Erster Weltkrieg Selbststudium

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1. DER MARSCH IN DIE BARBAREI


Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der erste totale Krieg in der Geschichte der Menschheit. Er verhalf Wladimir
Iljitsch Lenin an die Macht und legte den Keim fr den Aufstieg des Postkartenmalers Adolf Hitler zum
verbrecherischen Diktator.
Am Abend vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich stand der britische
Auenminister Edward Grey am Fenster seines Amtszimmers und blickte auf den Londoner St. Jamess Park, in dem
gerade die Lampen angezndet wurden. Grey befiel an diesem 3. August 1914 eine dunkle Vorahnung. In ganz Europa
gehen die Lichter aus, sagte er zu einem Freund und fgte hinzu: Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder
angezndet werden.
Der Erste Weltkrieg dauerte bis 1918, und doch erwiesen sich Greys Worte als schreckliche Prophezeiung: Einen stabilen Frieden sollte es in Europa 31 Jahre lang bis 1945 nicht mehr geben. Der Friedensvertrag von Versailles, der
Deutschland um mehr als ein Zehntel seiner Flche verkleinerte und zu gigantischen Reparationszahlungen
verpflichtete, beendete zwar offiziell das Gemetzel auf dem Schlachtfeld. Aber der Krieg in den Kpfen, so der
Historiker Gerd Krumeich, tobte noch Jahrzehnte weiter.
Nichts machte Adolf Hitler, 1914 Kriegsfreiwilliger im bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 16, so populr wie
seine Drohung, die Schmach von Versailles auszulschen. Fr Krumeichs Kollegen Hans-Ulrich Wehler ist der Erste
Weltkrieg daher der Beginn eines zweiten Dreiigjhrigen Krieges.
Die gute alte Friedenszeit - so nannten die Eltern, Groeltern und Urgroeltern der heute lebenden Europer die
Jahre vor 1914. Mit boomendem Optimismus hatten viele Menschen auf dem alten Kontinent das neue Jahrhundert
begrt. Sie glaubten an eine goldene Zukunft mit mehr Freiheit, Fortschritt und Wohlstand. Als die Glocken am
31.Dezember 1900 den Beginn des 20.Js. ankndigten, sagte Johannes R.Becher: Jetzt wird sich alles zum Besseren
wenden. Er glaubte fest an den Fortschritt und den guten Willen der menschen, friedlich zu leben.
Der Erste Weltkrieg zerstrte unwiederbringlich dieses Vertrauen. Millionen Mnner erlebten und erlitten Gewalt von
solch massiver Brutalitt, wie sie bis dahin in der Geschichte der Menschheit unvorstellbar war ein idealer
Nhrboden fr Faschisten und Kommunisten mit ihren Wahnvorstellungen vom Rassen- oder Klassenkampf.
Es war der Krieg, der dem Rechtsanwalt Wladimir Iljitsch Lenin 1917 die Gelegenheit gab, in Russland jene Diktatur
zu errichten, unter deren Nachwirkungen Osteuropa noch lange leiden wird. Ohne die Erschtterungen des Weltkriegs
wre auch dem einstigen Postkartenmaler Hitler der Griff nach der Macht nie gelungen.
In der blutigen Auseinandersetzung zwischen den Mittelmchten (Centro valstybs) Deutschland und sterreichUngarn sowie der Entente aus Grobritannien, Frankreich und Russland zeigte die Moderne ihr anderes Gesicht es
war eine hssliche Fratze.
Die industrielle Dynamik, welche die Europer zu den Herrschern der Welt hatte werden lassen, wandte sich erstmals
gegen die Bewohner des alten Kontinents. Nach diesem Krieg verlor Europa seine fhrende Rolle, und die USA
begannen den Kampf um die Weltherrschaft. Seit dem 11.September 2001 regiert die USA die Welt, denn sie ist im
Stande, alleine globale Kriege zu fhren.
Der Erste Weltkrieg war der erste totale Krieg. Die Eisenbahn Sinnbild des Fortschritts brachte Millionen
Soldaten an die Front, dort gerieten sie in eine gigantische, hoch technisierte Ttungsmaschinerie von bislang
unbekannten Ausmaen.
Terrorwaffen wie das deutsche Parisgeschtz schleuderten ihre tdliche Last ber eine Distanz von 130
Kilometern; Maschinengewehre der amerikanischen Marke Maxim feuerten bis zu 600 Kugeln pro Minute ab. Allein
am 12. September 1918 verschossen die Amerikaner bei einem Angriff in vier Stunden 1,1 Millionen Granaten.
Mehr als 60 Millionen Soldaten aus fnf Kontinenten kmpften zwischen China und den Falklandinseln, auf knapp
4000 Meter Hhe in den Alpen und in den Tiefen des Atlantischen Ozeans um den Sieg und ihr Leben. Beinahe jeder
sechste fiel im Durchschnitt 6000 Mann tglich, schtzen die Autoren des neuen Standardwerks Enzyklopdie
Erster Weltkrieg (G.Hirschfeld, G.Krumeich, I.Renz (Hrsg.), Paderborn, 1004 Seiten). Millionen kehrten als
Kriegsversehrte heim.
Das Grauen von Bombenterror, Flucht und Vertreibung, welches die Deutschen erst gegen Ende des Dritten Reichs
erlebten, wirkt heute wie ein vielfach verstrktes Echo jenes Schreckens, den deutsche und sterreichische Truppen 30
Jahre zuvor nach Frankreich, Belgien oder Serbien getragen hatten.
Uber 800 000 Belgier flohen 1914 vor den Deutschen ins Ausland; mindestens 60 000 Belgier lie Wilhelm II. aus
den besetzten Gebieten verschleppen. Diese sowie 15 000 osteuropische Juden mussten im Reich zwangsarbeiten.
Stdte wie das belgische Ypern bestanden 1918 nur noch aus Ruinen.
Im belgischen Tamines oder in Dinant wurden Hunderte von Zivilisten als Vergeltung fr vermeintliche Partisanenangriffe erschossen. Deutsche Soldaten nahmen beim Kampf um Lttich oder Namur Geiseln als menschliche
Schutzschilde. Fotos aus Serbien zeigen sterreichische Soldaten vor gehenkten Zivilisten hnlich den umstrittenen
Aufnahmen in der Hamburger Wehrmachtsausstellung ber die Verbrechen deutscher Militrs im Zweiten Weltkrieg.
Noch gab es Barrieren, die erst bei Hitler fielen. Am 4. September 1914 schlug Kaiser Wilhelm II. vor, 90 000
russische Kriegsgefangene auf der Kurischen Nehrung verhungern zu lassen, wogegen der preuische Kriegsminister
Erich von Falkenhayn sich sofort verwahrte (=protestuoti). Fnf Tage spter freilich pldierte der 55-jhrige Monarch
dafr, die von Belgien und Frankreich nach einem Sieg zu annektierenden Gebiete ethnisch zu subern und das dann
frei gewordene Land an verdiente Unteroffiziere und Mannschaften zu vergeben. Niemand widersprach. Die Niederlage
lie aus Wilhelm sogar einen radikalen Antisemiten werden, der von der Vergasung der Juden fabulierte.
Der erste Dreiigjhrige Krieg zwischen 1618 und 1648 hinterlie ein verwstetes Mitteleuropa und
traumatisierte die Menschen fr Jahrhunderte. Der Erste und der Zweite Weltkriege entfalteten eine hn liche

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Langzeitwirkung.
Allerdings ist die Erinnerung an das damit verbundene Grauen unterschiedlich ausgeprgt. Der Osten Europas sieht
im Holocaust und im Vernichtungskrieg zwischen 1939 und 1945 die zentralen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Im
Westen des alten Kontinents hingegen ist der Groe Krieg (La Grande Guerre) jener zwischen 1914 und 1918
geblieben.
In der Knochenmhle von Verdun oder auf den Killing Fields von Flandern starben viermal so viele Franzosen,
dreimal so viele Belgier, doppelt so viele Briten wie im Zweiten Weltkrieg. Allein am 1. Juli 1916 verloren die Briten
rund 60 000 Soldaten.
Die Erinnerung an die Opfer wird bis heute hochgehalten. Am 11. November zum Jahrestag des Waffenstillstands
1918 gedenken die gut 35 000 franzsischen Gemeinden in Feierstunden der Toten; der Prsident legt einen Kranz
am Pariser Arc de Triomphe nieder.
Reisen zu den belgischen Schlachtfeldem gehren in vielen englischen Schulen zum Pflichtpensum. Briten stellen
ber die Hlfte der 500 000 Besucher, die jhrlich in Flandern die Minenkrater bei Menin oder den Soldatenfriedhof
Tyne Cot besuchen. Und wer erinnert sich in Litauen an den 1.Weltkrieg?
Diesseits des Rheins hat die Beschftigung mit Auschwitz die Erinnerung an Verdun schon vor Jahren verdrngt. Die
Bilder, die Helmut Kohl und Francois Mitterrand 1984 Hand in Hand an den Grbern von Verdun zeigen, entfalteten in
der Bundesrepublik nicht annhernd jene symbolische Kraft wie in Frankreich.
Konrad Adenauer sa noch im Palais Schaumburg in Bonn, als der Erste Weltkrieg das letzte Mal die breite
ffentlichkeit der alten Bundesrepublik beschftigte. Das war Anfang der sechziger Jahre. Der Historiker Fritz Fischer
hatte behauptet, das Kaiserreich trage die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Fischer zerstrte damit die
Lebenslge der Generation, die in Hitlers Weltkrieg blo einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte sehen wollte
und nicht etwa die Endstation eines lange zuvor eingeschlagenen Sonderwegs.
Nach der so genannten Fischer-Kontroverse erlahmte die ffentliche Anteilnahme allerdings rasch. Erst 2004, zum
90. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1914, wendet sich die Aufmerksamkeit des nun geeinten Deutschland dem Krieg des
Kaisers erneut zu.
Geschichtsstudenten drngen sich in Seminare und Vorlesungen zum Ersten Weltkrieg. Das Interesse ist enorm,
beobachtet Dorothee Wierling, Historikerin an der Universitt Hamburg. Der Publizist Michael Jrgs verkaufte von
seinem Buch ber den Weihnachtsfrieden 1914 innerhalb weniger Wochen ber 30 000 Exemplare. Verlage und TVAnstalten haben sich auf den neuen Trend eingestellt.
Ein gutes Dutzend Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg kam im Frhjahr 2004 auf den Markt. ZDF gemeinsam
mit SPIEGEL TV sowie ARD bereiteten jeweils Serien vor, die sich mit dem Kaiser beschftigten oder einen kompletten berblick des Kriegs versuchten. Ab 12. Mai 2004 zeigte das Deutsche Historische Museum eine groe Ausstellung
in Berlin.
Gerhard Hirschfeld, Geschichtsprofessor und Direktor der Bibliothek fr Zeitgeschichte in Stuttgart, erklrte das
neue Interesse mit einer besonderen Dialektik der Erinnerung. Der Erste und der Zweite Weltkrieg wrden bei der
Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts zunehmend zusammen gedacht. Die Aufmerksamkeit, die Wilhelms Schlachten
nun zuteil wird, wre demnach logische Folge der Debatten ber die Kollektivschuld-These Daniel Goldhagens, die
Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts fr Sozialforschung oder die Entschdigung der Zwangsarbeiter.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs nahm ihren Anfang am 28. Juni 1914 im bosnischen Sarajevo, wo der
sterreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand zu Besuch weilte. Bei der Fahrt durch die Stadt bog dessen
Fahrer falsch ab. Als er wenden wollte, sprang der 19-jhrige serbische Gymnasiast Gavrilo Princip vor und feuerte
zweimal in den offenen Wagen. Die Erzherzogin war sofort tot, der Thronfolger starb zehn Minuten spter.
Princip gehrte zu einem siebenkpfigen Terrorkommando junger Serben, die von einem groserbischen Reich
trumten. Die Teenager hatten Bomben und Pistolen vom serbischen Geheimdienst erhalten.
Seit langem drngten die Falken in der Wiener Regierung auf einen Krieg gegen Serbien, um den serbischen
Nationalismus, der das marode Vielvlker-Imperium schwchte, als Machtfaktor am Balkan auszuschalten. Nach dem
Attentat gewann die Kriegsfraktion die Oberhand.
Und da der greise Kaiser Franz Joseph frchtete, Russland knne den slawischen Brdern beispringen, bat er den
deutschen Verbndeten um Rckendeckung. Als am 5. Juli 1914 der Wiener Botschafter im Neuen Palais in Potsdam
Wilhelm II. ber eine geplante Isolierung und Verkleinerung Serbiens unterrichtete, gab Hchstderselbe seine volle
Untersttzung . Damit setzte die Julikrise ein der Anfang vom Ende einer langen Epoche des Friedens.
Seit Napoleon, also etwa hundert Jahre, hatte es in Europa keinen groen Krieg mehr gegeben. Die regierenden
Frstenhuser waren eng verwandt: Zar Nikolai II., Kaiser Wilhelm II. und Knig George V. waren Cousins. Man
konnte ohne Pass von London bis an die russische Grenze reisen. Auenhandelsboom und Goldstandard hatten eine
Verflechtung der Volkswirtschaften zur Folge, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder erreicht wurde.
Doch zugleich standen sich zwei Machtblcke zunehmend feindlich gegenber. Auf der einen Seite die
Mittelmchte sterreich-Ungarn sowie das Deutsche Reich, das nach Vorherrschaft auf dem europischen Kontinent
strebte; auf der anderen Seite die Entente aus franzsischer Republik, konstitutioneller britischer Monarchie und
Russlands rckstndiger Autokratie ein verqueres (keistas) Bndnis, das nur der gemeinsame Gegner Deutschland
zusammenhielt. Der Machthunger des deutschen Kaisers lie Franzosen, Russen und Briten zusammenrcken, obwohl
diese wegen ihrer kolonialen Interessen jahrzehntelang miteinander verfeindet waren.
Die Schsse von Sarajevo und das sterreichische Ultimatum setzten eine Kettenreaktion in Gang. Russland sprang
dem von sterreich bedrohten Serbien in der Hoffnung bei, sterreich-Ungarn zu schwchen; Deutschland stellte sich
daraufhin offen gegen das Zarenreich, was zur Folge hatte, dass Frankreich seinem Verbndeten Russland zu Hilfe eilte
und Grobritannien schnell folgte.
Einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland glaubte der Groe Generalstab nur gewinnen zu knnen,

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wenn Deutschland mit einem Angriff auf Frankreich nicht lange zgerte. Ein fataler Automatismus kam in Gang.
ber die Frage, welche Seite die Hauptverantwortung fr den Kriegsausbruch trgt, streiten bis heute die Historiker.
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg gestand einem Journalisten, dass Deutschland einen Teil der Schuld
am Ausbruch des Kriegs trage, und fgte hinzu: Wenn ich sagen wollte, dieser Gedanke bedrckt mich, so wre das zu
wenig der Gedanke verlsst mich nicht, ich lebe darin. Wilhelm-II.-Biograf John Rhl wirft dem Kaiser sogar
Verschwrung zu einem Angriffskrieg vor.
Die jungen Soldaten, die im August 1914 an die Front fuhren, ahnten nichts von dem Inferno, das sie erwartete.
Franzsische Wehrpflichtige zogen mit leuchtend blauen Rcken und roten Hosen in die Schlacht. Sbel baumelten an
den Grteln der Offiziere aller Armeen. Ungarische Husaren bten mit quastenbesetzten Waffenrcken Attacken. Ich
finde den Krieg herrlich. Er ist wie ein groes Picknick, aber ohne das berflssige Beiwerk, das normalerweise
dazugehrte, notierte der britische Offizier Julian Grenfell.
Die grauenvollen Zutaten dieses Picknicks: Handgranaten, Flammenwerfer, Giftgas. Am 22. April 1915 setzten die
Deutschen erstmals in der Geschichte der Menschheit Massenvernichtungswaffen ein. Der Einsatz von Gas, den Briten,
Franzosen und Russen erwiderten, kostete Zehntausende das Leben; eine kriegs-entscheidende Wende brachte er nicht.
Dabei schien der Sieg der Deutschen im August 1914, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, bereits in Reichweite. Fast
alles war nach jenem Plan verlaufen, den in seinen Grundzgen 1905 Alfred Graf von Schlieffen, der scheidende
Generalstabschef, entworfen hatte.
Schlieffen wollte im Falle eines Zweifrontenkriegs die Zeit, die der Zar brauchte, um seine Truppen im riesigen Russland zu mobilisieren, fr einen schnellen Sieg gegen Frankreich nutzen. Doch der deutsche Angriff kam im September
an der Marne unerwartet zum Stehen. Im November zog sich eine 700 Kilometer lange Grabenfront wie eine hssliche
Narbe von der Nordsee bis an die Schweizer Grenze.
Der Stellungskrieg begann, und er dauerte fast vier Jahre. Von Scharfschtzcn bedroht, von Ratten und Lusen
geqult, mussten die Soldaten in den Grben ausharren, die oft voll Wasser liefen. Vor ihnen tat sich baumloses, von
Kratern durchsetztes Niemandsland auf, Pferde-kadaver und Leichenteile verbreiteten einen elenden Gestank.
Fr die meisten Soldaten kam der Tod aus kilometerweit entfernten Artilleriegeschtzen. Wir liegen unter dem
Gitter der Granatenbogen und leben in der Spannung des Ungewissen. ber uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoss
kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlgt, kann ich weder genau wissen noch beeinflussen,
beschreibt der Veteran Erich Maria Remarque in seinem Weltbestseller Im Westen nichts Neues die Fronterfahrung.
Immer wieder starteten die Generle gro angelegte Offensiven, die nicht einmal ein Dutzend Kilometer Gelndegewinn brachten, aber Hunderttausenden den Tod. Im Londoner Imperial War Museum luft ein Tonband mit dem Bericht
von Sergeant Quinnell ber den Angriff seiner Einheit an der Somme am 7. Juli 1917. Um 4.15 Uhr setzte das
wechselseitige Bombardement ein. In den Grben mussten die Soldaten vier Stunden lang warten. Bevor der Angriff
begann, war bereits jeder Vierte tot. Dann kam der Befehl: Auf die Leiter, raus aus dem Schtzengraben. Die Ersten
wurden weggemht von den feindlichen MG-Schtzen.
Warum die Mnner bis kurz vor Kriegsende gegen das Abschlachten nicht aufbegehrten, zhlt bis heute zu den
groen Rtseln. Denn nicht Terror hielt die Ordnung an der Front aufrecht. Anders als 30 Jahre spter urteilte die deutsche Militrjustiz damals milde. War es die Kameradschaft, das so genannte Fronterlebnis, das die Soldaten immer
weiterkmpfen lie? War es die fatalistische Hoffnung des Einzelnen, er werde durchkommen? Oder wurden die
Landser Opfer der gebetsmhlenhaften Propaganda, das Ende des Kriegs stehe unmittelbar bevor?
Der Krieg im Osten war ein ganz anderer. Das Vereisen der Bden im Winter erschwerte den Stellungsbau enorm.
Die Lnge der Front zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ermglichte beiden Seiten immer wieder Durchbrche.
Kaiser Wilhelm holte zur Abwehr der Russen den 1911 pensionierten General Paul von Hindenburg aus dem
Ruhestand. Dem erfahrenen Militr mit dem grovterlichen Bart gelang es, die Truppen des Zaren bei Tannenberg
1914 und in Masuren 1915 zu schlagen. Die triumphalen Siege machten Hindenburg zum Volkshelden und legten den
Grundstein fr dessen verhngnisvolle Karriere nach dem Krieg: Als Prsident der Weimarer Republik ernannte er 1933
Adolf Hitler zum Reichskanzler.
Die Russische Revolution im Oktober 1917 beendete den Zweifrontenkrieg. Die russischen Soldaten, meist Bauern,
fanden Lenins Parole Frieden, Land und Brot allemal attraktiver als das Sterben an der Front. Im Dezember 1917
nahm eine Delegation im Auftrag Lenins in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen mit den Deutschen auf.
Der Zusammenbruch des Zarenregimes war Wilhelms einzige Chance, den Krieg im Westen noch zu gewinnen. 52
Divisionen mit ber einer Million Soldaten standen in Russland bereit, doch als die Verhandlungen mit Lenins
Delegation stockten, stieen die deutschen Divisionen bis zum Kaukasus vor (ein grober Fehler der Obersten
Heeresleitung; denselben Fehler machte spter auch Hitler) und wurden nicht an die Westfront verlegt, wo man sie
so dringend bentigte.
Dort waren bereits die ersten ausgeruhten Soldaten aus bersee eingetroffen: US-Amerikaner. Das Dorf war pltzlich voll von Mnnern mit Cowboyhten. Offiziere und einfache Soldaten tranken gemeinsam in den rtlichen Kneipen.
Und sie schkerten mit den Mdchen in einer Weise, die wir uns niemals getraut htten, notierte der britische Soldat
Eric Hiscock ber die Vertreter der neuen Weltmacht.
Es war wohl der folgenschwerste Fehler Wilhelms II., die grte Industrienation in den Krieg gezogen zu haben. Des
Kaisers Experten hatten geglaubt, mit einem unbeschrnkten U-Boot-Krieg gegen Frachtschiffe, die Nahrungsmittel
und Rohstoffe auch aus den neutralen USA nach Grobritannien brachten, liee sich London innerhalb von fnf
Monaten zum Frieden torpedieren. Stattdessen hatte US-Prsident Woodrow Wilson Berlin den Krieg erklrt.
Mit einer verzweifelten Offensive versuchte die deutsche Fhrung im Mrz 1918, den Waffengang doch noch zu
ihren Gunsten zu entscheiden. Aber der Angriff lief sich fest. Der Krieg war verloren.
Sieben Monate hielt die deutsche Armee noch durch. Dann war alles vorbei. Am 10. November 1918 reiste Wilhelm
II. aus dem Oberhauptquartier in Spa direkt ins niederlndische Exil. Der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger

