draußen.«
Deutschland
Langsam,
Unternehmen stellt die Tretroller auf die rollerverleiher Tier. Er sagt: »Wir haben
Straße, Nutzer können sie per App auslei- keine Lust, es uns mit einer Stadt zu ver-
hen und damit quer durch die Stadt düsen. sauen.« Deswegen steht auf den Power-
aber sicher
Geparkt wird, wo gerade Platz ist, am point-Folien in großen Buchstaben »Dis-
Ende des Tages werden sie eingesammelt kussionsvorlage«, darunter sind viele Ver-
und zum Aufladen ins Lager gefahren. sprechen aufgelistet. Man werde für die
Ab dem Wochenende darf sich Voi auch Stadt ständig erreichbar sein, heißt es da,
Mobilität Zehntausende Elektro- hierzulande um eine Lizenz bewerben. die Roller täglich warten und natürlich ge-
Tretroller sollen bald durch Dann fällt das Verbot von Elektrokleinst- meinsam No-Parking-Zones bestimmen.
fahrzeugen auf deutschen Straßen. Und Viele Städte brauchten so ein Regel-
Deutschlands Städte kurven. Berlin könnte bald aussehen wie Stock- werk, sagt Blessin. Um Ängste abzubauen
Die Verleiher geben sich zahm – holm, wo zwischen Fähranlegern und Kö- und weil ihnen die Erfahrung mit Tretrol-
aus Angst vor Karambolagen. nigspalast an jeder Ecke Dutzende Roller lerflotten fehle. Tier und Voi kennen das
in Bonbonfarben auf Kunden warten. aus anderen Städten. Etwa aus Wien, wo
Kein Markt wurde heißer ersehnt als die Roller rund um den Stephansdom auf
Anton Rainer
Mail: [email protected]
Voi-Gründerteam, Unternehmer Stark (r.): Geparkt wird, wo gerade Platz ist
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Deutschland
Vorstandsamt zehn Jahre lang als Haupt- bleibt offen. Üblicherweise jedoch tun
geschäftsführerin beim Bundesverband sich die Sozialpartner im Gremium nicht
der Systemgastronomie gearbeitet. Sechs weh und tragen die Personalentschei-
Jahre saß sie bereits für die Arbeitgeber dungen der Gegenseite mit. Votieren die
im BA-Verwaltungsrat, bevor sie ihren Vor- Arbeitnehmervertreter ebenfalls gegen
standsposten in Nürnberg antrat. Holsboer, wäre ihre Karriere bei der BA
Deshalb gibt es eine zweite Lesart des beendet.
Konflikts, sie stammt von den Unterstüt- Die Regierungsvertreter wollen einer
zern Holsboers in der BA und aus dem Abwahl dagegen nicht zustimmen. Das
B. HASELBECK / WIRTSCHAFTSWOCHE
Umfeld des Verwaltungsrats. Sie zeichnen Bundesarbeitsministerium, das die Auf-
ein krasses Gegenbild: Holsboers Problem sicht über die Bundesagentur führt, ist an-
sei nicht etwa mangelnde Kompetenz, son- gesichts des eskalierten Streits besorgt. Die
dern ein Freund-Feind-Schema in der Be- Akteure müssten darauf achten, dass die
hörde. So hätten die Arbeitgeber BA-Chef Integrität und Handlungsfähigkeit der
Scheele als ehemaligem Hamburger Ar- Bundesagentur unter der Auseinanderset-
beitssenator von Beginn seiner Amtszeit zung nicht leide, heißt es dort.
an misstraut. Die Lobbyisten wollten Hols- Wenn Holsboer gehen muss, dann soll
boer daher als Gegenpol einsetzen. Behördenchef Scheele ihr wieder eine Frau folgen. Als Kandidatin
Doch diese Erwartung habe sie nicht »Lassen Sie uns respektvoll arbeiten« gilt die Chefin der BA-Regionaldirektion
erfüllt. Statt auf Konfrontationskurs zu Nordrhein-Westfalen, Christiane Schöne-
gehen, habe sich Holsboer mit Scheele feld. Sie hat aus Sicht der Holsboer-Geg-
arrangiert. Dass sie ein solides Arbeitsver- sind noch immer männlich geprägt und ner nicht nur den Vorteil, dass sie in den
hältnis mit dem SPD-Mann pflege, habe tun sich schwer mit Frauen und ihrem Füh- alten Strukturen groß geworden ist. Schö-
man ihr nie verziehen, heißt es. Arbeitge- rungsstil.« nefeld ist 61 Jahre alt, als Interimslösung
berfunktionäre bestreiten diese Vorwürfe. Für Holsboers Ablösung ist am 12. Juli wäre ihre Amtszeit bis zur Rente über-
Vor allem aber, so argumentieren Hols- eine Zweidrittelmehrheit im Verwaltungs- schaubar. Da Detlef Scheele 62 Jahre alt
boers Unterstützer, stehe die Vorstands- rat nötig. Bislang liegt aber nicht mal der ist, könnten Arbeitgeber und Arbeitneh-
frau für einen Kulturwandel und einen offizielle Antrag dazu vor, Annahme- mer in naher Zukunft wieder ungestört
modernen Führungsstil in einer Behörde, schluss ist der 27. Juni. Personalpakete auskungeln.
die bislang streng von oben nach unten or- Das Aus durch die Arbeitgeberseite Markus Dettmer, Christian Reiermann,
ganisiert wurde. Sie kümmere sich um The- ist klar. Ob Holsboer auch den Rückhalt Cornelia Schmergal
men wie Gleichstellung und ein besseres der Gewerkschaftsvertreter verloren hat,
Betriebsklima. Sie selbst besuche häufig
Arbeitsagenturen vor Ort. An der Basis
würden viele Mitarbeiter Holsboer daher
gern im Amt halten. Manche Führungs-
kräfte wiederum fühlen sich von ihr über-
gangen.
Dass sich etwas am Stil geändert hat,
wurde auch außerhalb der BA wahrgenom-
men. Im Haushaltsausschuss des Bundes-
tags etwa erschien Holsboer – anders als
ihre männlichen Kollegen – nie allein zum
turnusmäßigen Rapport, sondern in der
Regel mit Vorstandschef Scheele.
Es gibt Abgeordnete, die das als »team-
orientiert« werten. Andere wunderten
sich über die zurückhaltend wirkende
Frau. Bei der BA war man bisher Vor-
standsmänner gewohnt, die sich ganz
selbstverständlich zu politischen Fragen
äußerten. Holsboer indes habe sich auf
die Fakten beschränkt.
Experten können jedenfalls nicht erken-
nen, dass Holsboer überfordert wäre. So
urteilt die grüne Haushaltspolitikerin
Ekin Deligöz, die seit fünf Jahren als
Hauptberichterstatterin die Zahlen der
Bundesagentur prüft: »Sachlich, fachlich
immer gut vorbereitet und eine kompe-
tente Gesprächspartnerin.« In den zwei
Jahren, in denen Holsboer nun im Amt
sei, habe die BA sehr gute Zahlen präsen-
tiert und einen »erfrischend offenen Kom-
munikationsstil« an den Tag gelegt. Deli-
göz sieht die Sache so: »Die Strukturen
in vielen Unternehmen und Behörden Gemeinsam machen wir das deutsche
Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt.
47 Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/jan
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Deutschland
Tschüsschen
Kommunen Josef Rüddel war mehr als ein halbes Jahrhundert lang Bürgermeister.
Jetzt tritt er ab, mit 94 Jahren. Er konnte einfach nicht früher.
A
n einem Sonntagnachmittag im
Mai setzt sich Josef Rüddel an
seinen Schreibtisch, um einem
Fremden eine Freude zu machen.
Ein Mann aus der Nachbargemeinde hat
ihm einen Brief geschrieben und zwei
Blöcke Gedenkbriefmarken zur Öffnung
der Mauer 1989 beigelegt, Erstausgabe mit
Sonderstempel. Auf ihnen, so die Bitte,
solle Rüddel unterschreiben.
Rüddel unterzeichnet. Dann legt er
noch eine Autogrammkarte dazu. Er hat
sie vor einigen Jahren drucken lassen, als
ihn immer häufiger Anfragen erreichten.
Auf den Karten trägt Rüddel ein kariertes
Sakko und ein beigefarbenes Hemd. Auf
der Rückseite steht: »Dienstältester Bür-
germeister in Deutschland«. Darunter sein
Geburtsdatum, 20. Januar 1925.
Seit 56 Jahren trägt Josef Rüddel den
Titel »Bürgermeister«. Der Titel steht im
Telefonbuch hinter seinem Namen und
über der Klingel an seiner Haustür und ist,
so scheint es, unwiderruflich mit seinem
Namen verbunden. Bürgermeister Rüddel.
Am Abend vorher saß er in seinem Ses- licht. Eine Welt der Bierchen und Gläs- Mit 89 Jahren bekam Rüddel eine neue
sel, es war 22 Uhr, im Fernsehen lief André chen, der Wägelchen und Momentchen. Hüfte eingesetzt. Die Ruhe im Krankenbett
Rieu, da klingelte das Telefon. Sein Stell- Und natürlich auch: des Bürgermeister- hielt er kaum aus. Nach wenigen Wochen
vertreter habe angerufen, so erzählt er tags chens. Reha setzte er sich noch am Tag seiner
darauf, es gab Unklarheiten bei den Stimm- Rüddel ist ein Politiker, der nahbar ist, Heimkehr in sein Auto, um durch die Ge-
zetteln für die Kommunalwahl. Als Bür- im engeren Sinne des Wortes: Sobald er meinde zu fahren. Er wollte schauen, ob
germeister ist Rüddel auch Wahlleiter für sich mit jemandem unterhält, kommt ir- es Probleme gibt. Die Menschen brauchten
das Gemeindegebiet. Am Morgen habe er gendwann der Moment, an dem er jeman- schließlich ihren Bürgermeister. Bis heute
deshalb ab vier Uhr wach im Bett gelegen dem sachte auf den Rücken klopft oder fährt er Auto.
Zuletzt fiel es ihm allerdings schwerer,
durch die Gemeinderatssitzungen zu füh-
ren. Er brachte Beschlussvorlagen durch-
einander, konnte Diskussionen nicht im-
mer folgen. Seine Stimme brach manch-
mal weg. Natürlich strenge ihn das an,
gibt Rüddel zu. Stundenlanges Gerede,
im Dezember hatten sie 32 Punkte auf der
Tagesordnung, die Sitzung dauerte fast
vier Stunden. »Ich bin ja keine 50 mehr«,
sagt er dann. Den Vorsitz hat Josef Rüddel
nie abgegeben.
Doch bei der vergangenen Kommunal-
wahl trat Rüddel nicht mehr an, im Mai
führte er seine letzte Sitzung. Er ist nur
noch wenige Tage im Amt.
In seinem Leben hat Josef Rüddel mehr
als 500 Sitzungen geleitet, so genau weiß
er das nicht, er hat nicht gezählt. Er hatte
ja nie damit gerechnet, dass die Politik ein-
mal sein Leben sein würde und sein Leben
die Politik.
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Deutschland
später begann die Produktion in Wind- chen, und das Bürgermeisterpaar kam vor- Im Februar 2019 gründete sich eine
hagen. bei. Immer und immer wieder. Bis Rüddel Wählergemeinschaft, die »Gemeinsam –
Kurz darauf suchte ein junger Fuhr- eine Lösung gefunden hatte. Bürger für Windhagen«. Sie wollen all das
unternehmer eine kleine Halle für seine Fragt man die Bürger Windhagens, was umsetzen, was aus ihrer Sicht in den ver-
Firma, Rüddel half. Josef Rüddel auszeichnet, fällt oft ein Wort: gangenen Jahren versäumt wurde. Rad-
Er lernte die wichtigste Währung ken- Bauernschläue. Und sein unvergleichliches wege bauen, Fußwege sanieren, die Stra-
nen, die ein Lokalpolitiker haben kann: Geschick, an Grundstücke zu kommen. ßen im Gewerbegebiet entlasten. Und die
Grundstücke. Manche sagen, Rüddel trieb Klüngelpolitik, Bürger miteinbeziehen.
Im Laufe der Jahrzehnte hat Rüddel Dut- schon immer. Von einem »System Familie Rüddel sagt, das sei eine Thekenmann-
zende Betriebe nach Windhagen gelockt. Rüddel« ist die Rede. Andere sagen, er sei schaft. Die hätten keine Ahnung von Kom-
Die Gemeinde zählt heute knapp 3000 Ar- eher ein Politiker aus einer anderen, frühe- munalpolitik. Bei der Wahl am 26. Mai ge-
beitsplätze und bietet Firmen Platz, die ren Zeit, da war das so. Rüddel sagt, er habe wann zwar der Kandidat der CDU, mit
ihre Solarien, Straßenfräsen und Überwa- jede Entscheidung begründen können. 51,5 Prozent. Doch die Wählergemein-
chungssysteme in die ganze Welt liefern. Als Windhagen das Jubiläum aus An- schaft holte im Gemeinderat 5 der 20 Sitze,
Jedes Jahr kommen mehr als 16 Millionen lass des 50. Dienstjahres seines Bürger- wurde zweitstärkste Fraktion. Die CDU
Euro an Gewerbesteuer zusammen, pro meisters feierte, bekam der eine Torte verlor ihre absolute Mehrheit, hat in den
Kopf sind das mehr als in den meisten geschenkt. Auf ihr war ein großes rosafar- folgenden Jahren nur noch sieben Rats-
deutschen Metropolen. Die Gemeinde benes Ohr zu sehen, es hatte eine Kerbe. mitglieder. Das zeige, wie unzufrieden die
brauche keine Bank, sagt Rüddel. Sie hat Ein Schlitzohr. Auf seiner letzten Gemein- Windhagener seien, sagen Vertreter der
ihre Rücklagen, mehrere Millionen. Dafür deratssitzung sagte Rüddel zum Schluss Wählergemeinschaft.
hat er gesorgt. in die Runde: »Ich habe nicht immer alle
Nach der letzten Gemeinderatssitzung
Ende Mai steht Josef Rüddel mit einigen
Ratsmitgliedern an der Theke des Bürger-
hauses. Er sagt, er freue sich auf etwas
Ruhe. Endlich Rentner sein, wenigstens
ein bisschen. Er wurde gefragt, ob er nicht
weiterhin Geburtstagsbesuche bei Bürgern
machen wolle. Rüddel gefällt die Idee.
Kürzlich hat die Gemeinde ein Stück
Acker gekauft, am Rande des Gewerbe-
gebiets. Rüddel hat schon einige Ideen,
was man damit machen könnte. Aber das
MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL
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Maik
vom LKA
Behörden Der Dresdner »Hutbür-
ger« fordert Entschädigung vom
ZDF. Der sächsischen Polizei
beschert das erneut eine Diskus-
sion um rechte Verstrickungen.
BJOERN KIETZMANN
tat« einer Truppe namens »LKA Sachsen
feat. Hutbürger«. G. sächselt darin unter
dröhnenden Bässen im Sprechgesang: »Sie
haben mich ins Gesicht gefilmt, das dürfen
Sie nicht, das dürfen Sie nicht.« »Hutbürger«-Graffito in Dresden: »Sie haben mich ins Gesicht gefilmt«
Maik G. war über Wochen der berühm-
teste Mitarbeiter des sächsischen Landes-
kriminalamts. Seit er im August 2018 am den Mann mit Hut in dem Video. Nicht In Berlin wiederum hatten im Herbst
Rande einer Pegida-Demonstration mit etwa an Stimme, Gesicht, Hut oder Weste, zwei SEK-Männer des sächsischen Lan-
einem schwarz-rot-goldenen Anglerhut, sondern anhand eines Muttermals am lin- deskriminalamts zum Besuch des tür-
Sonnenbrille und roter Weste lautstark ge- ken Arm. Maik G., Diplomkaufmann, wur- kischen Präsidenten einen Kollegen unter
gen ein ZDF-Team protestierte, lief er de in die Landesdirektion nach Dresden dem Namen des Rechtsterroristen
auf allen Kanälen. Jan Böhmermann kre- versetzt, mit der Polizeiarbeit hat er dort Uwe Böhnhardt in eine Dienstliste einge-
ierte mit »Maik vom LKA« einen bitter- nichts mehr zu tun. tragen. Der Grünen-Innenexperte Valen-
bösen Sachsen-Song, Christian Ehring von Den sächsischen Sicherheitsbehörden tin Lippmann wollte Anfang des Jahres
»extra 3« moderierte im Anglerhut, und wird der Vorstoß des fast vergessenen vom Innenminister wissen, in welcher
der »Tagesspiegel« kommentierte – gänz- »Hutbürgers« nicht gefallen. Ihnen scheint Dienststelle die ertappten Beamten der-
lich spaßfrei – : »Der hässliche Deutsche daran gelegen zu sein, dass über mögliche zeit tätig seien. Antwort: »Die erbetenen
ist wieder da.« rechte Umtriebe in den eigenen Reihen Auskünfte berühren deren persönliche
Jetzt schlägt Maik G. zurück. Er ver- wenig berichtet wird. Gerade musste der Verhältnisse und dienstrechtlichen Belan-
langt vom ZDF und dem Kameramann we- SPIEGEL das Sächsische Oberverwaltungs- ge, weshalb ihnen datenschutzrechtliche
gen Medienrechts- und Persönlichkeits- gericht bemühen, um zu erfahren, was aus und fürsorgerechtliche Gründe entgegen-
rechtsverletzung eine Entschädigung einem Dresdner Polizisten geworden ist, stehen.«
»nicht unter 20 000 Euro«. Sein Anwalt der rechtskräftig wegen Volksverhetzung Dass die sächsische Polizei mehr als nur
ist Sachsens AfD-Vize Maximilian Krah, verurteilt wurde. ein Hutbürger-Problem habe, bescheinigte
der gerade ins Europäische Parlament ge- Das Polizeiverwaltungsamt hatte jede ihr gerade eine Kommission, welche nach
wählt wurde. Krah sagt, sein Mandant sei Auskunft unter Hinweis auf datenschutz- Unregelmäßigkeiten die Ausbildung an
auf dem Weg zu einer politischen Demons- rechtliche Bestimmungen verweigert. Die der Hochschule der Polizei in der Ober-
tration gegen seinen Willen gefilmt wor- privaten Interessen des Beamten, dem das lausitz überprüfte. Es sei auch in Sachsen
den. Er habe arbeitsrechtliche Konsequen- Operative Abwehrzentrum der Polizei verschiedentlich zu Vorkommnissen ge-
zen und eine deutschlandweite Verun- immerhin ein »krudes Weltbild« und »Ten- kommen, schreibt die Kommission, »die
glimpfung ertragen müssen. denzen in Richtung Reichsbürgerbewe- Zweifel bei den beteiligten Polizeibeamten
Für Krah ist Maik G., der damals als gung« bescheinigte, seien höher zu bewer- an ihrer Haltung zum freiheitlich-demo-
Buchprüfer im LKA arbeitete, ein Opfer ten als das Informationsinteresse der kratisch verfassten Rechtsstaat aufkom-
in jeder Hinsicht. So habe der 52-Jährige Öffentlichkeit. Nach zwei Instanzen und men ließen«. Eine zunehmende politische
lediglich »gelegentlich« an Pegida-Demos sieben Monaten mussten die Behörden Polarisierung mache auch vor Polizei-
teilgenommen – und dann mit einer Fahne doch antworten: Das Disziplinarverfahren dienststellen nicht halt.
des Staates Israel, »dessen großer Bewun- gegen den Mann wurde eingestellt, er ar- Die Experten schlagen vor, das Aus-
derer er ist«. Im August hatte er die Fahne beitet bis heute im Polizeiverwaltungsamt. wahlverfahren für künftige Polizisten zu
offenbar vergessen. Den Kameramann Im Innendienst, wie man versichert. ändern. So solle der Verfassungsschutz die
habe er irrtümlich für einen »Antifa-Foto- Bewerber überprüfen. Und diese sollten
grafen« gehalten und Hut sowie Sonnen- mehr über den Umgang mit Medien ler-
brille nur getragen, um nicht erkannt zu Die Experten schlagen nen. Es könnte ja sein, dass ihnen das Fern-
werden, »auch im Hinblick auf sein Be- vor, der Verfassungs- sehen wie einst dem Kollegen Maik G. mal
schäftigungsverhältnis«. ins Gesicht filmt. Steffen Winter
Geholfen hat es nichts. Angeblich iden-
schutz solle die
Mail: [email protected]
tifizierte der Präsident des LKA persönlich Bewerber überprüfen.
DER SPIEGEL Nr. 25 / 15. 6. 2019 51
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Gesellschaft
»Ich könnte mir auf meinem Grab einen QR-Code vorstellen, den man mit seinem Handy scannen kann.« ‣ S. 54
Trotz Trump. Die rassistischen Einstellungen unter weißen Ame- len sich durch Trump angestachelt fühlt, bringt er eine Mehrheit
rikanern haben seit der Wahl Donald Trumps nicht zu-, sondern dazu, sich als weniger vorurteilsbelastet zu identifizieren. Die
abgenommen. Zu diesem Resultat kommt eine noch unveröffent- Studie kommt zu verwandten Schlüssen wie der »World Values
lichte Studie des Politologen Daniel J. Hopkins von der Univer- Survey« (SPIEGEL 1/2019), eine Erhebung zum weltweiten Wer-
sity of Pennsylvania. Die Teilnehmer wurden von 2007 bis 2018 tewandel, die liberale Ideale weiter auf dem Vormarsch sieht und
mehrfach interviewt, wobei Vorurteile gegenüber Schwarzen eine Abnahme von Feindseligkeiten wie Xenophobie und Homo-
und Lateinamerikanern auf der Skala der Forscher in den vergan- phobie beobachtet. Es ist nicht leicht, an Trump ein gutes Haar
genen beiden Jahren am deutlichsten zurückgingen. Wie kann zu lassen, aber das wäre ein willkommener Effekt: In einer Zeit
das sein, wenn es doch für Rassisten in der Trump-Ära eindeutig der wachsenden nationalistischen Gefahr erkennen womöglich
leichter geworden ist zu sagen, was man ja wohl noch wird sagen mehr und mehr Menschen, dass sie sich zu ihren liberalen Wer-
dürfen? Wenn doch rassistisch motivierte Gewalt in den USA ten bekennen müssen. In Deutschland kennt man das Muster
seit Trumps Wahl unleugbar zugenommen hat? Die Autoren, von Neonazimärschen: Es laufen ein paar braune Deppen durch
von den Werten selbst überrascht, halten die Ergebnisse für eine die Stadt, aber die spontan organisierte Gegendemonstration ist
Gegenreaktion. Während eine überschaubare Zahl von Radika- um ein Vielfaches größer. [email protected]
Vögel SPIEGEL: Ihr Einsatz für den Umwelt- vermisse die Rufe des Braunkehlchens,
Wo ist das Braunkehlchen, schutz wurde jahrelang erschwert. Die das Trällern der Feldlerchen und der
Stasi hat Ihre Wohnung abgehört, ver- Goldammern. Ihnen allen fehlen die
Herr Dörfler? deckte Ermittler verfolgten Sie, sabotier- Insekten als Nahrung. Die Küken sterben
ten Ihre Arbeit. Wie geht es Ihnen heute? einen leisen Tod, und niemand bemerkt
Ernst Paul Dörfler, 69, ist Schriftsteller, Dörfler: Ich bin heute freier, aber der diese Tragödie. Nur die Stille auf den Fel-
promovierter Chemiker und Mitbegründer Umwelt geht es nicht besser. Die DDR hat dern wirkt bedrückend.
der Grünen Partei in der DDR. die Ausbeutung der Natur innerhalb ihrer SPIEGEL: Was können wir tun?
Grenzen rücksichtslos praktiziert, in der Dörfler: Wenn wir unser Überleben sichern
SPIEGEL: Herr Dörfler, Ihr Buch über heutigen Zeit läuft sie global ab und ist wollen, müssen wir uns um die kleinen Mit-
Vögel wurde ein Bestseller. Interessieren viel subtiler und gnadenloser geworden. bewohner, die Insekten und die Vögel, bes-
sich wirklich so viele für das Harems- Die meisten Umweltprobleme wur- ser kümmern. Verlassen diese uns, werden
modell der Hühnervögel oder den Balz- den bis heute nicht gelöst, sie sie uns wohl oder übel mitnehmen. Wir
flug des Mäusebussards? haben sich vielmehr verschärft: wissen, was uns in diese prekäre Lage
Dörfler: Wir Menschen sind den Vögeln Treibhauseffekt, Artensterben, gebracht hat, und wir haben die Mög-
ähnlicher, als wir dachten. Doch wir ent- Nitrat im Grundwasser, Pestizide lichkeit, diesen Abwärtstrend zu stop-
ANDYWORKS / GETTY IMAGES
fernen uns immer mehr von der Natur und Plastik in der Nahrungskette. pen und umzukehren. Das geht
und ihren Regeln – oft nicht einmal zu SPIEGEL: Was fehlt Ihnen? nur mit einer entschiedenen Agrar-
unserem Vorteil. Viele Volkskrankheiten Dörfler: Ich vermisse die Balz der und Ernährungswende. JST
wie Bluthochdruck, Diabetes, Rücken- Großtrappen auf den Feldern. Ich Ernst Paul Dörfler: »Nestwärme.
schmerzen und psychische Erkrankungen Was wir von Vögeln lernen kön-
sind die Folge. Braunkehlchen nen«. Hanser; 288 Seiten; 20 Euro.
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Carporn tionieren. Das aber ist nur bei zügigem Beschleunigen möglich.
Kerkloh gab also einem seiner Mitarbeiter die Erlaubnis, den
Wagen auszuführen, auf die A 46, die sich nicht weit von der
Classic Remise durch den Düsseldorfer Süden zieht.
Wie der fast perfekte Diebstahl eines Luxusautos Es war nur wenig Sprit im Tank des Ferrari, deshalb steuerte
vor einer Garage in Grevenbroich endete Kerklohs Mitarbeiter die nächste Tankstelle an. Hier fragte
der Kunde, ob es möglich sei, dass er selbst den Wagen auf
der Autobahn testen dürfe. Der Verkäufer hatte keine Einwän-
Gesellschaft
Ein Gewerbegebiet im Südosten Münchens, zum ersten Mal bei meinem Hausarzt, der leicht 15? Was mache ich mit diesen 15 Ta-
an der Wand hängt ein DIN-A4-Zettel mit mich zu einem Spezialisten schickte. Die- gen? Da sortiert man sein Leben, schreibt
der Aufschrift »Wahlkreisbüro Jimmy ser wiederum hat mich sofort ins Kranken- Tagebuch, schreibt ein Testament, eine Pa-
Schulz MdB«. Wer den FDP-Politiker auf haus eingewiesen. tientenverfügung. Ich habe alle Verwand-
Twitter und Facebook besucht, sieht noch SPIEGEL: Wie lautete die Diagnose? ten noch mal eingeladen, die besten Freun-
immer einen wohlgenährten Mann Ende Schulz: Ich habe darüber bislang nicht öf- de. Ich lag ja im Krankenhaus. Ich habe
vierzig. Wer ihn trifft, erkennt ihn auf den fentlich gesprochen. Es ist Bauchspeichel- viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Und
ersten Blick nicht wieder. Schulz wog mal drüsenkrebs. Wie Sie vielleicht wissen, ich habe mit dem Leben abgeschlossen.
90 Kilogramm, jetzt sind es 48. Nach der gibt es da eine Überlebenschance von zwei SPIEGEL: Empfanden Sie Wut, dass es ge-
Begrüßung muss er sich die Hände des- Prozent. Zu diesen zwei Prozent gehöre rade Sie erwischt hat?
infizieren, jede Infektion ist für ihn lebens- ich nicht. Schulz: Nein, Wut ist keine Kategorie für
gefährlich. Schulz geht langsam und leicht SPIEGEL: Wie viel Zeit haben Ihnen die mich. Dann müsste ich ja irgendjemanden
gebückt, er hat kaum noch Muskeln. Zum Ärzte damals gegeben? dafür verantwortlich machen.
Sitzen braucht er ein Kissen, damit es nicht Schulz: Die Ärzte waren sehr zuversicht- SPIEGEL: Oder dachten Sie: »Das habe ich
wehtut. In seinem Büro steht eine Schlaf- lich, dass ich nach der OP mit einem Rest nicht verdient«?
couch, aber in dem gut zweistündigen Ge- Bauchspeicheldrüse überleben würde und Schulz: Nein, so bin ich nicht gestrickt,
spräch zieht er sich nur einmal kurz zurück. die Option habe, noch 10 oder 15 Jahre zu und so bin ich nicht erzogen worden. Als
leben. Aber als sie am 13. Februar vergan- ich mit anderen Patienten im Krankenhaus
SPIEGEL: Herr Schulz, wie geht es Ihnen? genen Jahres die Motorhaube aufgemacht lag, war da eine Frau, 78 Jahre alt, die klag-
Schulz: Mir geht es gut. Das ist erstaun- haben, sah das ganz anders aus. In einer te: »Warum ich? Warum straft mich Gott
lich, denn ich bin körperlich sehr ein- neunstündigen OP mit fünf Ärzten wurden mit dieser Krankheit? Ich wollte doch noch
geschränkt. Viele Dinge kann ich nicht mir Bauchspeicheldrüse, Magen, Milz und den 40. Geburtstag meines Sohnes miter-
mehr tun, aber das trübt meinen Lebens- Gallenblase entfernt. Diese Tage gehören leben.« Ich dachte nur, warum erzählt die
mut nicht. Die letzten Tage waren ein biss- mit Sicherheit zu dem Bittersten, was ich mir das? Ich kann mit Selbstmitleid nichts
chen schwieriger. Ich hatte Schmerzen im in meinem Leben erlebt habe. anfangen.
Bauchraum und habe mir Sorgen gemacht, SPIEGEL: War danach der Krebs weg? SPIEGEL: Glauben Sie an ein Leben nach
dass der Krebs wieder auf dem Vormarsch Schulz: Das dachten wir. Der Plan war, dem Tod?
ist. Aber seit gestern weiß ich, dass alles dass ich ein halbes, Dreivierteljahr Reha Schulz: Nein. Ich glaube, dass ich in den
in Ordnung ist. und Wiederaufbauphase mache und dann Erinnerungen der anderen Menschen wei-
SPIEGEL: In Ordnung? nach so anderthalb Jahren zurückkehre in terlebe, aber ich glaube nicht, dass ich als
Schulz: Der Krebs hat sich seit August vo- mein Leben. Aber im Juli waren diese Plä- Wesen nach dem Tod fortexistiere. Viele
rigen Jahres nicht verändert. Er ist da, aber ne zunichte, da wurden Metastasen in der Menschen sind schockiert, wenn ich sie
er ist durch die Chemotherapie eingefro- Leber festgestellt. damit konfrontiere: Ich sterbe bald. Auch
ren. Das ist eine sehr, sehr gute Nachricht. SPIEGEL: Die waren bei der ersten OP manche guten Freunde kommen nicht da-
Die Schmerzen haben also eine andere noch nicht da? mit klar. Sie sagen: »Du darfst die Hoff-
Ursache. Vielleicht hat es mit der Wirbel- Schulz: Nein, die haben sie da nicht gese- nung doch nicht aufgeben!« Ich gebe die
säule zu tun und damit, dass ich kaum hen, und die lassen sich auch nicht mehr Hoffnung auch nicht auf. Aber ich bin Rea-
noch Muskeln habe und keinen Sport operieren. Mein Körper würde eine zweite list genug, dass ich mich jetzt nicht an ei-
mehr treiben kann. OP nicht überstehen. Dann bekam ich nem Strohhalm festklammere. Wenn ich
SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass auch noch Fieber, und als ich im August an etwas glauben würde, was nicht ist, wür-
Sie Krebs haben? fragte, wie ist meine Lebenserwartung, ha- de ich mir ein Stück Lebensqualität rau-
Schulz: Ich hatte schon während des Bun- ben die Ärzte gesagt: drei Wochen. ben. Ich lebe unheimlich gerne, ich liebe
destagswahlkampfs 2017 Schmerzen. Ich SPIEGEL: Das heißt, Weihnachten sollten das Leben, aber ich habe keine Angst vor
dachte, das ist eine superstressige Zeit, da Sie nicht mehr erleben. dem Tod. Das ist für mich in Ordnung,
kann man Schmerzen haben vom Plaka- Schulz: Genau das war meine Frage. dass ich sterbe.
tieren, von wenig Schlaf, von schlechter Lohnt es sich noch, Weihnachtsgeschenke
Ernährung. Ich war bei drei Ärzten, aber für meine Kinder zu besorgen? Und die
die fanden nichts. Nach der Wahl war ich Antwort lautete: nein. »Wir haben zusammen geweint«
SPIEGEL: Was macht man, wenn man
* Das Gespräch führten die Redakteurn Christoph
glaubt, nur noch drei Wochen zu leben? Jimmy Schulz ist verheiratet und hat drei
Schult und Severin Weiland in Schulz’ Münchner Schulz: Ich habe überlegt, an wie vielen Kinder, zwei Töchter und einen Sohn.
Wahlkreisbüro. Tagen ich wohl noch fit bin. 10 Tage, viel- Schulz weiß, wie es sich anfühlt, früh die
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SANJAR KHAKSARI
Lindner und dem Ersten Parlamentari-
schen Geschäftsführer Marco Buschmann
angeboten, meine Ausschusssitze und mei-
Harley-Fahrer Schulz 2016: »Ich würde gern noch mal Motorrad fahren« nen Ausschussvorsitz an die Fraktion zu-
rückzugeben. Da haben beide gesagt, wa-
rum denn, mach das nicht.
SPIEGEL: Wie haben die Kollegen im Bun-
aufstehen, wenn ich vergessen hatte, das seinem Handy scannen kann, das finde ich destag reagiert?
Licht auszumachen. Jetzt sage ich: Alexa, eine witzige Idee. Schulz: Ich erlebe unheimlich viel Unter-
Lampe aus! Am Ende will ich mir eine ei- SPIEGEL: Was wollen Sie darauf spielen stützung, vor allem von denjenigen, die
gene Lösung bauen, damit keine Daten lassen? ich noch aus der früheren Enquete-Kom-
mein Haus verlassen. Ich hab schon relativ Schulz: Da bin ich mir noch nicht sicher. mission Internet und Digitale Gesellschaft
viel automatisiert: Lichtschalter, Fernseher. Aber das Witzige ist, dass ich das ja so pro- kenne: Manuel Höferlin, Lars Klingbeil,
Wenn ein Paketbote an meiner Tür klin- grammieren kann, dass es sich nach mei- Konstantin von Notz, Thomas Jarzombek
gelt, sehe ich das Videobild von der Haus- nem Tod verändert. Mit einem Zitat der oder Doro Bär zum Beispiel.
tür auf meinem Handy. Dann kann ich sa- Woche zum Beispiel. SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen sagen, echte
gen: Legen Sie’s vor die Tür, ich hol’s in SPIEGEL: Spielt da nicht auch ein wenig Freundschaften gebe es in der Politik nicht.
fünf Minuten ab. der Traum von der Unsterblichkeit mit? Schulz: Das erlebe ich anders. Ich habe
SPIEGEL: Bei der Erforschung neuer Schulz: Na ja, ich will ja nicht fortexistie- im Bundestag wenige, aber dafür echte
Krankheiten spielt ja auch der digitale Fort- ren. Ich kann mir vorstellen, dass Men- Freunde. Klar gibt es in der Fraktion auch
schritt eine zunehmend wichtige Rolle. schen, die zu meinem Grab kommen, ger- Konkurrenzdenken, aber das wirkt sich
Forscher arbeiten an Nanorobotern, die ne mehr wissen würden als Foto, Name, nicht mehr so zerstörerisch aus wie in den
in unseren Blutgefäßen unterwegs sind, Geburtsdatum, Todesdatum. Das ist ja das, Jahren 2009 bis 2013. Heute gehen wir
um Krankheiten zu entdecken oder so- was auf einem Grabstein draufsteht, viel- viel kollegialer miteinander um.
gar zu heilen. Halten Sie das für den rich- leicht noch ein blöder Spruch dazu: »Den- SPIEGEL: Wie oft sind Sie in Berlin?
tigen Weg? ken Sie immer daran, mich zu vergessen.« Schulz: Selten. Ich bin sehr vorsichtig ge-
Schulz: Warum nicht? Ich finde das un- Den finde ich ziemlich cool, er stammt von worden, meide Menschenmassen. Öffent-
heimlich spannend. dem Kunstprofessor Timm Ulrichs, einem liche Verkehrsmittel nutze ich ganz selten,
SPIEGEL: Im Silicon Valley träumen Inter- Dadaisten. und wenn, dann nur mit Mundschutz. Das
netmilliardäre sogar davon, den Tod zu SPIEGEL: Aber nicht für Ihren Grabstein? ist für die Mitreisenden beängstigend,
überwinden. Sie wollen das Gehirn eines Schulz: Nee, dann schon lieber meine wenn ich da im Flugzeug sitze. Neben dem
Menschen digitalisieren und ihn per Ava- Homepage drauf laufen lassen. Mundschutz trage ich Mütze, Kapuze und
tar weiterleben lassen, unabhängig von sei- Handschuhe, weil ich ganz fürchterlich
nem Körper. Würde Ihnen das gefallen? friere.