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unterzeichnete die Waffenstillstandsbedingungen. Hindenburg lie ihn den Waffenstillstand unterzeichnen und wlzte
spter die ganze Verantwortung auf ihn hinab. Die Rechte hielt Erzberger fr den Verrter und ermordete ihn nach dem
Krieg, um den Brgerkrieg zu provozieren. Am 11. November ab l1 Uhr schwiegen die Waffen.
Adolf Hitler war vom Verrat bestrzt und beschloss, Politiker zu werden, um sich fr die Schmach zu revanchieren
.
2. DER KRIEG DES KAISERS
Hat Deutschland den Krieg angezettelt? Oder war der weltweite Waffengang nur Folge von Missverstndnissen und
fehlender Kommunikation? Auf allen Seiten kmpften Soldaten in dem Wahn, ihr Vaterland gegen Mchte des Bsen zu
verteidigen.
Am 28. Juni 1914 wurden der Erzherzog Franz Ferdinand, sterreichisch-ungarischer
Thronfolger, und seine Frau in Sarajevo von bosnischen Terroristen ermordet. sterreich-Ungarn
hatte Bosnien-Herzegowina, formell noch Teil des Osmanischen Reichs, erst 1908 annektiert.
Doch ein Groteil der slawischen Bevlkerung mochte sich damit nicht abfinden, sondern wollte
lieber zum benachbarten Serbien gehren.
Dass die Terroristen keinen Rckhalt in der serbischen Regierung hatten, war damals nicht klar, denn ihre Waffen
stammten von Mitgliedern des serbischen militrischen Geheimdienstes. Die Fhrung sterreich-Ungarns war zu
diesem Zeitpunkt gespalten. Das Auenministerium hatte zuvor das Gewicht der Doppelmonarchie auf dem Balkan
durch ein Bndnis mit Bulgarien, der Generalstab durch einen Krieg mit Serbien wiederherstellen wollen. Das Aftentat
lie das Auenministerium auf die Militrlinie einschwenken und mit Franz Ferdinand verloren die Gemigten
ironischerweise einen ihrer mchtigsten Frsprecher.
Leopold Berchtold, der Auenminister, sandte seinen Kabinettschef Alexander von Hoyos nach Berlin, um den
Beistand Deutschlands zu sichern. Denn sollte sterreich-Ungarn das Attentat fr einen Krieg mit Serbien ausnutzen,
wrde Russland, sterreich-Ungarns Rivale auf dem Balkan, sich wahrscheinlich hinter die Serben stellen. sterreichUngarn also brauchte Deutschland, um Russland abzuschrecken.
Hoyos berbrachte dem deutschen Kaiser einen Brief von seinem Kaiser, dem greisen Franz Joseph. Das Schreiben
wurde Kaiser Wilhelm II. am Sonntag, dem 5. Juli, vom sterreichisch-ungarischen Botschafter beim Gabelfrhstck
bergeben. Kaiser Wilhelm trat unmissverstndlich dafr ein, dass Wien handeln msse und dies auch in der Gewissheit
tun knne, dass Deutschland hinter ihm stehe.
Am Nachmittag desselben Tages berief er einen Kronrat ein, an dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg
und Kriegsminister Erich von Falkenhayn teilnahmen, ferner Arthur Zimmermann als Stellvertreter des Auenministers,
der auf Hochzeitsreise war. Generalstabschef Helmuth von Moltke der Jngere, Neffe des Kriegshelden der deutschen
Einigung, war gleichfalls abwesend; er kurte gerade in Karlsbad.
Der Kronrat stimmte dafr, die sterreichisch-ungarischen Bemhungen zu untersttzen, einen Balkan-Bund mit
Bulgarien zu etablieren; was sterreich-Ungarn mit Serbien machte, war seine Angelegenheit, doch wrde Deutschland
beistehen, falls Russland intervenieren sollte. Dies war der so genannte Blankoscheck (neriboti galiojimai). Wien hatte
ihn verlangt, und Wien wollte ihn einlsen
Fr die restliche Welt aber zhlte nur, dass Berlin ihn ausgestellt hatte. Die Auenminister in
St. Petersburg und London konnten sich nicht vorstellen, dass das schwache, zerfallende Osterreich-Ungarn handelte,
ohne dass Deutschland die Fden zog und berschtzten auf groteske Weise den deutschen Entscheidungsprozess.
Die Teilnehmer am Kronrat legten eine Sorglosigkeit an den Tag, die mehr an grobe Fehlkalkulation als an einen groen
Plan gemahnte, mehr an Pfusch als an Verschwrung. Kriegsminister Falkenhayn unterrichtete Moltke schriftlich ber
die Vorgnge, schrieb, eine eilige Rckkehr sei nicht ntig, und nahm Urlaub.
Am 23. Juli bergab der sterreichisch-ungarische Botschafter in Belgrad das Ultimatum seines Landes an Serbien. Es
war in einem Stil verfasst, der eher geeignet war zu provozieren als zu beschwichtigen. Den Serben wurden 48 Stunden
fr ihre Antwort gewhrt.
Bis zu diesem Zeitpunkt hegte kaum einer in Europa groe Sympathie fr die Serben, die man
fr einen blutrnstigen Haufen hielt, und wie die sterreichisch-ungarische Fhrung glaubten
viele, dass Serbien tatschlich hinter dem Mordanschlag auf. Franz Ferdinand steckte. Doch die
Serben konterten klug: Sie akzeptierten die meisten Forderungen des Ultimatums auer
denen, die ihre nationale Souvernitt direkt verletzten.
Innerhalb zweier Tage schwenkte die Meinung in Europa zu Gunsten Belgrads um. Serbien erhielt Untersttzung von
Russland. Der russische Ministerrat drngte am 24. Juli beide Seiten zur Vershnung, sagte jedoch gleichzeitig zu, vier
Militrdistrikte fr eine Mobilmachung vorzubereiten. In seinem Bemhen, die Schuld fr den Krieg umzuverteilen,
machte Deutschland spter viel Aufhebens von Russlands Mobilmachung.
Sechs Tage vergingen, bevor Russland sich am 30. Juli zur Generalmobilmachung entschloss da standen
sterreich-Ungarn und Serbien schon im Krieg. Fr Russland bedeutete Mobilmachung noch nicht Krieg. Seine
Ausdehnung und der schlechte Zustand des Eisenbahnnetzes machten eine Mobilmachung zu einem langwierigen Vorgang: Das Erreichen der vollen Sollstrke von 95 Divisionen dauerte drei Monate.
Fr Deutschland aber bedeutete die Mobilmachung sehr wohl Krieg: Hier war ein weiteres Argument, mit dem sich
der Vorwurf der Kriegsschuld festklopfen lie.
Dank seiner zentralen Lage in Europa hatte Deutschland im Westen und Osten exponierte Landesgrenzen. Das war
auch der Grund, weswegen Bismarcks Generalstabschef Moltke der ltere 1871 von Frankreich die Abtretung ElsassLothringens gefordert hatte: Dessen Hhenzge bildeten eine strategische Barriere gegen eine franzsische Invasion
Sddeutschlands.

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Russland war mit Frankreich verbndet, und 1914 konnten beide Gromchte zusammen beinah doppelt so viele
Mnner aufbringen wie Deutschland. Die deutschen Kriegsplne mussten sich mit dieser Zwei-Fronten-Gefahr
befassen. Der Generalstab dirigierte den Groteil seiner Streitkrfte zuerst nach Westen. Im Osten baute er auf ein
kleines deutsches Heer in Ostpreuen und die sterreichisch-ungarische Armee in Galizien, um die Russen so lange
aufzuhalten, bis der Sieg im Westen es erlaubte, Truppen wieder nach Osten zu verlegen.
Zahlenmige Unterlegenheit und geografische Lage bedeuteten, dass im Kriegsfall Deutschland nicht einfach in der
Defensive bleiben konnte: Es musste entschlossen handeln und angreifen.
Am 30. Juli durchkreuzten diese militrischen Notwendigkeiten die politischen Prioritten in Berlin. Moltke, aus dem
Urlaub zurck, erklrte seinem sterreichisch-ungarischen Kollegen Franz Conrad von Htzendorf, Wien msse gegen
Russland, nicht gegen Serbien mobilmachen, und abends ntigte er dem Reichskanzler die Zusage ab, am folgenden
Tag eine Entscheidung ber die Mobilmachung Deutschlands zu fllen. Am 31. Juli forderte Deutschland Russland auf,
die Mobilmachung zu beenden, am 1. August machte Deutschland selbst mobil und erklrte Russland den Krieg.
Frankreich mobilisierte am selben Tag und erfllte damit seine Verpflichtung Russland gegenber, in vollem
Bewusstsein, dass der deutsche Krieg mit einem Vorsto im Westen beginnen wrde.
Die britischen Verpflichtungen Frankreich und Russland gegenber waren lange nicht so bindend wie die zwischen
Frankreich und Russland jedenfalls nach Ansicht Londons. Da seit dem anglo-franzsischen Flottenabkommen von
1912 der Schutz der nordfranzsischen Kste der Royal Navy oblag, waren die Franzosen besonders erbost ber das
Zgern Grobritanniens. Eingedenk der britischen berzeugung, dass das Verhalten sterreich-Ungarns mehr von
Berlin als von Wien gesteuert werde, schlug der britisehe Auenminister Sir Edward Grey am 26. Juli 1914 vor,
Grobritannien und Deutschland sollten eine internationale Konferenz einberufen, um den Konflikt zu schlichten.
Bethmann Hollweg verwarf den Gedanken und bemerkte, die Sache gehe allein sterreich-Ungarn an. Briten, die wie
Grey strategisch dachten, glaubten dem Reichskanzler nicht. Als Kriegsgrund reichte dies nicht aus. Die liberale
Regierung brauchte einen liberalen Grund fr die Beteiligung an einem kontinentalen Konflikt. Den lieferte
Deutschland am 3. August mit dem Einmarsch in Belgien. Den Uberfall auf Belgien sah die deutsche Fhrung als einfachsten Zugang nach Frankreich an und zugleich als Mglichkeit, das franzsische Heer von Norden her zu umfassen.
Grobritannien war nicht verpflichtet zu intervenieren, um die Neutralitt Belgiens zu schtzen: Gem dem Vertrag
von 1839 war dies eine gemeinschaftliche Verpflichtung, die allen europischen Gromchten auferlegt war,
einschlielich Preuen. Doch Belgien war ein viel besseres Symbol als Serbien. Nun machte sich London fr die
Vorherrschaft des internationalen Rechts und fr die Rechte der kleinen Nationen stark. Deutschland wurde zur Bestie
Europas, zum Zerstrer der Zivilisation und zum Schlchter unschuldiger Zivilisten.
Diese Darstellung der Juli-Krise 1914, so selektiv sie ist, soll zwei sich wechselseitig verstrkende Merkmale
herausarbeiten:
Erstens, die Ereignisse folgten zeitlich auerordentlich dicht aufeinander. Kaum mehr als ein Monat lag zwischen
dem Mordanschlag auf Franz Ferdinand und Grobritanniens Kriegseintritt, kaum eine Woche zwischen dem
Ultimatum sterreich-Ungarns an Serbien und dem Deutschlands an Russland.
Das brgerliche Europa machte weitgehend Ferien; wer daheim geblieben war, fhlte sich nicht in Bedrngnis. Als
Folge davon hinkte man hinter den Ereignissen her, als sich die Krise offenbarte. Nicht ein fhrender Politiker erfasste
das Geschehen. Dies war das zweite Merkmal.
In den zwanziger Jahren bestand Deutschlands Antwort auf die Frage nach der Kriegsschuld darin, die Debatte auszuweiten. Deutsche Historiker, vom Auenministerium mit Dokumenten versorgt, richteten nun ihr Augenmerk von den
kurzfristigen Grnden den Ereignissen im Juli 1914 auf die langfristigen Faktoren.
Nach den Napoleonischen Kriegen hatten sich die Europer darauf geeinigt, Spannungen zwischen den Gromchten
durch Kongresse einvernehmlich zu lsen. Doch mit der Einigung Deutschlands 1871 war im Herzen Europas ein
mchtiger neuer Staat entstanden, und dem Kontinent war es schwer gefallen, sich darauf einzustellen. Von nun an
beruhte die Sicherheit der europischen Staaten weniger auf Einvernehmen (abipusis susitarimas) als auf Allianzen:
1879 verbndete sich Deutschland mit sterreich-Ungarn, 1894 Frankreich mit Russland. Italien suchte 1882 Anschluss
an die Deutschen und sterreicher und erweiterte die Allianz zum Dreibund; Grobritannien bildete 1904 die Entente
cordiale mit Frankreich und erreichte 1907 einen Interessenausgleich mit Russland.
Europa lie zu, dass diese Bndnisse, gedacht zur Stabilisierung des Kontinents, sich verfestigten, jede Seite warf der
anderen blere Motive vor, als real vorhanden waren. Die Juli-Krise 1914 war kein isolierter Vorfall, sondern der letzte
in einer ganzen Kette. Begonnen hatte es damit, dass Frankreich, trotz seiner 1880 gegebenen Garantie fr Marokkos
Unabhngigkeit, seine Position in Marokko ausbaute. Deutschland hatte Frankreichs Vorgehen als gute Gelegenheit
genutzt, die anglo-franzsische Entente zu testen. Doch anstatt zu zerbrechen, wurde sie durch die erste marokkanische
Krise 1905 gefestigt. Europa stand damals kurz vor einem Krieg, so wie 1908/1909, nach der sterreichischungarischen Annexion Bosnien-Herzegowinas, und 1911, abermals wegen der franzsischen Ansprche in Marokko.
Der Erhalt und das Zerbrechen von Allianzen wurden zum Selbstzweck, wichtiger als die Wahrung des Friedens.
Folglich trug 1914 kein Staat besondere Schuld. Dieser Konsens, der sptestens in den dreiiger Jahren vorherrschte,
enthielt die grimmigste aller Ironien: Der Krieg, der fast zehn Millionen Soldaten das Leben kostete, sei das Ergebnis
von Missverstndnissen und Fehlkalkulationen.
Diese Interpretation focht der deutsche Historiker Fritz Fischer in den sechziger Jahren an und lste damit eine
heftige Kontroverse aus. Ihm zufolge war Deutschland schuldig, den Krieg im Juli 1914 nicht nur kurzfristig, sondern
auch langfristig verursacht zu haben.
Deutschland, argumentierte Fischer 1969 in seinem Buch Krieg der Illusionen, habe die Juli-Krise 1914 genutzt,
um einen Krieg vom Zaun zu brechen, der die deutsche Vorherrschaft auf dem Kontinent sichern sollte. Das habe die
deutsche Fhrung sowohl aus auenpolitischen Grnden als auch auf Grund innenpolitischer Zwnge die angebliche
Bedrohung durch den Sozialismus getan.

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Angelpunkt von Fischers Argumentation die Verbindung zwischen den Ereignissen im Juli 1914 und den wachsenden Spannungen zwischen 1871 und 1914 war die Sitzung des so genannten Kriegsrats, den der deutsche Kaiser
am.8. Dezember 1912 einberufen hatte. Zwei Monate zuvor, im Oktober 1912, hatten sich Montenegro, Serbien,
Bulgarien und Griechenland zusammengetan, um die Trken aus den Resten des Osmanischen Reiches auf dem Balkan
zu vertreiben.
Dies waren Hiobsbotschaften fr Deutschland und vor allem fr dessen Verbndeten Osterreich-Ungam. Als Vielvlkerreich mit Besitzungen auf dem Balkan konnte die Doppelmonarchie nur Schaden nehmen, wenn speziell Serbien
Hoffnungen auf die Grndung eines unabhngigen sdslawischen Staates schrte.
Hinter Serbien stand Russland mit seinen Liberalen, die eine panslawische Stimmung anfachten und durchaus zu
einem Krieg bereit waren, falls die sterreicher eingreifen sollten, um die Balkan-Staaten zu bndigen. Deutschland
wiederum untersttzte sterreich-Ungarn.
Was als Balkan-Krieg begonnen hatte, wuchs er sich nun zur europischen Krise aus. Am 3. Dezember 1912 erklrten
die Briten ihre Bereitschaft, Frankreich zu untersttzen, falls ein russisch-sterreichischer Krieg einen Angriff
Deutschlands auf den westlichen Verbndeten Russlands Frankreich nach sich ziehen sollte.
Wilhelm war ber Britanniens Intervention emprt. Er berief eine Konferenz seiner Militr- und Flottenchefs ein und
erklrte, sterreich-Ungarn solle in seiner harten Haltung Serbien gegenber bestrkt werden fr Fischer ein Beleg
dafr, dass die deutsche Fhrung seit 1912 den Krieg geplant hatte. Moltke sagte, folgt man den Aufzeichnungen von
Georg von Mller,
Chef des Marinekabinetts, ber die Sitzung des Kriegsrats, dass Krieg unvermeidlich sei, je eher er komme, umso
besser.
Wie andere in Deutschland auch war Moltke beunruhigt ber die latente Strke Russlands. Und was zwischen
Dezember 1912 und Juli 1914 geschah, war nicht dazu angetan, diese Befrchtungen zu beschwichtigen: 1913 stellten
die Russen ein Militrprogramm vor, wonach die russische Armee bis 1917 dreimal so gro werden sollte wie die
deutsche. Falls Moltke tatschlich glaubte, Deutschland und Russland wurden in naher Zukunft Krieg gegeneinander
fhren, dann musste er allerdings nach der Logik der deutschen Fhrung einen Prventivschlag fhren, bevor
Deutschland noch strker ins Hintertreffen geriet.
Der Kriegsrat war nicht wegen des Verhaltens Russlands, sondern wegen Grobritannien einberufen worden. Die
Lage der Marine htte daher folgt man Fischers Logik wichtiger sein mssen als die der Landstreitkrfte.
Bis 1911 waren deren Ausgaben auf 55 Prozent der Ausgaben fr das Heer angestiegen. Die Marine war ein
Instrument der Weltpolitik und wurde von ihrem Stammvater, dem Reichskanzler Bernhard von Blow, als Mittel nicht
nur der Auen-, sondern auch der Innenpolitik verstanden. Anders als die Armee (in ihrer Struktur noch immer
fderalistisch und von Preuen dominiert), war die Marine eine kaiserliche Teilstreitkraft, trotz ihrer aristokratischen
Bestrebungen kamen ihre Offiziere aus der Mittelschicht. Auftrge der Marine brachten Beschftigung fr die deutsche
Schwerindustrie, in schlechten wie in guten Zeiten. Allerdings wurde der Aufbau der Marine grtenteils durch Kredite
finanziert, mit dem Ergebnis, dass sich zwischen 1900 und 1908 die Staatsschulden fast verdoppelten.
Blow, der Vorgnger Bethmann Hollwegs, empfahl zur Finanzierung der Marine eine Erbschaftsteuer, doch stie er
damit die konservativen Landbesitzer derart vor den Kopf, dass er 1909 sein Amt niederlegen musste. Die Sozialisten
bevorzugten progressive Einkommensteuern, wollten deren Ertrge aber nicht in die Verteidigung flieen sehen; die
Rechte begnstigte Aufwendungen fr das Militr, wollte aber die finanziellen Folgen eines solchen Programms nicht
schlucken.
Die Situation war ausweglos, und laut Fischer glaubten die deutschen Eliten, ein Krieg knne das Dilemma beheben.
Doch trotz allen Aufwands war die Marine 1912 noch immer nicht gerstet fr einen Krieg. Groadmiral Alfred von
Tirpitz versicherte dem Kriegsrat, sie werde innerhalb von 18 Monaten bereitstehen bis Juni 1914.
Doch gegen Fischers These sprechen eine Reihe von Fakten.
1. Bei der Sitzung des Kriegsrats 1912 war Bethmann Hollweg nicht anwesend, aber im Juli 1914 war er der wichtigste
Mann in Berlin. Und Bethmann Hollweg wollte nicht Krieg, sondern Dtente. Im Winter 1912/1913 hatte er dem Kaiser
ein Tauschgeschft vorgeschlagen, um das Verhltnis zu England zu entspannen: Begrenzung des deutschen
Flottenausbaus gegen Grobritanniens Neutralitt in Europa.
2. Die Sitzung des Kriegsrats vom Dezember 1912 endete mit nur einem einzigen frmlichen Beschluss: Die deutsche
ffentlichkeit sollte auf einen Krieg mit Russland vorbereitet werden, Nichts weist darauf hin, dass irgendetwas
unternommen wurde, um diese Entscheidung umzusetzen, weder im Pressebro des Auenministeriums noch bei den
Zeitungen selbst.
3. Und schlielich: Wenn die Chefs der beiden Teilstreitkrfte meinten, Russland, nicht Grobritannien, stelle die
Hauptbedrohung dar, dann mussten sie die Armee ausbauen, nicht die Marine. Im Hinblick auf Infrastruktur und
Ausstattung aber war die Armee 1914 weniger kampfbereit als 1912: Reservekorps zogen in den Krieg, denen es an
eigener Artillerie, Luftuntersttzung und Transportmitteln mangelte.
Das Problem der militrischen Planungen war ein mglicher Zwei-Fronten-Krieg. Moltkes Vorgnger als Chef des
Generalstabs, Alfred von Schlieffen, hatte entschieden, mehr Gewicht auf die Westfront und die Umfassung der
franzsischen Armee zu legen. Der rechte deutsche Flgel sollte durch Belgien nach Frankreich marschieren. Kurz nach
seiner Pensionierung 1905 verfasste er ein entsprechendes Memorandum, das der Nachwelt als Schlieffen-Plan bekannt
wurde. Es war nicht der Plan, nach dem die deutsche Armee im August 1914 vorging, aber zwischen beiden bestanden
viele hnlichkeiten.
Schlieffens Memorandum hatte einen ganz anderen Zweck: Es sollte die Diskrepanz aufzeigen zwischen der
Aufgabe, die die deutsche Armee im Westen erledigen musste, und den Mitteln, die dazu vorhanden waren. Schlieffen
ging von einem Bedarf von 94 Divisionen aus und hatte kaum 60. Die Aufgabe seines Nachfolgers Moltke war es, die
Lcke zu schlieen.