Schulz: Nein. Die Gesellschaft hat immer »Viele aus der eigenen Fraktion SPIEGEL: Wie leiten Sie den Ausschuss
davon profitiert, dass Menschen auch ir- haben mich nicht erkannt« von München aus?
gendwann mal gehen und deswegen etwas Schulz: Die Sitzungen machen nur einen
Neues entstehen kann. Wenn ich in hun- Schulz stammt aus einer sehr politischen Bruchteil der Zeit aus, sie leitet mein Stell-
dert Jahren immer noch denselben Quark Familie. Sein Vater war Professor für Volks- vertreter Hansjörg Durz von der CSU. Ich
erzähle, wäre das das Ende von Innovation. wirtschaftslehre an der Bundeswehruni- kümmere mich um die Vorbereitung von
SPIEGEL: Auch die Art und Weise, wie wir versität in München. Seine Mutter flüchtete Entscheidungen und Vermittlung im Hin-
um Menschen trauern, verändert sich mit kurz vor dem Mauerbau in den Westen, um tergrund.
der digitalen Revolution. Todesanzeigen ihrer Verhaftung durch die DDR-Behörden SPIEGEL: Wir haben gehört, dass Sie sich
bleiben im Netz erhalten, in den Nieder- zu entgehen. Bei Besuchen der Verwandten neuerdings bei den Fraktionssitzungen der
landen gibt es Grabsteine mit eingebauten in der DDR wurde die Familie regelmäßig FDP zuschalten lassen.
Bildschirmen, wo man Filme des Verstor- schikaniert, trotzdem gelang es ihr immer Schulz: Anfangs haben meine Mitarbeiter
benen anschauen kann. wieder, verbotene Dinge in den Osten zu eine Sondererlaubnis bekommen, an den
Schulz: Ich könnte mir auf meinem Grab schmuggeln. Einmal baute Jimmy Schulz Fraktionssitzungen für mich teilzunehmen.
einen QR-Code vorstellen, den man mit einen Matrizendrucker auseinander und Im August vergangenen Jahres dachte ich
ja nicht, dass wir so etwas wie ein Video- einandergesetzt. Für mich ist das eine Op-
konferenzsystem überhaupt noch brau- tion. Wenn ich unter erheblichen Schmer-
chen. Wozu denn, ist ja Sommerpause, die zen leide und mir die Kontrolle über mein
überlebe ich eh nicht. Aber nachdem sich Leben und meinen Körper entgleitet,
diese Erwartung nicht eingestellt hat, habe wenn ich nur in einem von Drogen verne-
ich zu Marco Buschmann gesagt: Ich hätte belten Zustand dahindämmere und nur
gern eine Lösung dafür, dass ich auch an noch eine Stunde pro Tag bewusst erlebe,
Fraktionsvorstand und Fraktionssitzung dann würde ich mich nicht scheuen zu sa-
teilnehmen kann. Wir haben recherchiert gen: Jetzt reicht’s.
und herausgefunden, dass der Bundestag SPIEGEL: Sterbehilfe ist in Deutschland
diese Technik bereitstellen kann. Seit vier umstritten, auch wegen der nationalsozia-
Wochen nehme ich jetzt per Videoschalte listischen »Euthanasie«-Verbrechen.
an den Sitzungen teil. Ich bin in dem Saal Schulz: Ich wische die Bedenken nicht
Gesellschaft
Doktor Fleck
eines mir unbekannten Mannes, der Gerald hieß. Ich rief
wieder an. Die Schwester sagte, sie schicke mir gleich meinen
Befund. Das Blutbild von Gerald solle ich vernichten. Ich
wollte nun wirklich die Ärztin sprechen. Die sei in der Sprech-
stunde, sagte sie. Und danach habe sie ja die Operation.
Leitkultur Alexander Osang über deutsche Klar, sagte ich mit der Unterwürfigkeit eines Patienten,
Volksgesundheit, weltweit der sehr weit weg ist.
Ich setze Sie auf die Telefonliste der Ärztin, sagte die
Schwester. Sie ruft dann zurück.
ein Künstlername. Ich mag Frau Ihre Praxis hieß »Spot«. Spot
Fleck. Sie ist seit 20 Jahren meine heißt Fleck. Das klang so, als würde
Hautärztin. Ich vertraue ihr. Sie ich meine Berliner Behandlung im
kennt alle meine Sommersprossen. Nahen Osten irgendwie fortsetzen.
Ende April fand sie auf meinem Na- Eine Art deutsch-israelische Koope-
senflügel eine raue Stelle. Sie nahm ration. Ein fliegender Fleckentep-
eine Probe. In zwei Wochen sollte pich. Die eine Frau Fleck kostete
das Ergebnis da sein. Sie schrieb Hautarztpraxisschild in Tel Aviv
tausend Schekel, die andere war zu
ein Rezept für den Notfall. Ich flog beschäftigt. Michael Moore hat in
zurück nach Tel Aviv. Vier Wochen seinem Film »Sicko« europäische
später rief ich an. Ihr Ergebnis ist schon seit zwei Wochen Gesundheitssysteme hoch gelobt, weil sie so viel mensch-
hier, sagte die Schwester. Wir haben versucht, Sie zu erreichen. licher seien als die amerikanischen. Ich glaube, es ist kompli-
Das sagt mein Hausmeister in Tel Aviv auch immer. zierter. Ich habe es schon damals auf dem Rückflug von Sylt
Wie ist denn das Ergebnis?, fragte ich. gewusst. Es sind nicht wir. Das System ist krank.
Sie sagte, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Das Die israelische Frau Fleck war so nett wie die deutsche.
ist selten ein guter Anfang. Sie hätten Dinge gefunden, die Wir übersetzten gemeinsam meinen Befund. Dann lernte sie
eine Vorstufe zu weißem Hautkrebs bedeuten könnten. Sie meine Sommersprossen kennen. Die Stelle auf meinem Na-
nannte mir eine Salbe, die ich auf die Stelle aufzutragen hätte. senflügel beunruhigte sie weniger als ihre deutsche Kollegin.
Ich solle nicht zu lange warten. Maximal vier Wochen. Sie können die Salbe rauftun, aber dann entzündet sich alles,
Aber ich lebe im Ausland. Ich habe nur das deutsche und es ist ja sehr heiß hier im Sommer. Wir beobachten das,
Rezept, sagte ich. Außerdem waren ja bereits zwei Wochen sagte sie.
vorbei. Wenn sie zwei oder drei Monate warten, sei es auch Kommen Sie doch im Herbst wieder. Es klang so, als würde
nicht so schlimm, sagte die Frau am Telefon. ich den Sommer überleben. Wir redeten noch ein wenig
Mein Vertrauen in ihre Diagnose war angekratzt. Ich fragte, über Deutschland und Israel, wobei sie Israel kritisierte und
ob sie mich zu ihrer Chefin durchstellen könne. Die sei leider ich Deutschland. Und dann sagte sie: Sie haben schon viel
in der Sprechstunde, sagte die Schwester. Sie würde mir aber Sonne gesehen in Ihrem Leben. Ich nickte. Eigentlich ist das
sofort meinen Befund schicken. Zwei Stunden später war im- ein schöner Satz. Für einen Deutschen. Ich fühlte mich
mer noch kein Befund da. Ich rief an. Gucken Sie doch mal besser.
im Spam nach, sagte die Schwester. Da fand ich den Befund Den Befund von Gerald habe ich behalten. Für den Fall,
eine Stunde später, zusammen mit der ersten Nachricht. dass er auch noch auf seinen Anruf wartet. Ich hab mir mal
Allerdings war es nicht mein Befund, sondern das Blutbild Ihr Blutbild angeguckt, Gerald. Das sieht so weit gut aus. I
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Wirtschaft
»Geld ist ein Gegner, den ich nicht aus den Augen lasse.« ‣ S. 70
Windpark in Brandenburg
Umfrage Flüchtlingshilfe Deutschland. Die Umfra- stellung von Flüchtlingen. Jedes sechste
Mittelständler stellen gern ge ist nicht repräsentativ, befragt wurden Unternehmen nennt Unklarheiten etwa
93 Mittelständler, von denen 69 aktuell bei der Aufenthaltsdauer beziehungs-
Flüchtlinge ein Flüchtlinge beschäftigen. Fast alle machen weise beim rechtlichen Rahmen als größte
damit gute bis sehr gute Erfahrungen, Sorge. Mangelnde Qualifikation der
Die meisten mittelständischen Unter- lediglich sechs Firmen berichten von nega- Flüchtlinge gaben nur acht Unternehmen
nehmen sind mit Flüchtlingen als Ar- tiven Erlebnissen. Allerdings existieren als Hindernis an. Daher fordern die
beitnehmern zufrieden. Zu diesem Ergeb- noch immer Hürden. Fast 50 Prozent der Mittelständler vor allem Sprachkurse
nis kommt eine Stichprobenumfrage Firmen sehen mangelnde Deutschkennt- sowie eine größere Rechtssicherheit für
der Agentur Pollytix im Auftrag der Uno nisse als größtes Hindernis bei der Ein- Unternehmen und Flüchtlinge. MAD
IMAGO STOCK
Stellplätzen in Parkhäusern vorzu- Fischer: Das halten wir gesehen: Es bringt nichts,
schreiben. Der Preis fürs Parken ließe grundsätzlich für richtig. Einwegtüten durch Ein-
sich dann je nach Schadstoffausstoß Aber wenn der Handel sol- wegtüten zu ersetzen. AKN
variieren. In dem Papier stellt der Auto-
hersteller aber auch klar, dass er nicht
an eine rein batterieelektrische Zukunft
glaubt: Vor allem auf langen Strecken Lufthansa wollte es schon im April verlängern.
könnten Fahrzeuge mit Brennstoffzelle Studentenjobs in Gefahr Dazu kam es nicht, weil die UFO-Ver-
sinnvoll sein. Allerdings sei dafür »ein treter die Vereinbarung nur im Rahmen
deutlicher Ausbau einer länderübergrei- Der Konflikt zwischen der Lufthansa eines übergreifenden, von ihnen unlängst
fenden Wasserstoff-Tankstelleninfra- und der Flugbegleitergewerkschaft UFO gekündigten Tarifvertrags fortschreiben
struktur« nötig. Auch Benzin- und bedroht die Jobs von Studenten und Teil- wollen. Dazu aber verweigert die Luft-
Dieselmotoren haben laut BMW noch zeitkräften. Unter dem Namen »Study hansa Gespräche, weil sie die Kündigung
eine Zukunft. Der Verbrennungs- and Fly« gibt es bei der Firma ein flexi- und die Vertretungsbefugnis der amtie-
motor werde »noch für viele Jahre eine bles Arbeitsmodell, das auf diese Gruppe renden UFO-Vorstände anzweifelt. Beide
tragende Rolle spielen«. SH, GT zugeschnitten ist. Es erlaubt, nur wenige Seiten weisen sich gegenseitig die Schuld
Tage im Monat zu fliegen und häufig am drohenden Auslaufen der beliebten
erst kurz zuvor zu entscheiden, welches Teilzeitregelung zu. Die UFO-Funktio-
Datum man auswählt. Das Abkommen näre wollen trotzdem nicht aufgeben und
läuft Ende Dezember aus, der Konzern streben eine »Nachfolgeregelung« an. DID
in die Zukunft als die meisten anderen verlauf. Die Düsseldorfer Forscher spre-
Wirtschaftsforscher. Laut der jüngsten chen von einem »außergewöhnlichen
Prognose des IMK wird die deutsche Bild« der deutschen Konjunktur. Erst-
Wirtschaft in diesem Jahr um 1 Prozent mals seit Langem werde die Entwicklung
und 2020 um 1,6 Prozent zulegen. Die weniger vom Außenhandel als von der
Bundesregierung rechnet aktuell mit »regen Aktivität« des inländischen Dienst-
Fertigung der Hybridautoreihe BMW i8 lediglich 0,5 Prozent (2019) und 1,5 Pro- leistungs- und Bausektors getragen. MSA
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Manager
Claassen
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Wirtschaft
A
ls Erstes sieht man eine gewaltige Sie alle intrigieren gegen ihn, gegen sei- Vertrauensverlust – und dem archaischen
Stirn, die durch den Türrahmen ne Firma und damit genau genommen ge- Kampf zweier gewaltiger Egos.
des Chefbüros bricht. Darunter gen die ganze Welt. Denn mit den Produk- Für Utz Claassen geht es mit Syntellix
Utz Claassen in Kopf-durch-die- ten von Syntellix könnten Jahr für Jahr noch mal um alles. Der 56-Jährige will be-
Wand-Stimmung. Keine gute Idee, sich Tausende Leben gerettet und viel Leid ge- weisen, dass die Beletage der deutschen
ihm in den Weg zu stellen. mindert werden. Industrie ihn zu Unrecht ausgemustert hat.
Hektisch flitzen die Mitarbeiter aus dem Syntellix stellt Schrauben und Pins für Der Hannoveraner gilt als schwieriger
Weg, Bahn frei für den Boss. Der stampft kleine orthopädische Eingriffe her. Das Charakter, sein Ego als schwer auszuhal-
grußlos den schmalen Gang entlang, der Besondere daran ist, dass diese metalli- ten, seine Etikette als mitunter rustikal.
Boden bebt unter seinen schwarzen Buda- schen Implantate, Handelsname Magne- Und er neigt zum Prozessieren. Seit sei-
pestern. Die Zeiten, in denen die dicken zix, aus einer Magnesiumlegierung beste- nem Gastspiel bei Solar Millennium, wo
Teppiche der Vorstandsetagen jeden Miss- hen, die sich mit der Zeit im Körper auf- er nach 74 Tagen mitsamt der Antrittsprä-
klang diskret schluckten, sind Geschichte. löst, anders als etwa Titan. Zugleich wirkt mie von neun Millionen Euro wieder ging,
Nur die dicke goldene Uhr und die kost- sie antientzündlich und wird sogar zu neu- steht er zudem im Ruf, gierig zu sein. Zwar
baren Manschettenknöpfe erinnern noch em Knochengewebe umgewandelt. Das gab ihm ein Aufsichtsratsmitglied später
an seine Zeit als Herrscher in glitzernden macht eine zweite Operation zur Entfer- recht, dass die Firma ihn über ihren Zu-
Firmenzentralen. nung überflüssig und spart Zeit, Geld und stand getäuscht hatte. Das Renommee war
Der ehemalige Topmanager, der einst Schmerz. Wahrlich eine brillante Idee. trotzdem hin. Weswegen er das Unterneh-
die VW-Tochter Seat, das Pharmaunter- Und Utz Claassen wäre nicht Utz Claas- men auf Rufschädigung verklagte.
nehmen Sartorius und den Energieriesen Seither ist der Mann schwer vermittel-
EnBW befehligte, arbeitet heute ziemlich bar. Selbst sein Angebot, die bankrotte Air
beengt im 6. Stock am Aegidientorplatz, »Wir wollen in unserer Berlin zu übernehmen, wurde vornehm
drei Etagen unter dem End- und Dick- übergangen.
darmzentrum Hannover. Von hier aus will Welt der Tesafilm Um wieder einzusteigen ins Spiel um
er die Medizinwelt aus den Angeln heben. und die Nivea-Creme Macht, Ruhm und Reichtum, startete er
Geht alles nach seinem Plan, könnte diese mit eigenem Geld als Unternehmer durch.
Büroetage einmal ein Pilgerort werden, so werden.« Als Hauptaktionär von Syntellix leitete er
berühmt wie die Garagen, in denen Apple zunächst den Aufsichtsrat und verschliss
und Microsoft geboren wurden. vier Firmenchefs in zehn Jahren. Keiner
Wenn da nur nicht dieses Sperrfeuer sen, wenn er aus solch einer Idee nicht et- fand Gnade in den Augen des Meisters.
wäre, das ihn andauernd am Aufbau sei- was besonders Großes erschaffen wollte – Verzweifelt von so viel Unfähigkeit, über-
nes Milliardenimperiums hindert. Die auch wenn sie nicht von ihm ist. Doch nahm er Anfang 2018 selbst das operative
Wut treibt ihm die Röte in den Nacken, dazu später. Geschäft, um Syntellix endlich zum Global
wenn er von den Machenschaften berich- Mit der Rhetorik des Silicon Valley be- Player zu machen.
tet: »Seit fast vier Jahren wird nach unse- schwört er den Erfolg: Syntellix sei ein Dis- Den frei gewordenen Sitz im Kontroll-
rem Eindruck mit Mitteln, wie man sie ruptor, ein Game Changer, vergleichbar gremium übertrug er seiner Gattin Annet-
von der organisierten Kriminalität kennt, mit Überfliegern wie Uber, Tesla oder der te. Assistiert wird ihr vom ehemaligen
versucht, dieses Unternehmen zu maro- Alphabet-Automobiltochter Waymo. Für Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen, den
dieren«, sagt Claassen und bebt vor Furor. alle, die von diesem neumodischen Kram Claassen als Kleininvestor und Vize-Auf-
Die Kreaturen, die seine Firmengründung nichts verstehen, übersetzt er: »Wir wol- sichtsratschef gewann.
Syntellix ausbremsen, ausplündern, viel- len in unserer Welt der Tesafilm und die Was kann da noch schiefgehen?
leicht sogar vernichten wollen, erscheinen Nivea-Creme werden.« Dass die Firma seit zehn Jahren bei be-
in seiner Schilderung skrupelloser als die Das klingt nach Goldader und reicher scheidenen Umsätzen nur Miese macht,
Camorra: »Für einen Mafia-Vergleich Beute, und genau das soll es sein, denn Claas- bestätigt Claassen nur darin, in die Liga
müsste man sich in Palermo und Neapel sen will mit Syntellix Kasse machen. Er der Ubers und Teslas zu gehören. Stolz
entschuldigen.« plant einen Börsengang in Singapur, auch verweist er auf die Auszeichnungen und
Für ihn gibt es keinen Zweifel: Da drau- wenn die 33 Mitarbeiter zehn Jahre nach Preise. Am 28. Mai wurde Syntellix erst
ßen im Markt ist eine gigantische Ver- Firmengründung am Claim nur kratzen. wieder in einer feierlichen Gala in Berlin
schwörung im Gange, angezettelt von ge- Um die Ader richtig auszubeuten, saust der German Innovation Award in Gold für
feuerten Mitarbeitern und missgünstigen Claassen als Ein-Mann-Vertriebsmaschine einen »Quantensprung in der Implantolo-
Konkurrenten, vor allem aber: von seinem um den Globus und verbreitet die Ge- gie« verliehen.
Ex-Freund und Ex-Teilhaber, dem Finanz- schichte von der Revolutionierung des Me- Ein Blick auf die Wettbewerbsbedin-
investor und ehemaligen Drückerkönig dizinmarkts. Eine andere Geschichte aber gungen enthüllt: Wer Gold verliehen
Carsten Maschmeyer, auch bekannt als TV- bleibt meist unerzählt: die von Manage- bekommt, muss Servicegebühren von
Löwe und Gatte von Veronica Ferres. mentfehlern, Absatzschwierigkeiten und 4450 Euro bezahlen. Claassen stört das
Wirtschaft
nicht. Lächelnd posiert er mit der Urkunde größten Markt für Implantate, für China kum München sei noch nie mit Syntellix-
und lässt sich als Gründer feiern. Worüber sowie Indien stehen sie noch aus. Produkten gearbeitet worden, so ein Spre-
man fast vergisst, dass die Idee zu Syntellix In Syntellix-Präsentationen für Investo- cher. Ein dummer Fehler des Website-
nicht von ihm stammt, sondern von sei- ren scheint es dennoch keine Grenzen des Gestalters vor mehreren Jahren sei das ge-
nem einstigen Nachbarn. Wachstums zu geben: Zuerst, so wird dort wesen, der dann aber wahr wurde, erklärt
Werner Scholz, Inhaber eines darben- illustriert, gehe die Reise zum Mond, dann Claassen. Die Klinik weiß nichts davon:
den Unternehmens für Medizintechnik, zum Mars, von dort aus ins Solarsystem Nach wie vor seien »die Produkte nicht
wohnte in Hannover neben Utz Claassen. und vielleicht sogar ins Universum. bei uns im Einsatz«.
Wenn er im Garten saß, musste er oft un- Tatsächlich deutet einiges darauf hin, Auch im Universitätsklinikum Düssel-
freiwillig den Monologen seines dozieren- dass der Weg weit werden könnte. dorf hat es »in den letzten zwei Jahren kei-
den Nachbarn lauschen. Als er herausfand, Denn die Welt außerhalb des hannover- ne Bestellungen der Produkte« gegeben.
um wen es sich handelte, beschlich ihn schen Bürogebäudes will Claassens Eupho- Das Unfallkrankenhaus Berlin, das Helios
eine Idee. rie nicht so richtig teilen. Das Unterneh- Klinikum Schwelm oder das Universitäts-
Scholz hatte zu diesem Zeitpunkt be- men kämpft mit hohen Schulden und der klinikum Heidelberg: Alle geben an, nur
reits ein Patent auf eine resorbierbare Ma- millionenschweren Klage eines ehemali- eine geringe Anzahl Magnesiumschrauben
gnesiumschraube in der Tasche, doch kein gen Großinvestoren. Die Produktpalette eingesetzt zu haben. In mehr als 20 Uni-
Geld, es zu realisieren. Er lauerte dem wächst langsamer als ursprünglich geplant. versitätskliniken würden Syntellix-Produk-
Fußballfan Claassen im Stadion von Han- Vor allem aber begegnen sechs Jahre te regulär verkauft, behauptet Syntellix-
nover 96 auf und schwärmte ihm von dem nach Markteinführung diejenigen, die das Medizinvorstand Martin Kirschner, nennt
Potenzial vor, das in dieser Idee stecke. Produkt kaufen und anwenden sollen, der aber nur drei.
Der Manager biss an. Claassen-Schraube mit Skepsis: Ärzte. Vie- Die Kundenbindung wird erschwert
Anfang 2008 gründeten die beiden len ist das Produkt noch suspekt, zu un- durch Claassens unsensibles Geschäfts-
Männer Syntellix. Claassen, der das Grün- verständlich, zu kompliziert. Der Berliner gebaren. Seine Freude an juristischer Aus-
dungskapital von 50 000 Euro allein be- Orthopäde und Großanwender Hubert einandersetzung hat sich in der Szene he-
glich, bekam 60 Prozent, Scholz wurde Klauser, der schon mehrere Hundert von rumgesprochen. In Pitbullmanier geht er
Vorstandschef und erhielt wegen seiner Claassens Schrauben in Großzehen ge- gegen Ärzte vor, die negative Aussagen
»Vorleistungen« 40 Prozent. Er hatte die dreht hat, bekam mächtig Gegenwind, als zum Einsatz von Magnezix machen. Eini-
Kontakte zu Materialwissenschaftlern her- er auf einer Fußärztetagung im Frühjahr ge wurden von Syntellix aus formalen
gestellt, zu Produktionsbetrieben und vor Gründen angezeigt. Das Unternehmen
allem zu einem Arzt, der das Material an versuchte, die Glaubwürdigkeit der kriti-
der Medizinischen Hochschule Hannover Von Syntellix’ geistigem schen Aussagen zu erschüttern. Das mö-
testete und beim Zulassungsverfahren half. gen Ärzte nicht.
Dafür hat Scholz Belege. Vater will Claassen heute Dabei hat Claassen nicht immer unrecht.
Utz Claassen lernte schnell. Auch, dass nichts mehr wissen. Manch ein Mediziner mag die Schrauben
er Scholz bald nicht mehr brauchen würde. falsch eingesetzt, Röntgenbilder falsch be-
Gut vier Monate nach der Gründung, Ein Bankrotteur sei der. wertet haben, manche Studie hatte formale
Scholz war gerade mit seiner anderen Fir- Fehler. Doch wer mit einem neuartigen
ma gescheitert, entledigte sich Claassen Medizinprodukt an den Markt will, sollte
seines Kompagnons. Er drohte, Scholz we- in Augsburg einen Vortrag über den Ein- eine Diskussion um Nebenwirkungen und
gen Untreue zu belangen. Es soll um einen satz von Magnezix hielt. Auffällig viele Kontraindikationen offen führen, um Ver-
Firmenwagen gegangen sein. kritische Fragen seien aus dem Publikum trauen zu gewinnen.
Von Syntellix’ geistigem Vater will gekommen und auch ein negativer Erfah- Claassen räumt Fehler ein. Syntellix
Claassen heute nichts mehr wissen. Ein rungsbericht einer Ärztin, berichten Teil- habe versäumt, die Ärzte mit den Eigen-
Bankrotteur sei der. Nullkommanull habe nehmer. schaften des neuen Materials besser ver-
er zur Firma beigetragen. Seine beste Tat Klauser hatte im Februar zuvor schon traut zu machen und sie daran auszubil-
sei gewesen, ihm die Idee verraten zu ha- in einem Fachmagazin eine Studie veröf- den. Schuld ist nicht er: »Es gab ein totales
ben. fentlicht, in der der Einsatz von Magnesi- Versagen des damaligen Managements,
Mit einer ungeduldigen Handbewegung umschrauben mit denen von Titanschrau- die Produkte und ihre Wirkungsweise rich-
schiebt Claassen das Thema zur Seite. Er ben verglichen wurde. Das Ergebnis war tig zu erklären.« Tatsächlich ist es für eine
muss den Börsengang in Singapur vorbe- positiv: Magnesiumprodukte waren denen kleine Firma kaum zu stemmen, Ärzte zu
reiten. In seiner Vorstellung gibt es bald aus Titan im Ergebnis und in Sachen Kom- teuren Fortbildungen zu karren, wie das
keinen chinesischen Ballenzeh, keinen in- plikationen »nicht unterlegen«, hätten die Pharmakonzerne tun.
donesischen Hallux valgus mehr, der nicht aber eben den zusätzlichen Vorteil, dass Immerhin funktioniert Syntellix’ Mar-
mit einer Syntellix-Magnesiumschraube sie nicht wieder entfernt werden müssten. ketingabteilung wie geschmiert. Schaubil-
korrigiert werden kann. Allerdings steht am Ende der Veröffentli- der auf der Website zeigen Anwendungs-
Die Zeit drängt, denn weltweit forschen chung: »Der Autor arbeitet als Berater für bereiche am Ellenbogen, der Hüfte, am
zahlreiche Firmen an bioabsorbierbaren die Syntellix AG.« Oberschenkel und Knie, am Schlüsselbein,
Magnesiumimplantaten. Syntellix immer- Auch andere, unabhängige Studien ka- am Arm, Hand, Fuß, Knöchel. Eine echte
hin hat schon 2013 ein Produkt zertifiziert men im vergangenen Jahr zu positiven Ein- Allround-Wunderwaffe also?
und ist Marktführer. In einem bislang zu- schätzungen. Doch ein Run auf die Pro- Wahr ist: Die Schraube wird derzeit
gegebenermaßen winzigen Business. Tau- dukte hat offenbar nicht eingesetzt. fast ausschließlich für sehr kleine Eingriffe
sende seien erfolgreich operiert worden, Der Klinikfinder auf der Syntellix-Web- am Zeh und an der Hand eingesetzt. Die
sagt Claassen und verweist auf zufriedene site weist gerade mal 67 Einrichtungen auf, Hauptindikationen sind Kahnbeinbrüche
Ärzte und Patienten. in denen »Ärzte erfolgreich mit Magnezix- und Großzehenkorrekturen. Zwischen 145
Für die EU und einige andere Länder Implantaten arbeiten«. und 185 Euro kostet ein Schräubchen. Da
haben Claassens Schrauben und Pins Zu- Fragt man nach, wundert sich so man- fällt es mit einem Tesla doch etwas leichter,
lassungen erhalten – für die USA, dem cher der Gelisteten. Im Städtischen Klini- Geld zu machen.
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Wirtschaft
SPIEGEL-Gespräch
Alle Deals sollen nach einem ähnlichen hen war. Claassen teilt mit: »Etwaige Zah-
Muster abgelaufen sein: Die Finanziers sol- lungsverpflichtungen gegenüber welchen live im Bucerius
len zunächst größere Aktienpakete von Vertragspartnern auch immer leiste ich
Claassen gekauft haben. Meist kurze Zeit stets fristgemäß.«
Kunst Forum
später sollen sie Kapitalerhöhungen zwi- Was Maschmeyer natürlich wieder auf
schen 30 und 40 Euro in ähnlicher Grö-
ßenordnung gezeichnet haben.
den Baum treibt. Die Geschäfte seien klar
gegen die vertraglichen Absprachen, be-
Italien und die Deutschen –
Doch möglicherweise hätte Claassen die haupten die Anwälte des Investors. Sie for- eine Beziehungs-
Aktienverkäufe in dieser Form nicht voll- dern eine Aufdeckung aller Transaktionen
ziehen dürfen, weil die Konsultationsklau- und eine Zahlung in Höhe von mindestens geschichte
sel nicht eingehalten wurde. Beide Behaup- 3,9 Millionen Euro. Je nachdem, welchen
© Anastasiya Lobanovskaya
tungen stehen sinngemäß in einer millio- Verkaufspreis das Gericht für die Aktien
nenschweren Klage gegen Claassen, die ermittelt, könne die Forderung noch deut-
Ende März dieses Jahres beim Landgericht lich steigen.
in Hannover eingereicht wurde und dem Für Claassen ist das alles Unsinn und
SPIEGEL vorliegt. Teil der Mafia-Strategie, mit der sein Un-
Sie stammt – Überraschung – von sei- ternehmen zerschlagen werden soll. Zu
nem alten Freund Carsten Maschmeyer. Details will er sich nicht äußern. Nur so
Der fühlt sich einmal mehr aufs Übelste viel: Er habe sich zu jeder Zeit streng an
hintergangen. Was war passiert? die vertraglichen Absprachen mit Masch-
Claassen hatte Maschmeyer laut Klage- meyer gehalten. Wenn jemand Verträge
schrift zunächst informiert, dass er die bei gebrochen habe, und zwar vielfach, dann
ihm geparkten Aktien Mitte 2017 in zwei sei es sein Kontrahent.
Tranchen verkauft habe. Das Vetorecht Und deshalb hat er persönlich – ebenso
käme nicht zum Tragen, so Claassen, was wie seine Firma Syntellix – Klage gegen Venedig
bedeuten würde, dass der Kaufpreis über Maschmeyer eingereicht: Dieser habe die
15 Euro gelegen haben musste. gemeinsame Vereinbarung gebrochen und
Wie Nachforschungen der Maschmeyer- zudem dem Unternehmen schweren Scha- Renaissance und Dolce Vita, Goethes
Anwälte ergaben, soll das auf dem Papier den zugefügt. Bildungsreise und die üblen Geschäfte der
sogar der Fall gewesen sein. Verkauft wur- Am Mittwoch vergangener Woche er- Mafia, Tourismus und nicht zuletzt auch
de das Paket danach an eine Syndrobium höhten er und seine Firma die Klagesum- das düstere Kapitel des Faschismus:
me und zerrten den Streit ans Licht der Über die vielschichtige und wechselhafte
Öffentlichkeit. Statt einer Million Euro be- Beziehung zwischen Deutschland und
Dreckige Wäsche wurde trage die Schadenshöhe nun 6,33 Millio- Italien spricht SPIEGEL -Redakteurin
nen Euro – möglicherweise müsse man
Eva-Maria Schnurr mit dem renommierten
öffentlich gewaschen, Maschmeyer sogar noch für weitere Schä-
Renaissance-Historiker und profunden
man beschimpfte den jenseits einer Milliarde Euro in An-
Italienkenner Volker Reinhardt.
spruch nehmen, heißt es in einer Presse-
und verklagte sich. mitteilung. Was wohl bedeutet: Scheitert
der Börsengang, könnte man sich ja das
Geld bei Maschmeyer holen.
GmbH in Niedersachsen, für 15,01 pro Ak- Wie er bei einem so geringen Umsatz
auf eine solche Forderung kommt, bleibt
tie. Der Eigentümer: Utz Claassen.
Nun könnte man das Armdrücken der unklar. Maschmeyers Anwalt Daniel Loch-
Dienstag, 25. Juni 2019, 20 Uhr
beiden Unternehmer unter der Rubrik ner bezeichnete die Vorwürfe am Mitt- Bucerius Kunst Forum
»ein Schlitzohr bescheißt das andere« ab- woch als »haltlos und vorgeschoben«. Alter Wall 12, 20457 Hamburg
heften. Claassen wolle damit nur ablenken, »um
Doch Maschmeyers Anwälte hegen den seine Pflichten zur Zahlung des noch ge-
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen
Verdacht, dass Claassen den Investoren schuldeten Aktienkaufpreises nicht erfül- bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich.
große Aktienpakete zu deutlich höheren len zu müssen«. Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro zzgl. Gebühren)
Preisen als 15,01 Euro verkauft und dabei Es scheint, als seien die beiden Kontra- berechtigt am Veranstaltungstag zum Besuch der
ordentlich Kasse gemacht hat. Damit habe henten so schicksalhaft ineinander verwo- Ausstellung »Here We Are Today. Das Bild der Welt in
er den Vertrag mit Maschmeyer bewusst ben, dass es kein Entkommen gibt. Foto- & Videokunst« (7. Juni – 29. September 2019).
verletzt, weil der entweder gar nicht oder Claassen kontert wie immer deftig: Im
falsch über die Verkäufe informiert wor- Zuge dieser viel schwerwiegenderen Ver- Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
den sei. Claassen sagt, er habe sich jeder- fahren würden sich die »absurden Vorwürfe 19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
geöffnet. Änderungen vorbehalten.
zeit gesetzestreu und vertragskonform ver- Maschmeyers« in Luft auflösen. Genauso
halten und niemanden getäuscht. Alle wie die gezielt gestreuten, unberechtigten
Transaktionen seien aktienrechtskonform Zweifel an der Zuverlässigkeit der Syntel-
gelaufen. lix-Produkte. Die gesamte »systemische
Dagegen behaupten Maschmeyers An- Marodisierungskampagne ist unzulässig,
wälte in der Klage, dass Claassen selbst unbegründet, haltlos und die Verkehrung
den niedrigen Kaufpreis vorerst nicht voll- der Wahrheit in ihr Gegenteil«.
umfänglich zahlen wolle. Claassens An- Frank Dohmen, Michaela Schießl
sicht sei, dass er das erst im Dezember Mail: [email protected],
2026 tun müsse. Ein Datum, das im Ver- [email protected]
trag als letztmöglicher Zeitpunkt vorgese-
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Wirtschaft
PAUL-LANGROCK.DE
Panorama von Berlin-Neukölln: »Die Menschen spüren, dass der soziale Friede durch die hohen Wohnkosten in Gefahr ist«
Berliner Häuserkampf
Immobilien Der Senat der Hauptstadt plant radikale Maßnahmen gegen die Wohnungsnot.
Er will die Mieten für fünf Jahre einfrieren. Darf er das?
ruf zählt eine Art Countdown die Zeit bis Ein solcher Eingriff könnte für den Ver- dings nur bei der Erstvermietung. Der
dahin. mieter an die Substanz gehen. Anders ge- nachfolgende Mieter könnte sich auf den
Der Deutsche Mieterbund hingegen be- sagt: Ihm drohen Verluste. Deckel berufen. »Absurd« findet Haus
grüßt die Idee eines Mietendeckels natur- Kai Warnecke, Präsident von Haus & & Grund-Präsident Warnecke die Pläne.
gemäß. Sie sei »eine bedenkenswerte und Grund Deutschland, kündigt deshalb jetzt »Ich bewundere jeden, der jetzt noch in
naheliegende Alternative«, sagt Geschäfts- schon an, gegen einen Mietendeckel in Berlin in eine Mietwohnung investiert.«
führer Ulrich Ropertz. »Wir unterstützen Berlin klagen zu wollen, sollte er denn Rea- Auch Claus Michelsen, Wissenschaftler
diese Bestrebungen.« lität werden. Er sei aus seiner Sicht »schrei- am Deutschen Institut für Wirtschafts-
Das Mietpreisrecht zu regeln gilt eigent- end verfassungswidrig«. forschung, fürchtet, dass ein Mietendeckel
lich als Aufgabe, die dem Bund zukommt. Senatorin Lompscher dagegen findet ihr Investoren nachhaltig verschrecken könn-
Erst ein Gutachten zweier Juristen, das die Konzept differenziert. Es werde voraus- te. Es drohe ein Szenario, bei dem die Mie-
Berliner SPD-Fraktion in Auftrag gegeben sichtlich nicht den einen Deckel für alle ten für Neubauten wegen der Ausnahme-
hat, nährt neuerdings die Hoffnung der lin- Wohnungen geben, sagt sie: »Wir werden regelung noch weiter stiegen, sodass sich
ken Parteien, dass radikalere Eingriffe auf nach Alter, Zustand und Ausstattung des nur noch eine Oberschicht das leisten kön-
Landesebene doch möglich sind. Gebäudes unterscheiden. Eine Möglich- ne, sagt er. »Und der Rest kloppt sich dann
Die Bielefelder Professoren Markus keit wäre, sich dabei am aktuellen Miet- um die Wohnungen im regulierten Be-
Artz und Franz Mayer argumentieren so: spiegel zu orientieren, eine zweite, einen reich.«
Die Landesverfassung Berlin sieht, anders Mietspiegel als Grundlage heranzuziehen Selbst dem Bielefelder Gutachter Artz
als das Grundgesetz, ein ausdrückliches aus einer Zeit, als der Markt noch nicht so geht Lompschers Vorstoß an einigen Stel-
»Recht auf angemessenen Wohnraum« vor. außer Rand und Band war.« len zu weit. Die Vermieter müssten sich
Dies rechtfertige einen Eingriff über das demnach Modernisierungen genehmigen
öffentliche Recht. Es sei eine Frage der lassen, sollte sich dadurch die Brutto-
»Gefahrenabwehr«, wenn dieses Recht auf Luxus Wohnen warmmiete um mehr als 50 Cent pro Qua-
Wohnen bedroht sei, sagt Artz. Veränderung der durchschnittlichen Mieten dratmeter erhöhen; zuständig für die Ge-
Die Gefahrenlage, so sieht es Artz, sei bei Neuvermietung 2019 gegenüber 2009* nehmigung wäre auch hier die Investi-
vergleichbar mit der Bafög-Falle: »Wenn in Euro pro Quadratmeter tionsbank Berlin. Dieses »etwas seltsame
man wirklich arm ist, bekommt man fi- Verwaltungsverfahren« könne »juristisch
nanzielle Unterstützung, wer wohlhabend 2009 2019 schwierig« werden, warnt Artz. Weil es
ist, kommt auch so zurecht. Die aus der
16,42 *Wohnungen 60 bis 80 m2, alle Baujahre, energetische Sanierungen erschwere und
inserierte Preise, jeweils 1. Quartal
Mitte dagegen sind die Gelackmeierten.« damit politische Ziele des Bundes torpe-
Quelle: IDN Immodaten/Empirica
Damit meint Artz zum Beispiel Polizisten, diere, die dieser schon formuliert habe.
Lehrer oder Krankenschwestern, die sich Die Idee, dass der Mietendeckel auch
dort, wo sie arbeiten, oft keine Wohnung 10,51 für bestehende Verträge eingeführt wer-
mehr leisten können. 9,57 den soll, hält der Jurist ebenfalls für pro-
Grundsätzlich liege die Gesetzgebungs- blematisch. »Ich bezweifle, ob ein solcher
kompetenz ohnehin bei den Ländern, ar-
7,91 Eingriff in bestehende Vertragsverhältnis-
gumentieren die Professoren weiter – es 5,90 se den juristischen Anspruch der Verhält-
sei denn, der Bund regele ein Thema ab- 5,27 nismäßigkeit erfüllt.«
schließend. Das sei bei den Mieten aber Gleichwohl könnte der Mietendeckel in
nicht der Fall. Berlin schon bald konkrete Form anneh-
Ob eine solche Begründung trägt, wer- + 56% + 82% + 34% men. Beschließt der Senat am Dienstag
den wohl Gerichte klären müssen. Es gibt die Eckpunkte, würde im Herbst die Ge-
schon jetzt genügend Kollegen, die wider- München Berlin Deutschland setzgebung beginnen. Im Januar könnte
sprechen. die Neuregelung dann in Kraft treten.
Der Bund bestimme sehr wohl die Re- Auch der Mieterverein München hat
geln, wie die Mieten zu begrenzen seien, Der aktuelle Mietspiegel kommt für eine einen ambitionierten Fahrplan. Jurist Artz
die Länderparlamente dürften sie nicht 60- bis 90-Quadratmeter-Altbauwohnung und sein Kollege arbeiten gerade an einem
beliebig modifizieren oder »durch die Hin- auf eine ortsübliche Vergleichsmiete von Gesetzesvorschlag für die Initiative. Nach
tertür« aufheben, schreibt etwa der Jurist höchstens 10,92 Euro pro Quadratmeter. dem Oktoberfest wollen die Initiatoren
Thomas Dünchheim von der Kanzlei Ho- In älteren Versionen ist es noch weniger. dann die 25 000 Unterschriften sammeln,
gan Lovells in einem Gutachten für den Würde man sich tatsächlich daran orientie- die für das Volksbegehren nötig sind. In-
Zentralen Immobilien Ausschuss, dem ren, müssten sich Eigentümer in den hip- nerhalb von zwei Wochen müssten sich
Lobbyverband der Immobilienbranche. pen Berliner Vierteln auf harte Zeiten ein- danach zehn Prozent der Wahlberechtig-
Ein Mietenstopp verstößt laut Dünchheim stellen. ten, das sind rund eine Million Bürger, in
»in eklatanter Weise gegen tragende Prin- Dass dies auch etliche Privatvermieter Listen eintragen, die in den Rathäusern
zipien des Grundgesetzes«. treffen würde, die die Einnahmen aus ei- ausliegen. Ist das Ziel erreicht, kann der
Einige Juristen sehen auch die grund- ner oder einigen wenigen Wohnungen als Landtag den Gesetzentwurf annehmen.
gesetzlich geschützte Eigentumsfreiheit Alterseinkünfte einplanen, ist Lompscher Lehnt er ihn ab, startet der Volksent-
verletzt, wenn der Vermieter die Miete bewusst. Sie will deshalb für »Härtefälle« scheid.
nicht frei vereinbaren kann, sondern diese Ausnahmen erlauben, »sofern eine wirt- Die Chancen stehen nicht schlecht. Für
auf Jahre eingefroren würde. »Nicht ein- schaftliche Unterdeckung nachgewiesen das Volksbegehren für mehr Artenvielfalt
mal ein Inflationsausgleich wäre möglich«, wird«, wie es in ihrem Papier heißt. (»Rettet die Bienen!«) leisteten Anfang des
lautet die Kritik in einem Gutachten, das Wer unter die Ausnahmeregelung fällt, Jahres mehr als 1,7 Millionen Bürger in
die Kanzlei Greenberg Traurig im Auftrag soll am Ende die Investitionsbank Berlin, Bayern ihre Unterschrift.
der Berliner Sektion des Bundesverbandes ein Förderinstitut des Landes, prüfen. Alexander Jung, Anne Seith
Freier Immobilien- und Wohnungsunter- Auch den Neubau will Lompscher in Mail: [email protected]
nehmen angefertigt hat. dem geplanten Gesetz ausnehmen, aller-
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Wirtschaft
E
s war ein weiter Weg für Arlan
Hamilton in den 18. Stock dieses
Hochhauses mitten in Hollywood
mit Blick auf den Sunset Boule-
vard. Vor ein paar Jahren noch kannte sie
die Gegend, auf die sie nun von ihrem
Apartment aus hinabblickt, nur von unten,
aus der Perspektive einer Obdachlosen.
»Ich lief nachts auf den Straßen herum und
schlief tagsüber in irgendeiner Ecke, wo
es sicher war.« Viele Leute wüssten nicht,
sagt Hamilton, dass obdachlose Menschen
deshalb oft tagsüber schlafen, weil sie
nachts, wenn es gefährlich ist, wach blei-
ben, weitergehen.
Wach bleiben, weitergehen: Das scheint
auch heute noch das Lebensmotto von Ar-
lan Hamilton zu sein.
Sie ist 38 Jahre alt und hat buchstäblich
aus dem Nichts einen Risikokapitalfonds
für Tech-Start-ups aufgebaut. Auf den
Konferenzbühnen der Digitalindustrie ist
sie ein Star, ihr Gesicht war auf dem Cover
des Wirtschaftsmagazins »Fast Company«,
ihre Tweets sorgen für Schlagzeilen.
Sie vereint in sich eine Vielzahl von
Minderheiten: Sie ist schwarz, sie ist eine
Frau, sie ist lesbisch. Und sie hat daraus
für sich eine Mission abgeleitet: mit ihrer
Firma Backstage Capital exakt solche jun-
gen Firmengründer zu unterstützen, die
mindestens eines dieser Attribute aufwei-
sen – schwarz, Frau, LGBT (»Lesbian, Gay,
Bisexual, Transgender«).
Arlan Hamilton ist all das, was die Tech-
Industrie nicht ist. Und das macht sie zum
personifizierten schlechten Gewissen des
Silicon Valley.
Denn Schwarze und vor allem schwarze
Frauen dürfen in der Regel nicht mitspie-
len beim digitalen Milliarden-Monopoly.
Hier, in Nordkalifornien, von San Francis-
co bis San José, werden aus kaum gedach-
ten Ideen junger Unternehmer deswegen
globale Innovationen, weil Risikokapital-
geber und Investoren permanent auf der
Suche nach Möglichkeiten sind, ihre Mil-
lionen und Milliarden Dollar zu platzieren,
STEPHEN VOSS / REDUX / LAIF
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Wirtschaft
suchen, sollten möglichst prominent Wer- in seiner Werkstatt immer wieder mit de-
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Ausland
»Eure Eminenz, ich bitte Sie inständig, mich zu retten und in dieser Sache einzugreifen.« ‣ S. 84
Analyse
Die kleine Republik Moldau hat seit Kurzem zwei Regierungen. son gekapert wird, hat mit Geopolitik zu tun. Moldau ist ein Land,
Die eine regiert tatsächlich, die andere würde gern, aber kann in dem Moskau und der Westen um Einfluss konkurrieren: Es teilt
nicht; die eine sitzt in den Ministerien der Hauptstadt Chisinau, mit Rumänien die Sprache und mit Moskau die sowjetische Ver-
die andere tagt bisher bloß im Parlament; die eine hat im Land gangenheit. Die rund drei Millionen Einwohner zieht es zu glei-
das Sagen, die andere im Ausland mehr Unterstützung. chen Teilen in die Arme Russlands und der EU, ein Teil des Landes
Dass es dazu kam, hat mit einem Mann zu tun: Wladimir Pla- – die Region Transnistrien – steht unter Kontrolle prorussischer
hotniuc, Milliardär und Politiker, hat über Jahre hinweg die Insti- Separatisten. Diese geopolitische Konkurrenz hat Plahotniuc aus-
tutionen Moldaus ausgehöhlt und unter seine Kontrolle gebracht. genutzt, indem er sich prowestlich gab. Nun aber haben proeuro-
Er hat sich diese Macht auch nach Neuwahlen nicht entreißen päische und prorussische Parteien eine Übergangsregierung gebil-
lassen. Als sich seine Gegner im Parlament auf eine neue Koali- det. Damit ist sein Geschäftsmodell gescheitert.
tion einigten, ließ er das ihm hörige Verfassungsgericht erklären, Lösen kann den Konflikt nur Druck aus dem Ausland. Moskau,
das Parlament gehöre aufgelöst. Wenn einem ein Staat gehört, so Brüssel und Washington könnten hier an einem Strang ziehen.
wie anderen Leuten eine Firma, kann man das machen. Dass die Dann könnte der Staat Moldau im Interesse seiner Bürger endlich
EU es zulassen konnte, dass ein Nachbarstaat von einer Einzelper- wieder, nun ja, verstaatlicht werden. Christian Esch
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Ausland
E
s ist kurz vor Mitternacht, als punkt bereits auf dem Mittelmeer. Kein linge darf die Crew der »Alan Kurdi« in
Fabian Heinz den Glauben an Land will das Schiff anlegen lassen. Malta Malta nicht an Land. Die Helfer müssen
Europa verliert. Die »Alan Kurdi«, hat der Crew die Einfahrt verboten, Ita- Richtung Süden fahren. 13 Tage nach der
das Schiff der deutschen Seenot- liens Innenminister Matteo Salvini hat vor- Rettung von 64 Menschen dürfen sie von
rettungsorganisation Sea-Eye, dümpelt geschlagen, das Boot könne ja nach Ham- Bord – in Tunis.
zwischen Lampedusa und Malta. Heinz, burg fahren. An Bord werden bald die Für Flüchtlinge wird Europa immer
29 Jahre alt, Fotograf aus Würzburg, Vorräte knapp werden und medizinische mehr zu einer Festung ohne Zugangs-
schiebt in dieser Nacht im April Wache an Notfälle auftreten. pforte. Inzwischen werden freiwillige
Deck – so erinnert er sich heute. »Ich war auf all das vorbereitet«, sagt Seenotretter kriminalisiert. Häfen bleiben
Er blickt von seinem Posten auf Dutzen- Heinz. Aber in diesem Moment habe er für sie geschlossen, Schiffe werden be-
de Flüchtlinge, die er und die anderen Ret- sich unendlich einsam gefühlt. »Ich hatte schlagnahmt, Helfer vor Gericht gezerrt.
ter aus dem Meer vor der libyschen Küste das Gefühl, dass es allen egal ist, ob wir »Lifeline«-Kapitän Claus-Peter Reisch wur-
geborgen haben. Die Menschen schlafen, hier draußen treiben. So etwas darf in de in Malta gerade erst zu einer Strafe von
so gut es geht. Kreuz und quer liegen sie Europa nicht passieren.« Als Tage später 10 000 Euro verurteilt, weil sein Schiff
auf dem überfüllten Deck, durchnässt von Maltas Marine die Migranten doch noch nicht ordnungsgemäß registriert gewesen
der Gischt der Wellen. Mehr als zwei Tage von Bord holt, sind zwei Frauen bereits sei. Zehn Freiwilligen der »Iuventa« wirft
lang fährt die »Alan Kurdi« zu diesem Zeit- zusammengebrochen. Auch ohne Flücht- die italienische Staatsanwaltschaft Beihilfe
Festung Europa
im Mai über den Seeweg in der
EU angekommene Flüchtlinge
NORWEGEN
SCHWEDEN
befestigte Grenzen
2016 2018
19 925 3963
SPANIEN
2016 2018 GRIECHENLAND
575 3523
2016 2018
1721 2848
Sophia
(bis Ende März 2019)
LIBYEN
Quellen: Frontex, IOM, TNI-Bericht »Building Walls« 2018
zur illegalen Einwanderung vor. Der Crew Flüchtlinge nach Europa. In diesem Jahr nommen. Viele Europäer empören sich
drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis. gelangten bislang lediglich 24 000 Migran- über die Mauer, die US-Präsident Donald
Die Europäer haben durch ihre Blockade- ten über das Mittelmeer in die EU – so we- Trump an der Grenze zu Mexiko bauen
politik die Flotte der privaten Seenotretter nige wie seit Jahren nicht mehr. will. In Wahrheit schottet sich der Konti-
dezimiert. Waren es früher bis zu zwölf Schif- nent mittlerweile noch brutaler gegen Ein-
fe, so patrouilliert nun an vielen Tagen über- Die Odyssee nach Europa ist so gefährlich wanderung ab als die USA. Am kommen-
haupt kein Rettungsschiff mehr in den Ge- wie nie zuvor. Laut einer Studie der italie- den Donnerstag und Freitag treffen sich
wässern zwischen Europa und Nordafrika. nischen Denkfabrik »Istituto per gli studi Europas Staats- und Regierungschefs in
Die EU hat die Seenotrettung im Früh- di politica internazionale«, die auf Zahlen Brüssel zu einem Gipfel, um ihre Agenda
jahr komplett eingestellt. Sie überwacht des italienischen Innenministeriums ba- bis 2024 festzulegen. Migration soll dabei
das Meer nur noch aus der Luft und ko- siert, kam in den ersten vier Monaten 2019 wieder einmal eine wichtige Rolle bei den
operiert mit der libyschen Küstenwache, jeder achte Flüchtling, der von Libyen Verhandlungen spielen. Es ist jedoch un-
die ihre Suchzone seit 2017 ausgeweitet aus nach Italien aufgebrochen war, ums wahrscheinlich, dass die EU eine grund-
hat. Die libyschen Schiffe fangen Flücht- Leben. Nach Angaben der Internationalen sätzliche Kurskorrektur vornimmt. In der
linge vor ihrer Küste ab und bringen die Organisation für Migration verlor jeder EU-Asylpolitik hat sich längst der Impe-
Menschen zurück ins Bürgerkriegsland, 17. Flüchtling dieses Jahr auf dieser Route rativ durchgesetzt, wonach Migranten
wo sie in Lager gesteckt und viele von ih- sein Leben, 2016 starb hier nur einer von ferngehalten werden müssen – egal wie.
nen gefoltert, vergewaltigt, zum Teil als 43. Eine Gruppe von Menschenrechtsan- Die »Festung Europa« hat viele Archi-
Soldaten missbraucht werden. wälten hat die EU vergangene Woche tekten: Ungarns Ministerpräsidenten Vik-
Die Grundrechtecharta der EU garan- beim Internationalen Strafgerichtshof in tor Orbán, Griechenlands linken Regie-
tiert Menschen Schutz, die vor Krieg oder Den Haag angezeigt. Die Union sei durch rungschef Alexis Tsipras, Österreichs Ex-
politischer Verfolgung fliehen. Doch die- ihre Politik verantwortlich für den »Tod Kanzler Sebastian Kurz. Sie alle betreiben
ses Recht haben die EU-Staaten de facto Tausender Menschen durch Ertrinken«, eine Politik, die darauf abzielt, Migranten
abgeschafft. Sie haben ihre Grenzen ab- heißt es in der Strafanzeige. draußen zu halten. Doch keiner geht dabei
geriegelt, Flüchtlingshelfer vertrieben Als 2013 mehrere Hundert Flüchtlinge so konsequent vor wie Matteo Salvini. Ita-
und Zäune hochgezogen. Sie bezahlen bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa liens rechtspopulistischer Innenminister
Autokraten wie den türkischen Präsiden- ertranken, löste dies bei Europas Staats- hat dafür gesorgt, dass sein Land die See-
ten Recep Tayyip Erdoğan, damit sie die und Regierungschefs noch Bestürzung aus. notrettung aufgibt. Zudem hat er auslän-
Migranten an der Weiterflucht hindern. Die EU investierte in Rettungsprogramme. dische Helfer als Kollaborateure der
Und so kommen selbst in den wärmeren Inzwischen werden Havarien von den EU- Schmugglermafia diffamiert und mit Er-
Monaten von Mai bis Oktober kaum noch Staaten als Kollateralschaden in Kauf ge- mittlungen schikaniert, woraufhin sich
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soll – aus wirtschaftlichen Gründen nicht Zedong einst sagte. Doch Macht tritt nach demokratischen System haben wir keine
zu überstürzt, jedoch unaufhaltsam. Die wie vor nur hart und kompromisslos auf, Macht mehr, das Gesetz aufzuhalten. Die
KP weiß, dass sie auf lange Sicht am län- nicht in der Form selbstbewusster Groß- Macht liegt jetzt hier, auf der Straße.«
geren Hebel sitzt. Anfang des Jahres zügigkeit, die sich die neue Supermacht in- Medien auf dem chinesischen Festland
beschloss die Regierung, elf Metropolen zwischen vielleicht leisten könnte. unterdrücken die Nachrichten aus Hong-
am Perlflussdelta zu einem einzigen So geübt Peking darin ist, diese Macht kong, Kommentare im Internet werden
großen Ballungsraum zusammenzufassen, in China selbst auszuüben, durch Repres- strikt zensiert. Der Sprecher des Außenmi-
»Greater Bay Area« genannt. Wenn der sion, Zensur und Polizeistaat – in Hong- nisteriums sagt nur, was er »schon so oft
Plan aufgeht, wird Hongkong nur eine chi- kong kann es das in dieser Form nicht tun. gesagt« habe: Peking unterstütze das Aus-
nesische Stadt unter anderen sein – als Teil Hier steht die KP nach fünf Jahren erneut lieferungsgesetz. Und: »Hongkongs Ange-
einer gigantischen Metropolregion. einem Gegner gegenüber, der über Mittel legenheiten sind ausschließlich innere An-
Dagegen sträuben sich viele Hongkon- verfügt, mit denen sie sich schwertut. Die gelegenheiten Chinas. Kein anderes Land,
ger. Doch nichts deutet darauf hin, dass Demonstranten wissen, welche öffentliche keine Organisation und kein Einzelner hat
die chinesische Führung Hongkong die ge- Wirkung ihr Protest weltweit erzeugt. Der das Recht, sich einzumischen.«
forderten demokratischen Freiheiten zu- Schaden, den die Bilder aus Hongkong Am Mittwochabend tritt Regierungs-
gestehen könnte. Das würde dem Macht- Chinas Selbstbild von einer erwachsenen, chefin Lam vor die Kameras und verteidigt
anspruch der Kommunisten und ihres auf verantwortungsvollen Weltmacht zufügen sich: »Wie könnte ich Hongkong ver-
Lebenszeit ernannten Anführers Xi Jin- können, ist erheblich. kaufen? Ich bin hier aufgewachsen.« Sie
ping widersprechen und einen Präzedenz- Angst haben die Demonstranten zwar werde das Gesetz nicht zurückziehen.
fall schaffen, den Peking schon aus innen- vor Peking, doch ihr Zorn gilt der von Kein Wort von der Angst vieler Hongkon-
ger vor der immer erdrückenderen Macht
Pekings.
Wie der Konflikt gelöst werden kann,
ist offen. Sollte die Hongkonger Regierung
einknicken und das Gesetz zurückziehen,
wäre ihr massiver Druck aus Peking sicher,
möglicherweise müsste die Regierungs-
chefin zurücktreten. Sollte sie das Gesetz
durchdrücken, dürften Wochen und Mo-
nate weiterer Demonstrationen und Aus-
schreitungen folgen.
Als der Präsident des – nur zur Hälfte
demokratisch gewählten – Parlaments am
Mittwoch realisiert, welches Ausmaß die
Demonstration angenommen hat, ent-
scheidet er sich für einen kalkulierten
Rückzug: Er vertagt die Beratung über das
Gesetz. Das ist für die Demonstranten ein
Erfolg, doch damit sind sie jetzt nicht mehr
PHILIP FONG / AFP
Mysteriöse Explosionen
nennen. Ihrem Bericht zufolge seien bei der
Attacke im Mai Schnellboote in emiratische
Hoheitsgewässer eingedrungen, mit Tau-
chern an Bord, die Haftminen an den Tan-
USA-Iran-Konflikt Angriffe auf Schiffe nahe der Straße von Hormus, einer kern angebracht hätten – groß genug, um
Schaden anzurichten, aber zu klein für grö-
der wichtigsten Handelsrouten, erhöhen die Kriegsgefahr in der Region. ßere Explosionen. Auch diesmal gibt es un-
bestätigte Berichte über Minen.
Zu derart raffinierten Attacken wären
E
igentlich wollte Japans Premiermi-
nister Shinzo Abe bei einem Besuch
Mitte der Woche in Teheran Frieden
stiften: Er überbrachte Irans Revolutions-
Notruf ab, um 7 Uhr folgte der Tanker
»Kokuka Courageous« der Hamburger
Reederei Bernhard Schulte Shipmanage-
ment. Auf beiden Schiffen hatten Angriffe
die IRGC in der Lage. Sie sind teils besser
ausgerüstet als die regulären iranischen
Streitkräfte und verfügen etwa über mehr
kleine Schnellboote als die Marine. Bereits
führer Ali Khamenei eine Botschaft von von außen Detonationen ausgelöst – und während des irakisch-iranischen Kriegs in
US-Präsident Donald Trump. Khameneis sie waren nur ungefähr 50 Kilometer von- den Achtzigerjahren attackierten die IRGC
Antwort an Abe aber war eindeutig: einander entfernt im Golf von Oman, in irakische Tanker. Von den USA wurden sie
»Trump ist es nicht wert, dass ihm Nach- internationalen Gewässern zwischen den im April zur »Terrororganisation« erklärt.
richten überbracht werden, und ich habe Vereinigten Arabischen Emiraten und Iran. Immer wieder klagen die Crews amerika-
keine Antwort für ihn.« Laut Abe hatte Wer hinter der zweiten mysteriösen At- nischer Kriegsschiffe im Persischen Golf
Trump ihm auf den Weg mitgegeben, dass tacke nahe der Hormus-Straße binnen we- über Schikanen durch die Boote der IRGC.
er keine weitere Eskalation im Konflikt niger Wochen steckt, ist unklar. US-Außen- Iran möchte die Militärpräsenz der Ame-
mit Iran wünsche. minister Mike Pompeo machte noch am rikaner unmittelbar vor seinen Küsten zu-
Doch während Japans Premier selben Tag Teheran dafür verant- rückdrängen. Die USA halten sie aber für
nach Teheran reiste, ereigneten sich wortlich: Als eine »nicht hinnehm- notwendig, um ihre Interessen in der Regi-
gleich zwei Attacken, die das Poten- on abzusichern – wie etwa offene Handels-
zial dazu haben, die Krise am Per- wege über die Hormus-Straße.
sischen Golf zu verschärfen: Erst 50 km Der Konflikt zwischen den USA und
feuerten Jemens Huthi-Rebellen, IRAN Iran hat eine neue gefährliche Phase er-
die mit Iran verbündet sind, am reicht. Vor einem Jahr hatte US-Präsident
Mittwoch eine Rakete auf einen Flughafen 13. Juni Donald Trump mit seiner einseitigen Auf-
von Hor
in Saudi-Arabien ab und verletzten dabei ße kündigung des internationalen Atom-
ra Explosionen
St
m
26 Menschen. Das Ereignis kann als Stell- auf zwei abkommens eine Kehrwende eingeläutet
us
vertreterattacke interpretiert werden: Sau- OMAN Tankern und mit neuen Sanktionen »maximalen
di-Arabien ist ein zentraler Verbündeter Persischer Golf Druck« auf Iran aufgebaut. »Iran wird mit
von US-Präsident Donald Trump. Golf von O m an maximalem Widerstand antworten«, sagt
Und dann wurden am Donnerstag zwei Dubai Fudschaira Hossein Mousavian, Ex-Botschafter Irans
Tanker nahe der Straße von Hormus an- in Berlin, der inzwischen an der amerika-
gegriffen, einer der wichtigsten Handels- V. A . E . 12. Mai nischen Princeton University forscht.
Abu
routen der Welt: Um 6.12 Uhr Ortszeit Dhabi Angriffe auf vier Iran könnte das Staatsgebiet der USA
Handelsschiffe
setzte der Tanker »Front Altair« einen zwar kaum direkt angreifen, doch es ist
Markus Tiarks
Katja Ruge
Kristina Kast
Libanon drohte jüngst Hassan Nasrallah,
Chef der mit Teheran verbündeten Hisbol-
lah-Miliz: »Ein Krieg gegen Iran bedeutet,
dass die ganze Region in Flammen aufge-
hen wird. Und alle amerikanischen Kräfte
und Interessen in der Region vernichtet
werden.« Die sich gegen Iran verschworen
hätten, würden dafür bezahlen – »allen
voran Israel und die al Sauds«.
Im Irak und in Syrien, wo amerikani-
sche Soldaten stationiert sind, könnte Te-
heran über verbündete Milizen angreifen.
Rosa von Praunheim Sookee Tarik Tesfu
Im Mai schlug eine »Katjuscha«-Rakete in
Bagdads grüner Zone nahe der US-Bot-
schaft ein. Trump hatte zuvor schon alles
»nicht essenzielle« diplomatische Personal
aus dem Irak evakuieren lassen.
Solche Attacken erhöhen für Trump
den Preis dafür, am »maximalen Druck« Am 28. Juni jähren sich die New Yorker Stonewall-Unruhen
festzuhalten. Mit dieser Politik hat er sich
nun in eine Sackgasse manövriert: Ver- zum 50. Mal – die Geburtsstunde des Christopher Street Day.
handlungen sind vorerst kein Ausweg, die Was hat sich seit 1969 verändert, was kam in Bewegung?
USA haben sich nach Trumps Rückzug Wie würden unsere Gäste die Folgen dieser Revolte einstufen –
von einem internationalen Abkommen als
vertrauenswürdiger Partner diskreditiert. für ihr Lebensgefühl, ihren Werdegang, im Miteinander?
Gleichzeitig kann Trump nicht mit weite- Und welche Fragen stellen sich heute der Community, der
ren Maßnahmen drohen. Denn wenn der Gesellschaft, der Politik?
»maximale Druck« ausgeschöpft ist, bleibt
nur noch der Krieg. Darüber diskutieren unsere Gäste: der Regisseur Rosa von
Die iranische Führung scheint zu glau-
ben, dass der US-Präsident dazu nicht be-
Praunheim, die Rapperin Sookee und der Moderator Tarik Tesfu.
reit ist. Trotz seiner wiederholten wüsten Moderation: Hannah Pilarczyk, SPIEGEL -Redakteurin
Drohungen und der ideologischen Hard-
liner in seinem Team deutet vieles darauf
hin, dass das stimmt: Auch in Syrien, wo
Trump Baschar al-Assad für Chemiewaf-
fenangriffe mit Konsequenzen drohte, be-
ließ er es bei symbolischen Attacken. Ähn-
lich verhielt sich der US-Präsident bei Dienstag, 18. Juni, 20 Uhr, Spiegelsaal
Nordkorea, indem er erst mit Auslöschung Clärchens Ballhaus – Spiegelsaal, Auguststraße 24, 10117 Berlin
drohte und nun Kim Jong Un weitgehend
walten lässt. Vielleicht will Teheran auch Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.spiegel-live.de
nur testen, wie weit man gehen kann – Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, Abonnenten 12 Euro zzgl. Gebühren.
wenn es denn hinter den Attacken steckt. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
Doch die Gefahr ist groß, dass es irgend- Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für unseren Newsletter
wann zu viel wird, dass ein kleiner Unfall unter spiegel-live.de an.
große Konsequenzen haben kann – wenn
es bei einem Raketenangriff auf Saudi-Ara-
bien doch zu Toten kommt oder irgend-
wann ein Schiff sinkt.
Raniah Salloum
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Ausland
D
ie Nonne, die den Bischof heraus- Neu-Delhi: »Eure Exzellenz, ich schreibe Sie gibt der Polizei zu Protokoll, er
fordert, schwebt fast in den Ihnen, damit Sie etwas gegen den Wolf Bi- habe sie 13-mal vergewaltigt, zwischen
Raum im Kloster von Kuravilan- schof Franco tun. Ich könnte jederzeit um- 2014 und 2016. Jedes Mal habe er vorher
gad im Südwesten Indiens, 50 Ki- gebracht werden. Ich lebe in Angst.« Sie angerufen. Dass sie das Gästezimmer rich-
lometer von Kochi entfernt. Sie steuert erhält keine Antwort. ten solle. Dass er komme. Dass sie da sein
den leeren Platz auf dem Sofa an, ihre Or- Mai 2018, Schreiben an den Erzbischof solle. 13-mal habe er sie nachts zu sich
densschwestern sitzen schon da. Ihr Haar Luis Ladaria, Kopie an Papst Franziskus, gezwungen. Sie sei in sein Zimmer gegan-
verbirgt sie unter dem braunen Schleier 00120 Vatikanstadt, per Einschreiben: gen und die ganze Nacht nicht heraus-
ihrer Tracht, über dem Gewand eine blaue »Eure Eminenz, ich bitte Sie inständig, mich gekommen.
Ärmelschürze. zu retten und in dieser Sache einzugreifen. So geht die eine Version dieser Ge-
Sie darf nicht öffentlich reden über das, Ich habe Angst, dass Bischof Franco mir et- schichte, die Version des mutmaßlichen
was mit ihr geschehen ist, weil das Straf- was antut.« Sie erhält keine Antwort. Opfers. Einer Nonne von 44 Jahren, seit
verfahren noch läuft. Sie lässt ihre fünf Juni 2018, Schreiben an Kardinal Pietro 1994 im Orden der Missionaries of Jesus,
Schwestern für sich sprechen, sitzt da und Parolin, Staatssekretariat, 00120 Vatikan- vor 20 Jahren legte sie ihr Gelübde ab.
hört ihre eigene Geschichte. Manchmal stadt: »Eure Eminenz, ich habe auf Gerech- Auch ihr Name darf wegen des laufenden
nickt sie, manchmal weint sie. Nur einmal tigkeit durch die katholische Kirche gewar- Verfahrens nicht genannt werden. Alle
spricht sie dazwischen, mit dünner Stim- tet. Aber nun bleibt mir nichts anderes üb- Details, die Schlüsse auf ihre Identität zu-
me. Sie sagt, dass ihr Rücken und ihr Kopf rig, als rechtliche Schritte einzuleiten.« lassen, sind in diesem Text getilgt.
irgendwann so schmerzten, dass sie nicht Sechs Tage später zeigt die Nonne im Die Version des mutmaßlichen Täters ist,
mehr schlafen konnte. »Ich war ein Zom- indischen Bundesstaat Kerala einen der dass er unschuldig sei. Franco Mulakkal,
bie«, sagt sie. Sie habe nicht gewollt, dass mächtigsten Geistlichen ihres Landes an: 55 Jahre alt, Bischof und Patron einer Diö-
diese Sache in die Öffentlichkeit komme. Franco Mulakkal, Bischof von Jalandhar. zese im Norden Indiens. Er hat einen Jesus
Sie habe Gerechtigkeit innerhalb mit Dornenkrone als Profilbild bei
der Kirche gesucht. WhatsApp eingestellt. Er spricht am
Aber die bekam sie nicht. Es wa- Telefon mit ruhiger Stimme. »Die
ren ihre Mitkämpferinnen, die auf Vorwürfe sind falsch, erfunden und
den Fall aufmerksam machten, bis böse«, sagt er. Es werde auf diese
daraus ein Protest von Nonnen, Weise Politik betrieben, solche
schließlich ein Verfahren wurde. Vergewaltigungsvorwürfe seien in
Ein Fall, der jetzt die ganze katho- Indien zur Mode geworden. Er sei
lische Kirche in Bedrängnis bringt: Opfer einer Vendetta.
ein Bischof, der eine Nonne verge- Franco Mulakkal droht eine le-
waltigt haben soll. benslange Freiheitsstrafe. Er muss
Die fünf Frauen, die die Nonne demnächst vor Gericht erscheinen.
an diesem Tag im Kloster umringen, Die Anklage gegen ihn, in diesem
haben einen einzigartigen Aufstand April ans Gericht übergeben, um-
angezettelt: gegen ihre Vorgesetz- fasst 2000 Seiten, 83 Zeugen wur-
ten, für ihre Ordensschwester. Sie den gehört, darunter 25 Nonnen
brachten Hunderte Demonstranten und 11 katholische Priester. Alle
auf die Straße, sie kämpften ihre Aussagen wurden per Video
für das Recht, gehört zu werden, aufgezeichnet, die Gefahr ist groß,
PRAKASH ELAMAKKARA / PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO
und sie hatten Erfolg. Sie erzeugten dass sie im Nachhinein erpresst wer-
Aufmerksamkeit für einen Miss- den, dass jemand Einfluss auf sie
brauchsfall in einem Teil der Welt, nehmen könnte. Manche dieser Vi-
in dem die Macht der Kirchenväter deos sind mehr als eine Stunde lang.
bis dahin ungebrochen war. Der bevorstehende Prozess wäre
Was das mutmaßliche Opfer zu einzigartig für Indien. In einem
sagen hat, kann man nachlesen in Land, in dem alle 20 Minuten eine
den Briefen, die die Nonne an hohe Frau vergewaltigt wird, bringt eine
Kirchenvertreter und den Papst Nonne einen Bischof wegen Miss-
schrieb, als sie dachte, sie könnte auf brauch vor Gericht. Er hat aber
diesem Weg Gerechtigkeit erhalten. auch große Bedeutung für die ka-
Januar 2018, Schreiben an den tholische Kirche. Die Gläubigen for-
Botschafter des Heiligen Stuhls, Geistlicher Mulakkal nach seiner Festnahme 2018 dern Antworten auf die vielen Miss-
Giambattista Diquattro, 110021 »Falsch, erfunden und böse« brauchsfälle und die Vertuschung in-
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nerhalb der Kirche. In Deutschland und auch ihr Nachname muss hier verschwie- Versuch unternommen habe, die Nonne
den USA wurden Tausende Kinder von gen werden, sie ist 46 Jahre alt und Witwe. zu vergewaltigen. In der Nacht darauf, so
Geistlichen missbraucht, im Februar hielt Sie bedeutet ihrem 13-jährigen Sohn, berichtet es die Schwester, habe der Bi-
der Vatikan dazu einen Gipfel ab. aus dem Raum zu gehen. Erst dann be- schof sein Vorhaben in die Tat umgesetzt.