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1912 wurde die deutsche Armee um 29 000 Mann aufgestockt, 1913 um 136 000.
Bis 1916 sollte die Armee um drei neue Armeekorps vergrert werden.
Moltke hatte 300 000 Mann gefordert. Der deutsche Generalstabschef und sein Kriegsminister dachten sogar an eine
echte allgemeine Wehrpflicht, doch Falkenhayn glaubte im Sommer 1914, diese knne erst ab 1916 schrittweise
eingefhrt werden und brauche bis zur vollstndigen Verwirklichung zehn Jahre.
Die deutsche Armee war also lngst nicht so kriegsbereit, wie Moltke im Kriegsrat am 8. Dezember 1912 suggeriert
hatte. Deutschland fehlten die Mittel fr einen langen Krieg, und Moltke wusste das. Sein Onkel prophezeite, dass ein
knftiger Krieg in Europa lange dauern wrde dank der europischen Bndnisstrukturen: Sollte ein Staat in wenigen
Wochen besiegt sein, wie sterreich i866 und Frankreich 1870, wrden ihm seine Verbndeten noch immer zu Hilfe
kommen. Die Kriege der deutschen Einigung waren deshalb kurz gewesen, weil sie mit einem Feldzug entschieden
wurden.
Wie sein Onkel erkannte der jngere Moltke, dass der nchste Krieg nicht durch einen einzelnen Feldzug gewonnen
wrde. Seine Aussagen zu diesem Thema waren realistisch, geradezu pessimistisch. Der deutsche Generalstab suchte
nach einer operativen Lsung, um aus den politischen und konomischen Unwgbarkeiten herauszukommen. Das
Ergebnis war eine Planung, die kaum weiter reichte als bis zur ersten Schlacht. 1913 folgte Moltke dieser Logik
bis zum Schluss, als er sich dagegen entschied, die Planung fr einen Krieg allein gegen Russland zu ber arbeiten;
stattdessen verlegte er das ganze Gewicht auf den Angriff im Westen. Ein europischer Krieg, sagte er im Februar 1913
zu Conrad von Htzendorf, werde nicht am Bug entschieden, sondern an der Seine. Moltke lie nur vier Armeekorps
zurck, die Ostpreuen vor einer russischen Invasion schtzen sollten. (Man hatte also nicht so viel Angst vor Russen)
Zudem koordinierte die deutsche Armee ihre Plne nie mit ihrem Hauptverbndeten sterreich-Ungarn.
Das Interesse an der Armee in den Jahren 1912 bis 1914 bedeutete indes nicht frmliche Aufgabe der Weltpolitik:
Politik auerhalb Europas spielte noch immer eine Rolle im Denken Bethmann Hollwegs.
Die Entente zwischen Frankreich, Russland und Grobritannien stellte eine Union der Gegenstze dar das
Bndnis einer Republik, einer Autokratie und einer konstitutionellen Monarchie. Die der Allianz innewohnenden
Widersprche traten besonders deutlich hervor, wo die Rivalitten ihrer Mitglieder am heftigsten ausbrachen in
Afrika und Asien.
Bethmann Hollweg wollte zwar Dtente ( tarpt. tampos mainimo), aber er hoffte auch, auereuropische Themen
nutzen zu knnen, um die unterschwelligen Spannungen innerhalb der Entente zu befrdern. England bestritt nicht
Deutschlands Anspruch auf einen Platz an der Sonne. Es war bereit, sich mit Berlin ber das Schicksal der portu giesischen Kolonien in Afrika auseinander zu setzen, und beide, England und Russland, einigten sich mit Deutschland
ber die Berlin-Bagdad-Bahn, so dass alle Beteiligten zufrieden waren.
Doch Bethmann Hollweg kam zu spt. Die kaiserliche Politik konnte zu keiner Dtente fhren, weil sie nicht lnger
von der europischen Politik getrennt war.
Daran war Deutschland selbst schuld. Die Abmachungen, die Grobritannien 1904 mit Frankreich und 1907 mit
Russland getroffen hatte, waren bilaterale Abkommen, die koloniale Auseinandersetzungen schlichten sollten.
1904 hatte Grobritannien seine Position in Nordafrika, vor allem in Agypten, ausgebaut, 1907 seine Sicherheit in
Asien, vor allem in Indien, abgesttzt. Also konnte Grobritannien seinen Verbndeten in Europa nicht untreu werden,
ohne sein Empire zu gefhrden. Die Deutschen interpretierten das als Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit.
Auf Grund der geografischen Lage der Krisenherde in den Jahren 1911/12 waren die imperialen wie die europischen
Interessen der Gromchte gleichermaen berhrt. Die Konflikte lagen alle im Mittelmeerraum, im Norden in Europa,
im Osten in Asien und im Sden in Afrika. Die Rivalitten in Nordafrika waren eine direkte Folge des Zerfalls des
Osmanischen Reichs, das sich ber mehr als einen Kontinent erstreckte. Im September 1911 nutzte Italien die
Ansprche Frankreichs in Marokko aus, um der Trkei den Krieg zu erklren und Libyen an sich zu reien, das noch
zum Osmanischen Reich gehrte. 1912 nahmen die Balkan-Staaten die Gelegenheit wahr, die der trkische Krieg mit
Italien bot, um die osmanische Herrschaft ber Sdosteuropa zu beenden.
Der Krisenbogen, der entlang der Kste des stlichen Mittelmeers verlief, machte zwei bergreifende Phnomene
deutlich, die beide die Idee eines durch konzertierte Konfliktbewltigung stabilisierten Europas untergruben.
Die in Libyen und auf dem Balkan stattfindenden Kriege wurden von kleineren Nationen gefhrt, die auf die
Gromchte Einfluss nehmen konnten, indem sie deren wachsende Uneinigkeit ausnutzten. Nirgends war dies deutlicher
als auf dem Balkan. Bis zur Bosnien-Krise von 1908/1909 hatten sterreich-Ungarn und Russland ihre gemeinsamen
Interessen in der Region einigermaen austariert (suderinti, ilyginti) und so fr ein gewisses Ma an Stabilitt gesorgt.
1908 jedoch erklrte Russland, sterreich-Ungarn habe eigenntzige Ziele in Bosnien verfolgt, ohne Rcksicht auf den
russischen Anspruch auf Konstantinopel und die Meerenge, der durch den Niedergang des Osmanischen Reichs
begnstigt wurde. Die Feindseligkeit, die St. Petersburg gegen Wien hegte, wurde von Serbien ausgenutzt. Auf diese
Weise lenkten Belgrad und Sofia und Athen 1912 das Ganze nach ihrem Willen.
War der wachsende Einfluss der kleinen Balkan-Staaten das erste Phnomen, so war das zweite der Niedergang der
drei multinationalen Imperien, die Interessen in der Region verfolgten. 1914 war die wichtigste Macht von ihnen nicht
Russland oder die Trkei, sondern sterreich-Ungarn. Um zu verstehen, warum der Erste Weltkrieg ausbrach, ist es
erforderlich,
Fritz Fischers Fixierung auf Deutschland zu berwinden und den Blick abermals auf die Doppelmonarchie zu richten.
1. Die Verbindung zwischen Innen- und Auenpolitik war fr Osterreich-Ungarn viel unmittelbarer als fr
Deutschland. Im Heer, sichtbarstes Symbol der Reichseinheit, waren zwlf Nationalitten vertreten. Zwei davon
gehrten zu ethnischen Gruppen, die gleichzeitig unter russischer Herrschaft standen Polen und Ukrainer; fnf
teilten Sprache und Kultur mit unabhngigen Staaten, die an den Reichsgrenzen lagen Rumnen, Serben, Kroaten,
Bosnier, Italiener und Deutsche. Am gefhrlichsten war Serbien, das sein Territorium in den beiden Balkan-Kriegen von
1912 und 1913 verdoppelte und das einen von Wien unabhngigen sdslawischen Staat anstrebte.

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2. sterreich-Ungarn suchte nach einer Gelegenheit, um sein Ansehen auf dem Balkan wiederherzustellen und dabei
die gngige Meinung zu widerlegen, es sei ein dem Untergang geweihtes Gemeinwesen. Kaiser Franz Joseph wrde
nicht mehr lange leben, und mit seinen Erben hatte er kein groes Glck. Lange vor der Ermor dung seines Neffen Franz
Ferdinand hatte sein Sohn Rudolf Selbstmord begangen. Sein nach dem Mord von Sarajevo als Kaiser-Nachfolger
ausersehener Groneffe Karl war erst Mitte zwanzig.
3. Unter den Gromchten verfgte sterreich-Ungarn zudem ber die am schlechtesten ausgerstete Armee. Sie
mochte fr einen Balkan-Krieg taugen, doch keinesfalls fr einen europischen Krieg oder fr einen, der an mehr als
einer Front stattfand.
Die mageblichen Grnde fr den nach dem Sarajevo-Attentat von Berlin ausgestellten Blankoscheck fr einen
Krieg lagen denn auch weniger in der Motivation Deutschlands als in der Osterreich-Ungarns. Wien war entschlossen,
den dritten Balkan-Krieg zu entfachen, um seine Position als regionaler Machtfaktor zu sichern und nationale
Unabhngigkeitsbestrebungen niederzuhalten.
4. Mehr noch als Moltke war Conrad von Htzendorf ein Advokat des Prventivkrieges. Er hatte Serbien schon
whrend der bosnischen Krise bekmpfen wollen; allein 1913 forderte er 25-mal Krieg mit Serbien.
Zwei Faktoren hatten ihn zurckgehalten.
a) Zum einen das Auenministerium, das auf Verstndigung am Konferenztisch setzte. Doch 1912 und 1913
hatten internationale Schlichtungen die kleineren Balkanstaaten begnstigt, nicht sterreich-Ungarn. Deshalb
verwarf Wien am 26. Juli 1914 Greys Vorschlag, den Konflikt durch Einberufung einer internationalen
Konferenz friedlich beizulegen.
b) Der zweite Faktor war Deutschland. 1912 und 1913 hatten die Deutschen sterreich-Ungarn gegen Serbien nur
halbherzig untersttzt. Nach Sarajevo sicherten sie ihren Beistand zu, Wien musste handeln, solange es konnte.
Zu behaupten, die Politik sterreich-Ungarns sei ausschlaggebend gewesen fr die Juli-Krise, ist allerdings keine
Antwort auf ein viel komplexeres Problem die Frage nmlich, warum Deutschland 1914 den Blankoscheck
berhaupt ausstellte, whrend es 1912 und 1913 einen vergleichbaren Beistand verweigert hatte. Die Erklrung, dass
Deutschland sich eingekreist fhlte, dass Osterreich-Ungarn sein einzig verlsslicher Verbndeter und dass die Welt ein
bedrohlicher und gefhrlicher Ort war, greift zu kurz. Htte Deutschland seinen Beistand verweigert, wre der Dreibund
vielleicht geschwcht worden, aber nicht zerbrochen: Es gab keine andere Gromacht, an die sich Osterreich-Ungarn
htte wenden knnen.
Und auch das Verhalten des Kaisers beantwortet die Frage nicht. Vielleicht hat Wilhelm II. am 5. Juli mit starken
Worten auf die sterreichisch-ungarische Delegation reagiert, doch seine Stimmungsschwankungen waren berchtigt.
Seit der Affre um seinen wichtigsten Berater Philipp von Eulenburg, der 1907 der Homosexualitt bezichtigt wurde,
war seine Autoritt geschwcht. Nach der Sitzung des Kronrats vom 5. Juli 1914, in der die Politiker und Militrs
Deutschlands Politik abgesegnet hatten (palaimino), brach er zu einer Kreuzfahrt nach Norwegen auf und kehrte erst am
27. Juli in die Hauptstadt zurck.
Whrend dieser Zeit hielt Bethmann Hollweg, ein durch den Tod seiner Frau wenige Wochen zuvor gebeugter Mann,
die Zgel in der Hand, doch er zog sie nicht an. Er verfolgte eine Politik, die in sich logisch war die Allianz
zwischen Grobritannien, Frankreich und Russland zu zerbrechen: Russland wrde wahrscheinlich Serbien sttzen,
dann wrde vielleicht Frankreich Russland nicht beistehen und Grobritannien sich daher entschlieen, keinem von
beiden zu helfen.
1914 nahm Bethmann Hollweg das Risiko auf sich, dass aus einem Balkan-Krieg ein europischer Krieg entstehen
wrde. Welche Politik betrieb er?
1. Er redete sich ein, selbst wenn sterreich-Ungarn handeln sollte, werde Russland unttig bleiben. Die Angst, der
Krieg wrde eine Revolution nach sich ziehen weit verbreitet in Europa, sa in Russland tief.
2. Einige von denen, die 1914 die Politik bestimmten, mochten auch berzeugt sein, dass der Krieg rasch vorbei sein
werde, wie die Kriege von 1866 und 1870. Bethmann Hollweg glaubte nicht daran. Schon 1913 redete er davon, ein
knftiger Krieg werde ein Weltkrieg sein.
3. Zugleich hoffte der deutsche Kanzler, Schreckensvisionen von den Kriegsfolgen wrden Russland davon abhalten,
sich auf einen Krieg einzulassen.
Er hatte sich verkalkuliert. Am 29. Juli teilte Grey Deutschland unmissverstndlich mit, Grobritannien werde sich
nicht heraushalten. Konfrontiert mit der Mglichkeit eines Weltkriegs, versuchte Bethmann Hollweg, die Krise vor der
Eskalation zu stoppen: Tags darauf forderte er sterreich unter der Devise Halt in Belgrad zur Vermittlung auf
und annullierte damit den Blankoscheck, wie von Wien befrchtet.
Es war zu spt. Der Balkan-Krieg, von sterreich-Ungarn gewollt, hatte schon begonnen. Dass er nicht eingedmmt
werden konnte, lag zum Teil an den langfristigen Faktoren.
1. Wechselseitiger Argwohn hatte wechselseitige Paranoia geschrt.
2. Die Franzosen frchteten die latente Bedrohung durch ihre deutschen Nachbarn
3. Die Briten zitterten vor einer deutschen Invasion.
4.Deutschland wiederum redete sich ein, dass die britische Marine einen Prventivschlag gegen die deutsche Flotte
fhren werde, whrend die vor Anker lag, dass die Franzosen sich fr den Verlust Elsass-Lothringens rchen wollten
und dass Russland, Bannertrger der asiatischen Barbarei, Ostpreuen berrennen werde.
Diese ngste erklren die Juli-Krise nicht, erhellen aber deren Vorbedingungen.
Als der Krieg erst einmal begonnen hatte, fhrten ihn alle Seiten nicht aus Grnden der imperialistischen
Aggression, sondern zur nationalen Selbstverteidigung. Letztlich war es dieses Bewusstsein, das die Brger der
Krieg fhrenden Nationen dazu brachte, die schwere Brde zu tragen, die ihre Regierungen ihnen auferlegten. Solcher
Meinung ist z.B. Hew Strachan, Professor fr Militrgeschichte an der Oxford-Universitt.

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3. Die Westfront
DAS GROSSE STERBEN
Innerhalb weniger Tage rckten die deutschen Truppen durch Belgien nach Frankreich vor. Doch die Offensive
scheiterte an der Marne, die Gegner gruben sich ein. Fast vier Jahre lang dauerte der zermrbende Stellungskrieg, der
Millionen Soldaten das Leben kostete.
Der Befehl, der das bis dahin unvorstellbare Schlachten mit der Unerbittlichkeit eines Uhrwerks in Gang setzte, kam im
Morgengrauen des 4. August. Es war ein Dienstag, als in der Frhe deutsche Ulanen der 2. und 4. Kavalleriedivision zu
Pferde auf holprigen Feldwegen in der Nhe von Aachen ber die belgische Grenze galoppierten.
Die Reiter bildeten die Vorhut der Kampfgruppe, die im Handstreich Lttich nehmen sollte jene Festung, die im
Norden das wichtigste Einfallstor von Deutschland nach Frankreich sicherte und deren schnelle Eroberung der
Schlssel zur Verwirklichung des gesamten deutschen Kriegsplans war.
Erst am Abend zuvor hatte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg Frankreich den Krieg erklrt. Wie erwartet, hatte die Regierung in Paris die groteske deutsche Forderung abgelehnt, ihren russischen Verbndeten allein zu
lassen, sich aus dem bevorstehenden Kampf herauszuhalten und als Unterpfand ihrer Neutralitt die Festungen Toul und
Verdun zu bergeben.
Schon vorher hatte auch Belgiens Knig Albert ein Ultimatum zurckgewiesen. Generalstabschef Helmuth von
Moltke, der Neffe des groen preuischen Feldmarschalls aus dem Krieg 1870/71, verlangte von Brssel freien
Durchmarsch fr die deutschen Truppen. Obwohl Knig Albert wusste, was seinem kleinen Land drohte, gab er auf die
schbige deutsche Note die einzig mgliche Antwort: Wenn die belgische Regierung die ihr bermittelten Vorschlge
annehmen wrde, wrde sie sich gegen die Ehre der Nation vergehen und Belgiens Pflichten gegenber Europa
verraten.
Noch bevor der erste Schuss gefallen war, hatte das Deutsche Reich das Odium des Vlkerrechtsbruchs auf sich
genommen und seinen Gegnern damit einen triftigen Grund geliefert, der kaiserlichen Regierung die Kriegsschuld
endgltig zuzuweisen.
Die Ulanen mit ihren langen Lanzen und den typischen Helmen ritten unbekmmert voran. Auf Widerstand stieen
sie nicht, nirgendwo bekamen sie belgische Soldaten zu sehen. Am spten Vormittag rckte eine Schwadron in die kleine Ortschaft Battice an der Strae nach Lttich ein. Da peitschten pltzlich Schsse durch die Stille des wie verlassen
daliegenden Dorfes; sie mussten aus einem der Gehfte gekommen sein. Drei, vier Deutsche strzten getroffen aus dem
Sattel vermutlich die ersten Opfer dieses Krieges.
Die Ulanen bekamen Battice schnell unter Kontrolle. Sie stellten fest, dass sich
keine feindlichen Soldaten in dem Ort befanden. Also mussten sie von Zivilisten beschossen worden sein von
Partisanen, Franktireuren. Die Eindringlinge trieben die Bewohner von Battice aus ihren Husern und brannten das
Dorf nieder.
So folgten auf die ersten Gefallenen ohne Verzug die ersten Kriegsverbrechen: Die deutsche Armee, die sich Gott
empfohlen hatte und nach ihrem Selbstverstndnis im Gedanken einer ritterlichen und humanen Kriegfhrung erzogen
worden war, trug bereits in den ersten Stunden des Waffengangs Terror, Brand und Mord ins Feindesland.
Als die Sonne an jenem 4. August unterging, hatten die deutschen Kavallerieverbnde bei Vis die Maas erreicht. Der
Kampf um die Flussbergnge begann. Im Grenzraum waren alle Straen, die von Osten, Sden und Norden her auf
Lttich zuliefen, mit Marschkolonnen in Feldgrau voll gestopft.
Am selben Abend, um 23 Uhr Londoner Zeit, erfolgte Grobritanniens Kriegseintritt als unmittelbare und
zwangslufige Reaktion auf die Missachtung der durch internationale Vertrge garantierten belgischen Neutralitt.
Kaiser Wilhelm II., zum ersten Mal von dunklen Vorahnungen erfllt, beklagte sich bei Moltke: Das habe ich gleich
gedacht. Mir hat dieses Vorgehen gegen Belgien den Krieg mit England auf den Hals gebracht.
Doch der deutsche Generalstab gehorchte sklavisch einem unabnderlichen Plan, der in seinen Grundzgen lange vor
Kriegsausbruch von Moltkes Vorgnger Alfred Graf von Schlieffen konzipiert worden war. Die deutsch-franzsische
Grenze in Elsass-Lothringen war nur etwa 250 Kilometer lang, fast die Hlfte davon wurde durch das natrliche Hindernis der Vogesen gedeckt. Die Festungen von Belfort, Epinal, Toul und Verdun verriegelten die Lcken in dieser
Kette, so dass ein frontaler Durchbruch kaum mglich schien.
Schlieffen wollte deshalb die linke franzsische Flanke in einem weit ausholenden Bogen umgehen. Der deutsche
rechte Flgel, der durch die neutralen Lnder Belgien und Luxemburg
um den damals deutschen Angelpunkt Metz herum einschwenken sollte, musste so stark wie mglich sein: 79 Divisio nen hatte Schlieffen dafr vorgesehen, whrend die restliche deutsche Front von Metz bis zur Schweizer Grenze nur
von 13 Divisionen, einigen Landwehreinheiten und den Garnisonen in Metz und Straburg gehalten werden sollte.
Von Anfang an war sich der deutsche Generalstab ber das enorme Risiko und die logistischen Schwierigkeiten
dieser Strategie im Klaren. Denn Schlieffen und Moltke zweifelten, ob sie ber so viele Truppen verfgten, wie zur
Verwirklichung ihres Plans ntig gewesen wren. Die deutsche Armee, die an mehreren Fronten kmpfen musste, war
der franzsischen, die es lediglich mit einem einzigen Gegner zu tun hatte, keineswegs massiv berlegen.
Doch Schlieffen und der schwermtige Moltke hatten nach dem Eindruck ihrer Umgebung etwas von Fatalisten. Sie
lieen dem Schicksal, das schon bald zum Verhngnis werden sollte, seinen Lauf im Vertrauen darauf, dass die
Fhrungsqualitt des deutschen Offizierskorps, die Disziplin und der Kampfesmut des Heeres jeden Gegner ausstechen
wrden.
Zumindest an der Opferbereitschaft der jungen Deutschen gab es keine Zweifel, wie sich in den ersten Tagen vor
Lttich herausstellte. Der belgische Festungskommandant, General Girard Leman, lie seine mobile Infanterie zwischen
den zwlf Forts in Stellung gehen, wo sie sich eingrub. Die vorrckenden deutschen Kolonnen gerieten in verheerendes