Konservative Bischöfe und Geistliche ginnt sie zu erzählen. Sie greift den Bilder- Er habe sie unter einem Vorwand in sein
halten die Missbrauchsfälle an Kindern rahmen, der lange auf ihrem Schoß gele- Zimmer gerufen und vergewaltigt.
vor allem für eine Folge der von ihnen ver- gen hat. 6. 5. 2014 steht über dem Bild. Es gibt Bilder der Erstkommunionfeier,
urteilten Homosexualität. Doch die vielen Darunter ist ihr Sohn Joseph zu sehen in auf denen sie alle zu sehen sind: Darly, der
dokumentierten Übergriffe auf Nonnen einem weißen Anzug. Es ist das Erinne- Sohn, die Nonne, der Bischof. Die Polizei
zeigen, dass der Missbrauch in der Kirche rungsfoto an seine Erstkommunion. hat die Bilder mitgenommen.
sehr viel weiter reicht. »An diesem Tag geschah es das erste In einem Schaukasten an Darlys Wohn-
Im Februar räumte Franziskus als erster Mal«, sagt Darly. Als Mutter habe sie sich zimmerwand stehen Ikonen, Kreuze, ein
Papst den Missbrauch von Nonnen durch gewünscht, dass ein besonderer Mann die Bildnis von Jesus mit strahlendem Herzen.
katholische Geistliche ein. »Es stimmt«, erste Kommunion ihres Sohnes durchführe. Sie ist gläubige Katholikin, aber sie fragt
sagte er den Pressevertretern auf einem Ein bekannter Geistlicher mit gutem Ruf, sich jetzt immer wieder: Wie kann ein
Rückflug von Abu Dhabi nach Rom. »Ich einer wie Bischof Franco Mulakkal. Einen Mann der Kirche, ein Christ, so etwas tun?
weiß, dass Priester und Bischöfe das getan Monat vor dem Fest habe der Bischof zu- In jener Nacht im Mai 2014, sagt Darly,
haben. Ich glaube, es wird immer noch gesagt. Eine große Ehre, die Familie war habe für ihre Schwester eine Tortur begon-
getan.« In einem Fall sprach er gar von stolz. Der Bischof sollte im Gästezimmer nen. Bischof Mulakkal habe sich jedes Mal
»sexueller Sklaverei«. des nahen Ordenshauses übernachten. vorher angekündigt, sei von seinem Bi-
Dort, wo auch ihre Schwester lebt. schofssitz im Punjab zum Missionshaus in
Die Schwester des mutmaßlichen Op- Die Tränen, die ihrer Schwester wäh- Kerala angereist, fast 2500 Kilometer, drei
fers sitzt an einem Tag im April in ihrem rend der Feier übers Gesicht liefen, habe Stunden mit dem Flugzeug und zwei Stun-
Wohnzimmer nahe der Großstadt Kochi. sie für Tränen der Rührung gehalten, sagt den mit dem Auto.
Ein Deckenventilator kämpft gegen die Darly. Sie habe nicht ahnen können, dass Sie könne nicht darüber sprechen, was
Hitze an, die Luftfeuchtigkeit beträgt mehr der Bischof in der Nacht zuvor den ersten Mulakkal ihrer Schwester alles angetan
als 70 Prozent. Sie trägt eine pinkfarbene habe, sagt Darly, es widerstrebe ihrer
Kurta, die Haare sind zu einem Zopf ge- * Schwestern Alphy, Neena Rose, Ancitta, Josephine, Natur. »Ich fühlte mich wie ein lebloser
bunden. Sie heißt mit Vornamen Darly, Anupama. Körper, als wäre nichts von mir übrig«,
Ausland
schreibt die Nonne in einem ihrer Briefe. Die Nonne denkt darüber nach, ihr nung. Hier treten keine Menschen aus der
»Ich hatte keine Stimme.« Leben im Kloster aufzugeben. Sie habe Kirche aus, hier gibt es keinen Priester-
Im September 2016 habe sie es schließ- gehofft, sagt ihre Schwester, dass sich der mangel und auch keinen Mangel an Or-
lich gewagt, sich dem Bischof körperlich Boden auftue und sie verschwinde. densschwestern.
zu widersetzen, sagt Darly. Er habe ver- Pater Paul Thelekat, der Herausgeber
sucht, ihre Schwester zu zwingen, er habe Wenn in Kerala um 5.30 Uhr der Dunst der Kirchenzeitung »Light of Truth«, kri-
gesagt, sie sei seine Frau. Doch sie habe über den Feldern liegt, türmen sich vor tisiert die Kultur der Angst in der Kirche:
es geschafft zu entkommen. Mit diesem den Kirchen schon die Sandalen, knien »Keiner in der Kirche bezieht offen Stel-
Tag habe der körperliche Missbrauch ge- drinnen dicht an dicht die Gläubigen. In lung. Keiner sagt was«, sagt er. »Nicht mal
endet, dafür habe der Bischof begonnen, Indien sind Christen eine Minderheit von andere Ordensschwestern sagen was.« Ob-
der Nonne aus der Ferne zu schaden. gut zwei Prozent. 80 Prozent der Inder wohl ein Bischof des Missbrauchs beschul-
Er habe die Nonne von allen Aufgaben sind Hindus, 13 Prozent Muslime. Aber in digt werde. Auf seinem Schreibtisch im
im Ordenshaus entbunden, ohne Begrün- Kerala, auch »God’s Own Country« ge- Verlagsbüro steht ein Glas mit ein paar
dung. Ein Priester, bei dem sie Hilfe suchte, nannt, wo einst die portugiesischen Kolo- Goldfischen, zu dem er immer mal verle-
habe ihr gesagt: »Erzähle niemandem nisten Missionen errichteten, ist fast jeder gen hinschaut. Er weiß, dass das, was er
davon. Wir regeln das intern.« Eine Vor- Fünfte Christ. Flurkapellen am Straßen- sagt, seinem Arbeitgeber nicht gefällt.
gesetzte habe ihr geraten: »Schweige, wir rand, Heiligenbilder in Apotheken und Bä- »Der Bischof hat die Macht und das
beten für dich.« Kolleginnen hätten begon- ckereien. Die Kirche unterhält Schulen Geld«, sagt Thelekat. Ausschließen könne
nen, schlecht über sie zu reden. Ein Ange- und Krankenhäuser, und sie unterstützt man nicht, dass die Kirche versuche, die
bot von Kirchenleuten habe die Familie auch die Politik mit Spenden. Politik und die Richter in dem Fall zu be-
erreicht: gut 600 000 Euro und vier Hek- Gegenden wie Kerala sind für die ka- stechen. Die Gesellschaft in Indien sei hie-
tar Land, im Tausch für ihr Schweigen. tholische Kirche eigentlich Orte der Hoff- rarchisch und männlich dominiert, genau
wie die Kirche. »Das ist nicht normal. Wir
müssen das beenden«, so Thelekat. Frauen
brauchten bessere, höhere Posten in der
Kirche. »Indien ist das Land von Mutter
Teresa. Das Land so vieler Nonnen, die
Revolutionärinnen waren. Frauen berei-
chern die Gesellschaft. Sie sind fähig. Nicht
nur die Männer.« Aber im Vergleich zu
früher würden sich viel weniger junge
Frauen für ein Leben als Ordensschwester
entscheiden, »auch wegen dieser Sache«.
Der Ort, an dem die Rebellion begann,
liegt zwischen Bananenplantagen und Ko-
kospalmen versteckt, eine kleine Straße
aus aufgeplatztem Teer führt zum Konvent
der sechs Nonnen von Kuravilangad. Ein
bescheidenes Missionshaus mit einer an-
gegliederten Kapelle.
Schwester Anupama führt vorbei an den
drei Polizisten, die am Eck im Schatten ste-
hen, in gelber Uniform, Schusswaffe am
Gürtel. Seit bald einem Jahr stehen die
Klosterschwestern unter Polizeischutz.
In einem Raum mit türkis gestrichenen
Wänden sitzen mit geradem Rücken
Schwester Alphy, Schwester Josephine,
Schwester Neena Rose und Schwester An-
citta. Schwester Anupama setzt sich. Fünf
Nonnen in brauner Tracht und braunem
Schleier, um den Hals ein Kreuz, die sich
alle nur mit Vornamen vorstellen. Nach ih-
rer Meuterei im vergangenen September
liefen ihre Fotos über die Nachrichtenticker,
ihre Gesichter sind jetzt auf YouTube.
»Sie nennen uns Teufelsanbeterinnen«,
sagt Schwester Anupama. Sie, das seien
SAMYUKTA LAKSHMI / DER SPIEGEL
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Ausland
R
usslands Strafjustiz ist wie eine Mühle. Sie anzuhal- der oppositionell gesinnten Öffentlichkeit, für den man
ten ist schwierig, sie rückwärtszudrehen unmöglich. ihn im Nachhinein halten könnte, dafür war er zu nah an
Wer einmal in ihr Mahlwerk geraten ist, der ist so den Dingen.
gut wie verloren. Insofern ist es ein Wunder, was die- Und eben hier wichen nun der Blick des Kreml und der
se Woche in Moskau geschehen ist: Ein unabhängiger Repor- Blick der Polizei auf Golunow voneinander ab. Golunow hat-
ter, fälschlich des Drogenhandels beschuldigt, wurde von sei- te die Korruption hoher Offiziere verfolgt, die mit Bestattern
nen erbosten Kollegen der Justiz wieder entrissen. Der Innen- zusammenarbeiteten. Vermutlich waren sie es, die ihn stop-
minister musste nach Protesten öffentlich eingestehen, dass pen wollten und deshalb Beweise fälschen ließen, wonach er
die angeblichen Beweise der Polizei keine waren; mehr noch, mit Drogen handle. Sie taten das in dem Bewusstsein, dass
er kündigte an, zwei Polizeigeneräle sollten dafür ihr Amt er ein politischer Gegner sei. Schließlich schrieb er für eine
verlieren. Das Strafverfahren sei eingestellt. Internetzeitung, die aus dem lettischen Exil veröffentlicht
Aber so groß die Freude über das Wunder war, so schnell wird, und über Korruptionsfälle, über die auch der Opposi-
erhielt sie einen Dämpfer. Schon am Tag nach der Freilassung tionsführer Alexej Nawalny in seinen beliebten Videos berich-
des Journalisten Iwan Golunow prügelte die Moskauer Poli- tet. Ihr eigenes Interesse und das des Kreml, so meinten sie
zei wieder auf Demonstranten ein, offenbar, ließe sich mit Golunows
als wäre nichts geschehen. Eine Festnahme zur Deckung bringen.
Kundgebung zum Fall Golunow Wer immer die Beweise fingier-
und gegen Polizeiwillkür führte te, stellte sich dabei so dumm an,
zu Hunderten Festnahmen. Pas- dass die Polizei blamiert dastand.
santen verbrachten Stunden auf Fotos, die sie von Golunows angeb-
der Polizeiwache, ebenso ein Mit- lichem Drogenlabor veröffentlicht
arbeiter des SPIEGEL. hatte, stammten gar nicht aus sei-
Wie passt das zusammen: erst ner Wohnung. Aber da Russlands
die Nachgiebigkeit der Behörden, Strafgerichte so gut wie immer der
dann die Härte? Warum hat sich Anklage folgen, hätte der Richter
Putins Staat überhaupt dazu sich davon nicht stören lassen,
bereitgefunden, der kritischen schon gar nicht bei einem angeb-
Öffentlichkeit im Fall Golunow lichen Drogendelikt. Gefälschte
ein Geschenk zu machen? Beweismittel sind in solchen Ver-
Es ist eine Frage, die auf das fahren keine Seltenheit.
PAVEL GOLOVKIN / AP
Sport
»Dem IOC ist mit einer gesunden Portion Skepsis zu begegnen.« ‣ S. 93
117 Mio. €
Wechselgeld Transferausgaben und Beraterhonorare in der Bundesliga 2017/18, in Millionen Euro 100
Spitzenwert absolut: 41 Mio. €
80
Spitzenwert
anteilig: 60
72 % 40
20
FC Augs- Hertha TSG 1. FSV Werder Hamburger Hannover SC Eintracht Bayer 04 Borussia VfB 1. FC FC RB VfL Borussia Bayern
burg BSC Hoffen- Mainz 05 Bremen SV 96 Freiburg Frankfurt* Lever- Mönchen- Stuttgart* Köln Schalke Leipzig Wolfs- Dortmund München
heim kusen* gladbach* 04* burg
Bundesliga zum Vergleich: * Geschäftsjahr und Transferausgaben Januar bis Dezember 2018
insgesamt Premier League Quellen: DFL, FA, Transfermarkt.de
2017/18 Höchste Transferausgaben:
Manchester City mit 318 Mio. €
Transferausgaben: 713 Mio. € 2174 Mio. € Höchste Beraterhonorare:
FC Liverpool mit 31 Mio. €
Beraterhonorare: 216 Mio. € 241 Mio. € Höchste Beraterhonorarquote:
rechnerisches Größenverhältnis von 30% 11 % AFC Bournemouth mit 26%
Hochkonjunktur haben die Berater der Fußballer, wenn die für Agenten der Profis aus wie die Premier-League-Vereine, ob-
Vereine im Sommer ihren Kader auffrischen. In Europa werden wohl in England dreimal so viel Kapital in neue Spieler investiert
Transfers für mehrere Milliarden Euro realisiert. Die Klubs der wurde. Honorare werden oft über Jahre gestreckt. Auch wenn
Bundesliga gaben in der vorvergangenen Saison fast so viel Geld Verträge verlängert werden, bekommen die Berater ihren Anteil.
Magische Momente
Kreis meiner Karriere. Als Spieler hatte zeitig wollte das keiner wirklich. Alle zu gestichelt, aber da stehen wir drüber.
ich mit Alba sechs Meisterschaften gewon- waren froh, dass wir in der Bundesliga mit- SPIEGEL: In zwei Jahren, wenn die neue
nen, immer an der Seite meines Vaters mischen – aber gewinnen sollten wir bes- Münchner Sportarena fertig sein soll, will
Svetislav in der Rolle des Trainers. Nun der Klub um den Titel in der Euroleague
war uns das mit München wieder ge- mitspielen. Wie realistisch ist das?
lungen – nur dass ich nicht mehr auf dem Pešić: Es ist eine Riesenherausforderung,
Platz stand. für die wir noch Erfahrung brauchen,
SPIEGEL: Fühlte sich der Triumph so gerade in den Auswärtsspielen. Von
berauschend an wie früher als Profi? denen müssen wir mehr gewinnen, das
Pešić: (lacht) Leider nicht. Als Spieler hat sich in dieser Saison gezeigt.
haben wir Titel tagelang gefeiert SPIEGEL: Am Sonntag steht das erste
und nicht an morgen gedacht. Als Verant- Finalspiel in der Bundesliga an. Gegner ist
wortlicher bist du gedanklich schon erneut Alba Berlin, die Bayern schon
beim nächsten Sponsorenvertrag, der vergangenes Jahr geschlagen haben. Ist
DARMER / DAVIDS
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Sport
Unter Generalverdacht
Leichtathletik Kenia galt als Wunderland des Laufsports. Nun gibt es ein
massives Dopingproblem. Ein neues Labor in Nairobi soll gegen die Manipulationen vorgehen.
Doch die Armut und korrupte Ärzte erschweren seine Arbeit.
D
as Labor, das den Ruf der Läufer- zyten. Zwischen 25 und 30 Proben erhält Land mit maroden Verkehrswegen kämen
nation Kenia retten soll, liegt in das Labor jede Woche. Die Testergebnisse manche Proben erst kurz vor Ablauf der
Upper Hill, einem Geschäftsvier- werden automatisch von einer Wada-Soft- Analysefrist. Dann blieben mitunter nur
tel der Hauptstadt Nairobi. Die ware geprüft, die bei Unregelmäßigkeiten 30 Minuten Zeit. Immerhin. Bis vergange-
Gänge im fünften Stock eines Bürogebäu- Alarm schlägt. nen Sommer mussten Tests aus Ostafrika
des werden von Kameras überwacht, die Ihr Job sei oft ein Wettlauf gegen die zur Untersuchung zum Teil nach Doha,
Türen lassen sich nur über Zahlencodes Uhr, sagt Ombati. Viele Dopingmittel sind Paris oder Oslo geflogen werden. Viele
öffnen. Es sind Sicherheitsvorschriften, die nach der Einnahme im Blut nur bis zu waren nach der Ankunft unbrauchbar, das
die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada vor- 48 Stunden nachweisbar, und in einem Kontrollsystem eine Farce.
gegeben hat.
Eunice Ombati, 44, in weißem Kittel,
den Kopf gesenkt, steht vor einem der
vielen Laborkühlschränke des Instituts.
Sie blättert durch ihren Terminkalender.
Er hat nur wenige weiße Stellen.
Während draußen die Laufsaison in vol-
lem Gang ist, kämpft Ombati hinter blau
versiegelten Scheiben gegen die Leistungs-
manipulation auf der Mittel- und Lang-
strecke. Es sind jene Disziplinen, die Kenia
bei Weltmeisterschaften und Olympia seit
Jahren dominiert. Sechs Gold- und vier
Silbermedaillen gab es zuletzt bei den
Spielen in Rio.
Kenia bekam den Ruf eines Wunder-
lands im Laufsport, zu Hause einte der
Stolz auf die Athleten die Nation.
Doch dann gerieten Kenias Läufer unter
Generalverdacht. 95 Prozent aller positi-
ven Dopingproben des Landes kamen aus-
gerechnet von den weltweit gefeierten
Leichtathleten, wie ein Wada-Bericht zu-
letzt offenlegte.
Mehrere Dutzend Läufer aus dem ost-
afrikanischen Land wurden des Betrugs
überführt, unter ihnen die Marathonstars
Jemima Sumgong und Rita Jeptoo. Im April
war der Halbmarathon-Weltrekordler Abra-
ham Kiptum wegen Dopingverdacht vom
London-Marathon suspendiert worden.
Mit dem Labor in Nairobi, dem ersten
von der Wada anerkannten in Ostafrika,
soll nun alles besser werden – so wie frü-
ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES / DER SPIEGEL
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Wada-Chefermittler Günter Younger be- Erst dann verabschiedete die Regie- Rugut erzählt von einer Kooperation
zeichnet deshalb das Labor in Nairobi als rung ein Anti-Doping-Gesetz und grün- mit der Pharmaziebehörde, einem Verbot
»großen Schritt« im Kampf gegen den Be- dete 2016 die neue nationale Anti-Doping- rezeptfreier leistungssteigernder Medika-
trug. Um nachhaltig zu sein, müsse man Agentur Adak. Die Behörde mit Sitz in mente. Er spricht von Vorträgen bei Ärz-
»Athleten permanent kontrollieren«. Bis- Nairobis Stadtteil Westlands will irgend- ten, die dem leicht verdienten Geld mit
lang sei das außerhalb des Wettkampfs wann eine »World Class Anti-Doping Dopingmitteln widerstehen sollen, und
kaum geschehen. Agency« sein, so steht es unter dem Punkt von einer besseren Kooperation mit der
Es ist eine Art Zeitenwende, die Kenia »Vision« auf einem Wandschild im Ein- Polizei. So sehr Rugut auch redet, der
erlebt. Über Jahre hat man im Land das gangsbereich. Kampf gegen die Manipulation klingt wie
Dopingproblem ignoriert, kleingeredet, Ein paar Stockwerke darüber sitzt ein Appell an den guten Willen.
eine Aufklärung verweigert. Weil Funktio- Adak-Geschäftsführer Japhter Rugut in In Wahrheit läuft der Anti-Doping-
näre ihre eigenen Interessen schützten und seinem Büro und spricht über die Gegen- Kampf gerade im Hochland von Kenia,
die stolze Läufernation ihr Gesicht wahren wart. dort, wo fast alle Spitzenläufer zu Hause
wollte. Nationale Verbandsvertreter er- Er sei froh, dass das Labor in Nairobi sind, völlig an der Lebenswirklichkeit der
klärten Dopingskandale zu Einzelfällen, bis Ende des Jahres gut 1000 Blutproben Menschen vorbei. Dort, wo Jugendliche
schoben die Schuld auf ausländische Trai- analysiert haben werde, sagt Rugut. »Aber außer Feldarbeiter nicht viel werden kön-
ner und Manager, die den Medikamenten- solange ein paar Tausend Dollar Preisgeld nen, wo es keine Industrie gibt, ist der Aus-
missbrauch eingeschleppt hätten. das Leben eines Athleten und seiner Fa- dauersport für viele der einzige Weg aus
Kenia trieb das Spiel der geheuchelten milie auf einen Schlag ändern können, wer- der Armut. Die Versuchung, bei der eige-
Unwissenheit so lange, bis der Ausschluss den Kenianer versucht sein zu dopen. Kon- nen Leistung etwas nachzuhelfen, wenn
von den Olympischen Spielen in Rio drohte. trollen hin oder her.« am Ende Ruhm und Reichtum stehen,
scheint allzu verlockend.
Edwin Kibet sagt, er wäre schon froh,
wenn er endlich den Strom wieder zahlen
könnte. Das einzige künstliche Licht in
seiner Backsteinhütte mit Wellblechdach
am Ortsrand von Iten kommt momentan
vom Bildschirm seines zerkratzten Smart-
phones, das er bei einem Freund nebenan
aufladen muss.
An einem Donnerstagmittag steht Kibet
am einzigen Fenster des Raumes, tief ge-
beugt über einen Kohlekocher, und rührt
aus Maismehl und kochendem Wasser
eine Schüssel Ugali an. Der klumpige Brei
gilt unter Kenias Läufern als Kraftfutter.
Für Kibet ist es die erste Mahlzeit an die-
sem Tag, am Morgen war er 18 Kilometer
laufen. Manchmal, wenn ihn der Hunger
noch quäle, klettere er nachts über die
Mauer zu seinem Nachbarn und pflücke
sich heimlich Kochbananen vom Baum, so
erzählt er es in gebrochenem Englisch.
Kibet ist 34, ein stiller Mann mit Mittel-
glatze und tiefen Augenhöhlen, der bei ei-
ner Größe von 1,80 Meter gerade 60 Kilo-
gramm wiegt. Er nennt es »das perfekte
Läufergewicht«. Die fleckige Wand über
dem Sofa hat er mit grobmaschigem Gar-
dinenstoff geschmückt. Daran gepinnt sind
ein paar verblasste Farbfotos seiner Frau
und seines achtjährigen Sohnes. Sie erin-
nerten ihn daran, wofür er sich täglich
schinde, sagt er.
Vor sechs Jahren ließ Kibet seine Fami-
lie mit dem Versprechen zurück, als wohl-
habender Mann zurückzukehren. Mit ei-
ner Reisetasche zog er von seinem Hei-
matdorf ins drei Autostunden entfernte
Iten, im hügeligen Westen des Landes,
2400 Meter über dem Meeresspiegel. Von
einem fast mystischen Ort hatte Kibet
gehört, an dem jeder ein Champion
Videoreportage
2004 2005 2007 2008 2009 2011 2012 2013 2015 2016 2017 Beim Lauftraining in Iten
Olympia WM WM Olympia WM WM Olympia WM WM Olympia Rio WM
Athen Helsinki Osaka Peking Berlin Daegu London Moskau Peking de Janeiro London spiegel.de/sp252019kenia
131 positive Dopingproben zwischen 2004 und 2018, darunter auch bei Medaillengewinnern
oder in der App DER SPIEGEL
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Sport
Wissenschaft+Technik
Die Imkerei funktioniert wie ein Legospiel, bei dem man sich eine tüchtige Kolonie zusammenbaut. ‣ S. 96
2500
Und täglich schreiben die Forscher. Sie schließen
daraus, dass jeder Mensch beim Charak-
grüßt der Ex ter einen bestimmten Typ bevorzugt.
Die Daten zeigen auch: Wer sich selbst
Menschen wählen häufig einen Partner, als offen und neugierig bezeichnet, der ist
der dem Charakter ihrer Ex-Partner flexibler bei der Wahl des Partners. MSK Jahre alte Spuren von Cannabis haben
ähnelt. Das haben Psychologen der Uni- Forscher an Feuerstellen in west-
versität Toronto herausgefunden. Sie chinesischen Gräbern entdeckt. Analy-
werteten dafür eine deutsche Langzeit- sen ergaben, dass der Gehalt an THC,
studie mit mehr als 330 Teilnehmern aus, der wichtigsten psychoaktiven Substanz,
die alle mindestens einmal ihren Partner gegenüber den meisten wilden Hanf-
gewechselt hatten. Die Teilnehmer und pflanzen erhöht war. Die Forscher ver-
deren Partner sollten unter anderem ein- muten, dass die Menschen das Can-
schätzen, wie vertrauensvoll, organisiert nabis gezielt wegen seiner Rausch-
GETTY IMAGES
oder fantasievoll sie selbst sind. Partner wirkung verbrannten, vermutlich bei
und Ex-Partner stimmten in den 21 ab- Beerdigungen. Unklar ist, ob sie die
gefragten Eigenschaften stärker überein, Rauschpflanzen schon damals züchteten.
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BBT SE
den die Tunnel auch? Rößler: Mit wenigen, kleineren
Rößler: Ja. Der Treibhausgasausstoß für Tunneln, aber ohne diese verrück- Tunnelbau unter dem Brenner
die Herstellung von Zement und Beweh- ten Riesenröhren, wie wir sie gra-
rungsstahl ist immens hoch. Pro Kilome- ben. In den Rocky Mountains werden Päs- Rößler: Da müsste man gar nicht
ter Tunnelröhre entstehen rund 30 000 se gequert, fast so hoch wie die Zugspitze. viel ausbauen, nur an wenigen Stellen
Tonnen CO . Ich habe am Beispiel der Und die Züge fahren meist einfach oben zusätzliche Gleise legen, damit
²
neuen ICE-Strecke Nürnberg–Berlin er- drüber. Mit sechs bis acht Lokomotiven die längeren Güterzüge überholt
rechnet, dass die Fahrgäste, die die Bahn und über 100 Waggons. Dagegen sind wir werden können. Das wäre um
vom Flugzeug weglocken will, 30 Jahre in Europa mit Spielzeugzügen unterwegs. Größenordnungen günstiger und
lang mit dem Zug fahren statt fliegen SPIEGEL: Ein Ausbau des Brenner- würde wesentlich mehr Güter
müssten, um den Klimaschaden durch die passes für längere Züge wäre also sinn- auf die Schiene holen als der Brenner-
Tunnelbauwerke zu kompensieren. voller als der Basistunnel? Basistunnel. CW
Analyse
Leicht zu täuschen
Warum es gefährlich werden kann, wenn wir uns auf automatische Bilderkennung verlassen
Manchmal ist die künstliche Intelligenz erstaunlich dumm. Selbst Schweine einen Ringelschwanz und Schlappohren haben. Stattdes-
die besten Bilderkennungsprogramme lassen sich leicht in die Irre sen wird sie mit einer Vielzahl von Schweinebildern gefüttert und
führen. Um das zu beweisen, legten Forscher über das Foto eines sucht darin nach wiederkehrenden Mustern. Versteckt man diese
Schweins ein schwaches Rauschen, vergleichbar einer Bildstörung Muster auf anderen Bildern, kann sie sich täuschen lassen.
bei einem Fernseher. Während der Mensch weiterhin einwandfrei Wie man diese Attacken abwehrt, darüber ist unter Informati-
ein Schwein erkannte, sah der Computer plötzlich: ein Flugzeug. kern eine Debatte entbrannt. Sie stecken in einem Zwiespalt:
Solche Angriffe auf die Bilderkennungssoftware lassen sich kon- Einerseits sollen ihre Programme möglichst viele Bilder erkennen.
struieren. Das macht sie so gefährlich, sollte die automatische Andererseits soll möglichst jedes Bild, das erkannt wird, auch
Bilderkennung stärker in unseren Alltag einziehen. Schon gezielt korrekt zugeordnet werden. Forscher des Massachusetts Institute
angebrachte Aufkleber auf einem Stoppschild könnten einem of Technology behaupten in einer neuen Studie, das führe zwangs-
selbstfahrenden Auto weismachen, dass es nicht bremsen muss. läufig zum Widerspruch: Wer die Vorhersagequote maximiere,
Oder eine Handykamera erkennt in einigen Pixeln irrtümlich das der öffne gleichzeitig das Tor für Täuschungsattacken.
Gesicht seines Besitzers – und entsperrt das Gerät. Die Debatte zeigt, dass die Bilderkennung weit weniger ausge-
Selbstlernende Programme sind anfällig für solche Manipulatio- reift ist, als ihre Hersteller uns einreden wollen. Solange die
nen, weil sie nicht wissen, was sie tun: Die Software versteht nicht, Software ein Schwein für ein Flugzeug hält, sollten wir uns nicht
was ein Stoppschild oder ein Schwein ist. Sie weiß nicht, dass auf sie verlassen. Martin Schlak
Wissenschaft
Heilsamer Untergang
Tiere Die Honigbiene ist zum Liebling der Nation aufgerückt – nicht nur zu ihrem Vorteil.
Biologen ermuntern die Imker jetzt zum radikalen Umdenken: Wer die
strapazierten Insekten retten will, muss erst einmal viele Völker sterben lassen.
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u den Bienen, die das große Völ- zelte Völker jedoch konnten dem Ansturm schweren Verlusten. Auf der schwedischen
kersterben überlebt haben, verirrt der Parasiten standhalten. Die Bienen, die Insel Gotland stellten Forscher 150 Bie-
sich kaum je ein Mensch. Sie sind jetzt in den Baumhöhlen nisten, sind die nenvölker mitsamt einer Beigabe von Mil-
zu gut versteckt. Nachfahren dieser Überlebenskünstler. Sie ben auf. In den ersten drei Jahren ging der
Der Weg führt tief in die verlassenen werden nun aus eigener Kraft mit den Mil- Großteil der Neusiedler zugrunde, aber
Wälder des US-Bundesstaats New York. ben fertig – als Pioniere der Evolution. dann war das Schlimmste überstanden.
Auf den letzten Metern stapft Thomas See- In den Bienen vom Arnot Forest sieht Heute leben die Bienen von Gotland –
ley in Gummistiefeln voraus, der Biologe Seeley Vorkämpfer für die ganze Art: nach wie vor auf sich gestellt – im Gleich-
hat eine Karte dabei. »Wir sind da«, sagt Auch den behüteten Völkern der Imker gewicht mit ihren Parasiten.
er und deutet in einen hohen Ahornbaum wäre mit einer heilsamen Katastrophe die- Ähnliches geschah nahe dem französi-
hinauf. Aber da oben ist nichts zu sehen. ser Art geholfen. Der Forscher plädiert schen Avignon und auf einer Halbinsel in
Oder doch, auf den dritten Blick: eine für ein Ende der Milbenbehandlung – Wales. Abgeschiedene Flecken eignen sich
winzige Öffnung, kaum größer als ein selbst wenn dann unzählige Völker veren- gut für solche Versuche. Ungleich schwie-
Mauseloch. Gegen den Himmel lässt sich den müssten: »Es wäre besser für die riger wäre das im dicht besiedelten
mit Mühe ein Gewusel flirrender Pünkt- Biene, wenn wir der Evolution ihren Lauf Deutschland – hier müssten Imker ganzer
chen ausmachen. Das müssen sie sein. Das ließen.« Regionen übereinkommen, eine Weile
Loch, gut fünf Meter über dem Waldbo- Freunde der fleißigen Sumsen mögen aufs Behandeln zu verzichten.
den, ist der Eingang zu einer Höhle voller das abstoßend finden. Noch mehr Tod und Immerhin, es ginge schnell. Fünf schlim-
Honigbienen. Elend? Aber Seeley hat gute Argumente. me Jahre, vielleicht zehn, dann wäre die
»Ich hätte lange nicht gedacht, dass es Nach herrschender Lehre müssen die Sache ausgestanden, glaubt Seeley. Zum
diese Kolonien überhaupt noch gibt«, sagt Milben bekämpft werden, wo immer sie Glück sei die Honigbiene genetisch enorm
der Biologe. auftreten. So kommen auch wehrlose Völ- wandlungsfähig, sie könne sich schnell auf
Die Bienen leben dort droben in ihrer ker über den Winter, die den Parasiten an- veränderte Umstände einstellen.
eigenen Welt. Ums Loch herrscht die bie- dernfalls erliegen würden – und in der Im Fall der Milbe allerdings hatte die
nentypische Geschäftigkeit eines Fracht- nächsten Saison sind sie wieder leichte Westliche Honigbiene, Apis mellifera,
flughafens; unentwegt werden Pollen und Beute. Ein fataler Kreislauf: Weil die natür- dazu kaum eine Chance. Über Jahrmillio-
Nektar umgeschlagen, das Sammelgut ver- nen kam der Parasit nur in Asien vor. Dort
schwindet im Innern des Baumes – Vorrä- lebt er bis heute in den Behausungen der
te für den oft harten Winter dieser Gegend. Die Biene als Nutztier Östlichen Honigbiene, Apis cerana, die
Aber vom Boden aus ist die summende, unterliegt einem leidlich mit dem Untermieter zurecht-
brummende Kleinstadt der Insekten nahe- kommt. Sie hat im Lauf der Evolution hilf-
zu unsichtbar. Leistungskalkül wie reiche Tricks gelernt. Zum Beispiel kann
Seeley gilt weltweit als einer der bedeu- die Legehenne. sie Milben aufspüren, die sich in den ver-
tendsten Bienenforscher. An der nahen schlossenen Brutzellen der Waben ver-
Cornell University im Städtchen Ithaca er- steckt halten. Als es den Parasiten jedoch
gründet er die erstaunliche Schwarmintel- liche Auslese ausgeschaltet ist, kann die gelang, auf die Westliche Honigbiene über-
ligenz der Tiere. In diesem entlegenen Spezies keine Abwehrstrategie entwickeln. zuspringen, trafen sie auf einen unvorbe-
Waldstück, genannt Arnot Forest, spürte Auch sonst trägt der Imker – unge- reiteten Wirt. Plötzlich waren sie in der
er schon vor Jahrzehnten neun besondere wollt – zum Erfolg der Milben bei: Mit al- Lage, ganze Völker auszulöschen.
Kolonien auf. Alle lebten sie hier wild, kei- lerhand Tricks treibt er seine Bienen zur In Deutschland wurde die Varroamilbe
nem Imker untertan. Höchstleistung an; er will große, starke erstmals 1977 beobachtet. Auch die zustän-
Diese Freiheit hätte eigentlich in den si- Völker, die viele Arbeiterinnen erbrüten digen Bienenexperten wussten zunächst
cheren Untergang führen müssen. Denn und ihm Dutzende Kilo Honig liefern. keinen Rat. Damals fürchtete man noch,
eines Tages war ein Parasit von verheeren- Dumm ist nur: Mit der Brut gedeiht eine natürliche Resistenz gegen den Para-
der Effizienz über den nordamerikani- auch die Milbe. Je machtvoller ein Volk siten sei erst nach Jahrzehnten dramati-
schen Kontinent vorgerückt, eine winzige brütet, desto mehr Parasiten bringt es in scher Verluste zu erwarten. Wer würde da
Milbe mit dem Namen Varroa destructor. der Regel hervor. Und wenn es am Ende überhaupt noch Bienen halten wollen?