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Feuer die grauen Massen gaben ein unverfehlbares Ziel ab, die Verteidiger brauchten nur in den Haufen
hineinzuhalten.
Singend, wie wenig spter bei Langemarck in Flandern, strmten die Deutschen vor, whrend ringsum ihre Kameraden fielen. Sobald eine Angriffswelle niedergemht war, bildete sich die nchste, ohne viel an Boden zu gewinnen.
Die furchtbaren Verluste und die Hartnckigkeit der Deutschen verleiteten General Leman zu einem Fehlschluss: Er
berschtzte die Strke der Angreifer. Um seine mobilen Truppen zu retten, schickte er sie zurck nach Westen, damit
sie sich dem Rest der belgischen Armee anschlieen konnten. Damit war die Festung Lttich zum Untergang verurteilt.
Am 7. August fuhr der deutsche Brigadekommandeur Erich Ludendorff, nur begleitet von einem Adjutanten, zur
Zitadelle der Festung. Die schweren Tore waren verschlossen. Ludendorff, so zumindest ging es in die Geschichte ein,
schlug mit dem Knauf seines Degens dagegen, bis von innen geffnet wurde. Ein paar hundert belgische Soldaten ergaben sich.
Dann fhrten die Deutschen die ersten Wunderwaffen dieses Krieges heran: riesige Belagerungsgeschtze, von
sterreich geliehene Skoda-Mrser vom Kaliber 30,5 Zentimeter und Krupp-Geschtze vom beispiellosen Kaliber 42
Zentimeter. Deren Granaten lieen die Betonkuppeln der Ltticher Befestigungswerke aufplatzen wie Krbiskpfe.
Der deutsche Vormarsch, den der Widerstand von Lttich kaum verzgert hatte, hinterlie in Belgien eine Spur der
Verwstung. In den kleinen Stdten Andenne, Seilles, Tamines und Dinant massakrierten die Besatzer Zivilisten, nicht
nur Mnner, auch Frauen und Kinder: 211 Tote in Andenne, 384 in Tamines, 612 in Dinant. Die Geiseln wurden auf
dem Hauptplatz zusammengetrieben und erschossen; berlebende machten die Soldaten keineswegs
Sondereinsatztruppen, sondern ganz normale Wehrpflichtige mit dem Bajonett nieder.
Drei Tage lang brannte die Universittsstadt Lwen, das belgische Oxford, ein Kleinod an Architektur, Kunstund Bcherschtzen. berall whnten die Deutschen Franktireurs verborgen, die zumeist nur in ihrer Einbildung
existierten. Am Ende ihres Wtens hatten sie die Universittsbibliothek mit 230 000 Bchern und 1100 Gebude
zerstrt; 209 Zivilisten kamen ums Leben, die 42 000 Einwohner der Stadt wurden davongejagt.
Vor den Augen der Welt hatte sich die groe deutsche Kulturnation, deren Professoren und Studenten sich als
Speerspitze des Patriotismus empfanden, unwiderruflich disqualifiziert. Gegen das Bild vom mordenden und
plndernden Hunnen hatte jetzt Frankreich Recht, Moral und Zivilisation auf seiner Seite.
Dabei schien doch der von Moltke abgenderte Schlieffenplan zunchst alle Erwartungen zu erfllen. Mit ihrer 1., 2.
und 3. Armee unter dem Oberbefehl der Generle Blow, Kluck und Hausen rckten die Deutschen in Gewaltmrschen
von bis zu 30 Kilometer am Tag durch Belgien vor. Franzsische Offensiven in Lothringen, den Ardennen und im Elsass wurden abgeschlagen. Reihenweise entlie der franzsische Oberbefehlshaber Joseph Joffre in diesen ersten Wochen unfhige Generle und Kommandeure. Nun rchte sich, dass die Franzosen bei der Mobilmachung Reserveoffiziere ohne Rcksicht auf ihr Alter einberufen hatten vorausgesetzt, sie konnten sich einigermaen gerade zu
Pferde halten.
Die Armeen, die da aufeinander prallten, waren wie zu Zeiten Kaiser Napoleons in ihrer Beweglichkeit abhngig von
Pferden. Ein Tier auf drei Mnner veranschlagten die Fachleute in den Generalstben. Die Deutschen requirierten 715
000 Pferde, und selbst die kleine britische Armee rekrutierte 165 000 Tiere, die im Geschtzfeuer alsbald genauso
massenhaft starben wie die Soldaten.
Knapp 30 Kilogramm an Waffen, Munition und Ausrstung schleppten die Mnner, oft genug mit blutenden Fen in
steifen Stiefeln, durch die sommerliche Hitze. Wie sich rasch herausstellte, machte den Franzosen ein ganz besonderes
Handicap (neigiamas efektas) zu schaffen: Ihre veralteten Uniformen blauer Rock ber roten Hosen gaben in der
hellen Augustsonne auf weite Entfernung prchtige Zielscheiben ab. Im Kochgeschirr, das sie oben auf dem Tornister
trugen, blinkte verrterisch das Licht, was einem jungen deutschen Leutnant namens Erwin Rommel Gelegenheit gab,
mit przisem Feuer eine groe Zahl von Franzosen in einem Getreidefeld zu tten. Mitten im Krieg musste die franz sische Armee in aller Hast umrsten.
Vor der deutschen Walze traten Joffres Soldaten berall den Rckzug an. Doch sie wehrten sich mit dem Mut der
Verzweiflung. Typisch die Meldung, die General Ferdinand Foch an der Spitze der 9. Armee am 8. September 1914
verfasste: Mein Zentrum gibt nach, mein rechter Flgel weicht zurck, Lage ausgezeichnet. Ich greife an.
Zwischen dem 15. August und dem 10. September 1914 hatte die franzsische Armee 250 000 Soldaten eingebt
Tote, Verwundete und Vermisste. Der Krieg schien verloren, Frankreich war besetzt bis zur Marne. Drei deutsche
Armeen bewegten sich auf Paris zu. Die Regierung setzte sich nach Bordeaux ab, Stadtkommandant Gallieni bereitete
die Sprengung des Eiffelturms und der Seine-Brcken vor.
Da geschah, was bis heute alle franzsischen Schulkinder als Wunder an der Marne lernen. Ein Opfer ihres eigenen
Erfolgs und des schnellen Vorstoes, hatten die Deutschen zwischen der 1. Armee unter General von Kluck und der 2.
Armee unter General von Blow eine gefhrliche Bresche von 40 Kilometer Breite entstehen lassen. Franzosen und
Briten konnten ungehindert in die eher zufllig entdeckte Lcke hineinstoen, was mglicherweise zu einer
Katastrophe fhren konnte, wie Blow erkannte.
Joffre zog sofort seine verfgbaren Reserven zusammen, um die Chance zur Revanche zu nutzen. Hunderte Pariser
Taxen schafften in langen Konvois frische Soldaten an die Front. In fnf schrecklichen Kampftagen wendeten die
Franzosen die Lage. Aus dem deutschen Hauptquartier kam der Befehl zum Rckzug, um die auseinander gerissene
Front zusammenzufgen und zu stabilisieren. Schlieffens groartiger Plan, der den Sieg ber Frankreich in sechs
Wochen verheien hatte, war gescheitert.
Moltke, ein gebrochener Mann, wurde am 14. September als Generalstabschef abgelst; sein Nachfolger wurde
Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Mit seinem letzten Befehl ordnete Moltke die Befestigung der neuen deutschen
Stellungen am Ufer der Aisne an. Die deutsche Infanterie grub sich ein, der Bewegungskrieg war zu Ende, der
Stellungskrieg begann.
Die franzsischen Rothosen hatten das Land gerettet, auch wenn der Alptraum noch vier Jahre dauern sollte. Der

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Preis war furchtbar: 2 Millionen Mann hatte die franzsische Armee mobilisiert, davon waren 306 000 gefallen und 600
000 verwundet. Die Deutschen hatten 241 000 Soldaten verloren, davon 41 000 Freiwillige, bei Langemarck, nahe dem
flmischen Ypern. Belgier und Briten hatten jeweils 30 000 Tote zu beklagen.
Und das war nur der Auftakt einer Schreckensstatistik, die sich vier Jahre lang unaufhrlich fortschrieb. Am Ende des
Kriegs hatten rund 1,3 Millionen franzsische und 203 7000 deutsche Soldaten den Tod gefunden. Von den Jahrgngen
1892 bis 1895 starben bei den Deutschen
35 bis 37 Prozent. Hunderttausende junger Frauen blieben zur Ehelosigkeit verurteilt. Hinzu kamen auf allen Seiten
Millionen Kriegsversehrte, viele schwerstens verstmmelt und manche so im Gsicht entstellt, dass sie in eigenen
Lazaretten ohne Spiegel und abseits der Stdte den Blicken entzogen wurden.
Im ersten Kriegswinter schien die Mglichkeit einer erfolgreichen Offensive, ganz gleich, ob von alliierter oder deutscher Seite, in weite Ferne gerckt. Die Armeen waren ausgezehrt und erschpft, es mangelte an Munition, vor al lem
fr die Artillerie, der regelmige Nachschub musste mhselig organisiert werden. Eine Art brchiger Frieden senkte
sich mit dem Nebel ber die Schtzengrben in der nordfranzsischen Ebene.
Getrennt durch ein Niemandsland, meistens 200 bis 300 Meter, an manchen Stellen aber auch nur wenige Meter
breit, belauerten sich beide Armeen in ihren Grben. Vom Frhjahr 1915 an wurden die Stellungen durch Stacheldraht,
ursprnglich eine Erfindung amerikanischer Viehzchter, gesichert. Die Grben bauten die Soldaten immer komplexer
und verschachtelter aus, wobei es die Deutschen zu hchster Kunstfertigkeit brachten. Hinter dem Kampfgraben
entstanden Rckzugs-, Reserve- und Untersttzungslinien. In dem Wirrwarr konnten sich die Einheiten leicht verlieren,
kundige Fhrer mussten die Ersatztruppen nach vorn bringen. In die kreidige Erde der Somme-Region und des Artois
trieben die Deutschen Stollen von zehn Meter Tiefe und mehr, die selbst heftigstem Geschtzfeuer widerstehen
konnten.
Von 1914 bis 1917 blieb die Front im Westen mehr oder weniger statisch, aber der Verlauf der Grben, die oft voll
Wasser standen und von Ratten wimmelten, nderte sich stndig. Das Schanzensystem verschaffte den Verteidigern eine
fast absolute berlegenheit. Die Maschinengewehre konnten das Feuer auf 4000 Meter erffnen, ihrem Kugelhagel
waren Angreifer, die versuchten, das Niemandsland zu durchqueren, schutzlos ausgesetzt. Smtliche Offensiven der
Alliierten, ob die britische im Artois oder die franzsische in der Champagne, scheiterten nach unbedeutendem
Gelndegewinn.
Mit unermdlicher Ausdauer verfeinerten die Deutschen ihre Verteidigungsfhigkeit, whrend die Alliierten weder
taktisch noch technisch in der Lage waren, ihnen entscheidende Schlge zuzufgen. An einen Durchbruch und mithin
an einen greifbaren Sieg war gar nicht zu denken.
Alle experimentierten mit einer neuen Waffe: Giftgas. Am 22. April 1915 setzten die Deutschen es zum ersten Mal
ein. Bei Langemarck, wo die alliierte Front wie eine Beule in die deutschen Linien hineinragte, schien die Sonne; eine
leichte Brise wehte von Ost nach West. Gegen 17 Uhr begann das Drama. Nach heftigem deutschen Artilleriefeuer
bemerkten die Franzosen, berwiegend Kolonialtruppen aus Algerien, wie eine gelbgrne Wolke ber den
umgepflgten Boden auf ihre Stellungen zukroch. Im nchsten Augenblick griffen sich die Schtzen und Zuaven an die
Kehle, husteten, spuckten und kotzten; die Gesichter liefen blau an.
Zu Tausenden taumelten sie halbblind vor dem unbekannten Hllenstoff nach hinten. Eine Bresche von sieben
Kilometer Breite tat sich in der Verteidigungslinie vor Ypern auf. Zum ersten Mal hatten die Deutschen tdliches
Chlorgas eingesetzt; 6000 Stahlflaschen mit 180 Kubikmeter Gas kamen an jenem Nachmittag zum Einsatz. Dann noch
einmal am 24. April und am 1. Mai. Ein britischer Offizier berichtete, dass 90 seiner Mnner nahezu augenblicklich
starben. Andere, die sich noch zu den Sanittszentren schleppen konnten, verendeten nach langen Qualen. Falkenhayn
gelang es nicht, das Durcheinander auszunutzen; um die Fronten zu durchbrechen und aufzurollen, waren seine Krfte
zu schwach.
Das tckische Giftgas war eine Errungenschaft der IG Farben-Vorlufer, entwickelt und waffenfhig gemacht unter
Anleitung des berhmten Chemikers und spteren Nobelpreistrgers Fritz Haber vom Kaiser-Wilhelm-Institut in
Berlin. Der Schreckensruf Gas! Gas! war fortan der am meisten gefrchtete Alarm an der Westfront. Beide Seiten
setzten die chemischen Massenvernichtungswaffen nicht nur Chlorgas, sondern auch Senfgas ohne Skrupel bis
zum Ende des Kriegs ein. Entscheidende Bedeutung erlangten sie nicht, denn sie konnten nur bei gnstiger Witterung
verwendet werden. Schnell entwickelte Gasmasken fr Menschen und Pferde boten auerdem halbwegs zuverlssigen
Schutz.
Im scheinbar ausweglosen Patt des Stellungskriegs begann Falkenhayn sich darber klar zu werden, dass sich das
Krfteverhltnis allmhlich zu Gunsten der Alliierten verschob. Die Briten konnten noch bedeutende Reserven an
Soldaten ins Feld schicken, und die Franzosen steigerten ihre industrielle Produktion an Kanonen, Granaten und
Gewehren um ein Vielfaches. Im Herbst 1915 produzierten sie vor allem dank der Frauenarbeit 100 000
Artilleriegeschosse und 1500 Gewehre pro Tag.
Deutschland und seine Verbndeten knnten nicht endlos standhalten, schrieb Falkenhayn in einer Denkschrift, die er
Weihnachten 1915 dem Kaiser vorgetragen haben will. Um aus der Sackgasse herauszukommen, schlug er eine
begrenzte Offensive an einem neuralgischen Punkt vor, die Frankreichs Fhrung zwingen wrde, alle verfgbaren
Mnner zur Verteidigung heranzuziehen: Tut sie es, werden die franzsischen Krfte verbluten.
Als Ziel bezeichnete der Generalstabschef die Festung Verdun an einer Krmmung der Maas. Der Erfolg schien
garantiert. Wenn die Franzosen aufgben, wrden sie Verdun verlieren; wenn sie ausharrten, ihre Armee.
Die von den Deutschen so genannte Operation Gericht begann am Morgen des 21. Februar 1916 mit einem
Donnerschlag. Im Wald von Caures prasselten auf einer Flche von 500 mal 1000 Meter 80 000 Granaten nieder, bevor
die deutsche Infanterie antrat. Zwei Tage spter meldete ein berlebender Leutnant der 72. franzsischen Division
seinen Vorgesetzten: Kommandeur und alle Kompaniefhrer sind gefallen. Mein Bataillon ist auf 180 Mnner (von
600) geschrumpft. Ich habe weder Munition noch Verpflegung. Was soll ich tun?

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Am 25. Februar nahmen die Deutschen im Handstreich Fort Douaumont ein. Verdun schien vor dem Fall. Die
Franzosen verhielten sich genau so, wie Falkenhayn es vorausgesehen hafte:
Sie warfen unter dem neuen Verteidiger Philippe Ptain alle Reserven in die Schlacht und zogen im ganzen Land
12 000 Lastwagen zusammen, um die Festung ber die Voie sacre, die heilige Strae zwischen Bar-le-Duc und
Verdun, mit Nachschub zu versorgen. Die Stadt an der Maas wurde zum Symbol des Widerstandswillens der gesamten
Nation.
Was Falkenhayn indes nicht bedacht hatte: Schon am 27. Februar kam seine Offensive nach einem Vorsto von sechs
Kilometern ins Stocken, und die Deutschen begannen genauso auszubluten wie die Franzosen. Der Abnutzungskrieg
(kraujo nuleidimo karas) war gescheitert. Falkenhayn wollte seinen Misserfolg nicht wahrhaben und lie weiter an
wechselnden Punkten rund um Verdun angreifen. Bis Ende Juni hatten beide Seiten ber 200 000 Tote und Verwundete
zu beklagen.
Die Landschaft um Verdun verwandelte sich gespenstisch. Bis heute hat sie ihren natrlichen Zustand nicht
wiedergefunden kahl rasierte Wlder mit Baumstmpfen wie Streichhlzer, von Kratern durchlcherter Boden,
ausradierte Drfer geben ein eigenartig morbides Bild ab wie aus einer anderen Webt.
Falkenhayns Gegenspieler erwiesen sich als Glcksfall fr die Deutschen in dieser kritischen Phase, denn sie
glnzten ebenfalls nicht gerade als strategische Gromeister. Um die schwer bedrngten Franzosen zu entlasten, startete
der britische Feldmarschall Douglas Haig eine gewaltige Offensive an der Somme. Sie sollte, wie der Historiker John
Keegan urteilt, zum grten militrischen Desaster der britischen Geschichte werden.
Haig, ein verschlossener und fr seine Umgebung rtselhafter Offizier, zog an der Somme 20 Divisionen zusammen;
dazu 1000 Feldgeschtze, 180 schwere Geschtze und 245 Mrser. An die drei Millionen Granaten hatten die Briten
nach vorn bringen lassen. Alle 20 Meter Frontlinie stand ein Geschtz. Das Trommelfeuer auf die deutschen Linien
sollte so verheerend sein, dass die britische Infanterie anschlieend das Niemandsland, nur mit dem Spazierstock
bewaffnet, durchqueren knnte, wie Haig glaubte.
Aus den Erfahrungen von Verdun hatte der britische Feldmarschall gelernt, dass in einer Zermrbungsschlacht
unsere Truppen mglicherweise strker als jene des Feindes aufgebraucht werden. Dies war zwar richtig, aber Haig
zog daraus den Schluss, er msse mit einem massiven Frontalangriff einen Durchbruch erzielen. Ein furchtbarer Irrtum:
Am ersten Tag der Schlacht, dem 1. Juli, verloren die Briten binnen wenigen Stunden 60 000 Mann, die deutschen
Verteidiger nur 6ooo. Doch Haig machte wider bessere Kenntnis weiter, obwohl er zu vermuten begann, die Deut schen
seien nun, indem sie in der Defensive blieben, diejenigen, die unsere Truppen mrbe machen.
Nach der gescheiterten Schlacht entsetzte sich der britische Premierminister Lloyd George: Haig ist es vllig
gleichgltig, wie viele Soldaten er verliert, er verschwendet einfach das Leben
dieser Jungs. In dieser Gefhllosigkeit unterschied sich der Brite nicht von den meisten seiner franzsischen und deut schen Kollegen, fr die Opferzahlen offenbar nichts anderes als eine abstrakte Gre der militrischen Geschftsbilanz
darstellten.
Ende August 1916 lste der Kaiser den glcklosen Falkenhayn ab. An die Spitze des Heeres berief er die populren
Sieger von der Ostfront: Paul von Hindenburg wurde zum Chef des Generalstabs und Erich Ludendorff zum Ersten
Generalquartiermeister ernannt.
Die Weichen fr den Marsch ins Verhngnis waren gestellt. Mit seinem strategischen Scharfsinn und seinem berragenden Organisationsgeschick konnte Ludendorff den Krieg noch in die Lnge ziehen; der Endsieg, an den er glaubte,
rckte aber wahrscheinlich bereits zu diesem Zeitpunkt in unerreichbare Ferne. Die Radikalisierung des Kriegs unter
den neuen Befehlshabern brachte das Deutsche Reich wohl um die letzte kleine Chance, einen Verhandlungsfrieden
durchzusetzen.
Im Frhjahr 1917, das wusste Ludendorf, wrde Deutschland mit Sicherheit von allen Seiten angegriffen werden. An
der Westfront hatten die Alliierten inzwischen 3,2 Millionen Soldaten stehen, gegenber 2,8 Millionen auf der
deutschen Seite. Die Verluste, die Deutschland bei Verdun und an der Somme erlitten hatte, waren nicht mehr
wettzumachen; die Kampfkraft des Heeres lie sich lngst nicht mehr mit der von 1914 oder 1915 vergleichen.
Angesichts dieser unerfreulichen Lage entschied sich Ludendorff fr eine neue Verteidigungstaktik. Statt die
vordersten Stellungen in starrer Linie bis zum Letztcn zu halten, sollte die Abwehrschlacht mit beweglichen Einheiten
in der Tiefe des Raums gefhrt werden. Dadurch wrden die Verluste geringer, starke Krfte fr ei nen Gegenangriff
hielten sich, rckwrts gestaffelt, auerhalb des Feuerbereichs der feindlichen Feldartillerie bereit.
Zudem ordnete Ludendorff eine Frontbegradigung an, die Briten und Franzosen vllig berraschte. Im Mrz 1917
zogen sich 29 deutsche Divisionen 30 Kilometer weit auf stark ausgebaute Verteidigungspositionen zurck. An einem
Abschnitt von 150 Kilometer Lnge hatten die Alliierten pltzlich keine Berhrung mehr mit dem Feind. In der
gerumten Zone zerstrten die Deutschen alles Huser, Bume, Brunnen. Sie legten Minenfelder an und evakuierten
die Bevlkerung. Die neue Hindenburg-Linie sollte die letzte Verteidigungsstellung in Frankreich werden.
Zu Ostern 1917 schlugen zwei britische Armeen bei Arras los. Kaum war dieser Angriff unter bedrohlichen Verlusten
zum Stehen gebracht, traten die Franzosen unter ihrem neuen Oberbefehlshaher Robert Nivelle zur Frhjahrsoffensive
in der Champagne und an der Aisne an. Doch Ludendorffs neue Verteidigungsdoktrin bewhrte sich trotz des
anfnglichen Schocks, die franzsische Operation am Chemin des Dames geriet zum mrderischen Fehlschlag. In zwei
Wochen verloren die Angreifer 147 000 Mann.
Nie schien Frankreich dem inneren Zusammenbruch so nahe. In 54 Divisionen brachen Meutereien aus; die Soldaten
weigerten sich, Befehlen zu folgen, die sie fr sinnlos hielten, und wollten sich nicht in nutzlosen Angriffen ver heizen
lassen. Nivelle wurde entlassen und durch Ptain ersetzt, der die Moral der Truppe mit Zuckerbrot und Peitsche
wiederherstellte. Den Soldaten versprach er bessere Verpflegung und mehr Fronturlaub; gleichzeitig kamen rund 23 000
Soldaten vors Kriegsgericht; etwa 600 Rdelsfhrer wurden zum Tode verurteilt, bis zu 75 von ihnen hingerichtet.
In den Turbulenzen dieses Frhjahrs 1917 ging fast unter, dass der Kongress der USA am 6. April Deutschland den