Diese Achtbeiner, so groß wie ein Steck- zugrunde geht, finden die Varroen meist Und wie sollte die Landwirtschaft mit dem
nadelkopf, saugen an der Bienenbrut in problemlos einen neuen Wirt gleich in der Ausfall der Bestäuber fertig werden?
den Wabenzellen. Und sie vermehren sich Nähe: An einem Bienenstand stehen oft Deshalb wurde die Imkerei aufs Behan-
beängstigend schnell – am Ende eines zahlreiche Völker beisammen. deln eingeschworen. Und dabei blieb es
Sommers wimmeln oft Abertausende Mil- Für den Biologen Seeley ist die Bienen- bis heute. Theoretisch könnte es auch im-
ben im Stock. Die meisten Bienenvölker haltung folglich selbst zum Problem ge- mer so weitergehen. Wäre das wirklich so
kollabieren früher oder später unter dieser worden: naturfern und übermäßig strapa- schlimm? »Aus heutiger Sicht war es ein
Last. Vor den Parasiten gibt es kein Ver- ziös für die Tiere. Die Milbe bringe es nur Fehler zu behandeln«, sagt der Freiburger
steck. an den Tag. »Es ist Zeit für eine Wende.« Bienenforscher Wolfgang Ritter. »Wir sind
Millionen Imker sind deshalb heute ge- Seeley sieht kaum eine Alternative zu damit keinen Schritt weitergekommen.
zwungen, ihre Bienen mehrmals im Jahr seinem Vorstoß – auch nicht in der Zucht Im Gegenteil, die Völker werden immer
zu behandeln. In der Regel kommen dabei resistenter Bienen, der sich zahlreiche Im- anfälliger.« Früher konnten sie bis zu
Säuredämpfe zum Einsatz, die auch den ker und Forschungsinstitute verschrieben 10 000 Milben einigermaßen ertragen,
Bienen schwer zu schaffen machen. Doch haben. »Die künstliche Auslese hat bislang heute brechen sie oft bereits unter einer
um die Völker im Arnot Forest hat sich nie wenig gebracht«, sagt er. Die Bienen, so Last von 2000 Parasiten zusammen.
jemand gekümmert. Warum sind sie im- glaubt der Biologe, fänden am besten Ritter verfolgt die Lage schon lange, er
mer noch da? selbst ihren Weg aus der Not. war Experte für Bienenkrankheiten bei
»Die meisten Kolonien hier sind tatsäch- Ein paarmal hat es schon funktioniert. der Weltorganisation für Tiergesundheit
lich zugrunde gegangen«, sagt Seeley. »Das Auch an anderen Orten wurden Bienen (OIE). Dem amerikanischen Kollegen See-
zeigen uns genetische Analysen.« Verein- von selbst resistent, wenngleich erst nach ley gibt er recht. »Aber ich bin kein Fan-
Wissenschaft
tast«, sagt der Forscher. Ein Umsturz von allem die Vergeblichkeit ihres Fleißes: Die rund 915 000 Völker. Dennoch hat sich das
heute auf morgen sei nicht machbar. Biene ist tüchtig, sie rackert sich ab wie »Bienensterben« als Großmetapher für das
Doch mittlerweile haben auch viele Im- wir alle – und doch geht es ihr offenbar reale Hinschwinden der Insektenvielfalt
ker das Behandeln satt. »Sie finden es un- gar nicht gut. Wenn selbst dieser Heldin eingebürgert – und irgendwie auch gene-
befriedigend und naturfern, immer wieder der Leistungsbereitschaft alles zu viel wird, rell für das Unbehagen an der übernutzten
mit Chemie in ihre Völker reinzugehen«, dann ist doch, so scheint es, etwas faul im Natur.
sagt Ralph Büchler, Leiter des hessischen System. Im Blick auf die Biene kann der Für das wahre Problem der Honigbiene
Bieneninstituts in Kirchhain. Als Mittel Mensch sich selbst leidtun. aber zeigen ihre Freunde bislang wenig
der Wahl wird oft Ameisensäure in den Woran sich die Liebe vor allem entzün- Interesse. Das ist und bleibt die Varroa-
Stöcken verdunstet. Die Dämpfe setzen det, zeigt der spektakuläre Erfolg der nor- milbe – und der Teufelskreis des leidigen Be-
den Völkern zu. Die Bienen fliehen im wegischen Autorin Maja Lunde. Ihr Roman handelns. Wenn nun Biologen wie Seeley
Schreck oft von den Waben; und in den »Die Geschichte der Bienen« beschwört auf die Macht der natürlichen Auslese set-
noch unverschlossenen Zellen geht ein eine Zukunft herauf, in der es keine Bienen zen, tut sich ein abgründiges Dilemma auf:
Großteil der Brut zugrunde. mehr gibt. Billiglöhner müssen Obstbäume Wer die Honigbiene retten wollte, müsste
»Wir kämpfen ständig an der Grenze und Tomaten von Hand bestäuben. In zunächst das mit Abstand größte Bienen-
der Belastbarkeit«, sagt Büchler. Auch er Deutschland wurden von der literarisch be- sterben seit Menschengedenken einleiten.
glaubt, dass die Bienenhaltung sich gehö- scheidenen Schwarzmalerei schon mehr als Wäre so etwas heute auch nur annä-
rig ändern müsse – angefangen mit klei- 980 000 Exemplare verkauft. hernd vermittelbar? Und wenn ja: Wer
nen Schritten. Am Ende sollte die Biene Aus fachlicher Sicht ist die Apokalypse sagt es den Leuten?
wieder in der Lage sein, sich selbst zu vom Bienensterben Unsinn. Die Honigbie- Den Anfang hat Thomas Seeley ge-
schützen. »Sie hat das ja auch 50 Millio- ne mag unter Druck stehen, aber sie ist macht. Gerade erst legte er ein Buch zum
nen Jahre ohne menschliches Zutun ge- keineswegs in ihrer Existenz bedroht. Thema vor*. Darin entwirft der Forscher
schafft.« Weltweit stieg die Zahl der Völker in den ein Zukunftsprogramm für die überforder-
Die Zeit für eine Wende scheint günstig. vergangenen 50 Jahren kräftig an – allein te Spezies. Er nennt es »darwinistische
Die Biene ist zum Lieblingstier der Deut- in China etwa von 3,7 Millionen auf mehr Bienenhaltung«.
schen aufgerückt. Die Sorge, sie sei in als 9 Millionen. Im Zentrum steht der Verzicht auf Säu-
akuter Not, mobilisierte in Bayern Seit 2007 geht es auch in Deutschland ren gegen die Milbe. In der Praxis ist das
1,75 Millionen Bürger – so viele unter- wieder bergauf. Mittlerweile leben hier nichts für sentimentale Gemüter. Der Im-
schrieben Anfang des Jahres das ker, schreibt Seeley, müsse Völker,
Volksbegehren »Rettet die Bienen!«. die es absehbar nicht schafften, sogar
Gemeint waren damit auch die gut Die Honigfabrik beizeiten töten – bevor sie sich am
550 einheimischen Wildbienenarten, Aufbau einer Magazinbeute Ende in »Milbenbomben« verwan-
aber wer kennt die schon? Wenn es delten und ihre Parasitenlast über die
um Rettungsbedarf geht, fällt dem Nachbarschaft verteilten.
Laien als Erstes die Honigbiene ein – Bewegliche Rähmchen Wer vor den Härten der Evolution
Die Bienen bauen ihre Waben
so wurde sie quasi zum Wappentier aus Wachs in Rähmchen, die
zurückschreckt, findet im Buch auch
der Bewegung. der Imker jederzeit herausziehen weniger krasse Vorschläge für ein art-
Überrascht von dieser politischen und inspizieren kann. gerechtes, gesünderes Bienenleben –
Wucht, will der Bayerische Landtag nach dem Vorbild der Wildlinge im
den Gesetzentwurf der Initiative im Honigraum Arnot Forest und anderswo. In Frei-
Juli annehmen. Künftig soll es im Hier lagern die heit bevorzugen die Völker zum Bei-
Freistaat mehr Blühwiesen geben Bienen den Honig spiel kleine Höhlen, ein gutes Stück
und mehr ökologischen Landbau. ein. Am Ende der von den Nachbarn entfernt. Sie sam-
Das Münchner Rathaus haben die Saison nimmt der meln nur so viel Nektar, wie sie brau-
Sumsen bereits eingenommen. Erst- Imker die Zarge ab. chen. Und sie schwärmen häufig –
mals seit 1972 bestückten die Stadt- sehr zum Verdruss ihrer Parasiten.
gärtner die neugotische Fassade am Nestanordnung So ein Schwarm ist für die Bienen
Marienplatz nicht mehr mit knallfar- Die Brut befindet das Ereignis des Jahres, sie geraten
sich gewärmt in der
benen Geranien. Denn deren Blüten- Mitte, umgeben von da in höchste Aufregung. Meist ge-
pracht ist aus Sicht der Bienen nur einem Futterkranz schieht das im Frühsommer, wenn al-
Blendwerk, Geranien bieten weder aus eingelagerten les blüht und dem wachsenden Volk
Nektar noch Pollen in nennenswer- Pollen und Honig. seine Höhle zu eng wird. Eines Tages
ter Menge. Umso nahrhafter ist der erhebt sich dann die alte Königin mit
neue Blumenschmuck: In 111 Kästen Brutraum Abertausenden Arbeitsbienen brau-
präsentiert die Landeshauptstadt ein Beherbergt auf meist send in die Lüfte. Dieser Schwarm
hängendes Büfett aus Buntnesseln, zwei Etagen Brut findet, mit etwas Glück, bald eine
Wolfsmilch und Mehlsalbei. und Vorräte. Hier legt neue Behausung im Umkreis. Zurück
die Königin bis zu
Die Nachfrage nach bienenfreund- 2000 Eier am Tag.
bleibt die andere Hälfte des Volkes;
licher Flora ist überall gestiegen. Die Ein Absperrgitter, sie zieht sich eine neue Königin heran.
fränkische Firma Rieger-Hofmann, das nur die kleineren Das ist die Art der Bienen, sich zu
Fabrikant von Wildblumensamen, Arbeiterinnen durch- vermehren. Der Schwarm ist quasi die
musste bereits den Notstand erklä- lässt, hält sie vom Geburt einer neuen Kolonie – und
ren: »Trotz Personalaufstockung« Honigraum fern. nebenher ein schwerer Schlag für die
könnten vorerst keine Privatkunden Milben. Er wirft die Lästlinge um
mehr beliefert werden. Bodenplatte
Kein Zweifel, die Honigbiene ist mit Gitter zur Belüftung Flugloch
* Thomas D. Seeley: »The Lives of Bees«.
das Tier der Zeit. Anrührend ist vor Princeton University Press; 376 Seiten.
BRIAN FINKE
ker fliegen für ihn, sein Betrieb gilt als
größter im Land. Westerhoff stellt seine
Bienenstöcke großteils im Umkreis auf. Er
expediert aber auch mal ein paar Hundert Biologe Seeley: Härte der natürlichen Auslese
Magazine per Lastwagen in den fernen
Schwarzwald, wenn dort der Honigtau der
Läuse von den Tannen tropft. Waldhonig Eben das ist aber auch zum Problem Gerhard Liebig, Bienenforscher in Bo-
bringt gutes Geld. geworden. Denn was die Imker wollen, chum, hat damit kein Problem. Aus seiner
Gegen die Milbe behandelt der Imker macht ihren Geschöpfen oft genug das Sicht kann den Bienen gar nichts Besseres
mit Ameisensäure, drei- bis sechsmal im Leben schwer. Wenn die Biene die Wahl passieren als ein Imker, der mit gütiger
Jahr. Keine schöne Arbeit für ihn, aber hat, siedelt sie in engen Nisthöhlen hoch Hand ihr Schicksal lenkt. »Ohne Betreu-
erträglich. Und was hält er von Thomas in den Bäumen, wo es warm ist und ewig ung könnte kaum ein Volk bei uns über-
Seeley und der darwinistischen Bienenhal- dunkel – und wo niemand stört. leben«, sagt er. »Es würde verhungern
tung? »Als Biologe kann ich das hundert- Der Imker aber ist ein notorischer Bast- oder an der Varroa eingehen.«
prozentig unterschreiben«, sagt Wester- ler. Er steckt seine Völker in geräumige Liebig gilt als einer der kundigsten unter
hoff. Als Bienenhalter hat er, kein Wunder, Kistentürme aus mehreren stapelbaren den deutschen Imkern. 37 Jahre lang forsch-
seine Bedenken. Aber vor allem graut ihm Etagen (siehe Grafik). Dort bauen die Bie- te und tüftelte er an der Universität Hohen-
vor den Jahren des Elends. »Evolution«, nen ihre Waben in bewegliche Rähmchen, heim. Auch jetzt, als Rentner, hält er noch
sagt er, »das heißt Tod und noch mal Tod.« die der Imker jederzeit herausfingern gut 250 Völker, die er unentwegt für Expe-
Ein verendetes Bienenvolk ist traurig kann wie die Akten aus einem Hängere- rimente einspannt. Liebigs Bienen mussten
anzusehen: wie eine ausgelöschte Stadt. gister. Nach Belieben hängt er sie um, zum Beispiel die Wundermittel testen, die
Kurz zuvor summten noch Zehntausende nimmt die einen heraus, setzt andere hin- diverse Erfinder gegen die fatalen Milben
geschäftige Bienen in der Kiste, aus den zu. Er zerlegt seine Völker und mischt sich aufbieten: den »Varroa-Killer-Sound«, der
Wabengassen stieg warmer Honigduft neue. die Parasiten mit hochfrequentem Sirren
auf – und dann liegt alles kalt, still und Die Imkerei funktioniert wie ein Lego- zu töten verheißt. Oder die »Bienensauna«,
verlassen da. Meist findet sich nur mehr spiel. Es gibt allerhand Klötzchen, und wer die den Stock auf 41 Grad Celsius aufheizt.
eine Handvoll toter Bienen; die meisten sie richtig zusammensteckt, kann sich eine Die Bienen halten das noch knapp aus, die
sterben draußen im Gelände. tüchtige Bienenkolonie bauen, eine Honig- Milben sterben ab – theoretisch. Bei Liebig
Ohne Behandlung droht dieses Los vier maschine aus lebenden Teilen. Sie am fielen beide Apparate durch.
von fünf Völkern. »Das müssen Sie emotio- Brummen zu halten erfordert ständige Bas- Der Forscher hat aber auch schon ver-
nal erst einmal verkraften«, sagt Westerhoff. telei, und viele Imker lieben das. suchsweise ganz auf eine Varroabehand-
»Und wirtschaftlich auch.« Er glaubt, dass Sie haben in der Regel schon auch ein lung verzichtet – bislang mit wenig Erfolg.
die große Wende wohl schon an der Klein- Herz für ihre Tiere – wenngleich sie ge- Den Berichten über resistente Völker an-
teiligkeit der Bienenhaltung in Deutschland legentlich von »Bienenmaterial« und derswo traut er nicht so recht: »Da fehlen
scheitere. 96 Prozent der Imker haben nicht »Zuchtstoff« fachsimpeln. Aber die Biene mir die genauen Daten, die das belegen.«
mehr als 25 Völker, weiß Westerhoff: »Die als Nutztier unterliegt einem Leistungskal- Liebig hält die Klagen über die Milben-
machen alle, was sie wollen.« kül wie die Milchkuh und die Legehenne. plage ohnehin für übertrieben. »Wer recht-
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Wissenschaft
K
aum mehr als ein Schreibtisch und nach auf meinem Laptop eine Werbung, mehr über uns, als die Stasi jemals über
ein paar Stühle stehen beim Inter- die zum Inhalt unseres Gesprächs passt. ihre Bürger wusste.
viewtermin im Büro des neuen Dabei besitzen wir zu Hause weder eine SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass viele
Direktors am Max-Planck-Institut Alexa noch eine andere algorithmenge- Menschen trotzdem jede neue App aus-
für Bildungsforschung in Berlin – bislang steuerte Maschine, die uns zuhören könn- probieren wollen?
lebte Iyad Rahwan in Cambridge in den te. Jedenfalls wissen wir nichts davon. Sol- Rahwan: Sie halten sich für Profiteure des
USA. Nun wird er vom renommierten Mas- che Situationen verunsichern mich. Systems, weil sie kostenlos zahlreiche
sachusetts Institute of Technology (MIT) in SPIEGEL: Wie reagieren Sie in diesen Mo- Dienste in Anspruch nehmen können, die
die deutsche Hauptstadt wechseln; auch sei- menten? das Leben wesentlich bequemer machen.
ne Frau, eine Australierin, wird im Stadtteil Rahwan: Ich suche nach Erklärungen und Dass sie den Service mit ihrer Privatheit
Wilmersdorf forschen. Die neuen Kollegen sage mir, dass es ein Zufall sein kann. Aber und Autonomie bezahlen, bemerken sie
sind gespannt: Rahwan, 41, ist als Informa- genauso ist es denkbar, dass eines unserer nicht – auch weil wir bislang kaum eine
tikwissenschaftler weltweit bekannt; er un- digitalen Geräte die Gespräche eben doch Möglichkeit haben, genau zu erfahren,
tersucht, wie die Digitalisierung den Alltag auswertet, ohne dass wir darüber infor- welche digitalen Spuren wir hinterlassen
von Menschen verändert, und denkt dabei miert sind. Es kann sogar sein, dass all und was andere damit anstellen können.
gleichermaßen sozialwissenschaftlich und die Algorithmen, die ich ständig mit mei- Dieses Unwissen macht uns manipulierbar.
technologisch. Sein Hauptinteresse gilt nen Daten bediene, längst so viel über Internetgenerierte Fake News wie im ame-
einer zukunftsentscheidenden Frage: Wie mich wissen, dass sie vorausberechnen, rikanischen Präsidentschaftswahlkampf
können Individuen und Gesellschaften die was mich umtreibt, und dann passgenau sind dafür nur ein Beispiel.
Digitalisierung der Welt besser begreifen die entsprechende Werbung einspielen. SPIEGEL: Ihre Kollegen sind sich uneinig
und steuern? Dass Rahwan künftig in Berlin Eben darin liegt das enorme und unter- darüber, ob Computerprogramme mit ge-
arbeitet, kann als Scoop der Max-Planck- schätzte Problem unserer digitalisierten zielten Falschmeldungen in sozialen Netz-
Gesellschaft gelten. Gewöhnlich zieht es Welt: Wir verstehen nur sehr begrenzt, werken den Ausgang einer Wahl tatsäch-
Talente eher dorthin, wo Rahwan her- welche Informationen gesammelt und aus- lich entscheidend beeinflussen können.
kommt – an die amerikanischen Elite-Insti- gewertet werden, wenn wir eine Such- Rahwan: Es gibt zahlreiche Formen un-
tute. Er habe mehrere Gründe für seinen maschine benutzen, Kleidung bestellen terschwelliger algorithmengesteuerter Ein-
Wechsel, sagt Rahwan, der einer von vier oder uns überhaupt des Internets bedie- flussnahme in der Politik; manche sind
Direktoren am Max-Planck-Institut sein nen. Manche Onlineplattformen wissen sehr subtil, einige meiner Kollegen in den
wird. Neben der Aufgabe und dem großzü- USA haben das untersucht. In einer
gigen Forschungsbudget reize ihn vor allem Studie wurden Bürger per Facebook am
Berlin. Rahwan ist in Aleppo geboren, hat Wahltag daran erinnert, ihre Stimme
Syrien als Kind verlassen, kehrte als Schüler abzugeben. Eine zweite Gruppe bekam
für ein Jahr dorthin zurück und studierte zusätzlich die Information, welche ihrer
in Australien. Sein Vater lebt nach wie vor Freunde bereits gewählt hatten. Der so-
im kriegszerstörten Aleppo; die Mutter und ziale Druck hat dazu geführt, dass diese
der Bruder sind in die Vereinigten Arabi- Gruppe dann zuverlässiger zur Wahl ge-
schen Emirate geflüchtet. Er fühle sich mit gangen ist.
dieser Biografie in Berlin gut aufgehoben, SPIEGEL: Was ist an diesem Vorgehen pro-
meint der Wissenschaftler – in einer Stadt, blematisch? Die Wahlbeteiligung zu stei-
die den Krieg erlebt habe und heute frei sei. gern ist in demokratischen Gesellschaften
doch grundsätzlich erwünscht.
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Rahwan, in welchen Mo- Rahwan: Das Problem entsteht, sobald
menten fühlen Sie sich der künstlichen nur die potenziellen Wähler einer Partei
Intelligenz in Ihrem Computer, Ihrem eine derartige Information bekommen und
Smartphone und anderen digitalen Gerä- damit die Chancen dieser Partei steigen.
ten ausgeliefert? Und da Algorithmen mithilfe der im Inter-
Rahwan: Wenn ich mich mit meiner Frau net verfügbaren digitalen Spuren relativ
unterhalte, erscheint manchmal kurz da- zuverlässig errechnen können, wo ein
Mensch politisch steht, lassen sich diese
Das Gespräch führte die Redakteurin Katja Thimm Forscher Rahwan Wähler ziemlich sicher finden. Die gute
in Berlin. »Wir haben als Gesellschaft die Wahl« Nachricht: Wir haben als Gesellschaft die
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Wahl. Wir müssen unsere privaten Daten geben, damit er im allgemeinen Interesse dings sind auch Informatikwissenschaftler
ja nicht an das Netz ausliefern. allgemeingültige Regeln durchsetzt. Nun häufig nicht ausreichend über die digitale
SPIEGEL: Es wird schwierig werden, die ist eine Situation entstanden, in der wir Welt informiert.
Masse der Menschen davon zu überzeugen, einen Teil unserer Freiheiten an Algorith- SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
künftig auf das Internet zu verzichten. men abgeben, die unser politisches Han- Rahwan: Unabhängigen Forschern fehlt
Rahwan: Wir könnten beides haben: den deln mitbestimmen, ohne dass wir sie mit wichtiges Wissen, weil sie kein Recht ha-
Komfort der digitalen Angebote und un- den Mitteln unserer traditionellen Gewal- ben, die Daten oder internen Studien von
sere Privatsphäre. In Forschungslabors tenteilung kontrollieren könnten. Internetunternehmen einzusehen. Das hat
wird längst an Technologien gearbeitet, SPIEGEL: Wie sollte solch ein Vertrag aus- auch damit zu tun, dass Firmen unter Ver-
die einen Einblick in private Rohdaten ver- sehen? dacht geraten, wenn sie solche Einblicke
hindern können. Wir müssten dann aller- Rahwan: Das ist eine der dringlichsten Fra- gewähren.
dings bereit sein, für Suchmaschinen, Rou- gen, und wir müssen die Antwort erst noch SPIEGEL: Das müssen Sie näher erklären.
tenplaner und andere Dienste zu bezahlen. finden. Es werden Fachleute zusammen- Rahwan: Es ist noch nicht lange her, da
Ohne öffentlichen Druck werden sich sol- arbeiten müssen, die sich bislang nicht gut haben Wissenschaftler im Auftrag von
che Lösungen nicht durchsetzen lassen. verstehen. Facebook gemeinsam mit Forschern einer
Kein Unternehmen wird freiwillig auf den SPIEGEL: Von wem reden Sie? amerikanischen Eliteuniversität eine Stu-
eigentlichen Schatz im Onlinegeschäft, auf Rahwan: Da sind zum einen wir Informa- die veröffentlicht. Sie zeigt, dass sich die
die Daten seiner Kunden, verzichten. tiker, die nutzerfreundliche Systeme ent- Stimmung eines Facebook-Nutzers ent-
SPIEGEL: Im Februar hat das Bundeskartell- wickeln können, aber üblicherweise wenig sprechend verändert, wenn man ihm die
amt die Kriterien, nach denen Facebook darüber nachdenken, ob Algorithmen un- eher positiven oder die negativen Nach-
Daten sammeln darf, deutlich verschärft. sere Persönlichkeitsrechte beschneiden richten seiner Facebook-Freunde zuerst an-
Plädieren Sie für weitere Auflagen? oder den Wettbewerb verzerren. Auf der zeigt. Es ist eine großartige Studie, weil sie
Rahwan: Wir benötigen mehr als ein paar anderen Seite stehen Juristen, Ethiker, So- belegt, dass man menschliches Befinden
neue Auflagen oder Gesetze. Wir brau- zialwissenschaftler und Ökonomen. Und auf eine vorhersagbare Weise über eine In-
chen einen neuen Gesellschaftsvertrag. die haben oft nur ein sehr begrenztes Ver- ternetplattform beeinflussen kann. Und es
Seit Jahrhunderten funktionieren demo- ständnis von Technologie. Dennoch bera- ist toll, dass Facebook diese Ergebnisse ver-
kratische Gesellschaften, indem Bürger ten sie Verwaltungen und Regierungen bei öffentlicht hat, vielleicht lässt sich solches
einen Teil ihrer persönlichen Freiheiten deren Konzepten für die digitale Zukunft. Wissen sogar therapeutisch nutzen.
an den Staat als übergeordnetes Organ ab- Das ist nicht immer zielführend. Aller- SPIEGEL: Wo lag dann der Haken?
Wissenschaft
Rahwan: In der Öffentlichkeit war plötz- Menschen über eine Website an dem Pro- anders als wir Menschen sind sie dann
lich von Gefühlsmanipulation die Rede. jekt beteiligt. Es geht um eine wirklich zu- nicht in der Lage, reflexhaft zu reagieren.
Seither hat das Unternehmen derartige kunftsrelevante Frage: Wie beurteilen wir Wir brauchen daher Instanzen, die syste-
Studien nicht mehr publiziert, weil es einen Entscheidungen, die intelligente Maschi- matisch beobachten, ob künstliche Intelli-
Imageschaden und damit einen Wertver- nen in Konfliktsituationen treffen? Mit an- genz tatsächlich das leistet, was sie vorgibt.
lust fürchtet. deren Worten: Welche moralischen Erwar- Wir sollten das Verhalten von Robotern
SPIEGEL: Auf öffentliche Kritik zu ver- tungen haben Menschen an das Verhalten und anderen algorithmengesteuerten Ma-
zichten wäre keine Alternative. Außerdem von Robotern? schinen genauso systematisch erforschen
bedient sich Facebook der Daten seiner SPIEGEL: Und wie lautet die Antwort? wie das von Tieren.
Nutzer und müsste allein deshalb deren Rahwan: Wir haben diese Frage am Bei- SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass
Unwillen aushalten. spiel eines selbstfahrenden Autos durch- solche Maschinen irgendwann einmal ethi-
Rahwan: Aber Kritik, die auf mangeln- gespielt und Unfallszenarien ersonnen, in sche Überlegungen anstellen werden –
dem Wissen beruht, bringt uns nicht denen das Auto in ausweglose Situationen und ein selbstfahrendes Auto nach einem
weiter. Auch deswegen brauchen wir den gerät. Egal wie es sich verhält – es geht Unfall besonders aufpasst, weil es sich ge-
Zugang zu den Rohdaten der Internet- für mindestens einen Menschen tödlich wissermaßen grämt?
firmen: Es muss sichergestellt werden, aus. Das Ergebnis war in allen Ländern in Rahwan: Ob Roboter oder andere intel-
dass die Gesellschaft überhaupt in die drei Punkten eindeutig: Das Auto sollte ligente Maschinen einmal Bewusstsein ha-
Lage versetzt wird, diese neuen mächtigen sich so verhalten, dass es eher das Leben ben werden, ist schwierig zu beantworten,
Mitspieler zu kontrollieren. Frü- weil wir längst noch nicht im
her haben Industrieunterneh- Einzelnen verstehen, was das
men verseuchtes Abwasser in menschliche Bewusstsein aus-
die Flüsse geleitet, weil es in macht. Dass sich ein Roboter
ihrem Interesse war. Im über- zerknirscht seiner Fehler grämt,
tragenen Sinn können Internet- halte ich für eher unwahrschein-
unternehmen mit ihren Algo- lich. Dass er ausreichend Empa-
rithmen heute ähnliche Schäden thie aufbringt, um alte oder
anrichten. Im Unterschied zu kranke Menschen zugewandt zu
Flüssen, aus denen sich öffent- pflegen, ist hingegen realistisch.
lich Proben entnehmen lassen, Es existieren bereits Technolo-
sind die Algorithmen jedoch gien, die anhand eines Gesichts-
eine Blackbox. ausdrucks die Gefühlslage eines
SPIEGEL: Wenn man Ihnen Menschen erkennen können.
zuhört, bekommt man Ver- Gleichzeitig entwickeln Pro-
ständnis für Kulturpessimisten, grammierer Roboter, die immer
die sich am liebsten vom digi- glaubhafter so wirken, als hätten
MORALMACHINE.MIT.EDU
talen Zeitalter verabschieden sie Emotionen. Irgendwann wer-
würden: Wir werden manipu- den wir deren Verhalten nicht
liert, wir werden instrumen- mehr von dem eines Menschen
talisiert – und wir merken es unterscheiden können.
nicht einmal, weil die künst- SPIEGEL: Das klingt, als behiel-
liche Intelligenz uns längst über- ten die Autoren von Science-
legen ist. Unfallszenarien aus MIT-Experiment Fiction-Filmen recht: Wir leben
Rahwan: So düster ist die Lage »Welche moralischen Erwartungen haben Menschen an Roboter?« mit Maschinen, die uns bis in un-
nicht. Man kann auf sehr spiele- ser Innerstes verstehen – uns
rische Weise lernen, wie künst- aber immer rätselhafter werden.
liche Intelligenz unser Verhalten und un- eines Menschen als das Leben eines Tieres Rahwan: Wir könnten theoretisch Robo-
sere Wahrnehmung beeinflusst. bewahrt. Das Leben mehrerer Menschen ter entwickeln, die unsere Theorie des
SPIEGEL: Bitte nennen Sie Beispiele. ist wichtiger als das eines einzelnen. Und Geistes teilen und damit unsere Gefühle,
Rahwan: Wir haben in Boston mit einer Kinder und Jugendliche sind besonders Absichten und Schlussfolgerungen verste-
Albtraummaschine gearbeitet. Sie nutzt schützenswert. hen. Aber am Ende wird die zentrale Frage
eine Technologie, die furchterregende Ge- SPIEGEL: Solche Szenarien sind nicht sein, ob wir ihren Algorithmen zutrauen,
sichter erschafft und uns so vor Augen mehr nur spielerisch. In Arizona wurde in unserem Sinne zu handeln. Ich würde
führt, wie sich unsere Ängste mit digitalen im vergangenen Jahr eine Frau von einem heute mein Kind und seine Schulbildung
Mitteln verstärken lassen. Eine fast iden- selbstfahrenden Testauto überrollt, als keinem Roboter anvertrauen, den eine
tische Software lässt Fotos von Städten sie ihr Fahrrad im Dunkeln über eine Firma entwickelt hat, die damit Geld ver-
aussehen, als wären sie im Krieg bom- vierspurige Straße schob. Ein Hindernis dienen möchte. Aber wenn so eine Ma-
bardiert worden. Diese Bilder lösen tiefes wie sie, das sich zudem regelwidrig ver- schine in 50 Jahren der bessere Lehrer sein
Mitgefühl aus. Betrachtet man beide hielt, hatten die Programmierer nicht vor- sollte – wäre es dann nicht unverantwort-
Projekte nebeneinander, begreift man gesehen. lich, ein Kind noch zu einem menschlichen
sehr eindrücklich, dass bereits winzige Rahwan: Mit derartigen Unglücken wer- Lehrer zu schicken? Wir befinden uns in
Nuancen in der Programmierung einen den wir zu leben lernen müssen. Wir kön- einem gigantischen Experiment. Uns von
fast entgegengesetzten Effekt hervorrufen nen intelligente Maschinen wie diese Au- vornherein auf unverrückbare Positionen
können. tos zwar so ausstatten, dass sie alle gängi- festzulegen ist nicht klug. Wir sollten offen
SPIEGEL: Ein weiteres Projekt in Boston gen Situationen im Straßenverkehr perfekt bleiben für neue Antworten.
nannte sich die »Moralmaschine«. bewältigen. Aber es wird kaum möglich SPIEGEL: Herr Rahwan, wir danken Ihnen
Rahwan: Daraus haben wir viel gelernt, sein, sie vorausschauend für alle mög- für dieses Gespräch.
weltweit haben sich mehr als 2,5 Millionen lichen Momente zu programmieren. Und
Paar des
Grauens
Geschichte Ein britischer
Historiker hat die Prostitution im
mittelalterlichen Deutschland
erforscht – und dabei verblüffende
Entdeckungen gemacht.
GETTY IMAGES
gen schwäbischen Reichsstadt Nördlingen.
Jene unglücklichen Frauen, die dort ihre
Körper anbieten mussten, beutete das
Horrorpaar schonungslos aus. Die Huren Bordellszene im 15. Jahrhundert*: »Das Leben dort konnte die Hölle sein«
wurden geschlagen, ausgeplündert und
gefangen gehalten. Doch erst ein anderes
Verbrechen brachte die grausamen Freu- unternehmen von der offiziellen Verwal- dem öffentlichen Bordell von zwölf Ange-
denhauspächter zu Fall. tung in die Hände privater Betreiber ge- stellten detailliert schildern ließen. »Da sie
Fryermut und Tarschenfeindin zwangen geben wurden. als unehrenhafte Frauen galten, war die
die schwangere Prostituierte Els von Ey- Wie schnell jedoch die Toleranz gegen- Aussage von Prostituierten vor Gericht
stett, ihr Kind mit einem Trunk aus Immer- über Prostituierten erschöpft war, die sich meist nicht viel wert«, sagt Page.
grün, Karotten, Lorbeer und Nelken un- außerhalb dieses Systems bewegten, zeigt Durch die peniblen Aufzeichnungen der
gefähr in der 20. Schwangerschaftswoche ein anderer von Page recherchierter Fall. In Ermittler blieb der Nachwelt ein schockie-
abzutreiben. Für diese Untat landete das Augsburg überquerte 1497 eine Frau mit Die- rendes Sittengemälde öffentlich organisier-
Horrorpaar vor Gericht. Dass die Details besgut im Gepäck die Stadtgrenze und zog ter Liebesdienste im Mittelalter erhalten.
ihrer damaligen Verbrechen der Nachwelt so die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf Lienhart Fryermut prügelte auf die im
erhalten blieben, ist jenen umfänglichen sich. Eine Befragung durch den Stadtrat of- Nördlinger Frauenhaus angestellten Dir-
Ermittlungen zu verdanken, die der Stadt- fenbarte, dass die Unbekannte aus dem rund nen offenbar nach Lust und Laune mit ei-
rat von Nördlingen 1471 einleitete. 60 Kilometer entfernten Kaufbeuren geflo- ner Peitsche oder einem Gürtel ein. Auch
Kaum jemand hat die Ermittlungsakten hen war, wo sie von ihrem Arbeitgeber miss- seine Partnerin Barbara Tarschenfeindin
so eingehend studiert wie der britische handelt worden sei – dem örtlichen Henker. teilte Schläge aus, wenn die Frauen nicht
Historiker Jamie Page. Der Forscher grub Im Mittelalter mussten Scharfrichter ne- genug Geld anschafften. Zudem mussten
zudem in diversen anderen Stadtarchiven ben ihrem blutigen Handwerk häufig auch die Geknechteten ihre kargen Mahlzeiten
die Akten von mittelalterlichen Fällen aus, die Beaufsichtigung käuflicher Damen be- aus eigener Tasche bezahlen – und das zu
in denen Zuhälter oder Prostituierte mit herrschen. Daher lag für die Ratsherren der deutlich überhöhten Preisen.
dem Gesetz in Konflikt gerieten. Die von Schluss nahe, dass es sich um eine flüchtige Waren die Frauen nicht ihren Freiern zu
ihm zutage geförderten Dokumente geben Hure handeln müsse. Für Historiker Page Diensten, zwang das Paar des Schreckens
einen seltenen Einblick in eine brutale bezeugen die Augsburger Akten jene »feind- sie, als Spinnerinnen zu schuften. So viel
Welt, die oft verzerrt oder verkitscht dar- liche Stimmung«, die »heimlichen Prosti- Rohheit war den mittelalterlichen Amts-
gestellt wird, etwa in dem auch verfilmten tuierten« zum Ende des 15. Jahrhundert trägern dann doch zu viel. Fryermut wurde
Roman »Die Wanderhure«. Die Wirklich- entgegenschlug. Die Richter attestierten der nach Abschluss der Ermittlungen aus der
keit war eine andere. Angeklagten ein »ellend verschmecht le- Stadt gejagt; auch Tarschenfeindin wurde
»Eine weitverbreitete Sicht auf Prosti- ben« (ein elendes, schändliches Leben). verbannt, zuvor jedoch als Verantwort-
tution im späten Mittelalter gaukelt uns Nicht mehr auffindbar sind Dokumente, die liche für die Abtreibung der Els von Eystett
vor, das Bordell sei damals ein sinnlicher Auskunft über die verhängte Strafe geben. mit einem Schandmal gebrandmarkt.
Ort voll ausgelassener Stimmung und Eine ganz andere Behandlung wurde Fortan erhielten die Prostituierten des
unschuldiger Lustbarkeit gewesen«, sagt der Prostituierten Els von Eystett in Nörd- städtischen Frauenhauses die Möglichkeit,
Page. »Tatsächlich aber konnte das Leben lingen zuteil, die zur Abtreibung gezwun- eine schlechte Behandlung zügig melden
dort die Hölle sein.« gen worden war. Schon dass man ihren zu können. Diese Reform war gleichwohl
Viele Stadtväter pflegten ein überra- Worten Glauben schenkte und in ihrem nur von kurzer Dauer.
schend lockeres Verhältnis zur käuflichen Fall ermittelte, ist für Page ein bemerkens- Ab Anfang des 16. Jahrhunderts sorgten
Liebe. Bordelle galten ihnen als Schutz ge- werter Vorgang. die sittenstrengen Verfechter der Reforma-
gen Vergewaltigungen und sonstige Beläs- Nicht minder verblüffend, dass sich die tion dafür, dass die städtischen Bordelle
tigungen von »ehrbaren Frauen« (Page). mittelalterlichen Fahnder die Zustände in nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit
Städte ließen sogar Frauenhäuser genann- verschwanden. Frank Thadeusz
te Bordelle einrichten, die wie frühe Sub- * Nachträglich kolorierter Holzstich.
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Wissenschaft
zehnte systematisch betriebene Suche gieren sie bei einem Start-up namens »To Das lobpreisende Vorwort zu Keans Ufo-
nach Intelligenz in den Weiten des Alls ist The Stars … Academy of Arts & Science«. Werk hat der Ufo-Enthusiast John Podesta
ergebnislos geblieben. Dieses wurde 2015 mitbegründet von dem verfasst, der ebenfalls in DeLonges Serie
Dennoch werden Aliens vor allem in heißblütigen Ufo-Fan Tom DeLonge, 43 – auftritt. Podesta ist nicht irgendwer: Unter
den USA wohl niemals totzukriegen sein – dem Ex-Frontmann der nach der Jahrtau- Bill Clinton war er Stabschef im Weißen
ähnlich wie Elvis, der immer noch gesich- sendwende sehr erfolgreichen Punkrock- Haus. Später wurde er Wahlkampfleiter
tet wird, obwohl er schon mehr als 40 Jah- band Blink-182. von Hillary Clinton. Und diese warb 2016
re unter der Erde liegt. Ufos sind ein tief »To The Stars« ist eine Art Ufologen- mehrfach damit für sich, dass sie als Präsi-
verwurzelter Teil der manchmal überdreh- kirche mit Missionsauftrag: DeLonge be- dentin der USA die Archive öffnen und
ten US-Popkultur, sie schwirren durch hauptet, er sei vom Pentagon auserkoren dann endlich das Geheimwissen der Regie-
Mainstream-Medien, Hollywood, Think- worden, der Menschheit peu à peu die rung über die Ufos mit dem amerikani-
tanks, Kindsköpfe und durch die Politik. Wahrheit über Ufos nahezubringen. Des- schen Volk teilen würde.
Dass es im Pentagon hauptamtliche Ufo- wegen hat das zuletzt hoch defizitäre Un- Was Clinton in ihrem Wahlkampf nicht
Jäger gab, ist gesichert. Harry Reid, der ternehmen eine sechsteilige Fernsehdoku- sagte: Die Ufo-Geheimarchive zum Bei-
damalige Mehrheitsführer der Demokra- mentation über die einfliegenden Aliens spiel der CIA sind längst offen, zumindest
ten im US-Senat, hat AATIP 2007 erschaf- produziert. Als Kronzeugen treten darin bis in die Neunzigerjahre hinein.
fen, gemeinsam mit zwei mittlerweile ver- unter anderem DeLonge, Elizondo und Die ersten fliegenden Untertassen sich-
storbenen Senatoren, einem Republikaner Puthoff auf. Einige dieser Leute sind auch tete ein US-Privatpilot im Juni 1947 über
und einem Demokraten. Wie Reid, 79, frei- in der »New York Times« und der »Wa- dem Bundesstaat Washington. Tage später
mütig einräumte, schanzten die Männer shington Post« zu Wort gekommen – aber stürzte nahe Roswell in New Mexico an-
ihrem Herzensprojekt ein Fünf-Jahres- nicht als werbungtreibende Clowns, son- geblich ein Ufo ab. Bis Ende des Jahres
Geheimbudget von immerhin fast 22 Mil- dern als vorgeblich bestinformierte Insider. wurden den US-Behörden fast 900 Ufos
lionen Dollar zu. Die ersten Folgen von »Unidentified: gemeldet. Eine bis heute nachwirkende
Der größte Teil der AATIP-Gelder floss Inside America’s UFO Investigation« wur- Massenhysterie hatte das Land erfasst.
allerdings an den Ideengeber der Unter- den bereits auf dem Pay-TV-Sender Histo- Auch Offiziere der Air Force machten
nehmung, einen Freund und Großspender ry gesendet. Direkt davor lief die erfolg- sich Sorgen. Sie fürchteten, dass sich hinter
von Senator Reid: Robert Bigelow, 74, lebt reichste Serie des Kanals, nämlich »An- den Ufo-Phänomenen in Wahrheit über-
in Las Vegas, er besitzt eine Hotelkette cient Aliens«. Die Macher dieser Reihe legene Geheimwaffen der Sowjetunion
und eine kleine Raumfahrtfirma. Der Self- versuchen zu beweisen, dass Invasoren verbergen könnten. Mehrere Untersu-
made-Milliardär verfolgt nicht selten ex- aus dem All die Pyramiden erbaut haben chungskommissionen gingen an den Start,
zentrische oder schlicht irre Ideen. und Nazideutschland über Alien-Technik »Project Blue Book« arbeitete sogar bis
Mit seinem Vermögen und einem mitt- verfügt hat. 1969. Volle 12 618 Sichtungen wurden von
lerweile aufgelösten Privatinstitut stellt All das ist absurd genug – aber es wird Experten oft bis ins Detail analysiert.
Bigelow schon seit Jahrzehnten Ufos und noch verrückter. Ergebnis: kein Hinweis auf ausländische
Außerirdischen nach, die seiner Meinung Zu den Autoren der »Times«-Artikel Waffensysteme. Kein Hinweis auf Gefähr-
nach auf Erden ein und aus gehen. Er hat zählte die freie Journalistin Leslie Kean, dung der nationalen Sicherheit. Kein Hin-
Poltergeister studieren lassen sowie große, die 2010 ein Buch mit dem Titel »Ufos. weis auf Außerirdische. Die Air Force stell-
wütende Tiere mit stechend gelben Augen Generäle, Piloten und Regierungsvertreter te ihre Ufo-Studien ersatzlos ein.
im Nordosten Utahs, die mit Gewehrku- brechen ihr Schweigen« veröffentlicht Fast alle angeblichen Alien-Vehikel lie-
geln nicht zu verwunden sind. hat. Die deutsche Übersetzung ist im für ßen sich befriedigend erklären. Mal waren
»Bigelow Aerospace« arbeitet mit rund pseudowissenschaftliche und rechtsextre- Wetterballons im Spiel, mal Vögel, Meteo-
150 Mitarbeitern an aufblasbaren Welt- me Literatur berüchtigten Kopp Verlag er- riten, Eiskristalle oder Sinnestäuschungen;
raumstationen. Mit dem Pentagon-Geld schienen. auch Fälschungen wurden nachgewiesen.
aber gab die Firma visionäre Mini- Für viele Sichtungen seit 1955
studien in Auftrag, zum Beispiel war die CIA selbst verantwortlich.
zu durchfliegbaren Wurmlöchern Sie wusste, dass die Phänomene in
oder Antrieben, die Raumschiffe Wahrheit auf Überflüge des gehei-
schneller als das Licht beschleuni- men Spionageflugzeugs U-2 zurück-
gen. Dass viele dieser Themen die gingen, musste das im Kalten Krieg
Gesetze der Physik sprengen, störte aber stets leugnen. Nicht zuletzt so
offenbar keinen. entstand der schier unzerstörbare
Verantwortlich für viele dieser Mythos, dass die alles vertuschende
Papiere war Hal Puthoff, 82, aus US-Regierung viel mehr über Ufos
Austin, Texas. Der gelernte Physiker wisse, als sie zugebe.
steht Bigelow schon lange nahe, er Nur für etwa sechs Prozent der
ist Ex-Scientologe (»Operierender Ufo-Sichtungen haben die Experten
Thetan der siebten Stufe«), Parapsy- damals keine Erklärung finden kön-
chologe, Hellseher, kurzum: ein Eso- nen. Zeugen, die als glaubwürdig
teriker in Reinkultur. Mit zwei Söh- eingestuft wurden, hatten teils ganz
nen betreibt er ein winziges For- und gar unglaubliche Beobachtun-
schungsbüro, das nach unbekannten gen gemacht. Diese sechs Prozent
Energiequellen für die Raumfahrt Unsicherheit nähren den Ufo-Glau-
der ganz fernen Zukunft sucht. bensstreit bis heute. Er wird so lange
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Kultur
»Frauen dürfen machen, was sie wollen.« ‣ S. 112
Ausstellungen
Frappierende Nähe
Amateurfotos zeigen die Verfolgung der Juden.
Dieses irritierende Bild aus dem Jahr 1944 ist ein seltenes
Dokument der Zeitgeschichte. Es zeigt den Niederländer
Juda Tas auf einem Standfahrrad, mit dem er Strom produ-
ziert, um Radio hören zu können. Er hat sich gemeinsam
mit seiner Frau Esther auf einem Dachboden in Haarlem
vor den deutschen Besatzern versteckt, die die niederlän-
dischen Juden seit 1942 in Konzentrationslager deportierten
und ermordeten. Das Bild stammt aus der Ausstellung
»The Persecution of the Jews in Photographs: The Nether-
lands, 1940 – 1945«, die bis zum 6. Oktober im Nationalen
Holocaust Museum in Amsterdam zu sehen ist. Gut die
Hälfte dieser Schau besteht aus bisher unveröffentlichten
Amateurbildern, Schnappschüssen, auch heimlich entstan-
denen Fotos. Sie zeigen lächelnde Menschen im Jahr 1942,
die einen Judenstern tragen müssen; Kinder; Hochzeits-
gesellschaften. Ein 1943 heimlich aus einem Fenster aufge-
nommenes Foto dokumentiert, wie verloren wirkende
Menschen auf ihre Deportation warten. Diese Amateur-
bilder schaffen eine frappierende Nähe zu den Abgebilde-
ten. Die Ausstellungsmacher recherchierten jahrelang,
um die Geschichten hinter den Aufnahmen ans Licht zu
bringen, und zum ersten Mal, so Kurator Erik Somers,
werde die Geschichte der Judenverfolgung anhand solcher
Fotos erzählt. Bisher habe die Täterperspektive die Wahr-
nehmung der Nachgeborenen beherrscht. Dieser neue Blick
wird über die Website der Ausstellung besonders ein-
NIOD, 1944​
Kino Verwüstung hinterließen. Nun ist die Nils Minkmar Zur Zeit
Unterirdisch außerirdisch Neufassung im Kino, sie heißt »Men in
111
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Kultur
»O weh, die
Feminismus-Keule«
SPIEGEL-Gespräch Bestsellerautorin Charlotte Roche und ihr
Mann Martin Keß über ihre Ehe, das Fremdgehen und die Vermarktung
ihrer Beziehungsprobleme
Roche, 41, wurde als TV-Moderatorin SPIEGEL: Warum sollten sie? Sind Sie Partner zu projizieren. Ihn also nicht blu-
bekannt. Ihre Romane »Feuchtgebiete«, schrecklich? ten und leiden zu lassen für alles, was man
»Schoßgebete« und »Mädchen für alles« Roche: Wir sind wie alle. Nur dass viele als Kind erlebt hat. Und wir haben gelernt,
waren Bestseller. Gemeinsam mit ihrem Paare so tun, als wäre alles toll, und über den Zwang wegzunehmen, dass man auf
Mann Martin Keß, 55, präsentiert sie vom ihre Konflikte schweigen. Ich bin sehr ge- ewig zusammenbleiben muss und dass
21. Juni an auf der Plattform Spotify den gen Schweigen. Ein Beispiel: Wir brüllen eine Trennung wie Sterben wäre.
Podcast »Paardiologie«, in dem sie scho- uns oft an, bevor wir zu Einladungen ge- SPIEGEL: Ist Ihr Podcast eine Anleitung
nungslos über ihre Ehe reden wollen. Keß hen, weil Martin lieber zu Hause bleiben zum aufgeklärten Untreusein?
war Mitgründer des TV-Unternehmens will und ich sage, da fahren wir jetzt hin. Keß: Nee.
Brainpool, heute ist er Mitbetreiber der Köl- Trotz aller Bemühungen, es zu überspie- Roche: Aber zur Freiheit.
ner Kaffeerösterei Van Dyck. Er ist bisher len, bekommen die Gastgeber dann doch Keß: Ich sage, Monogamie ist Quatsch.
nicht öffentlich aufgetreten und wollte sich mit, dass etwas nicht stimmt. Bevor sie Aber wenn ich den Gedanken an Sex mit
auch für dieses Gespräch nur so fotogra- denken, wir hätten ein Problem mit ihnen, anderen zulasse, das Bedürfnis, das Begeh-
fieren lassen, dass man ihn nicht erkennt. erzählen wir inzwischen lieber gleich, dass ren, dann ist das ja erst mal nur was im
Roche hat eine Tochter, Keß einen Sohn. wir uns gerade zwei Stunden lang ange- Kopf. Ich rufe keineswegs zur Untreue auf.
schrien haben. Dann sagen die: Ha, lustig, Das soll jeder selbst entscheiden.
SPIEGEL: Frau Roche, als junge Frau ha- wir haben uns eben auch gestritten. Dann Roche: Untreue ist ein schreckliches Wort.
ben Sie mal gesagt, dass Sie sich Ihr Leben ist der Abend sofort ganz anders. Da denkt man: Wer das macht, wird ge-
so vorstellen: Der Kerl bleibt zu Hause, SPIEGEL: Ihre Ehe scheint eine recht an- tötet.
Sie machen Karriere. Sind Sie damit zu- strengende Veranstaltung zu sein. Kann Keß: Dann eben »Fremdgehen«.
frieden, wie es gekommen ist? es sein, dass Sie permanent darauf bedacht Roche: »Fremdgehen« ist schön.
Roche: Absolut. Wir arbeiten zwar beide, sind, alles richtig zu machen? Keß: In vielen Ehen ist gerade das Festhal-
aber die häuslichen Aufgaben erfüllt mein Keß: Wir sind total unsympathische Op- ten an der Treue das Problem.
Mann um Lichtjahre besser. timierer. Roche: Wenn man untreu ist, heißt das
Keß: Bügeln. Oder Backen. Ich bin ein Roche: Es stimmt, ich bin ein totaler The- doch nicht, dass man den andern nicht
totaler Rezept-Nazi. Wenn ich mir vorneh- rapiestreber. Wenn meine Therapeutin mehr liebt. Oder dass man die Beziehung
me, Apfelstrudel zu backen, recherchiere etwas sagt, komme ich nach Hause und nicht mehr will. Viele Menschen, die den
ich die 30 besten Beiträge im Internet, ver- versuche, es zu 100 Prozent umzusetzen. Partner beim Fremdgehen erwischen, mei-
gleiche, fasse zusammen und komme so Mir geht es danach besser, meinem Mann nen aus Selbstschutz, sie müssten stolz da-
zum vermeintlichen Idealrezept. Das wird und den Kindern auch. Ich habe jahrelang mit umgehen, und machen Schluss. Damit
dann sklavisch umgesetzt. Ich neige zu pünktlich zwei Tage vor Weihnachten Zu- beenden sie vielleicht etwas, das noch vie-
Pedanterie. sammenbrüche gehabt und damit meiner le Jahre wunderbar funktioniert hätte.
Roche: Ich nicht. Als wir uns kennenge- ganzen Familie die Party versaut. Das pas- SPIEGEL: Ist Eifersucht etwas Negatives?
lernt haben, hatte ich keine Schränke, son- siert mir jetzt nicht mehr. Keß: Das hieße ja wieder, ich müsste mich
dern habe aus dunkelblauen Müllsäcken SPIEGEL: Erzählen Sie auch von Ihrer dafür schämen. Das finde ich falsch.
gelebt. Therapie? Roche: Die Frage lautet doch: Welche Re-
SPIEGEL: Nun wollen Sie Deutschland in Roche: Wir werden über alles reden, un- geln gibt es? Und wer hat die gemacht?
einem Podcast an Ihrem Eheleben teil- sere Kämpfe und unsere Tiefen und über Das ist für mich der Schlüssel zu einer
haben lassen. Wie muss man sich das vor- unsere Paartherapie. funktionierenden Beziehung. Ich war frü-
stellen: als Ehekomödie oder als Drama SPIEGEL: Wie oft waren Sie dort? her unfassbar eifersüchtig, auch weil ich
im Stil von »Wer hat Angst vor Virginia Keß: Bestimmt 30-mal, jeweils zwei Stun- sehr komplexbehaftet war. Wenn man sich
Woolf?«? den. klein fühlt, unzulänglich, dreckig, dann
Keß: Als Drama nicht. Die Leute werden Roche: Die Therapie hat uns gerettet. sind andere Frauen eine große Bedrohung.
hoffentlich nicht auf uns blicken und sagen: Ohne sie gäbe es uns nicht mehr gemein- Heute habe ich mehr Selbstbewusstsein.
Die sind total schrecklich. sam. Irgendwann hat die Therapeutin ge- SPIEGEL: Sie sind zwölf Jahre verheiratet.
sagt, dass Martin nicht mehr zu kommen Roche: Für mich ist es ein Wunder, dass
Das Gespräch führten die Redakteure Wolfgang Höbel braucht, sondern nur noch ich allein. Ich ich das geschafft habe, mit meiner Vorge-
und Alexander Kühn. lerne dort, eigene Probleme nicht auf den schichte. Ich bin ein wiederholtes Schei-
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dungskind. Als ich klein war, sind in Wimbledon. Meine Mutter hat
wir mehrmals umgezogen, ich mir erzählt, dass ich nie pupsen
habe immer wieder neue Stief- darf. Schon normale körperliche
väter vorgesetzt bekommen. Mei- Vorgänge wurden als falsch ge-
ne Mutter hat sich bei jedem ächtet. Dagegen kämpfe ich. Das
frühen Verliebtsein fürs Heira- ist immer das große Missverständ-
ten entschieden und nach ein, nis, dass alle denken, ich wäre
zwei Jahren, sobald es den ersten schamlos. Dabei bekämpfe ich
Streit gab: Scheidung! Das ist das, nur meine Ängste.
was mir als Beziehung vorgelebt SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt:
wurde: Man hält nicht durch, »Ich muss alles immer extrem ma-
man kämpft sich nicht durch chen.« Wollen Sie an die Grenzen
Probleme. gehen mit Ihrem Podcast?
Keß: Ich bin sehr viele Jahre älter Roche: Mein Anspruch ist es, ja.
als Charlotte, das Wort »Schei- Was sagst du, Martin?
dungskind« war, wo ich herkom- Keß: An Grenzen stößt man auf
me, ein Stigma, das kam gleich unbekanntes Terrain. Ich weiß
hinter »Leprakranker«. In unse- nicht, ob ich das möchte.
rer Familie blieb man zusammen. SPIEGEL: Wird es ein Drehbuch
Der Erste, der sich bei uns hat geben?
scheiden lassen, war ich, für Char- Roche: Nein, ich mache mir viel-
lotte. Dass ich meine erste Ehe in leicht einen Zettel mit vier Stich-
den Sand gesetzt habe, hat mich wörtern.
fast zerrissen. Keß: Hass, Verachtung, Erniedri-
SPIEGEL: Wie oft standen Sie bei- gung, Eifersucht.
de kurz vor der Trennung? Roche: Und: offene Beziehung.
Roche: Oft. Wirklich oft. SPIEGEL: Führen Sie eine?
SPIEGEL: Haben Sie sich schon Keß: Charlotte glaubt: ja.
einmal getrennt? Roche: Martin meint: nein. Mein
Keß: Du bist ab und zu mal aus- Ziel ist es, im Lauf des Podcasts
gezogen. eine offene Beziehung zu erschaf-
SPIEGEL: Sie nie? »Wir finden es reizvoll, dass die Leute fen, gegen seinen Willen.
Keß: Nein. Ich bin mehr so der sich den Mann in dem Podcast SPIEGEL: Haben Sie auch be-
»Ich geh mal eben um den Block«- dacht, was »Bild« & Co. aus Ihren
Typ. optisch selber vorstellen müssen.« Ehegeschichten machen könnten?
Roche: Aber in der Therapie wur- Keß: Ich glaube, »Bild« haben
Martin Keß
de dir beigebracht, dass du dich wir so zermürbt, dass da nicht
wehren sollst gegen mich, und viel kommen wird. Wir sind ge-
zwar massiv. Dass du dich nicht weiter an- ausgemalt habe, wie Odysseus aus dem gen alles vorgegangen. Nach dem Motto:
schreien lassen sollst. Ich war ja immer der Hörspiel wohl aussieht. klagen, bis der Arzt kommt.
Ausraster. Ich habe Sachen rumgeschmis- Roche: Seit wir zusammenkamen, wollte Roche: Wenn die über Martin und mich
sen, auch schwere Sachen. Martin nicht, dass über ihn geschrieben geschrieben haben, und bei mir stand in
Keß: Ich erinnere mich, wie du diesen ge- wird. Ich habe sein Privatleben wie eine Klammern 36, ich war aber 37 Jahre alt,
fühlt drei Tonnen schweren kanadischen Löwin verteidigt. Eine Zeit lang haben wir dann haben wir geklagt, weil sie mich jün-
Wurzeltisch mühelos in die Luft gestemmt auch versucht, Martin aus meinem Wiki- ger gemacht haben.
hast. Ich hatte Angst, war aber gleichzeitig pedia-Eintrag herauszukriegen, aber das Keß: Unsere erste gemeinsame Wohnung
sehr beeindruckt. hat leider nicht geklappt. lag über der des Kölner »Bild«-Chefs, was
SPIEGEL: Das klingt nicht gerade harmlos. SPIEGEL: Warum die Heimlichtuerei? wir beim Einzug nicht wussten. Da muss-
Keß: Unsere Therapeutin hat so eine Art Keß: Wir wollten die Kontrolle über unser ten wir schnell wieder raus. Der dachte,
Notruf. Da sagt man: Es ist dringend. Und Familienleben behalten. Jetzt ist die Situa- er kann auf so eine kumpelhafte nachbar-
die Therapeutin sagt: Hört sofort auf zu tion eine andere. Die Kinder sind fast er- schaftliche Weise im Treppenhaus ein In-
reden und fangt erst wieder damit an, wachsen, das Bedürfnis nach Schutz ist terview mit uns klarmachen.
wenn ihr bei mir seid. Damit man den an- nicht mehr so groß. Deshalb habe ich Ja SPIEGEL: Bevor andere mit Ihrem Privat-
deren nicht noch weiter verletzt. gesagt, als Charlotte mich gefragt hat, ob leben Geld verdienen, tun Sie es nun lieber
SPIEGEL: Herr Keß, Sie wollen in Ihrem wir einen gemeinsamen Podcast machen, selbst.
Podcast öffentlich über Ihre Eheprobleme in dem wir uns über unsere Ehe und unse- Roche: Ich schäme mich nicht zu sagen,
reden. Zugleich haben Sie darum gebeten, re Liebe unterhalten. Dass sie das vorge- dass ich mich als Geschäftsfrau sehe. Mein
bei unserem Gespräch heute nur so foto- schlagen hat, hat mich gerührt. Vater hat mir beigebracht: Gerade Mäd-
grafiert zu werden, dass man Sie nicht er- SPIEGEL: Wie exhibitionistisch muss man chen müssten lernen zu verhandeln. Bei
kennt. So recht passt das nicht zusammen. sein, um sein Eheleben so öffentlich zu ma- Viva damals habe ich so lange nachver-
Keß: Meine Frau und ich wollten, dass die chen wie Sie? handelt, bis ich mehr verdient habe als
Situation so bleibt, wie sie die ganze Zeit Keß: Exhibitionisten belästigen Menschen. meine Chefs.
war: Jeder kennt Charlotte, mit allen De- Ich finde, das tun wir nicht. SPIEGEL: Herr Keß, Sie waren ein erfolg-
tails, und mich kennt man nicht. Und wir Roche: Das angeblich Exhibitionistische reicher TV-Macher und haben auch mit
finden es auch reizvoll, dass die Leute sich ist einfach nur das Leben. Im Grunde bin Mario Barth gearbeitet. Ihr Männerbild
den Mann in dem Podcast optisch selber ich der größte Schambolzen überhaupt. scheint aber deutlich aufgeklärter zu sein
vorstellen müssen. So wie ich mir als Kind Ich komme aus einer Schickimicki-Familie als seins.
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Kultur
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IN DER SPIEGEL-APP
nahmen mit Miles Davis seien darunter. Girl Group Vanity 6), neben sanften, na-
Ein weiterer Wegbegleiter sagte, man müs- hezu schmalzigen Balladen: »You’re My
se das, was im Tresor liege, erst mal zehn Love«, geschrieben für Kenny Rogers,
Jahre lang sichten. Und noch ein anderer wirkt in Prince’ Demo zum Glück nicht
erinnerte sich daran, dass Prince angekün- ganz so zuckrig.
digt habe, eines Tages alles aus dem Tresor Und dann eben »Nothing Compares 2
verbrennen zu wollen. U«, das Prince inspiriert von zwei Frauen
All das hatte eine gewisse Plausibilität: schrieb, seiner damaligen Liebhaberin
Prince hatte epische Streits mit seiner Plat- und seiner persönlichen Assistentin, jener
tenfirma gehabt, deshalb änderte er zwi- Song, den Sinéad O’Connor 1990 so er-
schenzeitlich auch seinen Künstlernamen – folgreich coverte. Er klingt im Original
nicht unwahrscheinlich, dass jemand, für zwar ebenfalls ziemlich sensibel, aber,
den die Industrie der Feind war, viel Musik wir sind bei Prince, auch ziemlich cool.
unveröffentlicht ließ. Aber: Taugte sie Sein Talent zur Wandelbarkeit zeigt sich
auch etwas? Oder waren die Aufnahmen auf »Originals« mal im unterkühlten
zu Recht im Dunkel geblieben und dienten Sprechgesang, mal in der warmen Mehr-
nur dazu, den Ruf ihres Schöpfers als Zen- stimmigkeit und mal im Falsett, in dem
tralgenie des Pop zu mehren? Prince auch seinen Hit »Kiss« sang, der
Nach Prince’ Tod öffnete man den Tre- am 19. April 1986 den ersten Platz der
sor, es gibt ihn wirklich. Und darin, so hieß US-Charts belegte.
es rasch, lagerten unzählige von ihm be- Am selben Tag stand »Manic Monday«
spielte Bänder und Festplatten, so viel von den Bangles auf Platz zwei. Prince’
Material, dass im Laufe des 21. Jahrhun- Demo von »Manic Monday« findet sich
derts womöglich jedes Jahr ein neues, post- auch auf »Originals« und klingt fast wie
humes Prince-Album kommen könnte. die Version, mit der die Bangles berühmt
Die Musik, die Prince zu Lebzeiten weg- wurden. Prince hatte den Song unter dem
gesperrt hatte. Pseudonym »Christopher« geschrieben.
Jetzt erscheint »Originals«, eine Zusam- Ohne dass Prince draufstand, war Prince
menstellung von 14 bisher unveröffentlich- drin.
SPIEGEL TV
ten Prince-Aufnahmen. Es sind Demos von Prince war, anders als Michael Jackson,
Songs, die Prince für andere Musiker der in seiner ganzen Solokarriere gerade
schrieb, und sie klingen längst nicht so un- mal zehn Studioalben aufnahm, eine Art
gehobelt, wie man es von Demos erwarten nimmermüder Pop-Handwerker. Allein
könnte, sondern, passend zu Prince, der als von 1980 bis 1990 brachte er zehn Alben
Perfektionist galt, und, passend zu der Tre- heraus, produzierte nebenbei noch zahl-
sor-Geschichte, eher wie kleine Juwelen, reiche Künstler, bei seinem Arbeitsethos
die funky funkeln. »Originals« wirkt auch und seiner Besessenheit konnten Musiker
deshalb nicht blutleer, weil es, wie das im
vergangenen Jahr posthum rausgebrachte
schlappmachen. Er war nicht nur der gro-
ße Performer, sondern ein Multiinstrumen-
Die neuen Nazis
Album »Piano & a Microphone 1983«, fast talist, der im Studio gern so viel wie mög- Seit Mitte der Sechzigerjahre ver-
ausschließlich Prince-Songs aus der leben- lich selbst einspielte, ein Produzent und breitet sich in Deutschland wieder
digsten und produktivsten Schaffensphase ein Songschreiber, der auch mal hinter den
eine braune Gesinnung, von der
des Popstars enthält: der ersten Hälfte der Kulissen blieb.
Achtzigerjahre. Auch wenn »Originals« zu einem brei- man dachte, sie wäre mit dem Ende
Damals legte Prince das Fundament für teren Verständnis von Prince beiträgt, des Zweiten Weltkriegs überwunden.
seinen Aufstieg als großer Performer, in- kann man sich fragen: Ist es überhaupt in SPIEGEL TV hat in den vergangenen
dem er sich zu einer ungreifbaren Kunst- Ordnung, in seinem Nachlass zu wühlen? drei Jahrzehnten immer wieder über
figur stilisierte, die sich im Dazwischen Den Tresor zu knacken? die neuen Rechten berichtet: über
wohlfühlte: Sang er 1981 in »Controversy« Die Sängerin Jill Jones, die in den Acht- Anschläge, Populisten und Alltags-
»Am I black or white, am I straight or zigern mit Prince liiert war, sagte vor Kur- rassismus. Wieso beherrschen heute
gay?«, schien es, als knüpfte er 1984 auf zem der »New York Times«, Prince habe Rechtspopulisten den Diskurs
seinem erfolgreichsten Album »Purple Menschen, mit denen er zusammenarbei- in weiten Teilen Ostdeutschlands?
Rain« unmittelbar an die Zeile an: »I’m tete, Musiker, für die er schrieb, gebeten, Was treibt die neuen Nazis an?
not a woman, I’m not a man«, heißt es in Tagebuch zu führen, um besser in ihre
»I Would Die 4 U«, »I am something that Köpfe zu gucken. Jones hatte schon vor
you’ll never understand«. Zeilen, die gut ihrer Zusammenarbeit mit Prince ein Tage- Sehen Sie die Videostory im
in die heutige Zeit passen würden, in der buch geführt. Sie versteckte es vor ihm. digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie
Gender und Identität besonders hinter- Prince fand es, brach das Schloss auf, las den QR-Code.
fragt werden. es und schrieb dann den Song »Baby,
»Originals« fängt Prince’ exzentrische, You’re a Trip« für sie, der auf »Originals«
eklektische Art auch im Sound ein: in enthalten ist. Zum Voyeur werden, um sich
wilden Saxofonpassagen (»Dear Michael- inspiriert zu fühlen – für Prince war das
angelo«, geschrieben für Prince’ damaliges okay.
Bandmitglied Sheila E.), die auf monochro- Nun ist das Schloss zu seinem Tresor
me, irgendwie an Kraftwerk erinnernde offen. Jurek Skrobala
Synthesizer und Beats folgen (»Make-Up«, Twitter: @skrobala
geschrieben für die von Prince geförderte JETZT DIGITAL LESEN
Kultur
Sagenhafte
armes Leben ein und gibt ihm eine Idee, einseitige Verbindung zwischen diesen
Rückgrat und einen Plan: Er will gen Welten scheitert immer neu. Eine Fähre
Westen ziehen, in die kaum erschlossene kentert, und das Wasser wäscht die Adresse
Gefahr
Weite, die zu jener Zeit noch nicht zu den auf dem Briefbündel von Bellman ab, ein
Vereinigten Staaten gehört. In der India- anderes wird vergessen, ein drittes Paket
nerstämme siedeln – und vertrieben wer- zieht ein Hund aus der Hosentasche des
den –, und in der es Wüsten und Gebirge potenziellen Überbringers; »möglicherwei-
Literatur »West«, das Roman- gibt, wo sich diese sagenhaften Tiere viel- se hatte das Papier durchdringend nach
leicht finden lassen. Der britische Einwan- Bellmans über dem Lagerfeuer geräucher-
debüt der Britin Carys Davies, derer Bellman, ein Mann von 35 Jahren, tem Abendessen gerochen«. Die Tochter
führt in die unerschlossene Weite würde der Erste sein, der sie mit eigenen Bess, an die all diese Briefe gerichtet sind,
des alten Amerika. Augen sieht und davon berichten kann. Beschwörungen der Natur und Sätze einer
Vernünftig ist das keineswegs. Die Stim- Sehnsucht, die in ihrer Unbeholfenheit be-
me der Vernunft in diesem knappen, ge- zwingend sind, bleibt ohne Nachricht.
sein Leben und das seiner zehn- von Eva Bonné, ist kein histori-
jährigen Tochter ist nicht die wilde scher Roman im herkömmlichen
Fauna, sondern die mühsam be- Sinne. Er gibt psychologisch mehr
zwungene Armut inmitten einer Autorin Davies: Ins Unbekannte Rätsel auf, als er löst, und seine Er-
reichen, aber ohne nennenswerten zählweise ist sparsam. Im Zeitalter
Mehrwert bewirtschafteten Fauna. des Bildes, da visuelle Eindrücke
Ein goldener Ring, ein Fingerhut mit Gra- Held ins Unbekannte reitet, ist eine bibel- aus nahezu allen Regionen und Zeiten mü-
vuren und eine Uhr bilden die Liste der feste, jedoch nüchtern gesinnte Jungfer, in helos verfügbar sind, bekommt diese skiz-
Schätze, die er sein Eigen nennt. Und der mittleren Jahren und von freudlosem Cha- zenhafte und subtile Art der Literatur viel
einzige metaphysische Trost in dieser Lage rakter. Der Nachbar soll ihr helfen, wenn Aufmerksamkeit und Begeisterung sowohl
wird sonntags in der Kirche angeboten, sie mit der Wirtschaft nicht zurechtkommt, von der Kritik als auch vom Publikum; der
einen weiten Fußmarsch entfernt und für das ist der einzige Rat, den ihr Bruder ihr Erfolg von Robert Seethaler (»Der Trafi-
ihn ohne Interesse. geben kann für die Zeit seiner Expedition. kant«, »Ein ganzes Leben«) ist im deutsch-
Wie ein Meteorit schlägt diese Zeitungs- Und selbst der wird sich als verhängnisvoll sprachigen Raum das jüngste Beispiel. Wo
meldung über einen Knochenfund in Bell- erweisen. Seethaler allerdings den Kitsch zuweilen
mans in jeder Hinsicht karges, bewegungs- Davies, bisher eine preisgekrönte Auto- streift, ist Davies herber im Stil. Bei beiden
rin der kurzen Form, erzählt ihre Geschich- heißt Lesen, Einkehr zu halten mit der
Carys Davies: »West«. Aus dem Englischen von Eva te im Wechsel zwischen dem Reisenden eigenen Fantasie. Elke Schmitter
Bonné. Luchterhand; 208 Seiten; 20 Euro. und den Sesshaften. Die einzige, ohnehin
PLAN B
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); SAMSTAG, 15. 6., 17.35 – 18.05 UHR | ZDF
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Neuer Job im neuen Land –
Belletristik Sachbuch Fachkräfte von morgen
1 (1) Donna Leon Ein Sohn ist 1 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass
uns gegeben Diogenes; 24 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro
SPIEGEL TV
Die Liebe im Ernstfall Diogenes; 22 Euro
Es steht sehr schlimm um
6 (4) Simon Beckett Deutschlands Kinder, diesmal
im Schulbetrieb: eine
Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro
neue Lieferung des beliebten Vertretungslehrerin Rufaida Mahmoud
Mahners und Warners.
7 (6) Martin Walker
Menu surprise Sie pflegen in Krankenhäusern, unter-
Diogenes; 24 Euro 5 (5) Meike Winnemuth
Bin im Garten Penguin; 22 Euro
richten an Schulen, arbeiten als
8 (8) Saša Stanišić Handwerker: Immer mehr Flüchtlin-
Herkunft Luchterhand; 22 Euro 6 (7) Harald Jähner ge entlasten den Arbeitsmarkt.
Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro Der Neustart ist oftmals nicht einfach.
9 (11) Axel Milberg
Düsternbrook Piper; 22 Euro 7 (8) Greta Thunberg / Svante Thunberg /
Malena Ernman / Beata Ernman SPIEGEL GESCHICHTE
10 (10) Sibylle Berg Szenen aus dem Herzen S. Fischer; 18 Euro
SONNTAG, 16. 6., 16.25 – 17.15 UHR | SKY
GRM Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
8 (6) Jürgen Todenhöfer
Die große Heuchelei Heilige Stätten – Die
11 (18) Alina Bronsky Der Zopf meiner Propyläen; 19,99 Euro
ägyptischen Priesterinnen
Großmutter Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
9 (11) Andreas Michalsen Im alten Ägypten verstanden sich
12 (15) Leïla Slimani All das Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro
die Pharaonen als gottgleiche
zu verlieren Luchterhand; 22 Euro Herrscher über ihr Volk. Doch welche
10 (9) Marcel Eris / Dennis Sand
MontanaBlack Riva; 19,99 Euro Rolle spielten Priesterinnen,
13 (7) Nora Roberts
Am dunkelsten Tag Blanvalet; 20 Euro
und wie viel Macht lag am Nil einst
11 (12) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für in weiblichen Händen?
14 (12) Walter Moers
das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro
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Kultur
I
rgendwann im Lauf des Abends, die
Kellner haben gerade überbackenen
Stockfisch und frittierte Zucchini-
blüten serviert, sagt eine Frau in der
Runde, doch, doch, sie könne sich noch
erinnern, Federico Fellini gesehen zu ha-
ben. Gleich hier um die Ecke. Es klingt ein
bisschen, als hätte sie damals ein Tier er-
späht, das auf der Roten Liste steht. Das
Artensterben ist ja enorm. Und Federico
Fellini, der Regisseur, tatsächlich tot, schon
lange. Ein Juniabend in Rom. Zwei Ver-
treter der deutschen Botschaft sitzen am
Tisch. Ein Stipendiat der Villa Massimo.
Ein paar Leute aus dem Literaturbetrieb.
Freunde des Dichters. Der Dichter selbst,
Simon Strauß.
Rom war immer ein Ziel für Künstler.
Besonders für diejenigen Künstler, die
nicht aus Italien kommen. Goethe trat
1786 seine italienische Reise an, sein Be-
richt ist ein Klassiker. Später kamen Rolf
Dieter Brinkmann, Ingeborg Bachmann.
Jetzt ist Simon Strauß, 30, an der Reihe,
auch er veröffentlicht ein Buch über seinen
Aufenthalt, »Römische Tage«*. Ein biss-
chen größenwahnsinnig, die Idee, über
Rom und sich selbst in dieser Stadt zu
schreiben, besonders weil Strauß, wie er
selbst sagt, diese Stadt kaum kennt. Aber
was wäre ein Dichter in Rom so ganz ohne
Größenwahn? Und zum Selbstbewusst-
sein, zur großen Geste, dazu hat Simon
Strauß einen ganz leichten Hang. Viel-
leicht wird man sich später auch an ihn
mal erinnern als Vertreter einer schon im-
mer gefährdeten Art: des bravourösen
Jungspunds.