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Krieg erklrte, nachdem die Reichsregierung auf Drngen Ludendorffs und der Admiralitt beschlossen hatte, den
uneingeschrnkten U-Boot-Krieg wiederaufzunehmen. Der deutsche Generalstab unterschtzte die Konsequenzen des
amerikanischen Eingreifens auf fatale Weise. Zwar sollte es noch dauern, bis die ersten US-Truppen unter General John
Pershing in Frankreich auftauchten. Aber von nun an war klar, dass die Westalliierten ber ein schier unerschpfliches
Reservoir an Menschen und Material verfgen wrden, whrend Deutschland langsam verhungerte und verblutete.
Nach dem Sieg ber Russland im Osten holte Ludendorff im Mrz 1918 zum letzten Schlag aus er ging daneben,
wie alle anderen an der Westfront, obwohl sich noch einmal eiskalte Angst der Franzosen und Englnder bemchtigte.
Die Operation Michael wurde ein groer taktischer Erfolg, die Deutschen gewannen bis zu 60 Kilometer an Boden.
Paris, in Reichweite deutscher Ferngeschtze, schien wieder gefhrdet, doch am Ende blieb die strategische Lage unverndert.
Wieder einmal war es nicht mglich gewesen, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Die Verteidiger
schafften schneller Verstrkungen heran, als die Angreifer vordringen konnten. Mitte Juli musste Ludendorff alle
weiteren Angriffsversuche einstellen. Mit militrischen Mitteln konnte Deutschland den Krieg nach diesem letzten
Aufbumen nicht mehr gewinnen.
Htte das Kaiserreich das Unentschieden, das vier Jahre lang im Westen geherrscht hatte, noch weiter aufrechterhalten knnen, um den Alliierten doch noch einen ehrenvollen Verhandlungsfrieden abzutrotzen? Auch das schien
nach dem Eintreffen der ersten amerikanischen Verstrkungen nicht mehr mglich, jedenfalls nicht lange. In die Anfangserfolge des Unternehmens Michael hatten sich bereits erste Auflsungserscheinungen gemischt: Manche der Divisionen bewiesen kaum noch Kampfgeist; statt planmig vorzurcken, hielten sie oft genug inne, um die ppigen
Versorgungsdepots der Alliierten zu plndern und sich zu betrinken.
In vielen Fllen verloren die Offiziere die Kontrolle ber die Truppe. Zurckweichende Einheiten beschimpften vorrckende Reservedivisionen als Streikbrecher und Kriegsverlngerer. Ludendorff, zunehmend reizbar, feindselig
und mit den Nerven am Ende, hatte das Vertrauen der Truppe und des deutschen Volks verloren.
Gewiss, der deutsche Rckzug ab dem Sommer 1918 war keine Flucht. Doch zum ersten Mal in diesem Krieg
zeigten sich deutsche Soldaten bereit, sich in greren Mengen zu ergeben. Nicht sosehr die materielle berlegenheit
der Briten, Franzosen und Amerikaner beendete den Krieg, sondern die endogene Krise der deutschen Kampfmoral,
wie der Historiker Niall Ferguson urteilt. Ludendorf gelangte zu dem Schluss, dass das Heer sich auflsen wrde, wenn
es nicht schnell zum Waffenstillstand kme.
Dass die Deutschen, die so zh und bedrohlich gekmpft hatten, nunmehr so rasch aufgaben, berraschte den Gegner
am meisten. Feldmarschall Haig hielt bis zum Schluss das deutsche Heer fr fhig, sich an die Grenzen
zurckzuziehen und diese Linie zu halten. Am 7. November 1918, vier Tage bevor der Waffenstillstand unterzeichnet
wurde, schrieb der britische Feldgeistliche Julian Bickersteth: Der Feind kmpft eine schlaue Rckzugsaktion durch,
und ich sehe nicht, wie wir ihn dazu bringen knnen, sich schneller zu bewegen. Wir alle erwarten weitere Kmp fe, die
zumindest sechs Monate andauern werden.
Zwei Wochen zuvor, am 26. Oktober, hafte Ludendorff den Kaiser um seine Entlassung gebeten. Seiner Frau sagte er
am selben Abend: Du wirst sehen, in 14 Tagen haben wir kein Kaiserreich und keinen Kaiser mehr.
4. Die Ostfront
DER VERGIFTETE SIEG
Von Vjas Gabriel Liuleviius (Er lehrt als Professor fr Geschichte an der Universitt von Tennessee, USA)
Whrend sich der Blick der Weltffentlichkeit auf den Krieg im Westen richtete, tobte im Osten Europas weithin
unbeachtet ein gnadenloser Kampf um Lnder und ganze Vlker. Die deutschen Besatzer fhrten sich als berlegene
Herrenmenschen auf.
ber die Kmpfe und Massaker an der Ostfront des Ersten Weltkriegs ist weit weniger bekannt als ber die
Schtzengrben und Bunker im Westen. Winston Churchill nannte den Krieg im Osten den unbekannten Krieg.
In letzter Zeit aber rcken endlich die Bilder vom Leiden und Sterben zwischen 1914 und 1918 in den Weiten
Osteuropas strker in den Blickpunkt. Denn der Krieg im Osten war nicht minder folgenreich fr die Geschichte des 20.
Jahrhunderts als die Stahlgewitter im Westen.
Der Mordanschlag vom 28. Juni 1914 in Sarajevo auf den habsburgischen Thronerben Erzherzog Franz Ferdinand
lste eine Kettenreaktion aus. Bismarcks prophetische Furcht, ein Strfall auf dem Balkan knne einen greren
europischen Konflikt auslsen, wurde Wirklichkeit. Deutschland und Russland, frher konservative Alliierte, standen
einander jetzt als Mitglieder grerer Bndnisse gegenber. Ermutigt von ihrem deutschen Partner, machte die
sterreichisch-ungarisehe Regierung Serbien fr den Mord in Sarajevo verantwortlich und leitete damit eine
Machtprobe mit ihrem Nachbarstaat ein. Trotz der wirren Botschaften, die in letzter Minute aus Berlin eintrafen, baute
sich die Krise weiter auf der Zar mobilisierte, um die befreundeten Serben zu untersttzen, und Deutschland erklrte
Russland am 1. August den Krieg.
Die Kriegsbereitschaft hatte viele Ursachen. Bei den deutschen Eliten war es eine Mischung aus Angst, Verheiung
und der fatalistischen berzeugung, ein groer Krieg msse kommen, je eher, desto besser. Sie waren gefangen in
einem Gefhl der Furcht vor dem russischen Riesenreich mit seinen unermesslichen Rohstoffen und den 180 Millionen
Menschen.
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sinnierte voller Pessimismus, die Zukunft gehre Russland, die Zeit
arbeite gegen Deutschland. Schon Jahre vor dem Krieg schwadronierte Kaiser Wilhelm II. vom unvermeidlichen
Zusammensto von Teutonen und Slawen. Der sterreichische Stabschef Conrad von Htzendorf trumte von der

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endgltigen Abrechnung mit den Serben.
Als der Krieg schlielich ausbrach, wurde er dem deutschen Volk vor allem als Verteidigungskrieg verkauft mit
Erfolg: Groe Teile der Bevlkerung waren vereint in Begeisterung und Entschlossenheit. Eine Schlsselrolle spielte
die SPD, die trotz ihrer frheren antimilitaristisehen Einstellung den Kriegskrediten zustimmte nicht zuletzt, weil sie
den Krieg gegen Russland, das autoritrste und repressivste Imperium Europas, fr gerechtfertigt hielt.
Doch nicht jeden packte die Euphorie, als das Militr mobilmachte. Fr manche ethnische Gruppen, etwa die Polen,
deren Land im 18. Jahrhundert zwischen Russland, Preuen und sterreich aufgeteilt worden war, bedeutete der Krieg
sinnlosen Brudermord. 1,5 Millionen Polen kmpften in den diversen Armeen, deutsche Litauer aus Ostpreuen standen
Litauern in russischer Uniform gegenber.
Der Erste Weltkrieg begann im Osten mit berraschungen, was erst einmal die Militrplaner irritierte. Whrend 1,5
Millionen deutsche Soldaten nach Frankreich rollten, rckten zwei unerwartet schnell mobilisierte russische Armeen
gegen Ostpreuen vor. Die russischen Truppen, etwa 650 000 Mann, stieen auf ein kleines Heer von 170 000
Deutschen.
Die ostpreuische Zivilbevlkerung flchtete ungeordnet und in heller Panik. Der Schrei Die Kosaken kommen
artikulierte die Angst vor der Invasion, er beschwor Bilder herauf von wilden Steppenreitern und der unerbittlichen
russischen Dampfwalze, die auf Berlin zurollte.
Um die Verteidigung Ostpreuens zu organisieren, wurde der 66-jhrige General Paul von Hindenburg aus dem
Ruhestand zurckgeholt und ihm Erich Ludendorff an die Seite gestellt, ein Technokrat von beachtlichem
Organisationstalent. Dank der greren Mobilitt und den besseren Waffen schlugen die deutschen Truppen unter ihrem
Kommando die Russen Ende August 1914 in der Schlacht von Tannenberg. 50 000 russische Soldaten fielen, 90 000
gerieten in Gefangenschaft.
Tannenberg wurde sofort zur Legende hochstilisiert Revanche fr die Schmach von 1410, als Polen und Litauer
an diesem Ort gemeinsam das Heer der Deutschordensritter vernichteten.
Wenige Tage spter trieben Hindenburg und Ludendorff die zweite russische Armee in der Schlacht an den
Masurischen Seen zurck. Weitere 45 000 Russen wurden gefangen genommen, viele Feinde, verbreitete die deutsche
Propaganda, seien auf ihrer panischen Flucht in den Seen ertrunken. Ostpreuen war frei von russisehen Truppen.
Im Sptherbst 1914, als deutsche Truppen in Polen kmpften, um ihren sterreichisch-ungarischen Verbndeten zu
helfen, marschierte die russische Armee erneut in Ostpreuen ein, und eine neue Welle der Angst breitete sich aus. Doch
wieder behielten die Deutschen die Oberhand. In der Winterschlacht in Masuren drngten sie im Februar 1915 die
Russen abermals aus dem Land. Die russische Armee lie 90 000 Mann als Gefangene zurck.
Die deutsche Propaganda nutzte den russischen Einfall in Ostpreuen, um den defensiven Charakter des Kriegs zu
unterstreichen: Mehr als 10 000 Menschen seien von den Russen verschleppt worden, deren Soldateska habe Zivilisten
als Spione erschossen, Frauen vergewaltigt, die Huser niedergebrannt und geplndert. Im Osten trnkt das Blut der
von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, heit es in dem Aufruf an die Kulturwelt,
einem Manifest deutscher Intellektueller vom Oktober 1914.
Die aktuelle Forschung kommt zu einem anderen Ergebnis. Danach waren barbarische Exzesse russischer Soldaten
die Ausnahme.
Die Kmpfe in Ostpreuen waren fr das Erscheinungsbild dieses Kriegs auch psychologisch bedeutsam, zeigten sie
doch, dass ein totaler Krieg die Menschen nicht nur an Brutalitt gewhnt, sondern sie auch fr Despoten und blinde
Heldenverehrung anfllig macht. Der Historiker Golo Mann resmierte: Hier hrt man zum ersten Mal von den
riesigen Zahlen, den hundert-, den zweihundertfnfzigtausend erschlagenen und gefangenen Feinden; nun erschienen
die Bilder fr jung und alt, welche die verlorenen, toten, ertrinkenden, ohne Kopf und Glieder in die Luft
geschleuderten Russen zeigten. Der ffentliche Geist verhrtete sich rasch.
Um Hindenburg, der als Retter Ostpreuens, als Russenschreck und Retter des Vaterlandes bejubelt wurde,
entstand ein Fhrerkult. Als Werbung fr Kriegsanleihen wurden in deutschen Stdten riesige Holzstatuen des
Generalfeldmarschalls aufgestellt, in die alle, die Geld spendeten, Ngel hmmerten, bis die Standbilder sichtbarer
Ausdruck der deutschen Einigkeit waren. Straen, Pltze und Haushaltsprodukte wie Blumenvasen wurden nach
Hindenburg benannt.
Im Jahr 1915 standen mehr als 600 000 deutsche Soldaten im Osten bereit, den sterreichischen Truppen in Galizien
beizustehen. Ihnen gegenber lagen gewaltige russische Heere, die jedoch oft mangelhaft gefhrt und ausgerstet
waren. Der russischen Infanterie fehlten Gewehre, bisweilen wurden Soldaten unbewaffnet an die Front geschickt mit
der Order, sich dort die Waffe eines gefallenen Kameraden zu nehmen.
Anfang Mai 1915 gelang sterreichischen und deutschen Truppen im groen Vormarsch vom galizischen GorliceTarnw ein bedeutender Durchbruch. Sie eroberten Przemysl und Lemberg sowie Galizien zurck. Im Norden nahmen
deutsche Streitkrfte im August und September Warschau, Kaunas, BrestLitowsk und Wilna ein.
Die Russen verloren Russisch-Polen, Litauen, Kurland und die westliche Ukraine insgesamt ein
Territorium von der Gre Frankreichs.
Im September 1915 kam der groe Vormarsch kurz vor Riga schlielich zum Stillstand.
Deutsche Soldaten haben den groen Vormarsch von 1915 nie vergessen. Bei ihrem Rckzug verfolgte die
russische Armee eine Politik der verbrannten Erde so wie 1812, als Napoleon auf Moskau zumarschierte. Felder
wurden angezndet, Eisenbahnschienen weggerissen, Fabriken evakuiert oder zerstrt. Die Russen rumten das ganze
Land, eineinhalb Millionen Untertanen des Zaren mussten mit den Streitkrften abziehen. Angehrige von
Volksgruppen, die als verdchtig galten, wie Juden und ethnische Deutsche, wurden vertrieben, misshandelt oder als
Spione erschossen.
Die russischen Trecks waren die erste Welle einer weit greren Vlkerwanderung, die der Erste Weltkrieg auslste.
1917 waren im russischen Reich ungefhr sechs Millionen Flchtlinge unterwegs.

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So war 1915 das Jahr dramatischer Erfolge der Mittelmchte im Osten, obwohl Italiens Kriegseintritt auf Seiten der
Entente die strategische Lage sterreich-Ungarns verschlechterte. Andererseits trat Bulgarien den Mittelmchten bei,
und Ende 1915 wurde endlich Serbien bezwungen. Die serbische Armee allerdings zog sich ber das Gebirge nach
Albanien zurck, um von dort weiterzukmpfen. Der entscheidende Sieg fr die Deutschen jedoch, der den Krieg im
Osten beendet htte, blieb aus. Immer wieder konnten sich die Russen in ihr weites, offenes Land zurckziehen und Zeit
gewinnen.
Trotz aller militrischen Erfolge standen die Eroberer Ende 1915 vor groen Problemen. Sie mussten in den besetzten
Gebieten eine zivile Verwaltung aufbauen und geordnete Zustnde herstellen eine Aufgabe, auf die sie schlecht
vorbereitet waren.
Die Besatzer trafen auf neue Lnder und Vlker, die ihnen kulturell fremder waren als das besetzte Belgien oder
Frankreich. In Briefen, Soldatenzeitungen und Erinnerungen kommentierten die Soldaten immer wieder die
Fremdartigkeit des Ostens, seine armseligen Lebensbedingungen, die Leere, den Schmutz, die Krankheiten, die
allgegenwrtigen Luse. Ein deutscher Leutnant fasste seine Eindrcke vom Osten zusammen: Innerstes Russland,
ohne Abglanz mitteleuropischer Kultur, Asien, Steppe, Sumpf, raumlose Unterwelt und eine gottverlassene
Schlammwste.
Malaria-, Cholera- und Fleckfieberepidemien wurden nicht als Ausdruck des Kriegs, sondern als fr den Osten
typisch verstanden. Hygiene war lebenswichtig fr die Armee. Sie richtete Entlausungszentren ein und entsandte
Seuchentrupps, um (auch zwangsweise) die rtliche Bevlkerung zu behandeln, von der es hie, sie sei hochgradig
verlaust. Im besetzten Polen starben 10 von 50 deutschen Sanittsoffizieren an Typhus.
Die Langeweile, die Soldaten auf isolierten Posten hinter den Linien sprten, war bedrckend. Die meisten waren
krank vor Heimweh und wollten blo weg von dort. Zudem gab es Spannungen in der Truppe. Wehrpflichtige aus dem
Elsass, von denen man nicht wollte, dass sie gegen Frankreich kmpften, weil man ihnen misstraute, wurden in den
Osten verfrachtet, was sie emprte. Die Ungleichbehandlung von Offizieren und Mannschaften verbitterte ebenfalls
viele Soldaten.
Polen stellte den Mittelmchten alte Probleme in neuer Form. Zunchst wurde das Gebiet in zwei Besatzungszonen
aufgeteilt, Deutschland kontrollierte das Generalgouvernement Warschau, Osterreich-Ungarn das Generalgouvernement
Lublin. Beide konnten sich nicht ber die Zukunft Polens verstndigen. Die Alldeutschen forderten eine direkte Anne xion oder einen polnischen Grenzstreifen als Puffer zwischen Deutschen und Slawen. Preuische Konservative mochten
keine weiteren Ethnien ins Reich eingliedem und wollten deshalb Polen an Russland zurckgeben. Habsburgische
Nationalisten wiederum trumten von einer austro-polnischen Lsung, die RussischPolen mit Galizien vereinigen und
eine stabile neue politische Basis fr das Habsburgerreich schaffen wrde.
Die Militrs enttuschten alle: Auf Druck Ludendorffs wurde am 5. November 1916 ein polnisches Knigreich proklamiert. Er hoffte, dankbare Polen wrden sich freiwillig zur deutschen Armee melden, doch war der Schritt allzu
durchsichtig. Auerdem blieb die Proklamation in kritischen Details vage. Das knftige Marionettenknigreich war ein
seltsamer Staat, ohne Knig, ohne Grenzen.
Kaum ein Pole lie sich tuschen. Der legendre Heerfhrer Jozf Pilsudski, der auf Seiten sterreichs die 1. Brigade
der polnischen Legionen angefhrt hatte, kndigte die Zusammenarbeit mit den Mittelmchten auf. Polnische
Nationalisten setzten zunehmend ihre Hoffnungen auf die westlichen Alliierten und den amerikanischen Prsidenten
Woodrow Wilson, die fr die Nachkriegsordnung ein unabhngiges Polen vorsahen.
In den Gebieten nordstlich von Russisch-Polen wurde 1915 ein neuer Militrstaat errichtet das Land Ober Ost
(Auktutinieji Rytai, Ob-Ostas), benannt nach dem Oberbefehlshaber Ost, Hindenburg. Es umfasste Litauen, Kurland
und Teile Weirusslands. Ludendorff, der wahre Architekt dieses Staates, uerte seinen festen Entschluss, etwas
Ganzes zu schaffen, eine Art Militr-Utopie. In seinen Memoiren schrieb Ludendorff: Mein Wille durchdrang die
Verwaltung und erhielt in ihr die Schaffensfreudigkeit. Sein Ziel sei es gewesen, die Kulturarbeit, die die Deutschen
whrend vieler Jahrhunderte in jenen Lndern getan hatten, in dem besetzten Gebiet aufzunehmen.
Ober Ost zhlte rund drei Millionen Einwohner, mehr als eine Million Menschen waren rechtzeitig geflchtet. Die
verbliebene Bevlkerung setzte sich zusammen aus Litauern, Polen, Letten, Russen, Tataren sowie drei weiteren
Volksgruppen, die bei den neuen Herren der Region fr besonderes Aufsehen sorgten: Ostjuden (Ryt ydai), die
Jiddisch sprachen und deshalb besser als irgendeine andere Gruppe mit den Deutschen kommunizieren konnten,
Weiruthenen (Slawen, deren Identitt sich schwer ermitteln lie, was bewies, wie kompliziert ethnische
Unterscheidungen in dieser Gegend sein konnten (gudai, baltarusiai)) und der Elite der Baltendeutschen (Pabaltijo
vokieiai; i io pavadinimo kilo terminas baltai, teigia vokiei enciklopedijos, nors lituanistai su tuo nesutinka).
Diese waren mit den Reichsdeutschen (Reicho vokieiai) verwandt, haften jedoch als Barone ihre eigene aristokratische Vergangenheit, die nicht immer identisch war mit der Deutschlands.
Die Machthaber von Ober Ost machten sich daran, in dem neuen Land deutsche Kultur zu verbreiten. Unter dem
Stichwort Deutsche Arbeit betrieb die Armee einen fr Kriegszeiten erstaunlichen Aufwand hinter der Front: Es gab
Zeitungen fr Einheimische, Schulordnungen, archologische und historische Untersuchungen, Theater.
Gleichzeitig, doch gegenlufig zum Kulturprogramm, lief in Ober Ost die so genannte Verkehrspolitik an, die jede
Bewegung und konomische Ttigkeit kontrollieren sollte. Ziel war die intensive wirtschaftliche Ausbeutung regionaler
Rohstoffe und Arbeitskrfte. Zwangsarbeiter sollten fr die deutschen Regenten schaffen, Ernten und Viehbestnde
sollten nach Gusto der Besatzer konfisziert werden.
Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur gewaltige Brcken, die Anpassung der breiteren Spurweite des
russischen Eisenbahnnetzes an deutsche Standards, eine gigantische Holzmhle im Urwald von Bialowieska sollten
die Region an Deutschland binden. Doch ebendiese Politik, die darauf ausgerichtet war, den enormen Appetit auf
Nachschub im totalen Krieg zu stillen, schreckte argwhnische Einheimische nur weiter ab.
Das Verhltnis zur Bevlkerung war generell geprgt durch die kulturelle Hybris der Besatzer: Sie glaubten sich auf