Von Goethes Aufenthalt in Rom zeugt
heute immerhin ein kleines Museum,
finanziert noch von der Regierung Kohl,
alles sehr gründlich renoviert, wie sich
das in Deutschland gehört. Am oberen
Ende der Via del Corso, der römischen
Haupteinkaufsstraße. In der Casa di Goe- Autor Strauß in Rom: Bravouröser Jungspund
the gibt es ein Zimmerchen, das gelegent-
lich an deutschsprachige Schriftsteller und
Stipendiaten vergeben wird. Der Blick fangen, »Römische Tage« zu schreiben. Das Der junge Mann im Buch muss sich erst
geht nach hinten raus, auf den Hof, auf schmale Buch erzählt von einem jungen mal finden. Er nimmt Italienischstunden.
eine riesige Palme. Es riecht wie im Duty- Mann aus Deutschland. Der wohnt in der Lässt sich treiben, durch die Altstadt, auf
free-Shop. Unten im Haus ist ein großes Nähe der Casa di Goethe, ist zum ersten der Piazza Navona sticht ihm eine junge
Körperpflegefachgeschäft. Mal in seinem Leben länger in Rom, kultu- Italienerin im weißen Kleid ins Auge. Sie
Im Sommer 2018 war Simon Strauß in rell gebildet, interessiert. Klingt irgendwie gefällt ihm. Mal folgt er ihr, mal begegnet
diesem Zimmer zu Gast. Hier hat er ange- nach Simon Strauß. Auch wenn der betont, er ihr zufällig. Es ist eher ungewöhnlich,
sein eigener Aufenthalt in Rom sei nur der auf der Piazza Navona auf eine veritable
* Simon Strauß: »Römische Tage«. Tropen; 142 Seiten; Anstoß für das Buch gewesen, nicht aber Römerin zu treffen. Hier, wo sich die Tou-
18 Euro. Vorlage der darin erzählten Geschichte. risten drängen, die Chinesen, die Ameri-
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kaner, die Deutschen. Alle sind mehr mit Die Haare zurückgekämmt, das Hemd klingt auch in »Römische Tage« an, wo
ihren Handys beschäftigt als mit Gian Lo- bis zum dritten Knopf offen, Schuhe ohne der Erzähler auf dem alten protestanti-
renzo Berninis barockem Brunnen. Socken, sieht Simon Strauß ein bisschen schen Friedhof der Stadt vor dem Grab
Simon Strauß selbst bezeichnet »Römi- aus wie der junge Marcello Mastroianni von August Goethe steht: »Goethe filius
sche Tage« als Bilderbuch. Es ist eine Ab- in Fellinis »Dolce Vita«. Er hat einen sehr ist alles, was der Dichter seinem missrate-
folge von Szenen, die mit der Lebensrea- festen Händedruck. Er spricht schnell und nen Sohn an Ehrung zubilligte. Zu seiner
lität der Römer, die es ja in dieser Stadt klar, manchmal geht seine Stimme hoch Beerdigung war er nicht erschienen, und
noch immer geben soll, auch wenn die Alt- vor Begeisterung. Strauß kann rasant Be- auch, dass er überhaupt je am Grab stand,
züge herstellen zwischen dem Thema sei- ist nicht überliefert.«
ner Doktorarbeit, dem Blick, den deutsche Botho Strauß ist nicht Goethe. Aber das
Gelehrte im 19. und frühen 20. Jahrhun- macht die Sache nicht einfacher. Wäre
dert auf die Römische Republik warfen, Simon Strauß die Literaturdebatte erspart
und dem Zustand des heutigen Italien, geblieben, in deren Zentrum er im ver-
dem der Europäischen Union. gangenen Jahr stand, wenn er nicht der
Sohn seines Vaters wäre? »Simon Strauß,
Europa ist sein Thema. Strauß ist Teil ei- Sohn von Botho Strauß«, so begann pro-
nes intellektuellen Vereins, der sich Arbeit grammatisch der erste Satz eines vernich-
an Europa nennt. Man befragt europäische tenden Textes, der im Januar 2018 in der
Zeitzeugen und diskutiert mit europäi- »taz« erschien und einen Streit auslöste,
schen Intellektuellen. In der »FAZ«, wo bei dem es letztlich um die Frage ging, ob
er eigentlich als Theaterkritiker arbeitet, Simon Strauß irgendetwas mit der Neuen
hat Strauß im Frühjahr einen Artikel ver- Rechten zu tun habe.
öffentlicht, in dem er die Frage stellt, wa- Literaturkritik mit den Mitteln der
rum in Europa alle Zukunftszuversicht ver- Sippenhaft. Botho Strauß – der Name als
schwunden sei. Chiffre. Ein Stichwort, das genügte, um
In Rom jedenfalls hat er die Zukunft den Assoziationsraum zu öffnen: Simon
nicht gefunden. »Das Rom des 21. Jahr- Strauß, der Sohn des Mannes, der 1993 im
hunderts, was soll das sein?«, fragt er. Das SPIEGEL seinen bis heute diskutierten
Rom dieses Buches ist das Rom der Antike, Essay »Anschwellender Bocksgesang« ver-
das Rom der Renaissance, das Rom des öffentlicht hat.
19. Jahrhunderts, vielleicht gerade noch Darin prägte er die Formel vom »ver-
das Rom der Siebzigerjahre. klemmten deutschen Selbsthass«, beklagte
Strauß hat seinen Blick auf diese Stadt die Scheinheiligkeit der öffentlichen Moral,
nicht für sich allein. Es ist der Blick des die »Verhöhnung des Soldaten, die Ver-
Bildungsbürgertums, der Kanon eines Mi- höhnung von Kirche, Tradition und Auto-
lieus, dessen Selbstverständnis mittlerwei- rität«. Botho Strauß wurde mit dem »An-
le ebenso bröckelt wie die Fassaden der schwellenden Bocksgesang« zu einem der
angeblich ewigen Stadt. Der Verfall und wenigen bundesdeutschen Intellektuellen,
damit auch der Tod sind in Rom nie weit; den Linke wie Rechte ernst nehmen muss-
Cäsar ist tot, Caravaggio ist tot, Keats ist ten. An dem die einen sich reiben und die
tot. Und auch dem Erzähler der »Römi- anderen sich weiden konnten.
schen Tage« geht es schon ganz schlecht. Der eigentliche Anlass für den Angriff
Er hat, literarisch wirkt das etwas manie- auf Simon Strauß in der »taz« aber war
riert, ein Herzleiden. Einmal muss er des- sein im Sommer 2017 erschienenes Debüt
wegen sogar ins Krankenhaus. Später liegt »Sieben Nächte«. Dessen Geschichte ist
er allein auf dem Bett in der Kammer an wie ein moralischer Hürdenlauf aufge-
der Via del Corso und stellt sich vor, wie baut: Der junge Erzähler, auch er irgend-
VALERIE SCRILATTI / DER SPIEGEL
es sein wird, wenn er erfahren muss, dass wie mit Simon Strauß verwandt, will in
seine Mutter tot ist. Oder sein Vater. sieben Nächten die sieben Todsünden
In fast jedem anderen Buch wäre das durchexerzieren.
wohl nur eine weitere Beschwörung des Das Buch sticht vor allem hervor wegen
Vergänglichen, bei Simon Strauß hingegen des unerschrockenen Gestus, mit dem der
stellt sich die Frage, ob diese Szene nicht Erzähler das junge, linksliberale, großstäd-
doch einen autobiografischen Hintergrund tische Milieu verspottet: »Ich lache über
hat. Vielleicht allein deshalb, weil man die all die braven Rolltreppenfahrer, die im-
Eltern von Simon Strauß eben kennt. mer ganz rechts stehen, um zu zeigen, wie
Simon Strauß wehrt die Frage ab. Er umsichtig und sozial kompetent sie sind.
stadt längst den Touristen gehört, nicht all- spricht nicht gern öffentlich über seine El- Die das bestimmt alle gewissenhaft in ih-
zu viel zu tun haben dürfte. Ein Sommer- tern. Er kommt, wie er es nennt, »aus ei- ren Bewerbungsunterlagen vermerken, als
märchen, eine Projektion, eine Fantasie, nem Schriftstellerhaushalt«. Seine Mutter besonderes gesellschaftliches Engagement:
in der Strauß die Härten der Realität bis ist die Autorin und Journalistin Manuela ›Auf der Rolltreppe (und nur da) stehe ich
auf einen Abstecher zu einem Flüchtlings- Reichart. Wahrgenommen aber wird er immer rechts.‹«
lager größtenteils ausklammert. »Ich woll- vor allem über seinen Nachnamen. Als der War Simon Strauß anfangs noch als
te keinen Sozialkitsch machen«, sagt er, Autor, dessen Vater Botho Strauß ist. Als munterer Jungschriftsteller aufgetreten, so
»ich finde es furchtbar, wenn man als gut Sohn. hat ihn die Debatte um sein Debüt verän-
genährter Schriftsteller hingeht und sich Dass die Rolle des Sohnes eine der un- dert. Die Empörung war ihm anzumerken,
das Leiden anschaut.« dankbarsten der Literaturgeschichte ist, auch über den SPIEGEL, der die Kritik an
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Kultur
Großer, schöner und körperlich derart superfit, dass sie während eines
Abenteuerausflugs ins kriegerische Ausland mühelos einen
verletzten Kerl schultert und ihn aus der Gefahrenzone
STUDIOCANAL
bisschen stärker noch erinnert ihre Liaison an die Lovestory
zwischen Julia Roberts und Hugh Grant in »Notting Hill«
(1999). Nur dass in beiden Komödien der Blick der Filme-
macher auf ihre Protagonisten den Kinozuschauer keinen Darsteller Rogen, Theron: Charmanter Unernst
Moment lang zweifeln ließ, dass genau diese beiden Men-
schen trotz aller Kapital- und Herkunftsunterschiede unzwei-
felhaft füreinander bestimmt waren. Der Regisseur Jonathan ten. In einer Szene des Films wird Fred Flarsky von einer
Levine dagegen legt es in »Long Shot« darauf an, dass in Horde Nazis gejagt, die derart doof aus der Braunhemden-
jedem Augenblick des Films spürbar bleibt, was für ein him- wäsche gucken, dass wirklich keine Bedrohung von ihnen
melschreiend unmögliches Paar die Starpolitikerin Field und ausgeht.
der Schreibtischzausel Flarsky doch abgeben. Der unbestreitbare Reiz des Films entsteht aus den immer
»Long Shot« spielt in einem Land, das von einem unfassbar wieder überraschenden Bosheiten, die er einem scheinbar
eitlen, dummen Präsidenten regiert wird, den Bob Odenkirk im Kino schon tausendfach beackerten, gründlich komödi-
ein bisschen billig als Donald-Trump-Karikatur spielt. Die antisch veralberten Milieu abgewinnt – und aus der Konse-
Außenministerin Field, politisch mit linksliberalen Ansichten, quenz, mit der »Long Shot« immer wieder signalisiert, dass
ist sehr viel geschickter im Umgang mit den Medien als ihr alle Beteiligten sich selbst nicht ganz ernst nehmen. Theron
trotteliger Dienstherr. Sie hat es selbst aufs Präsidentenamt wackelt mit weichen Hüften über Traumstrände und durch
abgesehen und flirtet öffentlich mit dem sagenhaft Palastkorridore, während sie sich mit einem schma-
gut aussehenden, von Alexander Skarsgård grandios len Grinsen über ihre Dialogsätze zu belustigen
schnöselig verkörperten kanadischen Premierminis- scheint. Der durch die Arbeit mit seinem Freund
ter. Zum Erstaunen ihrer Berater-Entourage engagiert Judd Apatow (»Jungfrau (40), männlich, sucht …«)
die Karrieristin Field den just arbeitslos gewordenen geschulte Spaßmacher Rogen wirkt gerade in den
Flarsky als Redenschreiber, nachdem sich die beiden Liebesszenen so, als müsste er im nächsten Moment
im Partysaal über den Weg gelaufen sind – und es losprusten vor Begeisterung über die Rolle, die er
beginnt eine langer Hürdenlauf ins Glück, in dem Video hier spielt.
Ausschnitte
Slapstickstürze, böse Intrigen und feindlicher Gra- aus »Long Shot« schildert eine Zukunftswelt, in der
natenbeschuss überstanden werden müssen. »Long Shot« die souveräne Überlegenheit der Frauen über die
Levines Film zeigt einen tollen Mut zum hem- Männer so selbstverständlich und allgemein akzep-
spiegel.de/
mungslosen Blödsinn, der sich zuallererst aus dem sp252019kritik
tiert ist, dass offensichtlich alle damit glücklich sind.
Spiel mit radikal vertauschten Geschlechterrollen oder in der App Noch mag dieser Film ein Märchen erzählen. Er tut
speist. Die smarte Politikerin Field ist emotional ein DER SPIEGEL es mit umwerfendem Charme. Wolfgang Höbel
Service
Leserbriefe
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Nachrufe
Wilhelm Wieben, 84 der Bochumer Staatsanwalt-
Er strahlte nicht nur die schaft landete. Auch in der
Sachlichkeit eines Beamten CDU-Spendenaffäre spielte
aus, ums Haar wäre er auch der gute Bekannte von Alt-
einer geworden. Nach einer bundeskanzler Helmut Kohl
Verwaltungslehre in Henn- eine Rolle. Als Kunstmäzen
stedt, Kreis Dithmarschen, baute er eine der bedeu-
zog es Wieben nach Berlin, tendsten Sammlungen der
wo er sich an der Max-Rein- klassischen Moderne in
hardt-Schule zum Schau- Europa auf, die seit 2007 als
spieler ausbilden ließ. Kar- Dauerleihgabe in der Alber-
riere machte er nicht auf tina in Wien ausgestellt
der Bühne, sondern hinterm wird. Herbert Batliner starb
Mikrofon, zunächst beim am 8. Juni in Vaduz. MAD
Sender Freies Berlin. 1974
sprach er erstmals die »Ta- Bushwick Bill, 52
gesschau«, die er bis 1998 Ein glückliches Leben sieht
prägte. Es war eine Zeit, als anders aus als das von
BRADLEY BECKER
Nachrichtensprecher noch Richard Stephen Shaw alias
Instanzen waren. Der stets Bushwick Bill, dem stilprä-
korrekte Wieben füllte diese genden Rapper aus Hous-
ton, Texas. Von Geburt an
kleinwüchsig, war er ab
ihren Hörspielen und Romanen den Traumata der Kriegs- des Fürstentums und half
generation oder dem verkorksten Verhältnis der Geschlech- Reichen aus aller Welt, die
ter. Zuletzt publizierte die 1926 in Königsberg Geborene Steuern sparen wollten.
Gedichte: »Manchmal bei Sturm fliegt mir ein Sandkorn Bekannt wurde er, weil im
aus der alten Stadt ins Auge.« Gerlind Reinshagen starb in Jahr 2000 eine CD mit
der Nacht auf den 9. Juni in Berlin. ES Daten aus seiner Kanzlei bei
Personalien
127
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Neues Leben einhauchen Ob Kevin Kühnert der geeignete SPD- Grund zur Hoffnung
Vorsitzende sein wird, kann auch ich nicht
Nr. 24/2019 Kommt jetzt Kevin? Nr. 23/2019 Wie hart die Bundestags-
Sprengkommando Kühnert – warum SPD sagen. Was ich aber weiß, ist, was sich in abgeordneten nach der Wahlschlappe mit
und GroKo den Juso-Chef fürchten müssen den letzten 20 Jahren unter maßgeblicher ihrer Chefin Andreas Nahles umgingen
Beteiligung der SPD für den »kleinen
Es ist unwürdig und unseriös, dem Dauer- Mann« verschlechtert hat: Hartz IV, ge- Der Artikel über die Nahles-Entscheidung,
provokateur und Möchtegern-Revoluzzer kürzte Rente, prekäre Jobs, keine Zinsen die Machtfrage zu stellen, macht todtraurig.
den Titel zu widmen und sich darin auf beim Sparen; dafür Doppelbelastung der Die Bundesparteiführung muss geschlos-
substanzlose Spekulationen zu beschrän- Betriebsrenten und teure Mieten. Da dürf- sen zurücktreten. Die GroKo ist sofort zu
ken. Offensichtlich mit dem Ziel, das Grab te Herr Kühnert nicht unbedingt der GAU beenden. Neue Führung aus Landes- und
für diese verdienst- und traditionsreiche für die SPD oder für Deutschland sein. Kommunalpolitikern, die die Probleme
Volkspartei ein Stück weiter auszuheben. Roland Möck, Seevetal (Nieders.) noch sehen und kennen. Also Landesmi-
Henrik Michels, Oberhausen nister, Oberbürgermeister. Minderheits-
regierung versuchen oder Neuwahlen er-
Nicht die Frage nach dem Führungsperso- zwingen. Das sagt ein SPD-Mann, der das
nal ist entscheidend für die Zukunftsfähig- seit 60 Jahren ist und seit Hartz IV im Bund
Briefe
Kontrolle durch Wehrpflicht Sie sehen nicht, worum es wirklich geht, Schmerzliche Entzauberung
nämlich um etwas Unwiederbringliches:
Nr. 23/2019 Ein Soldat warnte vor Nr. 23/2019 Die Bloggerin Marie
den Boden! Die Grünen und die SPD hat-
Rechtsextremen in der Truppe, jetzt will Sophie Hingst hat sich eine jüdische
man ihn feuern ten sich das mal ins Programm geschrie- Familiengeschichte erfunden –
ben: ein Ende des permanenten Bodenver- inklusive falscher Opferdokumente,
Die Bundeswehr sollte dem Soldaten J. brauchs in Deutschland! Alles vergessen, die sie in Yad Vashem einreichte
eine passende höhere Position geben. Nur weil irgendwer die Parole ausgegeben hat,
dann erweckt sie glaubwürdig den Ein- dass wir mehr Wohnraum brauchen. Bo- Shalom, danke für diesen Artikel. Es ist
druck, dass sie rechtes Gedankengut und den ist ein Wunderwerk dieser Erde, je- schade, dass es überhaupt vonnöten ist,
Handeln in der Truppe nicht duldet. Wenn weils gewachsen in Hunderten und Tau- sich mit solchen traurigen, verschrobenen
die Bundeswehr das nicht tut, erweckt sie senden von Jahren, ist es der belebteste Menschen zu beschäftigen, doch ich bin
das gegenteilige Gefühl, und das wäre Raum unserer Erdkugel. sehr froh, dass sich jemand des Problems
schlimm. Karl-Heinz Richter, Villingendorf (Bad.-Württ.) annimmt, indem er der Sache nachgeht,
Henrik Schwalba, Pinneberg (Schl.-Holst.) nachforscht und diese Menschen mit sei-
Anstatt zwei Interessengruppen gegen- nen Ergebnissen konfrontiert und diese
Die nicht abreißende Reihe von rechts- einanderzustellen, wäre eine, zumindest veröffentlicht.
extremen Skandalen in der Bundeswehr teilweise, Win-win-Lösung möglich: wenn Rabbi Dr. Walter Rothschild, Berlin
zeigt, dass das Aussetzen der Wehrpflicht die Dachflächen der Neubauten begrünt
2011 vielleicht finanztechnisch und gemäß und von den Kleingärtnern bewirtschaftet
Alliierten wurde ich schwer verwundet zeugende, wenn auch schmerzliche Beweise,
(Lungenstecksplitter links, bohnengroßer dass Fake News sich sehr wohl entzaubern
Granatsplitter re. Nierengegend, Trüm- lassen und dass dem Qualitätsjournalismus
merschussbruch re. Oberarm mit Radialis- dabei nach wie vor eine herausragende,
lähmung). Nach der Verwundung konnte durch niemanden zu ersetzende Aufgabe
ich nur kriechend den Gefechtsstand mei- zukommt. Chapeau für beides!
Kolonie in Berlin-Mariendorf nes Kompaniechefs erreichen, habe mich Prof. Dr. Harald Seubert, Nürnberg
aufgerichtet und meinem Chef gemeldet:
schen. Das sieht man beim Flughafen Tem- »Herr Oberleutnant, ich bin verwundet«.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
pelhof. Anstatt die Fläche für Wohnungen Dann bin ich zusammengebrochen. Erst ([email protected]) gekürzt
zu nutzen, soll dort ein großer Park ent- später habe ich erfahren, dass er mir das sowie digital zu veröffentlichen und unter
stehen. Mitten in Berlin, Wahnsinn. Leben gerettet hat. www.spiegel.de zu archivieren.
Matthias Jäger, Minden (NRW) Walter Böneker, Hatten (Nieders.)
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Hohlspiegel Rückspiegel
JETZT IM HANDEL:
KÜNSTLICHE
Kreiszeitung« Der Filmemacher Volker Heise sinniert
in der »Berliner Zeitung« anlässlich des
SPIEGEL-Titels »Kommt jetzt Kevin?«
INTELLIGENZ
Aus der »Rheinischen Post«: (Nr. 24/2019) über den Juso-Vorsitzenden
»Die Donau fließt mitten durch Kevin Kühnert und die SPD:
rumänische Hauptstadt
und trennt die beiden Stadthälften Allerdings ist Kühnert
Buda und Pest voneinander.« Ende der 80er-Jahre
geboren, vor der gro-
ßen Kevin-Welle, und
soll nach dem Fußball-
spieler Kevin Keegan
benannt worden sein,
der im Abklingbecken
Aus der »Mitteldeutschen Zeitung« seiner Karriere beim
über den Schlagersänger Karel Gott HSV spielte und viele
weibliche Fans hatte,
was vielleicht an seinen langen Haaren
Aus der »Oberhessischen Presse«: lag, vielleicht aber auch an seinem Vor-
»Die Anlage werde seit rund fünf Jahren namen. Kevin kommt aus dem Altirischen
›suggestiv auf den neuesten Stand‹ und bedeutet: anmutig, hübsch von Ge-
gebracht, eine ›Komplettmodernisierung‹ burt an. Die 80er hatten sowieso ihr ei-
sei geplant.« genes Kevin-Moment. Außer Kevin Kee-
gan gab es auch noch Super-Kevin, eine
Comic-Figur des Erdölkonzerns British
Petrol, der mit dem Slogan auftrat: »Of-
fenbar haben die Menschen Energiepro-
KOOPERATION bleme – Arbeit für unseren besten Mann,
für Super-Kevin.« Bei so vielen Einflüssen
Warum Mensch und ist es kein Wunder, wenn auf dem Titel-
blatt des aktuellen SPIEGEL Kevin Küh-
Maschine zusammen nert den potenziellen Leser anschaut wie
ein junges Super-Mario-Teufelchen, dem
am besten sind bald die Hörner wachsen werden, um das
Vor einem Baumarkt in Hage, Establishment zu erschrecken und die
Ostfriesland WERBUNG Macht zu erobern. Und damit wären wir
bei der guten Nachricht der auch diesmal
Wie Blockchain das wieder frohen Kolumne: Alles kommt
Von Zeit Online: wieder, nichts ist für immer verloren …
»In Deutschland besitzen wenige Marketing revolutioniert Der HSV kehrt zurück in die Bundesliga
Reiche mehr als die Hälfte und die Sozialdemokraten stellen den
des gesamten Vermögens. Und es
könnten noch mehr werden.«
SELBSTMANAGEMENT nächsten Bundeskanzler.
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kombiniert 132 g/km; Effizienzklasse B.
Verbrauch und Emissionen wurden nach WLTP ermittelt und zur Vergleichbarkeit mit den Werten nach dem bisherigen NEFZ-Prüfverfahren zurückgerechnet angegeben. Die Steuern
berechnen sich von diesen Werten abweichend seit dem 01.09.2018 nach den oft höheren WLTP-Werten. Über alle Details informiert Sie Ihr PEUGEOT Vertragspartner.
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Von Volker Weidermann in New York geboren, beschreibt seit Der Romanheld Elwood ist erfun-
vielen Jahren in seinen Büchern die Ur- den. Sehr lebendig erfunden. Er will
3
mit dem scheinbar Unwesent-
lichen und lässt das Bekannte
neu aussehen. So ist ihm eine
alternative Geschichtsschrei-
bung gelungen, die sich gut
ergänzt mit den Wälzern der
Historiker.
Wer zwei, drei davon über
die Französische Revolution Éric Vuillard:
gelesen hat, weiß eine Menge 14. Juli.
über König Ludwig, über Aus dem
seine Gattin Marie-Antoinette, Französischen von
Nicola Denis.
über den Finanzminister Ne-
Matthes & Seitz;
cker, über die Revolutionäre 136 Seiten; 18 Euro.
Robespierre, Danton oder Des-
moulins. Auch Hilary Mantels dicker Roman
Brüder befasst sich mit diesem Personal.
Vuillard erwähnt die Revolutions-Promis nur
am Rande. Er erzählt von den kleinen Leuten, die
ihre Armut satthaben und den Aufstand wagen.
In den meisten historischen Schinken werden sie
allenfalls in der Zahl der Toten versteckt. Bei Vuil-
lard haben sie einen Namen, einen Beruf und eine
hochverdichtete Lebensgeschichte. Damit sind
sie nicht mehr anonym, nicht mehr Teil der Masse.
Sie sind jemand, sind die Akteure einer Revo-
lution, die den Westen bis heute prägt.
Vuillard erinnert »an Saveuse, den Gendar-
men; an Sassard, die Memme; Scribot, die Land-
Im
gene Altern und Scheitern in einer anderen zu er-
kennen, dass an Solidarität oder Mitgefühl nicht
zu denken ist. Die Erzählerin von Was das Leben
kostet nimmt sich vor, bei der nächsten Begegnung,
Hochhaus
wenn sie der Nachbarin wieder mit schweren Ta-
schen gegenübersteht, zu sagen: »Ich werde leider
nicht jünger.«
Ein ungeheures Eingeständnis: Eine Frau in
mittleren Jahren – die Erzählerin ist einiges über
In Was das Leben kostet fragt 50 – gibt zu, dass ihr zunehmendes Alter ihr zu
Deborah Levy nach dem Preis schaffen macht. Wo doch so viele damit beschäf-
tigt sind, das Altern zu negieren oder wenigstens
weiblicher Selbstbestimmtheit. auf später zu verschieben. Die Schriftstellerin Levy sucht nach einer »Lebensweise in der
Deborah Levy, die diesen schmalen, autobiogra- postfamiliären Welt« und nimmt im zweiten Teil
fischen Band über eine schwierige Zeit in ihrem des Buches Gedanken Simone de Beauvoirs auf.
Von Claudia Voigt Leben geschrieben hat, war mit den Romanen Sie fragt sich, welche Fähigkeiten und Talente
Swimming Home und Hot Milk in der engeren Wahl Frauen gelernt haben zu verleugnen, um ihre
Männerfantasien
Man ahnt es schon: Sin-
gers Geschichte fürchtet sich
vor keinem Klischee. Schon
die Namen in Jarmy und Keila
– die Männer heißen Itsche
Der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer macht in seinem Einauge, Morkele Feuerbrand
oder Shaya Schläger – klingen
nachgelassenen Roman Jarmy und Keila eine Hure zur Heldin. eher nach einer Karikatur als
nach einer Milieustudie. Da
Isaac B. Singer:
der Roman zudem in Fortset- Jarmy
Von Martin Doerry erst 20-jährige Singer, sei in Panik geraten und ge- zungen geschrieben wurde, und Keila.
flüchtet, die Hure habe ihm nur »Blödmann« und bekam jedes Kapitel einen Aus dem
I N SEINER AUTOBIOGRAFIE A Young Man andere Schmähungen hinterhergerufen. Cliffhanger verpasst. So etwas Amerikanischen
von Christa
in Search of Love hat Isaac Bashevis Singer Die Erinnerung an Keila hat Singer (1902 bis wie Weltliteratur hatte der
Krüger. Suhr-
von einer Begegnung mit einer rothaarigen 1991) lange verfolgt und schließlich zu einem später, 1978, mit dem Nobel- kamp; 464
Prostituierten namens Keila erzählt, die sich einst Roman inspiriert, Jarmy und Keila, die Geschichte preis ausgezeichnete Singer Seiten; 26 Euro.
in Warschau ereignet haben soll, einer Begegnung, einer ehrbaren Hure und ihres weniger ehrbaren noch nicht im Sinn; vielleicht
die für ihn zu einem Albtraum geworden sei. Auf Luden. Der Roman erschien von 1976 bis 1977 in wurde der Roman auch deswegen zu seinen Leb-
dem Weg zu Keila habe sich ihm eines Tages deren der jiddischen Zeitschrift »Forverts« in New York; zeiten nicht als Buch veröffentlicht.
Zuhälter in den Weg gestellt, er selbst, der damals als Buch wird er erst jetzt veröffentlicht. Gewiss wollte der stets nur jiddisch schreiben-
Singers Romanheldin Keila ist ein Star der de Autor mit seinen Geschichten auch der unter-
Warschauer Unterwelt, so schön und verführe- gegangenen Welt des Schtetls ein Denkmal setzen.
Foto: Plainpicture; Illustrationen Daniel Mitchell für LITERATUR SPIEGEL; Eva Bee
risch wie keine andere Prostituierte in der be- Aber im Kern enthält dieser Roman vor allem
rühmt-berüchtigten Krochmalna-Straße, und doch, eine Liebeserklärung an Keila, die einzige wirklich
natürlich, ein Opfer jener Männer, die sie begeh- gute Seele in diesem Buch. Sie hofft auf ein bes-
ren oder Geld mit ihr verdienen. Das gilt für ihren seres Leben mit dem ziemlich schnöseligen Bu-
Zuhälter Jarmy, den sie in ihrer Not sogar heiratet, nem. Der nutzt sie nur aus und genießt in der
um so etwas wie eine bürgerliche Existenz zu si- Nacht ihre professionell praktizierte Leidenschaft.
mulieren. Und es gilt für den »Lahmen Max«, den Bunem ist schwach, Keila in ihrer Liebe stark.
Saufkumpan Jarmys, der mit Keila in Südamerika Dass dieser durchaus spannende Roman heu-
ein Luxusbordell gründen will, mit ihr als Tro- te so aus der Zeit gefallen wirkt, liegt an seiner
phäe und Puffmutter. unfreiwillig komischen Amoralität. In den Sieb-
Bevor es so weit kommt, flüchtet sie mit ihrem zigerjahren, als diese Geschichte entstand, muss
Liebhaber Bunem, dem gelehrten Sohn eines Rab- es noch als Provokation gegolten haben, dass
biners, nach New York. Dort beginnen die beiden sämtliche Akteure über eine geradezu unbegrenz-
ein neues Leben, das von Hunger und Elend ge- te Libido verfügen und diese auch fast ununter-
zeichnet und von der ständigen Furcht beherrscht brochen ausleben. Selbst seine Heldin Keila, eine
ist, dass Jarmy und seine Freunde sie entdecken Frau, die tagein, tagaus mit fremden Männern ins
könnten. Bunem ist eigentlich mit einer Tochter Bett steigen muss, wird von Singer als unersättli-
aus gutem Hause verlobt, die in einem zaristi- che, stets zu allem bereite Hure gezeichnet. Solche
schen Gefängnis sitzt und von Bunem träumt, Männerfantasien waren 1976 offenbar literarisch
während der sich nun mit Keila vergnügt. angesagt. Heute wirken sie eher etwas verstaubt.
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als Gegenkultur begann, ist lange schon abgestor-
ben. Das gegenwärtige San Francisco ist von Ob-
dachlosen bevölkert, die auf den Bänken der Bus-
haltestellen schlafen oder im Buena Vista Park.
Viktorianische Villen und majestätische Bäume,
der Pazifik schimmernd im Hintergrund: »In Frei-
heit habe ich diese Blicke nicht zu schätzen ge-
wusst. Damals, in meiner Jugend, war der Park
der Ort, wo wir tranken. Wo ältere Männer cruis-
ten und zu ihren unter Büschen verborgenen Ma-
tratzen schlichen. Wo Jungs, die ich kannte, diese
cruisenden Männer verprügelten und einen, nach-
dem er ihnen einen Kasten Bier spendiert hatte,
von der Klippe stießen.«
Brutalität ist ein Kontinuum in der Welt, in
der Romy Hall, 29, zu zweimal lebenslänglich
plus sechs Jahren verurteilt, mit Scharfsinn zu le-
ben lernte, und dieses Kontinuum bleibt in ihrer
Haft. Es sind neue Regeln zu beachten, vor allem
gilt es zu unterscheiden, woher die Bedrohung
kommt. Die Wärter, mit Waffen und Gleichgül-
tigkeit gerüstet, sind kalkulierbar, oft auch Kom-
plizen bei den kleinen Schmuggelgeschäften zwi-
schen den Zellen und mit der Außenwelt. Die Mit-
gefangenen sind es nicht. Es gibt zwei allseits ge-
ächtete Gruppen, zu denen niemand gehören will,
das sind ehemalige Cops oder Frauen, die Kinder
getötet haben. Doch keine Gefangene gibt Auf-
schluss, wofür sie einsitzt, und falls doch, würde
niemand erwarten, dass sie die Wahrheit sagt.
Dieses Nichtwissen teilt der Leser; es ist nicht
neutral, sondern so wirksam wie ein Wissen, nur
in einer anderen Art. Es hält das Urteilen in der
Schwebe, was vermutlich das ist, was Kushner als
Autorin erreichen will – und erreicht. Denn auch
eine zweite tragende Figur ist von diesem Nicht-
Von der Klippe gestoßen wissen geprägt, der Akademiker Gordon Hauser,
der keinen Job an der Uni fand und nun die
Insassen unterrichtet. Ein Kurs über Literatur,
das einzige freundliche Angebot der Anstalt zwi-
In ihrem Roman Ich bin ein Schicksal führt Rachel Kushner beiden Seiten aus Projektionen nährt: Kann Hau-
ser der Gefangenen helfen, Kontakt zu ihrem
ihre Leser in ein Gefängnis. Sohn aufzunehmen, der nach dem Tod der Groß-
mutter ein Mündel des Staates ist? Und ist Romy,
die ihn fasziniert, seine Chance, überhaupt wieder
etwas zu fühlen jenseits von Einsamkeit
Von Elke Schmitter Romy arbeitet als Stripperin in ei- und Frustration? Kushner nutzt das all-
nem jener Klubs, in dem Männer dafür gemeine Interesse an der Welt des Ver-
Leere Gleise
sie zu vermarkten. Damit brachen Traditionen der
Berufswahl und der Weitergabe handwerklicher
Kenntnisse in der Familie ab. Doch der Ersatz für
die alten Jobs war nicht gleichwertig, weder waren
die neuen Dienstleistungsjobs so sicher und dau-
In Jenseits von Kohle und Stahl untersucht Lutz Raphael erhaft gut bezahlt, noch vermittelten sie große
wie das Ende der Industriearbeit die Zufriedenheit.
Die sogenannte New Economy versinnbild-
Identität des Einzelnen und der Gesellschaft verändert. lichte diesen Wandel: Mit jeder halbgaren Idee
konnte der wache Zeitgenosse reich werden – und
wer es nicht wurde, der war eben nicht wach ge-
Von Nils Minkmar Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Bei nug. Man kümmerte sich nicht mehr um die Struk-
der Lektüre realisiert man überhaupt erst, wie turen, die eine Gesellschaft tragen, und dachte
Lutz Raphael:
men, politische Parteien und die kollektiven Frei- ratung durch Fallmanager und Optimie- Jenseits von
Kohle und Stahl, keine Tour durch den
zeitfreuden in Kinosaal und Fußballstadium. rer. Bis weit ins linke Milieu setzte sich Kohle und Stahl. industriepolitischen Nostalgiepark, son-
Der Historiker Lutz Raphael untersucht in der Gedanke durch, jeder sei seines Glü- Eine Gesell- dern mündet bei Leserin und Leser in
seinem Buch Jenseits von Kohle und Stahl die um- ckes Schmied. Wo die Menschen zuvor schaftsge- einem Angebot, darüber nachzudenken,
fassenden Umwälzungen, die mit dem Ende einer individuelle Bestätigung in der Arbeit schichte West- wie eine Zeit nach der herkömmlichen
europas nach
bestimmten Form der Industriedominanz nach und der entsprechenden Industriekul- dem Boom.
Industrie aussehen könnte, in der sich
der Jahrtausendwende einhergingen. Er betrach- tur fanden, war nun der Einzelne auf- Suhrkamp; 525 eine Gesellschaft wieder gemeinsam gro-
tet dabei die Geschichte dieses Phänomens in gerufen, Talente in sich zu suchen und Seiten; 32 Euro. ße Aufgaben vornimmt.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
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Wohin mit
Der Berliner Popkritiker Pop ist für Balzer durch und durch
Jens Balzer hat sich diesen Fra- Reflexion unserer heutigen Welt, Abbild
gen in seinem Essay Pop und Po- des kapitalistischen Konkurrenzkamp-
pulismus angenommen. Auch fes und Spiegel der identitären Grup-
den Bösen?
sein Geschichtsbuch Das entfes- penbildung entlang von Geschlecht
selte Jahrzehnt, das sich eigent- oder Lebensstil. Allerdings sei Pop im
lich mit dem Pop der Siebziger- Idealfall eben immer auch ein »Medium
jahre auseinandersetzt, lässt der Utopie«, eine Kunstform, in der
sich am besten als Kontrastfolie Freundschaft und Geschwister-
Der Popkritiker Jens Balzer zur Gegenwart lesen. Damals, lichkeit gefeiert werden könnten.
schreibt Balzer, sei Pop zum Charles Manson und David
untersucht in zwei Büchern »wesentlichen Feld aller kultu- Bowie sind die Bösewichter in Bal-
die dunkle Seite des Pop. rellen Transformationen« ge-
worden und habe »den Re-
zers Siebzigerjahrebuch. Und so
wichtig es sein mag, gegen die Hei-
sonanzraum einer gemeinsa- ligenverehrung anzuschreiben, die
men westlichen Kultur« er- Bowie seit seinem Tod erfährt, und
Illustrationen: Tim Möller-Kaya für LITERATUR SPIEGEL; Leandro Alzate für DER SPIEGEL
D
IE ZENTRALEN FIGUREN in der Kultur unter dem Angriff von Nationalismus wie- Groupies hatte, dass die politischen Äußerungen sei-
deutschen Popkultur der Gegenwart sind der zerfalle. ner Kokainjahre fragwürdig waren – vollkommen
Bösewichter. Dass dies immer wieder für Wem das zu düster klingt, der hat einen Punkt. befriedigend ist der Hinweis auf das Böse als Aus-
Aufregung sorgt, ist weniger erstaunlich als der Denn die Pointe von Balzers Populismusessay ist druck übler Verhältnisse und übler Typen nicht.