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einer hheren Kulturstufe und behandelten die Einheimischen mit kolonialer Herablassung.
Die Einstellung der Deutschen zu den verschiedenen Vlkergruppen schwankte zwischen Verstndnis fr die verwirrende Vielfalt des Ostens und grenzenloser Ablehnung des Fremdvlkischen. Insgesamt hielten Deutsche und
sterreicher die Menschen im Osten oft fr schmutzig, undiszipliniert, faul und unterentwickelt. Ein deutscher
Kommandeur hhnte, dass der Litauer sich selbstndig genauso gut regieren (kann), wie sich z. B. meine Tochter Ilse
selbstndig erziehen knnte. Solche rassistisehen Ansichten radikalisierten sich mit der deutschen Niederlage.
Doch es gab auch bemerkenswerte Ausnahmen. Einige Soldaten, darunter die Schriftsteller Arnold Zweig und
Richard Dehmel, uerten Sympathie und Respekt fr die Einheimischen und kritisierten den autoritren Stil ihrer
Oberen.Besonders ambivalent verlief die Begegnung deutscher Soldaten mit Jiddisch sprechenden Ostjuden in den
Ghettos und Schtetls (yd apgyvendinti miesteliukai). Die Reaktionen der deutschen Soldaten reichten von Mitleid bis
zu scharfer Abneigung, standen jedoch in deutlichem Unterschied zum mrderischen Antisemitismus der Nazis.Ein
Beispiel fr das zwiespltige Auftreten der Besatzer liefert 1916 ein Vorfall im litauischen Schaulen (Siauliai), wo der
Stadtkommandant Jdinnen zwang, einen ffentlichen Platz zu subern. Whrend ein paar gaffende Soldaten sich
anscheinend ber die Frauen lustig machten, protestierten andere laut gegen die Anweisung.
Jdische deutsche Soldaten brachte die Begegnung mit Ostjuden hufig in ein Dilemma: Sie sahen oft ihre eigene
Identitt in einem neuen Licht. Arnold Zweig etwa bewunderte das Urwchsige an den Ostjuden, der Tagebuchschreiber
Victor Klemperer dagegen lehnte die gemeinsamen Wurzeln ab und bekannte, er habe sich nie deutscher gefhlt: Ich
dankte meinem Schpfer, Deutscher zu sein.
Fr viele Soldaten endete der Einsatz an der Ostfront in Gefangenenlagern. Nach Schtzungen kamen an der Ostfront
etwa sechs Millionen Soldaten in Kriegsgefangenschaft (an allen Fronten insgesamt acht Millionen). Etwa zwei Millionen sterreichisch-ungarische Soldaten wurden in Russland gefangen gehalten, neben rund 167 000 Deutschen.
Deutschland und sterreich-Ungarn nahmen ihrerseits etwa 2,7 Millionen Russen als Gefangene, die fr die
Kriegswirtschaft eine zunehmend wichtige Rolle spielten.
Auch mit dem Ende des groen Vormarschs von 1915 fiel im Osten keine Entscheidung fr die Mittelmchte. Im Juni
1916 stieen im Rahmen der Brussilow-Offensive russische Truppen nach Galizien vor und nahmen eine viertel
Million sterreichisch-ungarische Soldaten gefangen. Umgehend rckten zustzliche deutsche Truppen nach, die ihre
Verbndeten sttzen sollten. Russland verlor in diesem Feldzug eine Million Mann.
Die Ostfront dehnte sich weiter aus, als Rumnien im August 1916 der Entente beitrat. Diese neue Krise erlaubte es
Hindenburg und Ludendorff, ihren Vorgesetzten, den Generalstabschef Erich von Falkenhayn, abzulsen, die Dritte
Oberste Heeresleitung selbst zu bernehmen und damit eine Art deutsche Militrdiktatur zu errichten. Ende des Jahres
wurde Rumnien von den Deutschen und ihren Verbndeten berrollt.
Ein historischer Wendepunkt im Ost-krieg war die Russische Revolution. Am 8. Mrz 1917 erhoben sich in Petrograd
mit dem Zarenregime unzufriedene und des Kriegs berdrssige Untertanen. Soldaten der Garnison schlossen sich
ihnen an. Am 15. Mrz dankte der Zar ab. Eine bergangsregierung wurde gebildet, die versprach, Wahlen abzuhalten
und den Krieg weiterzufhren.
Im Zuge der deutschen Taktik, feindliche Vlker zu revolutionieren, um deren Kriegswillen zu untergraben, hatte
die Reichsregierung, nachdem sie die Empfehlung des jdischen Rates in Deutschland befolgt hatte, im April 1917 den
jdischen Bolschewiken Wladimir Iljitsch Lenin in einem bewachten Zug mit seinen Kampfgefhrten aus der Schweiz
quer durch Deutschland durxh Stockholm und Helsinki nach Petrograd reisen lassen. Dort, so die Hoffnung, werde er
erfolgreich das Virus der Rebellion verbreiten, den Zaren strzen und einen Sonderfrieden mit Deutschland
unterzeichnen.
Die bergangsregierung unter Alexander Kerenski war geschwcht. Die Kerenski-Offensive im Juli 1917 in
Galizien stie auf heftige deutsche Gegenwehr, die zerschlagene russische Streitmacht lste sich auf, die Soldaten
gingen einfach heim. Am 7. November 1917 ergriffen Lenins Bolschewiki die Macht in Petrograd, etablierten eine
Rteregierung, propagierten die Diktatur des Proletariats sowie die Weltrevolution und wurden fr die
nchsten 70 Jahre zur Dauerbelastung der Weltpolitik.
Die Kaiserregierung forderte Lenins Regierung, Separatverhandlungen aufzunehmen und sein Versprechen der
deutschen Kaiserregierung gegenber einzulsen. Am 3. Dezember 1917 kndigten die Bolschewiki schlielich an,
sich aus dem Krieg zurckzuziehen, und nahmen Friedensverhandlungen mit den Mittelmchten auf. Delegationen
beider Seiten trafen sich in der russischen Festung Brest-Litowsk, um die Bedingungen auszuhandeln. Leo Trotzki, der
Organisator des Aufstands und seit Anfang Januar Delegationsleiter der Bolschewiki, spielte ge schickt auf Zeit. Die
Bolschewisten rechneten fest damit, dass in nchster Zeit Arbeiteraufstnde in allen Krieg fhrenden Lndern ausbrechen wrden.
Angesichts allzu harscher deutscher Forderungen unterbrach Trotzki die Gesprche einfach und verkndete, nun
herrsche weder Krieg noch Frieden. Die konsternierten Deutschen lieen daraufhin ihre Streitkrfte im Osten weiter
vorrcken.
Im Februar 1918 drangen deutsche und sterreichische Verbnde in die Ukraine ein.
Im Mrz nahmen sie Kiew und setzten eine Regierung ein, die mit den Mittelmchten zu kooperieren und eine Million
Tonnen Getreide zu liefern hatte. Bald darauf waren die Besatzungstruppen mit Aufstnden und Partisanenunruhen auf
dem Lande beschftigt, doch der Vormarsch ging weiter. Im Sommer 1918 marschierten deutsche Truppen zum
Kaukasus.
Um die Revolution zu retten, drngte Lenin die Bolschewiki zu neuen Verhandlungen. Am 3. Mrz 1918 wurde dann
in Brest-Litowsk der Friedensvertrag unterzeichnet ein Abkommen, das Russland in der Folge um Polen, Litauen,
das Baltikum, Finnland (wo bald ein deutsches Expeditionskorps landete) und die Ukraine brachte. In den abgetretenen
Gebieten lebte ein Drittel der russischen Bevlkerung, dort lag ein Groteil der industriellen und natrlichen
Ressourcen des Landes.

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Der Friede von Brest-Litowsk erfllte die deutschen Erwartungen. Golo Mann schrieb: Der Friede von BrestLitowsk wird der vergessene Friede genannt, aber die Deutschen haben ihn nicht vergessen.Sie wissen, dass sie
Russland geschlagen haben, manchmal betrachten sie es mit Stolz als die eigentliche, obgleich unbedankte,
europische Leistung des Kriegs. Im Reichstag stimmte einzig die Unabhngige Sozialdemokratische Partei
Deutschlands (USPD), die sich von der kriegbejahenden SPD abgespalten hatte, gegen den Friedensvertrag ein Zeichen dafr, dass die groe Mehrheit der Nation die Rolle Deutschlands als Kontrollinstanz ber Osteuropa guthie. Hindenburg und Ludendorff hatten weitere Plne fr die Neuordnung des Ostens: Sie wollten eine Kette von Protektoraten
und deutschen Siedlungen errichten -Aufmarschgebiet fr einen mglichen weiteren Krieg. Ein solches Ostreich htte
Deutschland auch wirtschaftlich autark gemacht und damit in einem knftigen Konflikt immun gegen eine neue briti sche Blockade.
Doch der Frieden war doppelt vergiftet: Seine harten Konditionen strkten die Entschlossenheit der Entente-Staaten,
es den Deutschen mit gleicher Mnze heimzuzahlen. Das Ergebnis war der Versailler Vertrag.
Zudem bedeuteten die Eroberungen im Osten, dass die deutsche Armee dort eine Million Soldaten zurckhalten musste, die in der Fruhlingsoffensive 1918 im Westen fehlten.
Als Deutschlands Frhlingsoffensive im Westen scheiterte, kippte das militrische Gleichgewicht zu Gunsten der
Entente. Der Zusammenbruch der Miftelmchte im November 1918 kam dennoch pltzlich und unerwartet. sterreichs
Armee lste sich auf, und etliche ethnische Gruppen innerhalb der Doppelmonarchie erklrten sich zu unabhngigen
Staaten. Whrend die Revolution sich in ganz Deutschland ausbreitete und der Kaiser floh, organisierten deutsche
Landser Soldatenrte an der Ostfront.
Doch die hatten weit mehr mit der Evakuierung der eigenen Soldaten als mit Revolution zu tun. Krank vor Heimweh
und gestrandet in fernen Auenposten weit ab von Deutschland, wollte jeder nur noch nach Hause.
Das Machtvakuum Ende 1918 im Osten fllte sich bald: Neue Staaten Polen, Litauen, Lettland, Estland
entstanden, deren Unabhngigkeit problematisch blieb. Gleichzeitig hielt die Sowjetarmee sich bereit beizuspringen, um die Arbeiteraufstnde in Zentraleuropa und die Weltrevolution voranzutreiben.
Whrend Westeuropa den Ersten Weltkrieg schlielich als sinnlose Katastrophe bewertete, empfanden die
Osteuroper sein Ende teils als Gewinn, teils als Verlust. Fr neue Staaten wie Polen, die baltischen Staaten,
Jugoslawien, die Tschechoslowakei und Finnland war der Krieg keine Tragdie, sondern die Feuertaufe der
nationalen Unabhngigkeit.
Ganz anders fr Deutschland: Dort emprte der Versailler Vertrag von 1919 ein ganzes Volk, das seine Niederlage
nicht anerkennen konnte, weil ihm in den Jahren zuvor korrekte Nachrichten ber das wahre Kriegsgeschick verwehrt
geblieben waren. Eine breite deutsche ffentlichkeit verurteilte die blutenden Grenzen Deutschlands. Durch den
Vertrag wurde Deutschland um ein Siebtel seines Staatsgebiets und um zehn Prozent seiner Bevlkerung reduziert:
Westpreuen und Posen gingen an Polen, Ostpreuen wurde abgeschnitten, Danzig wurde Freie Stadt unter der Hoheit
des Vlkerbundes, Memel kam unter litauisehe Verwaltung.
Mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 in Compigne und dem Schweigen der Waffen im Westen endete
der Krieg im Osten nicht die Nachbeben dauerten noch Jahre an. Zwischen Russland und Polen, deren gemeinsame
Grenzen erst 1921 festgelegt wurden, gab es heftige Kmpfe. In einem brutalen Kleinkrieg verstrickten sich 1918/19 die
kleinen Truppenverbnde Litauens, Lettlands und Estlands, die Rote Armee, konterrevolutionre Truppen, welche die
Bolschewiki zu strzen versuchten, und deutsche Freikorps.
Diese Korps bestanden aus Freiwilligen, die in Deutschland von der Regierung angeworben wurden, um
Arbeiteraufstnde zu unterdrcken und unmittelbar gefhrdete Grenzen zu schtzen. Zwischen 1918 und 1921 betrug
die Zahl der Freikorpskmpfer etwa 400 000.
Einige Freikorps gingen nach Osten, wie der Grenzschutz Ost, um gegen die polnischen Gebietsansprche und
spter in Oberschlesien zu kmpfen. Die Baltikumer eine Gruppierung von 20 000 bis 40 000 Mann, zogen ins
Baltikum, vorgeblich, um dort die europische Kultur vor dem Bolschewismus zu retten. Die Ideologie der Baltikumer
war nihilistisch, sie predigten extreme, ungehemmte Gewalt. Unter ihnen waren verrohte Mnner, die sich den Nazis
ansehlossen, wie Rudolf H, der sptere Kommandant von Auschwitz. Ihr Amoklauf dauerte ein Jahr, dann kehrten die
meisten nach Deutschland zurck und beteiligten sich fortan tatkrftig an der Demontage der Weimarer Republik.
Es wre falsch, die deutsche Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg, die auf ethnische Manipulation abzielte, als Vorwegnahme von Hitlers spterer Ausrottungspolitik in Osteuropa zu
charakterisieren. Trotzdem bestehen historische Parallelen: Die Praxis im Osten erffnete neue Mglichkeiten, Lnder
und Leute als Objekte der Politik zu behandeln; heute nennt sich das Bevlkerungspolitik.
Die Niederlage von 1918 radikalisierte ferner die Einstellung der Deutschen zum Osten. Das Scheitern der Ostpolitik
im Ersten Weltkrieg wurde dem Menschenmaterial angelastet, mit dem man arbeiten musste, ganze Vlker wurden
als zutiefst minderwertig eingestuft.
Auf diesen Lektionen des Ersten Weltkriegs konnten Hitler und die Nazis aufbauen bei ihrer mrderischen Entschlossenheit, den Osten umzugestalten. Anders als das Kaiserreich zwischen 1914 und 1918, so versprachen sie,
wrden sie diesen Umgestaltungsprozess konsequent und erfolgreich zu Ende bringen koste es, was es wolle.

5. DER GLOBALISIERTE KRIEG

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Der Erste Weltkrieg war nicht nur eine europische Katastrophe. Abertausende Soldaten aus Asien und bersee
mussten fr den imperialistischen Grenwahn der europischen Supermchte Deutschland, Frankreich und England
sterben.
Iut al-Amara, 140 km sdstlich von Bagdad am 29. April 1916: Nach fnf Monaten Belagerung kapitulieren 9300
indische Soldaten und 2500 Briten vor einer trkischen bermacht. Auf die Verlierer wartet ein dsteres Schicksal:
Beim Todesmarsch nach Anatolien sterben 4250 Gefangene. Nur der britische General Charles Townshend, der in Kut
das Kommando gefhrt hat, darf den Rest des Krieges in relativem Luxus auf einer Insel vor Konstantinopel
verbringen.
Das trkische Heer hat ein Deutscher befehligt bis zu seinem Tod zehn Tage vor dem Fall von Kut: der
Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, der davon trumte, an der Spitze seiner Ar mee ber Persien bis
nach Indien vorzudringen.
Ein Jahr spter, Mitte Juni 1917, gert ein kleiner Trupp deutscher Infanteristen unter der Fhrung des Offlziers Ernst
Jnger in der Nhe von St. Quentin an der Westfront in ein nchtliches Gefecht. Den Deutschen gelingt es, den Feind in
die Flucht zu schlagen. Verblfft mustern sie Gefangenen Angehrige der First Hariana Lancers. Jnger schrieb
dazu spter in seinem Kriegsbuch In Stahlgewittern: Wir hatten also Inder vor uns, weit bers Meer gekommen, um
sich auf diesem gottverlassenen Stck Erde an Hannoverschen Fsilieren die Schdel einzurennen.
Beide Episoden verdeutlichen die globale Dimension des Groen Kriegs von 1914 bis 1918. Allein auf Seiten der
Englnder kmpften mehrere hunderttausend Mann aus den britischen Dominions Kanada, Australien und Neuseeland.
Hinzu kamen anderthalb Millionen Soldaten und Kulis aus der Kolonie Indien. In Afrika kmpften neben Indern und
Sdafrikanern Belgier aus dem Kongo sowie britische, deutsche und portugiesische Kolonialeinheiten, dazu einheimische Askari von der deutschen Schutztruppe. Und die USA, die erst 1917 in den Krieg eintraten, schafften etwa
zwei Millionen Wehrpflichtige zum Einsatz nach Frankreich.
Dass es irgendwann zu einer weltumfassenden Auseinandersetzung kommen werde, hatten, schon lange bevor die
Schsse von Sarajevo fielen, weitsichtige Zeitgenossen geahnt. Bereits 1887 etwa warnte der preuische General Alfred
von Waldersee vor einem Weltkrieg. Acht Wochen vor dem Beginn des Debakels schwante auch dem deutschen
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: Wir treiben dem Weltkrieg zu.
Und in der Nacht zum 31. Juli 1914, als die Katastrophe schon nicht mehr aufzuhalten war, erklrte der deutsche
Generalstabschef Helmuth von Moltke seinem Adjutanten finster: Dieser Krieg wird sich zu einem Weltkriege
auswachsen. Wie das alles enden soll, ahnt heute niemand.
Aus heiterem Himmel kam das Desaster nicht. Wichtige Voraussetzungen dafr entstanden bereits im ausgehenden
15. Jahrhundert, als die europischen Staaten begannen, sich den Rest der Welt untertan zu machen. Immer mehr Vlker
und Staaten kamen durch Entdeckungen, wirtschaftliche Vernetzung, aber auch Eroberungen miteinander in Kontakt.
Dieser Beginn der Globalisierung fhrte vor allem in Amerika, aber auch auf anderen Kontinenten zur Vernichtung
ganzer Kulturen, auf deren Trmmern dann europische Siedlungskolonien entstanden.
Gekennzeichnet war dieser Expansionsprozess hufig durch brutale Gewalt. Europer fhrten in Ubersee nicht nur
Kriege gegen Einheimische. Im Verteilungskampf um Mrkte und Kolonien gerieten sie schon bald direkt aneinander.
Zu einem Weltkrieg indes eskalierten diese Konflikte erst, als sie mit einem gesamteuropischen Krieg ineinander
flossen.
Die Tendenz hierzu beschleunigte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts und erreichte zwischen 1792 und 1815 einen
Hhepunkt. Die Kriege im Gefolge der Franzsischen Revolution und zur Zeit der napoleonischen Herrschaft
verheerten schlielich Europa von Lissabon bis Moskau und strahlten zudem auf Nord- und Sdamerika, auf Teile
Afrikas und den Nahen Osten, auf die Region am Kaspischen Meer und auf den indischen Subkontinent aus. Sucht man
nach einem Weltkrieg vor 1914, so wird man in jener Periode fndig.
Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts brodelte es in Europa erneut, wiederholt stand der Kontinent am Rand
eines allgemeinen Kriegs. Gleichzeitig rief die schnelle Industrialisierung nicht nur Spannungen in den europischen
Gesellschaften hervor, sie trieb auch die Globalisierung weiter voran. Die Entfernungen zwischen den Kontinenten
schrumpften, die wirtschaftliche Vernetzung intensivierte sich. Der hektische Imperialismus gegen Ende des 19.
Jahrhunderts verlieh den europischen Spannungen eine globale Dimension.
Der Wettlauf nach Afrika war in diesem Zusammenhang besonders gefhrlich. Die Vertreter der Kolonialmchte
bemhten sich daher, den Schwarzen Kontinent nicht zum Schlachtfeld zwischen Europern werden zu lassen. Es
sollte den frisch unterworfenen Eingeborenen keinesfalls das Schauspiel geboten werden, dass sich ihre neuen Herren
gegenseitig massakrierten.
Als die Berliner Afrikakonferenz von 1884/85 die Spielregeln fr die Aufteilung des Kontinents festlegte, wurde denn
auch ausdrcklich beschlossen, die afrikanischen Kolonien im Fall eines europischen Kriegs neutral zu halten. 1914
allerdings zeigte sich, dass derlei bereinkommen im Ernstfall das Papier nicht wert waren, auf dem sie standen. In der
Tat nahm der Krieg sofort globale Dimensionen an. Er griff von Europa prompt auf die Kolonien ber. Treibende Kraft
war hierbei zunchst Grobritannien. Der vlkerrechtswidrige deutsche berfall auf das neutrale Belgien bot einen
glnzenden Vorwand, die Abmachungen der Berliner Afrikakonferenz fr hinfllig zu erklren.
Am 5. August 1914, unmittelbar nach Kriegsausbruch, beschloss das Committee of Imperial Defence in London, alle
deutschen Kolonien anzugreifen. Britische, franzsische, indische und sdafrikanische Truppen sollten DeutschOstafrika, Deutsch-Sdwestafrika, Togo und Kamerun erobern. Gleichzeitig sollten australische, neuseelndische und
japanische Einheiten die deutschen Besitzungen im pazifischen Raum und in China attackieren.
Tatschlich fielen die deutschen Niederlassungen in China und im Pazifischen Ozean schon bald in die Hnde der
Alliierten. Dabei hatten sich die deutschen Garnisonen zum Teil erbittert gewehrt. So hielten die noch nicht einmal 5000

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Mann starken Verteidiger von Tsingtau, der deutschen Kolonie in China, gut zwei Monate lang gegen fast 60 000
japanische Belagerer aus, bevor sie kapitulierten und unter ehrenvollen Bedingungen in Gefangenschaft gingen.
Der Krieg in Afrika war hrter. Togo, wo kaum deutsche Truppen stationiert waren, musste sich zwar schnell ergeben.
Doch in Kamerun wurde bis in den Januar 1916 hinein heftig gekmpft. Erst dann gelang es Truppen aus Westafrika,
der Karibik und Indien, die unter britischem und franzsischem Kommando standen, sowie belgischen Einheiten, diese
Kolonie zu erobern. Den Ort Jaunde fanden sie verlassen und nahezu unbewohnbar vor. Die Mnner der deutschen
Schutztruppe hatten auf den verbliebenen Mbeln sogar ihre Notdurft verrichtet, um sie unbrauchbar zu machen.
Der Feldzug in Sdwestafrika war zwar bereits am 9. Juli 1915 beendet, doch kostete auch er immerhin 1600 Soldaten
das Leben. Am schlimmsten wteten die Kmpfe um Deutsch-Ostafrika. Sie hielten den ganzen Krieg ber an und
dehnten sich auf Britisch-Ostafrika, Mosambik und Rhodesien aus. Auf britischer Seite kmpften rund 160 000
Soldaten aus dem Mutterland und den Dominions, dazu kamen mehr als eine Million Einheimische als Hilfstruppen und
Trger. Ganze Landstriche wurden verwstet. Hungersnte, Seuchen und Gefechte forderten Tausende Tote unter der
Zivilbevlkerung. Die Zahl der gefallenen Soldaten und Trger auf beiden Seiten berstieg 120 000.
Dabei hatten der deutsche Gouverneur Albert Heinrich Schnee und sein britischer Amtskollege in Nairobi, Henry
Conway Belfield, zunchst gehofft, ihre Kolonien aus dem Krieg heraushalten zu knnen. Doch unter der weien
Bevlkerung machte sich sofort nach Bekanntwerden des Kriegsausbruchs in Europa eine regelrechte Hysterie breit. Im
August 1914 wurde nachts in Nairobi wiederholt mit allen mglichen Waffen in die Luft geschossen, um vermeintliche
deutsche Zeppeline abzuwehren.
Vor allem aber waren die Militrs auf beiden Seiten nicht bereit, sich die Aussicht auf Kriegsruhm entgehen zu lassen.
Mnner wie Paul von Lettow-Vorbeck, der mit Geschick und Rcksichtslosigkeit die deutsche Schutztruppe fhrte und
den Gegner immer wieder narrte, konnten in den folgenden vier Jahren tatschlich militrische Lorbeeren ernten. Doch
die ganze Region zahlte einen bitteren Preis fr diesen Ehrgeiz. Entgegen dem immer noch weit verbreiteten Mythos
war der Krieg in Afrika alles andere als nur ein Abenteuer fr europische Heldentypen: Es war ein grausames
Gemetzel.
Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Dominions und Kolonien. Sie stellten nicht nur Millionen Soldaten und
Hilfstrupps, sondern trugen auch einen wesentlichen Teil der Kriegskosten. Allein Indien gab bei Kriegsbeginn einen
Kredit in Hhe von 100 Millionen Pfund und zahlte anschlieend jhrlich 20 Millionen bis 30 Millionen Pfund in die
Kriegskasse des Ernpire.
Auch Frankreich rekrutierte Zehntausende Soldaten in Westafrika und im Maghreb. Massenweise wurden Kolonialsoldaten sogar auf den europischen Schlachtfeldern eingesetzt, wo sie schwere Verluste hinnehmen mussten.
Aber die Heimatlnder der Kolonialsoldaten waren eben keine souvernen Staaten. Die in Fragen der inneren Politik
weitgehend souvernen Parlamente der britischen Dominions wurden von den Gouverneuren noch nicht einmal angehrt, als es um die Entscheidung zum Kriegseintritt an der Seite des Mutterlandes ging. Staatsrechtlich betrachtet
blieb dieser Konflikt somit ber weite Strecken ein Kampf zwischen europisch dominierten Imperien, auch wenn die
betroffenen Menschen diese Vorgnge als Weltkrieg erfuhren.
Frhzeitig griffen souverne auereuropische Mchte in den Krieg ein. Vergleichsweise marginal blieb die Rolle des
seit 1902 mit Grobritannien verbndeten Japan. Die dortige Fhrung beschrnkte sich darauf, deutsche Kolonien in
Ostasien zu besetzen, verlor aber nahezu gnzlich den Wettlauf mit Australien und Neuseeland um die deutschen
Besitzungen im sdlichen Pazifik. Das durch die Eroberung der deutschen Kolonie Tsingtau ausgelste direkte
Engagement der Japaner in China indes entzndete einen Konflikt, der zu den Wurzeln des Zweiten Welt kriegs zu
rechnen ist.
Kurzfristig wesentlich bedeutsamer war der Kriegseintritt des Osmanischen Reichs eines Imperiums, dessen
Territorium seit 1912/13 fast gnzlich auerhalb Europas lag. Auf Betreiben des Kriegsministers Enver Pascha griffen
die Osmanen im Oktober 1914 an der Seite der Mittelmchte in den Krieg ein. Ziel osmanischer Eroberungstrume war
die Schaffung eines
pantrkischen Reichs auf Kosten Russlands. Im Winter 1914/15 griff eine trkische Armee in der Kaukasusregion an.
Doch die schlecht vorbreitete Offensive endete mit einer Katastrophe. Fr einen Winterfeldzug in den Bergen war die
osmanische Armee nicht ausgerstet. Zudem funktionierte der Nachschub nicht. So erfroren und verhungerten Tausende
Soldaten. Von 90 000 Mann berlebten nur
12 000.
Ab Frhjahr 1915 drangen im Gegenzug russische Truppen nach Anatolien vor, wo sie bei Teilen der armenischen
Bevlkerung Untersttzung fanden. Die osmanischen Behrden reagierten mit uerster Brutalitt. Die angeordnete
Deportation der Armenier endete in einem regelrechten Genozid.
Der osmanische Kriegseintritt bewirkte eine fundamentale Wende in der britischen Nahostpolitik, deren oberstes
Gebot bis dahin die Erhaltung des Osmanischen Reichs war. Mitglieder der britischen Fhrung, wie Auenminister Sir
Edward Grey, gingen nun so weit, dem russischen Verbndeten insgeheim die Uberlassung der trkischen Meerengen
zu versprechen.
In der Folgezeit schacherten zudem britische und franzsische Unterhndler um ihre jeweiligen Wnsche bei der
Aufteilung des Osmanischen Territoriums. Auch die italienische Regierung machte sich Hoffnungen auf einen
erheblichen Anteil an der zu erwartenden Beute.
Der osmanische Sultan, in Personalunion Kalif und damit oberster religiser Fhrer des Islam, rief seinerseits den
Dschihad, den heiligen Krieg, gegen die Unglubigen aus, um die muslimischen Untertanen innerhalb des britischen
Empire, vor allem in Indien und im britisch besetzten gypten, sowie die Glaubensbrder unter russischer Herrschaft
zum Aufstand anzustacheln. Er hatte damit letztlich aber keinen Erfolg. Der Krieg in der Levante wurde vor diesem
Hintergrund von allen Seiten mit groer Hrte gefhrt.