Umstand als solcher. Ob es die Rapper Kollegah genau diese: Die Kulturtechniken des Pop sind un- Ob es die Gangsta-Rapper sind und ihre breit-
und Farid Bang sind, die rechtsverdächtigen hintergehbar. Selbst ein Volks-Rock ’n’ Roller wie beinige Männerdarstellerei, Rockstars und ihr
Frei.Wild oder die linken Feine Andreas Gabalier kann kein eth- Heimatgetue: Pop ist immer auch ein Feld, in dem
Sahne Fischfilet – die wichtigs- nisch reines Deutsch-Pop-Pro- das Böse gefeiert werden kann, um es unschädlich
ten Popkünstler werden von dukt mehr anbieten. Ob sexuel- zu machen. Ein Ventil nicht nur für die Träume
vielen Menschen als Bedro- le Identität oder ethnische Her- des Guten und Schönen, sondern auch für Alb-
hung wahrgenommen. kunft, Pop ist immer so hybrid träume und Fantasien, die besser Fantasien blei-
Wie der richtige Umgang wie unsere Welt auch. Und die ben. Dafür braucht es Stars, die stark genug sind,
mit ihnen auszusehen habe, ist neurechte Revolte, so Balzer, sei diese düsteren Szenarien aufzuführen.
ähnlich umstritten wie die Fra- deshalb auch der seltene Fall ei- So gesehen wäre heute im Vergleich mit den
ge nach dem Umgang mit der ner politischen Bewegung, die Siebzigern sogar ein Fortschritt festzustellen.
AfD. Ächten, ignorieren, akzep- ohne eigenen Soundtrack aus- Denn während es für Bowie noch selbstverständ-
Jens Balzer: Jens Balzer:
tieren? Sind Gangsta-Rapper Pop und Das entfesselte
kommt (wenn man vom Rechts- lich war, Sex mit minderjährigen Groupies zu ha-
und Identitätsrocker wirkliche Populismus. Jahrzehnt. rock absehe, der aber als Varian- ben, ist Missbrauch heute rasch ein Fall für Polizei
Problemfälle oder nur Aus- Körber Stiftung; Rowohlt; te von Punk selbst Teil des glo- und Staatsanwaltschaft – wo solche Vergehen
druck gesellschaftlicher Verwer- 210 Seiten; 432 Seiten; balen Pop sei, den diese Bewe- auch besser aufgehoben sind als bei der Kritik,
fungen? 17 Euro. 26 Euro. gung ja eigentlich ablehne). der Geschmackspolizei.
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10
Ersehnte Aussprache
C. Bernd Suchers berührendes Erinnerungsbuch Mamsi und ich erzählt vom Leben mit einer
Mutter, die als junges Mädchen ins Konzentrationslager verschleppt wurde.
hatte. Er erzählt, wie er, weil sein Vater es so
wollte, als Protestant erzogen wurde und sich erst
als Erwachsener entschloss, sich zum Judentum
zu bekennen. Er schildert, wie ihm als Jugend-
licher klar wurde, dass er schwul ist – und wie er,
als der Vater es erfuhr, wegen seiner Homosexua-
lität geprügelt und beschimpft wurde.
»Wie viele Qualen und Demütigungen hast
Du mir zugefügt«, schreibt der Autor im Alter
von Mitte dreißig in einem Brief an die Mutter,
den er nie abschickt. »Du hast mein Leben lang
nur gefordert und mir nicht geschenkt, was einem
Kind wichtig ist: Nähe. Du hast mich nie in den
Arm genommen, Du hast mich nie getröstet, Du
hast mich nie gestreichelt – und ich erinnere mich
nicht, je von Dir geküsst worden zu sein.«
Das Erinnerungsbuch mit dem Titel Mamsi
und ich ist eine mit Tagebuchnotizen und Briefen
angereicherte Abrechnung. Es ist die Geschichte
eines vererbten Traumas. Und das Protokoll einer
Verstörung, die auch durch die beruflichen
Erfolge des Erzählers kaum gemildert wird. C.
Bernd Sucher war von 1980 an 25 Jahre lang als
Chef-Theaterkritiker der »Süddeutschen Zeitung«
einer der wichtigen deutschen Feuilletonisten (ich
selbst habe eine Weile unter ihm gearbeitet)und
unterrichtet bis heute als Professor Studenten an
der Münchner Theaterakademie. Er tritt auf gro-
ßen Bühnen als Vortragskünstler mit einem Pro-
gramm namens »Suchers Leidenschaften« auf.
Und er hat den Mann geheiratet, den er, auch
davon schreibt er in diesem Buch, seit vielen Jah-
ren liebt.
Von seiner Mutter hat Sucher bis zu ihrem
Tod im Jahr 2005 viel Kritik und wenig Anerken-
Foto: C. Bernd Sucher; llustration: Pablo Lobato für LITERATUR SPIEGEL; Alle Bücher im Heft fotografiert von Jonas von der Hude für LiteraturSPIEGEL
nung bekommen. »Hatte ich je ein gesundes
Selbstwertgefühl besessen?«, fragt er, während er
die eigenen Eitelkeiten schildert, voller Selbstiro-
nie und oft sehr komisch. Er stellt fest: »Sie hatte
es geschafft, dass ich völlig auf sie fixiert war.
Wenn ich jemanden bewunderte, dann meine
Mutter, die sich während und nach den Grauen
im Konzentrationslager nicht aufgegeben hatte.«
In einer der Handtaschen der Mutter findet der
Autor nach ihrem Tod ein erschütterndes Doku-
ment. Es ist datiert auf den Juni 1946, aber mögli-
cherweise, so lässt die Diktion ahnen, doch erst
Jahre später entstanden. Auf den Blättern eines No-
tizblocks hat Margot Sucher detailliert aufgeschrie-
ben, was ihr im KZ angetan wurde. Sie hat notiert,
wie wenig sie ihrem intellektuell unterlegenen
Ehemann abgewinnen konnte und wie sehr ihr die
eigene Seelenhärte zu schaffen machte. »Ich habe
Angst vor meinen Kindern, die er zeugen wird«,
Von Wolfgang Höbel heiratete sie in Bitterfeld einen protestantischen schreibt sie da über ihren Gatten und den künftigen
Handwerkersohn. Nachwuchs. »Werde ich ihnen eine gute Mutter
11
Von Romain Leick Der Sieg westlicher Während Thatcher und Reagan seine politi-
schen Heroen der Achtzigerjahre waren, fungie-
s war eine erlesene Runde von Intellektuel- Werte über den ren jene glorreichen Sieben – am herausragends-
E len, die sich im Herbst 1982 im Haus des
Historikers Hugh Thomas an der Ladbroke Kommunismus führte ten unter ihnen Popper und Berlin – als geistige
Leuchttürme in einem langen intellektuellen Pro-
Grove in London zum Abendessen eingefunden
hatte. Thomas, ein Spezialist der Geschichte Spa-
zur Selbstgefälligkeit. zess. Reagan, ein charmanter Praktiker des Libe-
ralismus, hielt sich mit theoretischen Grundlagen
niens und Lateinamerikas, war als Direktor des nicht lange auf. Thatcher war hier besser geschult.
Centre for Policy Studies seit Ende 1979 einer der nezuela auf der linken Seite, Margaret Thatcher Sie hatte keine Bedenken, mit Historikern und
außenpolitischen Berater der Premierministerin und Ronald Reagan auf der rechten. Philosophen zu diskutieren, sich mit dem Markt-
Margaret Thatcher. Die nicht nur in linken Krei- Die Leere unserer Zeit, so meint er, sei dem wirtschaftsökonomen Hayek zu beraten, und sie
sen heftig umstrittene Regierungschefin war als geistigen Vakuum geschuldet, das aus Selbst- las Popper, der für sie der größte zeitgenössische
Ehrengast der kleinen Versammlung geladen. gefälligkeit nach dem Sieg der westlichen Werte Denker der Freiheit war. Unter ihrem Einfluss ent-
Am Tisch saßen ein Dutzend der bedeutends- über den Kommunismus entstanden sei. In philo- deckte auch Vargas Llosa beide Autoren, »und
ten Literaten und Akademiker des Landes, dar- sophischer Sicht läuft das auf eine fast hegeliani- seither«, schreibt er, »sind Poppers Die offene Ge-
unter der Schriftsteller V. S. Naipaul und der sche Auffassung der Geschichte als Evolution des sellschaft und ihre Feinde und Hayeks Der Weg in
Philosoph Isaiah Berlin, einer der einflussreichs- Geistes hinaus. Konsequent stellt Vargas Llosa, die Knechtschaft meine Leib-und-Magen-Lektüre«.
ten Denker des Liberalismus nach dem Zweiten der in Peru selbst mehrere erfolglose Ausflüge in Dem in Österreich geborenen Philosophen
Weltkrieg. Er hatte neben Thatcher Platz ge- die Politik unternommen hatte und reumütig zu- Popper (1902 bis 1994) hat Vargas Llosa den Titel
nommen, die sich ihm den ganzen Abend mit rückgekommen war wie einst Plato aus Syrakus, für diesen Band entnommen. Der Ruf der Horde
größtem Respekt zuwandte. Mit dabei war auch weniger sich selbst in den Mittelpunkt als die sie- ist der Appell, in die Geborgenheit und Geschlos-
einer der schon damals führenden lateinamerika- ben Denker, deren Lektüre ihn auf seinen radikalen senheit der Stammesgesellschaft zurückzukehren.
nischen Romanciers und Essayisten, der Peruaner Liberalismus zubewegte: Adam Smith, José Ortega Denn die Sehnsucht nach dieser primitiven Welt
Mario Vargas Llosa, der seit 1967 in Großbritan- y Gasset, Friedrich von Hayek, Karl Popper, Isaiah »haben wir nie ganz überwunden, jener Welt, als
nien lebte. Berlin, Raymond Aron und Jean-François Revel. der Mensch noch untrennbarer Teil der Gemein-
Er erinnert sich, dass das Tischgespräch für Es ist eine sehr persönliche Liste, an der man schaft war, einer Gemeinschaft, in der er sich si-
die Premierministerin eine harte Prüfung war, fast aussetzen könnte, dass bedeutende Figuren wie cher fühlen konnte und befreit war von Verant-
so etwas wie das Rigorosum bei einer Promotion, John Stuart Mill oder, näher an der Gegenwart, wortlichkeiten«. Der »Stammesgeist«, Quell des
und weder das Feingefühl noch die britische John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit Nationalismus, hat neben dem religiösen Fana-
Höflichkeit der anwesenden Geistesgrößen konnte fehlen. Sie stellt höchst unterschiedliche Lehr- tismus die schlimmsten Verbrechen der Mensch-
deren Kampfeslust verbergen. Thatcher ließ sich meister nebeneinander, da zum Beispiel Hayek heit hervorgebracht. Nationalismus ist deshalb
nicht einschüchtern, antwortete in aller Klarheit, und Popper ziemlich gegensätzliche Ansichten der Hauptfeind der Liberalen – oder sollte es sein,
ohne jede Pose, meist mit großer Bestimmtheit, vertreten. Vargas Llosa gibt gar nicht vor, eine denn Reagan und Thatcher verstanden es vortreff-
wie es ihre Art war, räumte aber auch manchmal Ideengeschichte des Liberalismus nachzuzeich- lich, beides zu verbinden, was ihr Bewunderer ih-
Unsicherheiten ein. Vor allem bewies sie, dass sie nen; seine Schrift ist eine subjektive Hommage nen großzügig nachsieht.
nachdenklich zuhören konnte, was offenbar eini- an jene intellektuellen Vorbilder, die ihm nach Überhaupt neigt er dazu, Widersprüche und
ge überraschte. Als die Eiserne Lady am Ende des dem Verpuffen der sozialistischen Illusionen den Schwächen der liberalen Lehre zu kaschieren und
Abends gegangen war, resümierte Sir Isaiah mit Weg in eine aufklärerische Renaissance wiesen: die dunklen Seiten des Liberalismus in der politi-
britischem Understatement den Eindruck, den ein postideologisches, säkulares und undogmati- schen Praxis herunterzuspielen. Pinochet in Chile
die meisten Anwesenden wohl genauso empfan- sches Zeitalter der Vernunft, hofft und glaubt er. und die argentinischen Militärdiktatoren waren
den: »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.« Wirtschaftsliberale, Reagan und Thatcher in vie-
Sie hatte das Examen bestanden. len gesellschaftlichen und moralischen Fragen
Vargas Llosa, der die Episode erzählt, gewis- stramm konservativ oder schlicht reaktionär.
sermaßen als Gasthörer mit dabei, war womöglich Solche Exkurse in die Grenzbereiche von
noch tiefer beeindruckt als seine britischen Freun- Ideengeschichte, Philosophie und politischer Par-
de. Die Thatcher-Jahre von 1979 bis 1990 waren teinahme behaften Vargas Llosas intellektuelle Au-
für ihn, wie er sagt, eine fundamentale Erfahrung tobiografie mit einem Hautgout. Dass der Schrift-
von größter Bedeutung. Nicht nur sah ein Intel- steller und Sohn des Landes 1990 in Peru als Bewer-
lektueller wie er keinen Grund, sich dafür zu schä- ber für das Amt des Präsidenten mit seinem Bündnis
men, dass er die Falkland-Kriegerin Thatcher be- Frente Democratico kläglich scheiterte, erklärt sich
wunderte; er bekannte sich geradezu herausfor- auch aus dem Misstrauen der Armen gegenüber
dernd dazu, »stolz zu sein auf eine Regierende den Rezepten einer reichen liberalen Elite.
von solch einem Charakter, hochgebildet und mit Dennoch kann der Nobelpreisträger im Rück-
festen Überzeugungen«. blick feststellen, dass sein Werdegang vom Cas-
Der Nobelpreisträger Vargas Llosa schildert tro- zum Thatcher-Adepten,
in seinem neuen Buch die Geschichte seiner Be- von Marx zu Popper, bei man-
kehrung vom linken Aktivisten, geprägt vom Mar- chen Fehltritten, dem Pfad der
xismus und von Sartres Existenzialismus, der er Aufklärung folgte. Die liberale
in seinen jungen Jahren war, zum entschiedenen, Lehre wurde lange als pflau-
ja rabiaten Liberalen seiner späteren Jahre. Der menweich oder markthörig,
Essayband Der Ruf der Horde, in dem er seinen in- tolerant bis zur Substanzlosig-
tellektuellen und politischen Werdegang ebenso keit oder als Speerspitze des
nachzeichnet wie rechtfertigt, ist trotz des Unter- Imperialismus verachtet und
Mario Vargas
titels keine Autobiografie im üblichen Sinn. Es verunglimpft, gerade in La- Llosa: Der Ruf
geht mehr um Ideen als um Lebensabschnitte. teinamerika. Aber sie ist es, in der Horde. Eine
Hinter den großen Männern und Frauen der Ge- den Worten ihres Verteidigers intellektuelle
schichte, davon ist Vargas Llosa überzeugt, stehen Vargas Llosa, »die uns wie kei- Autobiografie.
Ideen, sie sind die treibende Kraft der Ereignisse, ne andere geschützt hat vor Aus dem Spani-
schen von
der guten und der schlechten, und sie finden ihren dem ewigen Ruf der Horde« – Thomas Brovot.
historischen Ausdruck in politischen Führern wie der neuerdings wieder ver- Suhrkamp; 316
Fidel Castro auf Kuba und Hugo Chávez in Ve- nehmlich erschallt. Seiten; 24 Euro.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Eisschicht. die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Das Hör- Rädern, die sich gegenseitig bekämpfen, um in
Nach Der zweite Reiter (2017) und Die rote Frau buch verbindet die »große« Politik mit der Besitz wertvoller Rohstoffe zu gelangen. Krieg
(2018) hat der österreichische Schauspieler Biografie eines Mannes, der als Rädchen im der Städte, ganz wörtlich.
Cornelius Obonya nun auch den dritten Krimi- Getriebe dem NS-Staat stets dienstbar war und Der actionlastige Film war in den deutschen
nalroman von Alex Beer eingelesen. Er ist als mit seinem fingierten Überfall auf den Sender Kinos ab zwölf Jahren freigegeben, auch dem
Interpret eine gute Wahl. Man hört und spürt Gleiwitz Hitler den letzten Vorwand für den Hörbuch merkt man schnell an, dass die Vorlage
sofort, wie intensiv er sich mit der Vorlage aus- Krieg gegen Polen lieferte: NS-Geheimagent ein dystopischer Jugendroman ist. Ein klassi-
einandergesetzt haben muss. Er schreit, raunt, Alfred Naujocks, ein Befehlsempfänger, der aus- scher Plot, in dem das Schicksal zwei Teenager
flüstert. Er gibt jeder Figur eine eigene Stimme, führte, was von ihm verlangt wurde, und ohne zwischen die Fronten geraten lässt.
spricht mal lauter und mal leiser, mal selbst- jeden Skrupel auch mordete. Obwohl die Fülle Die Figuren sind leider klischeehaft gezeich-
bewusster und mal zögerlicher, mal mit mehr seiner Straftaten bekannt war, lebte er fast un- net, die Story selbst hält immerhin die eine oder
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
13
andere Wendung bereit. Auch Sprecher Ro- mehr als 20 Jahren tot, aber seine Geschich-
bert Frank verleiht den eindimensionalen ten leben: Jim Knopf und Lukas der Lokomo-
Concarneau?
Figuren ein wenig Leben. tivführer, Momo, Die unendliche Geschichte. Es
Wer die ursprüngliche Geschichte für dürfte kaum einen Erwachsenen geben, der
Kinder und Jugendliche kennenlernen sie nicht kennt. Und liebt.
möchte, der greife zum Buch oder Hörbuch, Die neue Erzählung handelt von einem
das Effektspektakel gibt es auf DVD. kleinen Jungen namens Hastrubel Anaxi-
Christoph Ostermann mander Chrysostomos, den alle nur Knirps
nennen. Knirps zieht aus, um Ritter zu
werden – und sucht sich als Lehrherrn aus-
Hastrubel Anaximander
Chrysostomos
gerechnet den berüchtigten Raubritter Ro-
drigo Raubein aus.
Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe
ist eine schöne Geschichte für Kinder, mit
Da war
doch was ...
liebevoll ausgestalteten Figuren. Mit dabei
Michael Ende / Wieland Freund: Rodrigo sind alle, die in einer klassischen Ritterge-
Raubein und Knirps, sein Knappe. schichte dabei sein müssen: ein König und
Sprecher: Christoph Maria Herbst. eine kleine Prinzessin, ein Drache und ein
Silberfisch / Hörbuch Hamburg; 5 CDs;
böser Zauberer.
circa 20 Euro.
Die Handschrift Michael Endes ist deut-
● Die Erwartungen waren groß, als zum lich zu erkennen – der Autor und Literatur-
Jahreswechsel durchsickerte, dass ein unvoll- kritiker Wieland Freund hat das Manuskript
endetes Manuskript des Schriftstellers Mi- ganz im Sinn des berühmten Schriftstellers
chael Ende aufgetaucht sei. Ende ist für viele vollendet.
Deutsche ein Held ihrer Kindheit. Er ist seit Eine gute Geschichte verdient einen
ebenso guten Erzähler, und da kommt der
Schauspieler Christoph Maria Herbst ins
Spiel. Im Hörbuch verleiht er jeder Figur
einen unverwechselbaren Auftritt. Kaum zu
glauben, dass es stets er ist, der da spricht.
Die Stimme, so heißt es oft, sei das Instru-
ment des Erzählers. Herbst verfügt über ein
ganzes Orchester.
Ein Höhepunkt ist Herbsts Interpreta-
tion des persönlichen Lieblingsdieners des
Königs. Aber das – würde Michael Ende
schreiben – ist eine andere Geschichte und
soll ein andermal erzählt werden.
Christoph Ostermann
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Die Känguru-Apokryphen Sturmflut
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Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecherin: Christiane Blumhoff. 2 MP3-CDs.
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Das Känguru-Manifest Der Bücherdrache
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Andreas Fröhlich. 4 CDs.
Hörbuch Hamburg Der Hörverlag zum Protagonisten macht: seine Häfen
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Düsternbrook Die ewigen Toten und Strände, seine Galerien und
Sprecher: Axel Milberg. 6 CDs. Sprecher: Johannes Steck. 12 CDs.
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Restaurants, seine Traditionen
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Die Känguru-Offenbarung Die große Box zum Jubiläum
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 6 CDs. Sprecher: Rufus Beck. 14 MP3-CDs. und seine ganz besondere Geschichte.
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Mittagsstunde Elefanten vergessen nicht
Sprecherin: Hannelore Hoger. 7 CDs. Sprecher: Martin Maria Schwarz. 5 CDs.
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14
Irgendwann singt Jack laut, fast brüllend heraus. Denn im Gegensatz zu ihren jün-
● Selten hat ein Film eine so großartige »Help!« – und mit ihm der Film. Curtis geren Kolleginnen – Nicole Kidman, die
Prämisse wie »Yesterday«: Nach einem zettelt eine Romanze an, die ein wenig in der Serie ihre Schwiegertochter ver-
globalen Stromausfall leidet die Welt- schlicht anmutet, gemessen daran, wie körpert, wird am 20. Juni 52 – will
bevölkerung an selektivem Gedächtnis- einfallsreich die Beatles über die Liebe Streep in dieser Rolle niemandem ge-
verlust. Jeder weiß noch, wie er heißt, gesungen haben. Am Ende steht der fallen. Eine Oma-Frisur und biedere
doch von Coca-Cola scheint noch nie- Held vor der Frage, ob er seinen rasan- Kostüme lassen sie älter wirken, als sie
mand gehört zu haben, auch die »Harry ten Aufstieg fortsetzen oder doch besser ist. Und besonders sympathisch ist die
Potter«-Romane sind gänzlich unbe- zugeben soll, dass er sich mit fremden Figur, die sie in »Big Little Lies« spielt,
kannt. Die Menschheit hat also kulinari- Federn geschmückt hat. Lars-Olav Beier auch nicht gerade: Sie kämpft für ihren
schen und kulturellen Ballast abgewor- Sohn, den die Zuschauer in der ersten
fen. Leider sind dabei auch einige der ▼ Weitere Kinofilme Staffel als brutalen Psychopathen ken-
schönsten Songs verloren gegangen, die nengelernt haben. Meryl Streep traut
je geschrieben wurden: die der Beatles. AB 4 . J ULI sich also was – wieder mal. Martin Wolf
Der junge Liedermacher Jack (Himesh Traumfabrik. In dem Liebesfilm feiert der
Patel) kann kaum glauben, dass auch die Regisseur Martin Schreier die Defa-Stu-
Platten der Band verschwunden sind und dios in Potsdam als magischen Ort voller
die Beatles unauffindbar zu sein schei- Sehnsüchte und Abenteuer. Mit Emilia
nen. Er kann sich sehr genau erinnern Schüle und Dennis Mojen.
und ihre Hits im Schlaf singen. Also gibt
er die Songs als seine eigenen aus und AB 2 5 . J ULI
versucht, damit Karriere zu machen. Leid und Herrlichkeit. Antonio Banderas
Danny Boyles romantische Komödie ist als Regisseur, der etwas schwermütig
ein Film, der auf dem Gipfel anfängt auf sein Leben zurückblickt. Ein auto-
und sich dann mit allen Kräften gegen biografisches Werk von Pedro Almodóvar.
SPIELFILME
▼ Weitere Serien / DVDs
(2) Bohemian Rhapsody (4) Der Vorname
1 6 Orange Is the New Black. Siebte und
20th Century Fox, FSK: ab 6 Jahren Universal Pictures / Constantin, FSK: ab 6 Jahren
letzte Staffel der preisgekrönten Frauen-
Fotos: Universal Pictures; HBO / Sky
Foto: www.maxpixel.net
Es ist
kompliziert.
16
Pop / Live Jazz
Mit ihrem jüngsten Album »Cuz I Love Die Finnen Timo Lassy und Teppo
You« steht die US-Sängerin Lizzo Mäkynen haben ein überraschend zar-
unübersehbar mitten im Feld zwischen tes Duo-Album aufgenommen. We
Hip-Hop und R & B. Nun kommt sie Jazz Records, erscheint am 14. Juni.
erstmals für ein Konzert nach Berlin
(am 8. Juli). ● Auf ihre jeweilige Art gehören der Sa-
xofonist Timo Lassy und der Schlagzeu-
● Wer den Instagram-Account von Liz- ger Teppo Mäkynen, beide aus Finnland,
zo abonniert hat, wird sich große Hoff- zu den interessantesten europäischen
nungen machen, dass die US-Amerikane- Jazzmusikern. Lassy ist einer der großen
rin bei ihrem Live-Debüt in Deutschland Könner der Jazz-Renaissance der vergan-
die Flöte auspacken wird. Denn in kur- genen Jahre, kaum jemand bewegt sich
zen Instagram-Videos zeigt sie sehr über- mit ähnlicher Souveränität zwischen den
zeugend, dass man mit einer Querflöte klassischen amerikanischen Stilen der
Wut genauso stark ausdrücken kann wie Fünfziger und Sechziger wie er, mit ei-
mit einer verzerrten E-Gitarre – und ner Freude am Spiel, die man sofort er-
dem entsprechenden Gesichtsausdruck. Künstler Kjartansson kennt. Ganz anders Mäkynen. Der hat
Melissa Jefferson, so ihr bürgerlicher zwar in mehreren Bands mit Lassy ge-
Name, hat Flöte gelernt für eine Mar- spielt, ist im Grunde aber eher ein per-
ching Band in Houston, wo sie auf-
gewachsen ist. Doch ihre Karriere als
Rapperin und Sängerin startete sie in
Kunst dorthin, wo Licht, Luft und
Atmosphäre ungefiltert sind,
nur platzierte er sich und sei-
kussiver Feinmechaniker. Ein Klöppler,
der mit einem ganz kleinen Schlagzeug-
Minneapolis. Die Wut war immer dabei: Der Isländer Ragnar ne Staffelei nicht in einem
»Ich hatte immer drei Dinge, die gegen Kjartansson ist der große grünen Idyll, sondern im
mich waren in der Welt«, sagte sie in ei- Entertainer der Kunstwelt Westjordanland und malte
nem »Teen Vogue«-Interview – sie könne und wird jetzt mit einer lauter Siedlungshäuser ab.
nicht eines Tages aufwachen und nicht auch nicht kleinen Schau Und so ist es immer bei
schwarz, keine Frau, nicht dick sein. in Stuttgart gefeiert. Kjartansson, irgendwo lauert
Weil Lizzo es schafft, aus dieser Wut Kunstmuseum, 20. Juli bis da hinter der hübschen oder
Kampfgeist (»Juice«) und Lebensfreude 20. Oktober. lustigen Oberfläche seiner
(»Boys«) zu entwickeln, wird sie als Vor- Kunst die nicht so harmlose
bild für Körperakzeptanz gefeiert – zu- ● Ragnar Kjartansson hat Realität. Ulrike Knöfel
mal ihre Songs zwischen Hip-Hop-Cool- einen ganz eigenen Humor,
ness und klassischer Soul-Ausgelassen- was man unter anderem am ▼ Weitere
heit extrem mitreißend sind. Felix Bayer Titel dieser Ausstellung er- Ausstellungen
kennt, der »Scheize – Liebe –
▼ Weitere Konzerte Sehnsucht« lautet. Und auch DÜSSELD ORF
wenn man seine Späße nicht Martin Parr. Aufnahmen von
Fotos: Warner Music; Rafael Pinho, Courtesy der Künstler, Luhring Augustine, New York und i8 Gallery, Reykjavík; Mathias Foster; Yvonne Schmedemann; NoCode
Take That. Die Neunzigerjahre-Jugend immer sofort versteht – er Urlaubern, die am Strand nicht
feiert mit ihren Idolen von damals: 15.6. in schafft es doch, das Publi- bloß bräunen, sondern regel-
Düsseldorf, 20.6. in Berlin, 24.6. in Ham- kum zu verzaubern. Ihm ge- recht rösten, sind seine Spe-
burg, 25.6. in Frankfurt am Main. lingen unvergleichliche In- zialität, doch der bekannte
szenierungen, und er setzt da britische Fotograf hat auch Musiker Mäkynen, Lassy
Gossip. Beth Ditto, ebenfalls eine auch alles ein: Musik, Male- ein Auge für deutsche Klein-
Body-Positivity-Ikone, moderiert in- rei, seine Mutter, große Ges- gärten. Diese Retrospektive set am glücklichsten scheint. Nun haben
zwischen für Arte. Zur Entspannung hat ten, Tränen und Boote. Mit zeigt die Welt, so wie der Foto- sich die beiden für eine Duo-Platte zu-
sie ihre Band wiedervereinigt: 5.7. in Köln, seinen Gegenwelten ist der satiriker Parr sie sieht. sammengetan, die voll überraschender
6.7. in Berlin. Isländer in den vergangenen NRW-Forum Düsseldorf, Momente ist: »Timo Lassy & Teppo Mä-
Jahren international zum 19.7. bis 10.11. kynen«. Dass sie auf einen Bassisten ver-
Janelle Monáe. Ihr Album »Dirty Star geworden. Vor zehn Jah- zichten, ist bemerkenswert, beide Musi-
Computer« war für den Grammy nominiert, ren durfte er für seine Hei- LOND ON ker sind doch eigentlich am Groove
als Schauspielerin wurde sie für den mat auf der Biennale von Ve- Cindy Sherman. Die Amerika- orientiert. Und genauso verblüfft es, wie
Hollywoodfilm »Hidden Figures« ausge- nedig antreten, er malte wäh- nerin gehört zu den bekann- wenig klassisch die 13 Stücke klingen.
zeichnet. Nun bringt sie ihren Funk rend der immerhin sechs Mo- testen Künstlerinnen der Alle Songs sind kurz, immer um die drei
für ein rares Konzert nach Deutschland: nate dauernden Schau jeden Gegenwart. Häufig bildet sie Minuten, und jeder ist eine kleine, zarte,
9.7. in Berlin. Tag ein Gemälde von einem sich selbst ab, nur geht es tastende Skizze, für die Lassy und Mäky-
Typen in einer Speedo-Bade- nicht um sie, sondern um Bil- nen sich umkreisen und umtänzeln. Im-
hose (das Männermodell war der von Frauen im Allgemei- mer wieder schimmert Mäkynens Interes-
ein Künstlerkumpel aus Is- nen. Oft karikiert sie mit Ver- se an House und Electronica durch, aber
land). Hinterher hatte er jede kleidungen und Maskierungen auch Lassys Kunst, sich in jede Melodie
Menge Bilder und auch eine vermeintliche Frauentypen. einfühlen zu können. Lassy und Mäky-
Menge Ruhm angesammelt, National Portrait Gallery, nen kennen sich seit vielen Jahren.
Venedig war also sein Durch- 27.6. bis 15.9. Zusammen machen sie eine Musik, die
bruch. Nun, ein Jahrzehnt in jedem Augenblick zeigt, wie sehr sie
später, ist sein Gesamtwerk MADRID im emphatischen Sinne ein »Spiel« ist.
natürlich noch umfassender, Velázquez, Rembrandt, Ver- Tobias Rapp
vielseitiger. Die US-Band meer. Parallele Visionen. Der
The National spielte für ihn berühmte Prado widmet sich ▼ Weiteres Album
eines ihrer Lieder – »Sor- der spanischen und holländi-
row« – sechs Stunden lang schen Malerei des späten Joel Ross: KingMaker. Für die »New York
immer und immer wieder, 16. und frühen 17. Jahrhunderts Times« ist der gerade einmal 23 Jahre alte
und er verarbeitete den Auf- und den epochalen Werken Vibraphonist Joel Ross »eines der Topta-
tritt zu einem ebenso langen einer ganzen Reihe von Künst- lente des zeitgenössischen Jazz«. »King-
Video. Für die Produktion lern, darunter nicht nur die Maker« ist nun sein Debüt als Kopf einer
seiner Gemäldeserie »Archi- genannten, sondern ebenso eigenen Band. Ein wunderbares Album, an
tecture and Morality« ging er Jusepe de Ribera oder Frans dem vor allem die Sicherheit und emotio-
wie einst die Franzosen des Hals. Museo del Prado, nale Tiefe erstaunt, mit der dieses junge
Sängerin Lizzo 19. Jahrhunderts ins Freie, 25.6. bis 29.9. Quintett zusammenspielt. (Blue Note)
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Klassik e
Für Stepan Simonian werden
Bachs Goldberg-Variationen
zum Mikrokosmos.
CAvi-Music.
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All about
Popgruppe The Divine Comedy. Auf Comedy schätzen. Musikalisch domi-
ihrem neuen Album »Office Politics« nieren Synthesizer-Sounds, bisweilen
geht es um das Büroleben. wird Keyboardmarken und Synthie-Pop-
Divine Comedy Records / PIAS, Bands gehuldigt. Es geht eben um Ma-
Writing.
erscheint am 7. Juni. schinen und um das, was Menschen mit
ihnen machen. Zum Beispiel im Büro,
● Das Büro ist künstlerischer Kreativität wo man sich mit diesem Album auf dem
selten sonderlich zuträglich. Das wird Kopfhörer sehr unterhaltsam von der
fast jeder bestätigen, der dort arbeitet. Arbeit ablenken kann. Felix Bayer
For all
Und dennoch ist dieser Ort Schau-
platz von Fernsehserien (von
»Büro, Büro« bis »Stromberg«) und
großen literarischen Werken wie
J. J. Voskuils Romanzyklus Das
Writers.
Büro – immerhin finden im Büro ja
auch zahlreiche menschliche Inter-
aktionen statt. Neil Hannon, Kopf
der Band The Divine Comedy,
stellt im neuen Album »Office Poli-
tics« die Maschinen in den Mittel-
punkt – so heißt es jedenfalls in
einem das Album begleitenden,
Willkommen stilechten »Memo an alle Abteilun-
gen«. Ja, stimmt: Im Titelsong en-
Autorinnen, Blogger, det eine Büroromanze auf dem Ko-
piergerät. Doch viel mehr interes-
Podcasterinnen siert sich Hannon für die Sprache
des Bürolebens und stellt sich die
und Self-Publisher. Trennung eines Liebespaares in
den Begriffen einer Freistellung
aus Rationalisierungsgründen vor
In unserem neuen Areal (in dem Song »Absolutely Ob-
Frankfurt Authors erwartet solete«). Und er hat auch hörbar Bandleader Hannon
Theater
Branche der Welt. fröhliche Urständ feiert«. Er inszeniert
die Uraufführung mit zwei auch aus dem
Fernsehen bekannten Stars: Caroline Pe-
»Die Empörten« heißt die finstere Ko- ters ist die Bürgermeisterin, Silke Boden-
mödie von Theresia Walser, die bei bender ihre Gegenspielerin. Anke Dürr
den Salzburger Festspielen heraus-
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kommt. Uraufführung am 18. August im
Landestheater. ▼ Weitere Premieren und
Festivals
● Hat er – oder hat er nicht? Ein Auto
ist in die Fußgängerzone von Irberst- BERLIN
buchmesse.de/frankfurt-audio heim gerast, der Fahrer und ein Passant Das Bauhaus – Ein rettendes Requiem.
sind dabei ums Leben gekommen. So Ist die einst »strahlende Bauhaus-Erfin-
viel steht fest. Aber hat der Autofahrer dung« nur noch ein »Zombiemuseum«?
wirklich »Allahu akbar« gerufen? War es Schorsch Kamerun sucht in seiner Perfor-
also ein Attentat? Die Ausgangslage in mance nach Antworten. Uraufführung am Foto: Raphael Neal, Hannelore Foerster / Getty Images; Illustration: Sebastian Rether für LiteraturSPIEGEL
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Abgesang
Jede Ausgabe ein neues Gedicht
Goethe, Illustration von Maria Gottweiss nach dem Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna, 1787 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Zeit ist weder ursprünglich noch genau / und
weil der Raum sich ausdehnt / wird das Univer-
sum immer leerer / Beides herbe Enttäuschungen /
die zwischen Eberswalde und Groß Schönebeck / » Im übrigen gilt für die Schau:
Informationsgehalt: hoch.
ihre imposante Bestätigung finden / Die Adler Unterhaltungswert: beträchtlich.
Staubfaktor: null.«
schweben, Moore stehen Schlange / die Große (dpa, Christoph Driessen)
GOETHE
Stehen gipfelt / der Sommer selbst steht auf
der Kippe
Das kritische
Sachbuch zur EU
Die Einfügung der Schaltsekunde, die für diesen Juni
geplant war, wurde verschoben. Was hätte man alles
mit ihr machen können! Wenn einen schon mal ein
Gedicht an den Luxus einer zusätzlichen Sekunde
mahnt. Das Universum wird leerer, die Erde dreht
sich langsamer – beides beobachtet von einem Waldrand, der
mit dem All ins Leere kippt. Der letzte Rat ist nicht »Nutze die zu-
sätzliche Sekunde!«, sondern »Verpasse sie nicht!«. Sieh sie kommen
und gehen. Halt sie nicht auf. Gerhard Falkner, von dem dieses
Gedicht stammt, ist einer der bedeutendsten deutschen Gegenwarts-
lyriker. Juliane Liebert
Aus dem Band »Schorfheide. Gedichte en plein air«. Berlin Verlag; 128 Seiten;
22 Euro.