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Die Folgen waren verheerend. Die ganze Region geriet in Brand. Im Verlauf des Jahres 1915 scheiterte der britische
Durchbruchversuch auf der Halbinsel Gallipoli, der die Eroberung Konstantinopels einleiten sollte. Den Truppen des
Empire gelang es nicht, die trkischen Stellungen auf den Hgeln der Halbinsel zu strmen. Mehr als 50 000 Mann,
unter ihnen viele Australier und Neuseelnder, kamen bei dem Desaster ums Leben. Die Tragdie von Gallipoli wirkt
bis heute in Australien als Trauma nach und wurde 1981 mit dem jungen Mel Gibson in der Hauptrolle meisterhaft
verfilmt.
Auch das zum Osmanischen Reich gehrende Mesopotamien, das Gebiet des heutigen Irak, wurde zum Kriegsschau platz, nicht zuletzt wegen seiner lquellen. Im November 1914 landeten britische und indische Truppen an der Kste
und nahmen schon bald Basra ein. Vorste in Richtung Bagdad kamen jedoch nur mhsam voran und wurden mit der
Kapitulation von General Townshends Division in Kut al-Amara vorlufig gestoppt. Aber die Briten gaben nicht auf
und schickten Verstrkungen. Am 11. Mrz 1917 fiel Bagdad dann doch. Die Kampfhandlungen im nrdlichen
Mesopotamien gingen danach bis Kriegsende weiter.
Auf dem Sinai wurde ebenfalls gekmpft, zwei osmanische Vorste gegen den Suez-Kanal scheiterten. Auf der arabischen Halbinsel entwickelte sich derweil ein brutaler Kleinkrieg. Den von der Haschemiten-Dynastie des Emirs von
Mekka gefhrten arabischen Aufstand untersttzten die britischen Behrden in gypten zunchst nur halbherzig. Aber
der junge Archologe und Offizier Thomas Edward Lawrence, der eigentlich nur als Beobachter nach Mekka entsandt
worden war, ergriff die Chance, seinen unbndigen Tatendrang zu stillen. In enger Zusammenarbeit mit Feisal, dem
Sohn des Emirs, intensivierte er den Guerillakrieg gegen die Trken. Mit der waghalsigen Einnahme der Hafenstadt
Akaba errang der exzentrische Abenteurer endgltig Kriegsruhm als Lawrence of Arabia.
Die Hoffnungen der Haschemiten auf die Grndung eines neuen arabischen Reichs erfllten sich allerdings nicht. Sie
scheiterten an den imperialistischen Expansionsansprchen Grobritanniens und Frankreichs. Nicht einmal Lawrencc,
der vom Doppelspiel der Politiker angewidert war und sich auf die Seite der Haschemiten schlug, konnte daran etwas
ndern.
Die Deutschen entsandten nicht nur Offiziere, Piloten und Material auf den nahstlichen Kriegsschauplatz, sondern
sogar ein eigenstndiges Asien-Korps, das bis zum Frhjahr 1918 eine Strke von 18 000 Mann erreichte.
Hochrangige deutsche Heerfhrer wie Generalfeldmarschall von der Goltz sowie die Generle Otto Liman von Sanders
und Erich von Falkenhayn bernahmen im Verlauf des Kriegs verschiedene fhrende Kommandoposten an den Fronten
des Nahen Ostens. Allerdings war der deutsche Einfluss im Osmanischen Reich zu keiner Zeit bestimmend. Die
entschieden nationalistische trkische Fhrung achtete streng darauf, das Heft in der Hand zu behalten. Einen deutschen
Lawrence konnte es unter diesen Umstnden nicht geben.
Der Krieg tobte schlielich auch in Palstina, Syrien und im Libanon. Die Zionisten stellten eigene Einheiten zu sammen, um durch die Untersttzung der Briten ihrem Ziel, der Errichtung eines eigenen jdischen Staats, nher zu
kommen. Im Herbst 1917 startete General Edmund Allenby von der Sinai-Halbinsel aus eine britische Grooffensive.
Am 9. Dezember 1917 fiel Jerusalem, seit 1517 in trkischer Hand. Der theatralische Einzug in die Heilige Stadt kurz
vor Weihnachten war ein groer Propagandaerfolg fr die Briten.
In den folgenden Monaten drang Allenby immer weiter nach Norden vor. Am 1. Oktober 1918 rckte australische Kavallerie in Damaskus ein. Whrend das Osmanische Reich im Sden auseinander brach, versuchte die trkische
Fhrung, sich durch eine letzte, fast aberwitzige Kraftanstrengung im Norden Luft zu verschaffen. Russland war durch
Revolution und Brgerkrieg geschwcht. Im Herbst 1918 drangen trkische Truppen bis nach Baku vor, um die
muslimischen Brder in Aserbaidschan zu befreien und ein neues Reich zu grnden.
Doch es war bereits zu spt. Am 31. Oktober 1918 musste die osmanische Fhrung sich dem Diktat der siegreichen
Briten unterwerfen. Immerhin, das Osmanische Reich hatte vier Jahre lang einen uerst harten Krieg an mehreren
Fronten durchgestanden, was ihm vorher kaum jemand zugetraut htte.
Der Preis war enorm: Etwa eine Million Menschen, die ermordeten Armenier nicht mitgerechnet, waren ums Leben
gekommen. Der gesamte Nahe Osten versank im Chaos. Die spteren Friedensregelungen sorgten dafr, dass dies noch
lange so blieb.
Der Erste Weltkrieg war von Anfang an auch und gerade ein Wirtschaftskrieg. Langfristig von grter Bedeutung war
der Zugang zu den Weltmrkten. Die Wirtschaft der europischen Mchte war nmlich lngst viel zu sehr von den globalen Handelsstrmen abhngig, um, nur auf sich selbst angewiesen, auf Dauer berleben zu knnen. Seeblockaden erwiesen sich als eine wichtige Waffe, um den Feind durch Abschnrung der Lebensmittel-, Rohstoff- und Warenzufuhr
zu schwchen.
So sperrten Grobritannien und Frankreich die Zufahrten zum Atlantik und zum Mittelmeer. Die davon betroffenen
Mittelmchte und ihre Verbndeten blockierten ihrerseits den russischen Auenhandel durch die Ostsee und durch die
trkischen Meerengen. Die schlechte Infrastruktur machte es Russland unmglich, die dadurch entstandenen Ausflle
ber seine eisfreien Hfen im hohen Norden und im Fernen Osten zu kompensieren. Es war kein Zufall, dass jene
Mchte, denen auf diese Weise der Zugang zu den Weltmeeren versperrt wurde, am Ende zu den groen Verlierern
gehrten. Whrend ihre Kriegswirtschaft nmlich immer weniger in der Lage war, den Bedarf zu decken, konnten sich
die Entente-Mchte nahezu ungehindert auf dem Weltmarkt bedienen. Ihre Kolonialimperien waren dabei sehr hilfreich.
Doch geradezu entscheidend war der Zugang zum US-amerikanischen Markt. Fr die Wirtschaft der USA erffneten
sich glnzende Mglichkeiten. Zwischen 1914 und 1917 vervierfachten sich die Exporte. Allein die Eisen- und
Stahlproduktion stieg um 76 Prozent. Auch die Landwirtschaft erreichte traumhafte Zuwachsraten. Die Masse dieser
Exporte ging an die Entente-Mchte. Obwohl die USA offiziell ihre Neutralitt erklrt hatten, ergriffen sie damit
indirekt Partei.
Die deutsche Fhrung hielt sich daher fr berechtigt, mit modernsten militrischen Mitteln ihrerseits eine Blockade
des Transatlantikhandels aufzubauen. U-Boote sollten Grobritannien von den lebensnotwendigen Importen
abschneiden. Doch die taugten nur bedingt zur Blockade, solange sie nicht ohne Rcksicht auf zivile und neutrale Ziele

21
eingesetzt wurden. Nach langen internen Machtkmpfen setzten sich innerhalb der Reichsleitung schlielich Anfang
1917 jene durch, die den unbeschrnkten U-Boot-Krieg trotz aller Warnungen aus Washington befrworteten. Die Folge
war der Kriegseintritt der USA am 6. April 1917 einem Karfreitag.
US-Prsident Woodrow Wilson war ber die deutsche Hinterhltigkeit emprt, zumal auch noch ein dummdreistes
Telegramm von Staatssekretr Arthur Zimmermann abgefangen worden war, in welchem dieser die Regierung Mexikos
aufforderte, die USA anzugreifen. Der Idealist Wilson verfolgte das Ziel, der Demokratie zum Sieg zu verhelfen. Obendrein lagen die Sympathien in den USA mehrheitlich auf Seiten der Entente.
Aber mindestens ebenso wichtig war, dass die USA in den letzten Jahren geradezu schtig nach dem Handel mit den
Entente-Mchten geworden waren. Die glnzende Konjunktur war in Gefahr, wenn die Handelspartner und Schuldner
von den Mittelmchten besiegt werden wrden. So spielten wirtschaftliche Motive eine ganz erhebliche Rolle dabei, die
USA in den Krieg hineinzutreiben. Sptestens jetzt war der Weltkrieg endgltig da, zumal die meisten Staaten
Lateinamerikas dem Beispiel Washingtons folgten.
Die deutsche Fhrung war davon ausgegangen, dass die USA kaum in der Lage sein wrden, grere
Truppenkontingente nach Europa zu entsenden. Welch ein Irrtum! Innerhalb von anderthalb Jahren wurde aus der 200
000 Mann starken Berufsarmee nach Einfhrung der allgemeinen Wehrpflicht ein Heer von vier Millionen. Etwa zwei
Millionen GIs schafften die Amerikaner ohne Verluste ber den Atlantik an die Westfront nach Frankreich. Sie
entschieden den Krieg. Nicht, dass sie besonders gut ausgebildet und ausgerstet gewesen wren. Doch die schere
Masse dieser frischen Soldaten erdrckte die erschpften deutschen Divisionen. Dabei kamen rund 117 000 USSoldaten durch Feindeinwirkung oder infolge von Krankheiten ums Leben.
Die schweren Niederlagen an der Westfront, der Zusammenbruch der Verbndeten und dann auch noch die
Revolution im eigenen Land zwangen das Deutsche Reich im Oktober 1918, um Waffenstillstand zu bitten. Grundlage
sollte das Vierzehn-Punkte-Programm von Prsident Wilson sein, das, ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht der
Vlker, einen gerechten Frieden versprach. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte waren die USA zur Weltmacht
aufgestiegen. Womit endete der 1.Weltkrieg?
1. Der Erste Weltkrieg endete mit einer merklichen Verschiebung der globalen Krfteverhltnisse. Vier Imperien
waren zusammengebrochen: das Deutsche Reich, sterreich-Ungarn, das Russische Reich und das Osmanische Reich.
Mit Finnland, den baltischen Lndern, Polen, Ungarn, sterreich, der Tschechoslowakei und dem spteren
Jugoslawien entstanden neun neue Staaten. Grobritannien, Frankreich und Italien erschienen als siegreiche Gromchte. Japan hatte seine Gromachtstellung in Ostasien gefestigt.
2. Dieser Krieg war in all seiner Grausamkeit Ausdruck der fortschreitenden Globalisierung. Er wurde nicht nur auf
mehreren Kontinenten und allen Weltmeeren gefhrt, sondern er verschob riesige Armeen samt ihrem Tross ber Tausende Kilometer hinweg. Dass sich dies technisch und logistisch berhaupt ermglichen lie, demonstrierte, wie klein
die Welt geworden war. Es wurde zudem deutlich, wie eng sich das Netz der Weltwirtschaft verflochten hatte. Wer vom
Weltmarkt ausgeschlossen war, hatte auf Dauer keine Chance.
3. Die ffnung der Mrkte und damit die weitere, diesmal friedliche Globalisierung war eines der wichtigsten
amerikanischen Kriegsziele gewesen. Durch die erneute Selbstisolation der USA nach dem Krieg der US-Senat
verweigerte im Mrz 1920 die Ratifizierung des Versailler Vertrags aber wurde dieses Ziel verraten und auch die
Gesundung der schwer beschdigten Weltwirtschaft behindert. Die von Wilson verfolgten multilateralen Prinzipien blieben somit letztlich Papier, und berall gewannen die nationalen Egoismen die Oberhand.
4. Fr die Kolonialreiche hatte der Krieg noch eine eine andere bedenkliche Folge: Die Sieger konnten sich nmlich
die deutschen Kolonien und die okkupierten Teile des Osmanischen Reichs nicht einfach einverleiben. Diese Gebiete
wurden ihnen vielmehr als Mandate des neu gegrndeten Vlkerbundes bergeben, verbunden mit der ausdrcklichen
Aufforderung, deren Unabhngigkeit vorzubereiten. Doch wenn diesen Gebieten zumindest langfristig das Recht auf
Selbstbestimmung zuerkannt wurde, warum dann nicht auch den anderen Kolonien?
5. Die Dominions des britischen Empire hatten im Krieg an Selbstbewusstsein gewonnen und strebten in der Folgezeit
nach grerer Selbstndigkeit. Aber auch in Kolonien wie Indien wuchs das Verlangen nach Selbstbestimmung. Der
Indische National-Kongress des Mahatma Gandhi berief sich fortan auf das Selbstbestimmungsrecht der Vlker und
verga auch nicht, an den erheblichen Beitrag zu erinnern, den Indien in diesem Krieg geleistet hatte.
6. Die Forderungen der indischen Nationalisten dienten den antikolonialistischen Bestrebungen in anderen Teilen der
Welt in den folgenden Jahrzehnten als Vorbild. Durch den Sieg im Ersten Weltkrieg hatten das britische und das
franzsische Kolonialreich ihre grte territoriale Ausdehnung erreicht. Doch gleichzeitig begannen sich jene Krfte zu
regen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Untergang herbeifhrten.
7. Die Sieger erwiesen sich als unfhig, aus der globalen Katastrophe des Ersten Weltkriegs die richtigen Schlsse zu
ziehen. Statt sich der Herausforderung der Globalisierung zu stellen und sich um die Schaffung einer offeneren und gerechteren Weltordnung zu bemhen, beharrten sie auf jenem nationalistischen Kleingeist, welcher 1914 das Unheil
heraufbeschworen hatte. Die in den Pariser Vorortvertrgen ausgehandelte Friedensordnung provozierte auf Dauer
neue Konflikte.
Der britische Offizier Archibald Wavell, der unter General Allenby im Nahen Osten gedient hatte, kommentierte das
Ergebnis sarkastisch: Nach dem Krieg zur Beendigung aller Kriege scheinen sie in Paris ziemlich erfolgreich an
einem Frieden zur Beendigung allen Friedens gearbeitet zu haben.
6.DER UNFRIEDE VON VERSAILLES
Die Sieger des Ersten Weltkriegs wollten eine dauerhafte Friedensordnung schaffen. Stattdessen vertieften sie die
Spaltung Europas und legten so den Grundstein fr den nchsten groen Krieg.

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Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles drngen sich am 28. Juni 1919 um kurz vor 15 Uhr ber tausend
Menschen: Staatsmnner, Diplomaten, Militrs und Journalisten. Als die Saaldiener mit Sei! Sei! zum Schweigen
auffordern, erstirbt das Gemurmel. Die scharfe, durchdringende Stimme von Georges Clemenceau, dem 77-jhrigen
franzsischen Premierminister, durchbricht die Stille: Bringen Sie die Deutschen herein.
Zwei mit Silberketten geschmckte Huissiers marschieren im Paradeschritt vornweg, ihnen folgen je ein Offizier der
wichtigsten Siegermchte Frankreich, Grobritannien, Italien und USA. Dann betreten Auenminister Hermann Mller
und Reichsverkehrsminister Johannes Bell den Raum. Ihre Gesichter sind bleich, den Blick richten sie starr zur Decke.
Um nicht mit franzsischer Tinte unterschreiben zu mssen, haben die beiden Deutschen eigene Fllfederhalter mitgebracht. Nach einer kurzen Ansprache Clemenceaus setzen Mller und Beil ihre Namen unter die Urkunde mit den
440 Artikeln; danach unterzeichnen die Vertreter von 26 Delegationen aus allen Kontinenten.
Der Friedensvertrag von Versailles zhlt zu den am heftigsten angefeindeten Dokumenten des 20. Jahrhunderts. Die
Regelungen waren zwar gemigt im Vergleich zu dem, was die Deutschen im Falle eines Siegs vorhatten und den Rus sen im Frieden von Brest-Litowsk 1918 auch abverlangten. Dennoch emprten sich Vertreter aller deutschen Parteien
ber den Schmachfrieden. Er sei unertrglich, urteilte Reichsministerprsident Philipp Scheidemann. Der Sozialdemokrat trat zurck, weil er eine Unterzeichnung des Vertrags nicht verantworten wollte: Welche Hand msste nicht
verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt? Deutschland, so hie es im berhmten Versailler Kriegsschuldartikel
231, habe den Alliierten den Krieg aufgezwungen und sei fr alle Verluste und alle Schden verantwortlich. Die
Weimarer Republik musste ein Siebtel des deutschen Gebiets von 1914 abtreten sowie alle Kolonien. El sass-Lothringen
ging verloren und auch die Landverbindung nach Ostpreuen. Millionen Deutsche lebten fortan in Polen und der
Tschechoslowakei.
Die wirtschaftlichen Verluste waren ebenfalls betrchtlich: Deutschland gab fast seine gesamte Handelsflotte, ein
Drittel der Kohlen- und drei Viertel der Erzvorkommen ab. ber die Hhe der verlangten Reparationen konnten sich
die Alliierten zunchst nicht einigen, 1921 verstndigten sie sich auf 132 Milliarden Goldmark, umgerechnet etwa 300
Milliarden Euro.
Auerdem musste Deutschland radikal abrsten. Die Alliierten verboten die Wehrpflicht, die Weimarer Republik durf te nur ein Heer aus 100 000 Berufssoldaten unterhalten. Das Rheinland kam unter alliierte Besatzung und sollte erst
nach is Jahren vollstndig gerumt werden. Alliierte Inspekteure berwachten die Verschrottung aller Panzer,
Militrflugzeuge und U-Boote.
Die Nationalsozialisten nutzten den Versailler Vertrag von Anfang an, um die junge Demokratie zu diskreditieren. Es
kann nicht sein, dass zwei Millionen Deutsche umsonst gefallen sind, tnte Adolf Hitler, wir fordern Vergeltung.
Erst 1932, als die Weimarer Republik bereits daniederlag, stimmten die Alliier ten einem Ende der Reparationen zu.
Hitler setzte sich nach seinem Machtantritt ber die meisten anderen Bestimmungen des Vertrags hinweg. Bis zum
Zweiten Weltkrieg haben ihn die Alliierten nicht daran gehindert ein folgenschwerer Fehler der westlichen
Diplomatie.
Im Wesentlichen waren drei Mnner fr den Versailler Vertrag verantwortlich: der 62-jhrige Jurist Woodrow Wilson,
der im Dezember 1918 als erster US-Prsident Europa betrat, der 56-jhrige britische Premierminister David Lloyd
George, Sohn eines walisischen Lehrers, und der Franzose Clemenceau, ein gelernter Arzt, der von sich selbst sagte,
dass er Deutschland abgrundtief hasse fr das, was es Frankreich angetan hat.
Seit dem 12. Januar 1919 trafen die drei tglich mit ihren Auenministern und den Vertretern Italiens und spter auch
Japans im franzsischen Auenministerium zusammen. Ab Ende Mrz verhandelten sie gemeinsam nur noch mit
Italiens Premier Vittorio Orlando in Wilsons Residenz.
Wirklich gut vorbereitet auf die komplizierten Verhandlungen war die kleine Herrenrunde nicht; die Alliierten hatten ein
Ende der Kmpfe erst fr 1919 erwartet.
Die Politiker standen vor einer schier unlsbaren Aufgabe. Seit dem ersten Dreiigjhrigen Krieg war Europa nicht
mehr so verwstet worden. Insbesondere Belgien und Frankreich hatten gelitten, Grobritannien hatte sich zudem fr
den Krieg hoch verschuldet. Wer sollte fr den Schaden aufkommen?
Vor allem aber: Wie lie sich sicherstellen, dass ein revanchistisches Deutschland nicht schon bald einen neuen Krieg
anzettelte? Die Deutschen waren auch nach 1918 den Franzosen berlegen, wie Clemenceau feststellte: Der Fehler der
Deutschen ist, dass es 20 Millionen zu viel von ihnen gibt.
Bereits 1919 sahen einige Industrielle eine Lsung fr das deutsche Problem nur in einer europischen Integration.
Doch anders als 1945 gab es nach dem Ersten Weltkrieg keinen Feind wie den Kreml-Diktator Josef Stalin, der die
Westmchte zur Migung gegenber den Verlierern zwang. Clemenceau und Lloyd George standen vielmehr unter
groem innenpolitischem Druck. Die ffentliche Meinung, so die amerikanische Historikerin und Urenkelin von
Lloyd George, Margaret MacMillan, htte Milde nicht erlaubt.
Obwohl alliierte Experten wie der konom John Maynard Keynes die zu erwartenden deutschen Reparationsleistungen realistisch einschtzten, setzte Lloyd George durch, dass keine Summe in dem Vertrag festgeschrieben wurde
er frchtete die Reaktion in seiner Heimat auf einen als zu gering empfundenen Betrag.
Spter jonglierten die Regierungen der Siegermchte mit astronomischen Zahlen. Um den grotesken Forderungen zu
entgehen, nahmen Weimars Regierungen eine Hyperinflation in Kauf. Am Ende brachte das Reich, so die Schtzung
MacMillans, etwas weniger auf als Frankreich nach dem deutschen Sieg 1871. Der politische Schaden fr die junge Republik war hingegen enorm.
Am meisten Untersttzung hatten sich die Deutschen von den USA versprochen. Wilson hatte whrend des Kriegs
einen Frieden ohne Sieg auf der Basis des nationalen Selbstbestimmungsrechts in Aussicht gestellt. Berlin konnte
daher hoffen, vom Schlachten trotz einer Niederlage zu profitieren denn viele Menschen aus den deutschsprachigen
Gebieten der zerfallenden k. u. k. Monarchie strebten zum Reich.

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Allerdings hatte der US-Prsident nach dem Jubel in Deutschland ber den Diktatfrieden von Brest-Litowsk seine
Haltung revidiert: Das deutsche Volk muss lernen, den Krieg zu hassen. Dem ehrgeizigen Idealisten aus Virginia, von
amerikanischem Sendungsbewusstsein beseelt, war vor allem eines wichtig: die Grndung des Vlkerbundes, Vorlufer
der heutigen Uno. Ein kollektives Sicherheitssystem sollte den Weltfrieden knftig garantieren, nicht ein Gleichgewicht
zwischen den europischen Gromchten. Um die Zustimmung Lloyd Georges und Clemenceaus fr seine Vision zu erhalten, war Wilson bereit, beiden weit entgegenzukommen.
Das Ergebnis war ein Kompromiss, der die Lage in Europa auf Dauer destabilisierte. Denn die Bedingungen des Versailler Vertrags waren hart genug, um Deutschland gegen den Frieden aufzubringen, aber nicht hart genug, um es
dauerhaft zu schwchen. Das Land wurde nicht geteilt, es musste das Rheinland nicht abtreten; nur eine Vereinigung
mit sterreich verboten die Alliierten. Das Reich hatte gute Aussichten, so der Berliner Historiker Heinrich August
Winkler, wieder zur europischen Gromacht aufzusteigen.
Zu allem berfluss ratifizierte der US-Senat den Versailler Vertrag nicht. Die Vereinigten Staaten von Amerika der
wichtigste Garant fr Frieden in Europa zogen sich vielmehr vom alten Kontinent zurck und nahmen Frankreich und
Grobritannien damit den Schutz vor dem deutschen Riesen.
Und dennoch htte der Friedeh von 1919 eine kleine Chance gehabt, wenn nicht auch Deutschlands Demokraten versagt htten. Seit April 1919 lag der Regierung aus SPD, dem katholischen Zentrum und der liberalen DDP eine Dokumentation zur Politik Wilhelms II. in der Juli-Krise vor, aus der eine Hauptschuld Deutschlands und sterreichUngarns am Kriegsausbruch deutlich hervorging. Scheidemann nahm die brisanten Papiere unter Verschluss. Er wollte
die eigene Position in Versailles nicht schwchen und trug so zur Verbreitung der Kriegsunschuldslge bei.
Wohl kein Artikel im Versailler Vertrag emprte die Deutschen so sehr wie der Hinweis auf ihre Kriegsschuld. Die
gigantischen Zerstrungen in Belgien und Frankreich blieben in Deutschland weitgehend unbekannt.
Als Ende April 1919 die Delegation Berlins nach Paris reiste, um dort die Friedensbestimmungen entgegenzunehmen,
verfgte Clemenceau, die drei Sonderzge drften nur im Schritttempo durch das verwstete Nordfrankreich fahren.
Der Blick auf die Zerstrungen blieb ohne Eindruck auf die Delegationsmitglieder. Wir waren aufrichtig davon
berzeugt, schrieb ein mitfahrender Journalist spter, dass die grere Verantwortung am Kriegsausbruch bei der
Gegenseite liege.
Den alliierten Vertragsentwurf wiesen die Deutschen scharf zurck. Doch nur in wenigen Punkten gelang ihnen in
Versailles eine Korrektur. Am 16. Juni 1919 hatten die Alliierten genug und forderten eine Unterschrift binnen fnf
Tagen. Andernfalls wrden sie diejenigen Schritte ergreifen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen fr erforderlich
halten.
Ein Telegramm vom Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Grner, dem Ludendorff-Nachfolger, brachte in Weimar,
wo die verfassunggebende Nationalversammlung tagte, die Entscheidung. Der General erklrte, dass eine Wiederaufnahme der Kmpfe aussichtslos sei. Daraufhin nderten bis dahin zgernde Zentrums-Abgeordnete ihre Meinung. Am
23. Juni stimmte die Versammlung einer Unterschrift zu. Auenminister Mller und sein Kollege BeIl fuhren nach
Versailles.
Htten sich die Parlamentarier anders entschieden, wren Stunden spter die Alliierten, die am Rhein standen, ins In nere Deutschlands marschiert.
7. LENIN ARBEITET NACH WUNSCH
Waffenruhe an der Ostfront durch die russische Revolution
Was ntzt die ganze Rebellion, junger Mann? Sehen Sie nicht, dass Sie gegen eine Mauer anrennen? So soll ein
Polizist den Jurastudenten Wladimir Uljanow im zaristischen Gefngnis gefragt haben. Der Hftling, der sich spter
Lenin nannte, antwortete: Jawohl, eine Mauer, aber eine morsche, ein Futritt, und sie strzt ein.
Die Mauer war das reaktionrste Regime Europas jener Zeit, das Russland der Zaren, die absolut regierten, seit 1905
dekoriert mit einem Scheinparlament, der Duma. Aber die lokale Selbstverwaltung funktionierte, die Gerichte waren
unabhngig, von 188o bis 1890 wurden 17 Personen hingerichtet. Ein halbes Jahrhundert spter kommen Millionen ums
Leben.
Die Prawda, das Organ der linksradikalen Lenin-Anhnger (Bolschewiki = Mehrheitler), war meist frei
verkuflich. Die Zensur lie Das Kapital von Karl Marx ungekrzt erscheinen. Jeder dritte mnnliche Russe, fast alle
der drei Millionen Fabrikarbeiter konnten lesen und schreiben. Das von Grogrundbesitzern beherrschte
Entwicklungsland mit 80 Prozent Landbevlkerung trat mit auslndischen Krediten in die Industrialisierung ein,
erzeugte schon ebenso viel Stahl wie Frankreich, so viele Maschinen wie sterreich-Ungarn, so viel Papier wie Schweden. In der Industrieproduktion stand es an fnfter Stelle in der Welt, in der Erdl-gewinnung an zweiter (hinter den
USA).
Mit Reformen, die durch Ansiedlung freier Bauern in Sibirien vor allem die bervlkerung auf dem Lande beenden
sollten, hoffte Premier Witte bis 1922 den Anschluss an die fortgeschrittenen Industrienationen zu finden falls kein
Krieg dazwischenkomme. Doch dann fhrte die Parteinahme fr Serbien, der Zugriff auf den Balkan, in den Krieg. Er
stie zunchst weithin auf Begeisterung weil es gegen die verhassten deutschen Lehrmeister und Besserwisser ging
Doch Witte hatte es geahnt: Dieser Krieg berforderte die Krfte Russlands, das noch vom verlorenen Feldzug gegen
Japan 1904/05 und der daraus entstandenen, gescheiterten Revolution geschwcht war. Der russische Wehretat war zwar
doppelt so hoch wie der deutsche. Uber 60 000 Kilometer Eisenbahnstrecken waren gebaut worden, die Industrie hatte
eine ausgezeichnete Artillerie bereitgestellt.
Von den 5,35 Millionen Soldaten des Kriegsbeginns hatte allerdings jeder dritte schon gegen die Japaner gekmpft
und war dann ins Zivilleben zurckgekehrt, hatte eine Familie gegrndet und mochte daher ungern sein Leben dem
Vaterland opfern. 1,8 Millionen fielen bis zum Frhjahr 1915 aus tot, verwundet oder gefangen. Bauernshne

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wurden zum Ersatz ausgehoben, schlielich steckten in der rund 16 Millionen Mann starken Armee knapp 40 Prozent
der wehrfhigen Mnner.
Die Folgen: Die Getreideproduktion sank um ein Drittel, das Bahnsystem funktionierte schlecht, die Kohleproduktion
ging auch nach dem Verlust des polnischen Kohlereviers um ein Fnftel zurck. Die Versorgung der Stdte brach
zusammen, die Preise verdoppelten sich, die Menschen mussten was den sozial-revolutionren Agitatoren zupass
kam nach allem Schlange stehen.
Die Deutschen drangen nach ihrem Sieg bei Tannenberg und an den masurischen Seen bis Litauen, Lettland und
Weirussland vor. Ihre Besatzungspolitik unterschied sich von der Tyrannei des Zweiten Weltkriegs, die Okkupanten
sttzten sich auf die Deutsch sprechende jdische Minderheit. General Ludendorff lie Flugbltter auf Jiddisch
abwerfen: Unsere Fohnen brengen eich Recht un Freiheit.
Die russischen Bauernsoldaten sahen sich ungengend ernhrt und bald auch ungengend ausgerstet, oftmals ohne
Gewehr, das sie sich bei Gefallenen holen sollten. Rasch erlagen sie der sozialistischen, vom Feind mitfinanzierten
Propaganda, die ihnen den Frieden und sogar eigenen Boden versprach.
Am Ende waren 1,7 Millionen gefallen, 4,9 Millionen verwundet, 2,5 Millionen in ertrglicher Gefangenschaft.
Die Russen hatten ihrerseits 1,1 Millionen Deutsche, 2 Millionen sterreicher und 50 000 Trken gefangen genommen.
Daheim bernahm der Zar den Oberbefehl und schaltete die Duma aus. Seine Frau, eine Deutsche, lie sich von dem
nach einer Ausweisung aus St. Petersburg rasch zurckgekehrten Wundermnch Rasputin beraten, was das ganze
monarchische System in Misskredit brachte.
Die Einwohner aber hungerten und froren erbrmlich im Winter 1916/17. Am 23. Februar 1917 (nach altem Kalender,
am 8. Mrz nach westlicher Rechnung) begingen in der Hauptstadt Demonstrantinnen den Internationalen Frauentag.
Rstungsarbeiter, die wegen eines Streiks von 24 000 Beschftigten der Putilow-Werke ausgesperrt waren, schlossen
sich an. Nach zwei Tagen streikten 200 000 fr Brot und Frieden, der Zar lie schieen. Daraufhin meuterten die 160
000 Mann der Garnison, auch die Garderegimenter dieser Tritt gengte schon, das morsche Regime zerfiel. Ein
Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) trat zusammen. Duma-Abgeordnete bildeten eine Provisorische Regierung. Der
Zar dankte rasch ab.
Lenin, als Emigrant in der Schweiz, wurde davon berrascht. Noch Wochen vorher hatte er resigniert: Wir, die Alten,
werden vielleicht die entscheidenden Kmpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Dass sie spontan ausbrach,
erfuhr er aus der Neuen Zrcher Zeitung.
Doch er fand einen mchtigen Sponsor: die deutsche Reichsregierung, die ihm insgesamt 82 Millionen Goldmark
zukommen lie. Der kleine, kahlkpfige Mann mit einer halbjdischen deutschstmmigen Mutter und mehr Tatare als
Russe, bot Berlin die Chance, den Zweifrontenkrieg auf einer Seite zu beenden. Dieses Projekt hatte der Sozialist,
Osthndler und Millionr Alexander Helphand (Parvus) dem deutschen Gesandten Ulrich von Brockdorff-Rantzau in
Kopenhagen beigebracht, und jener meldete nach Berlin, was geschehen knnte, wenn es gelnge, Russland rechtzeitig
zu revolutionieren und dadurch die Koalition der Feinde zu sprengen: Der Sieg, und als Preis der erste Platz in der
Welt, ist unser.
Im Grunde wollte Lenin dasselbe, aber fr sich. Schon 1902 hatte er in einer Bro schre, die im Stuttgarter SPDVerlag erschien (Was tun?), eine Revolution propagiert, welche das russische Proletariat zur Avantgarde des
internationalen revolutionren Proletariats machen werde.
Kaiser und Oberste Heeresleitung stimmten zu: Russlands neue Regierung setzte den Krieg fort, Lenin aber trommelte
fr sofortigen Friedensschluss mit Deutschland. So halfen die Deutschen den Kommunismus in Russland zu etablieren,
welche Folgen das auch immer bergen mochte.
Durch Vermittlung von Helphands Agenten Georg Sklarz transportierte das deutsche Militr den gefhrlichen Lenin
samt drei Dutzend anderen Revolutionren im Bahnwaggon in ihre Heimat. An der Grenze lie ein Rittmeister die
Reisenden antreten und durchzhlen. ber Berlin, Sassnitz, Schweden und Finnland ging es nach Petrograd, wie
Russlands Hauptstadt nun hie. Der Stockholmer Resident des deutschen Geheimdiensts telegrafierte: Lenins Eintritt
nach Russland geglckt. Er arbeitet vllig nach Wunsch. Noch auf dem Finnischen Bahnhof von Petrograd proklamierte Lenin den Sturz der Provisorischen Regierung, die den Krieg fortfhrte und weiter auf den Westen setzte. Der
deutsche Kriegsherr Ludendorff befand hernach: Militrisch war die Reise gerechtfertigt, Russland musste fallen.
Unsere Regierung aber hatte darauf zu achten, dass nicht auch wir fielen.
In Russland hielten zunchst sogar die bolschewistischen Spitzengenossen Lenin fr bergeschnappt er war mit
seiner extremen Position auch unter den Sozialisten isoliert. Doch zwischen Lenins Rckkehr im Mrz 1917 und dem
Herbst desselben Jahres nahmen die Kriegsmdigkeit der Bauern- und Arbeitersoldaten und ihr Hass auf die Obrigkeit
dramatisch zu. Desertionen und Meutereien griffen um sich. Dieser Stimmungsumschwung bereitete der neuen
Revolution, fr die Lenin unermdlich agitierte, den Boden. Weil die Provisorische Regierung den Revolutionr, den
die deutsche Regierung eingeschleust hatte, als deutschen Spion zur Fahndung ausschrieb, tauchte Lenin mit falschem
Pass in Finnland unter.
Dort entwarf er sein Projekt fr Russland: Der Sozialismus stehe nicht auf der Tagesordnung. Wichtiger war es, in
dem unterentwickelten Land eine Basis mit proletarischer Mehrheit zu schaffen, also die Industrialisierung weiter
voranzutreiben, nur rascher ohne die Grundbesitzerkaste und unabhngig von auslndischem Kapital. Entscheidende
Hilfe erwartete er von der Revolution im industriell entwickelten Westeuropa und paktierte mit Ludendorff.
Zum Muster eines knftigen Betriebs nahm Lenin die Deutsche Reichspost, zum Vorbild der Wirtschaftslenkung die
deutsche Rstungsbehrde Wumba das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt Walther Rathenaus am Berliner
Kurfrstendamm. Lenin: Macht, was die Wumha macht! Und an Stelle der Arbeiterrte konzipierte er die
unumschrnkte Diktatur seiner kleinen Intellektuellenpartei.
Nach einem Szenario von Leo Trotzki, dem neben Lenin wichtigsten Fhrer der Revolution, besetzten am 25. Oktober
1917 Arbeiter, desertierte Soldaten und Rotgardisten kampflos die Brcken, die Telefonzentrale, die Telegrafenmter,

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Druckereien, Elektrizittswerke, Bahnhfe, Munitionsdepots und Lebensmittelmagazine in Petrograd. Auf Widerstand
trafen sie nur im Militrhauptquartier und am Regierungssitz, dem Winterpalais, das von einem Frauenbataillon und
Offiziersschlern verteidigt wurde. Sechs Tote forderte der Putsch. Dieser Umsturz sollte als Groe Sozialistische
Okoberrevolution in die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung eingehen. Aber er war keine Revolution, er war
nicht sozialistisch, er war nicht gro (die Petersburger bemerkten ihn kaum). Nach westlichem Kalender fand er auch
nicht im Oktober statt.
Seine Folgen aber sollten Millionen Menschen das Leben kosten. Im Mrz 1918 schloss Lenin, um Zeit zu gewinnen,
wie er sagte, bis zur erhofften Entlastung der russischen Revolution durch den sozialistischen Umsturz in Deutschland,
in Brest-Litowsk Frieden mit dem Reich Kaiser Wilhelms II. Diesem brachte der Diktatfrieden an der Ostfront kaum
Entlastung. Die deutschen Truppen blieben als Besatzer. Da sie zur Absicherung im Osten eingesetzt wurden, fehlten sie
im Frhjahr 1918 bei den letzten verzweifelten Versuchen, das Kriegsgeschick an der Westfront zu Gunsten
Deutschlands zu wenden.
Gleich nach dem Oktober-Putsch empfing Lenin 15 Millionen Goldmark aus Berlin. Auch in Moskau und anderen
Stdten siegten die Bolschewiki, ein jahrelanger, blutiger Brgerkrieg folgte, in dem die Gromchte erfolglos intervenierten, den Trotzkis Rote Armee aber zur Wiederherstellung des Vielvlkerstaats nutzte.
Lenin hielt keines seiner Versprechen. Er befahl Myriaden von Hinrichtungen und die Verstaatlichung der Betriebe
wie von Grund und Boden. Die Volkswirtschaft kollabierte, Arbeiter und Matrosen erhoben sich wieder 1921 in
Kronstadt, ihr Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Lenin ging darauf zu einer Art Marktwirtschaft ber, die er
Staatskapitalismus nannte. Nach Lenins Tod 1924 ersetzte der Georgier Josef Stalin die Hoffnung auf die
Weltrevolution durch den russisch-nationalen Aufbau des Sozialismus in einem Land. Nach Enteignung der Bauern
und Hinrichtung der meisten Oktober-Revolutionre gelang es ihm, Russland mit Gulag-Gewalt zur Weltmacht zu
fhren.
Fast ein halbes Jahrhundert versteinerte der von Lenin gegrndete Staat - bis auch er zerfiel wie eine morsche Mauer.

DIE JULIKRISE 1914


28. Juni Der bosnische Serbe Gavrilo Princip erschiet den sterreichischen Thronfolger Franz
Ferdinand in Sarajevo. Wien erwgt eine Strafaktion gegen das international weitgehend isolierte
Serbien.
5. Juli sterreichs Kaiser Franz Joseph bittet Wilhelm II. um Untersttzung. Das Deutsche Reich
soll Russland den mchtigen Verbndeten Serbiens von einem Eingreifen ab-schrecken.
Wilhelm II. sagt zu, in gewohnter Bndnistreue an der Seite Wiens zu stehen.
23. Juli sterreich verlangt von Serbien in ein Ultimatum die Unterdrckung jeglicher Aktione
gegen die sterreichisch-ungarische Monarchie und eine gerichtliche Untersuchung des Alten unter
Mitwirkung Wiener Beamter.
28. Juli sterreich erklrt Serbien den Krieg, nachdem Belgrad sich weigerte, die Wiener
Forderungen vollstndig zu erfllen.
29. Juli Londons Auenminister Grey warnt, Grobritannien werde im Fall eines groen Krieges
Frankreich beistehen. Vergebens versucht Reichskanzler Bethmann Hollweg, die Briten zur
Neutralitt zu bewegen.
30. Juli Zar Nikolai II. ordnet die russische Gesamtmobilmachung an. Bethmann Hollweg drngt
Wien erfolglos, die Briten als Vermittler zu akzeptieren.
31. Juli Deutschland droht dem Zaren mit einem Krieg, falls Russland nicht innerhalb von 12
Stunden demobilisiere. Das Reich verlangt zugleich von Frankreich in einem Ultimatum, sich
innerhalb von 18 Stunden fr neutral zu erklren. Der franzsische Ministerrat beschliet die
Mobilmachung.
1. August Deutschland erklrt Russland den Krieg und macht mobil.
3. August Deutschland erklrt Frankreich den Krieg. Der Schlieffen-Plan sieht vor, die als unberwindbar geltenden Befestigungen in Ost-Frankreich durch einen Einmarsch in das neutrale
Belgien zu umgehen und Frankreich innerhalb weniger Wochen zu besiegen. Anschlieend soll die
deutsche Armee gegen Russland vorgehen, bevor dort die Mobilmachung abgeschlossen ist.
4. August Grobritannien begrndet seinen Kriegseintritt mit dem vlkerrechtswidrigen Einmarsch
deutscher Truppen in Belgien.

EIN HAMMERSCHLAG...
Historiker widerlegen die Legende von der Kriegsbegeisterung der Volksmassen im Herbst 1914.

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Gerade erst hat sich der Abiturient an der Mnchner Universitt einschreiben lassen, da wirft er all
seine Plne um. Auch fr mich gibt es nun kein Halten mehr, schreibt Andreas Wilmer am Abend
des 1. August 1914 seiner Mutter: Wie alle meine Kommilitonen habe ich mich sofort freiwillig
gemeldet.
Nie werde er die Eindrcke jenes Tages vergessen, die ihn wie all die anderen Erst-semester zu
den Fahnen eilen lassen: Vor der Feldherrenhalle stand ein Trommlerkorps mit blitzenden
Pickelhauben. Als ein Feldwebel die Kriegserklrung verlas, jubelten alle; Strohhte flogen in die
Luft.
Glockengelut, Chorle, wildfremde Menschen, die sich in die Arme fallen jahrzehntelang galt
als gesichert, dass die Volksmassen frohlockten, als der Krieg ausbrach. Nur wenige Vorstellungen
sind so tief in unserem historischen Bewusstsein verankert, wie die Kriegsbegeisterung von 1914,
urteilt der Geschichtswissenschaftler Wolfgang Kruse: Es scheint, als habe die europische
Bevlkerung den Krieg herbeigesehnt.
Ein Volk, das pltzlich keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch Deutsche; siegesgewisse
Soldaten in karnevaleskem bermut; Sommerblumen in den Gewehrlufen; Truppentransporte in
Waggons mit kriegerischen Kreideparolen fast ein Jahrhundert lang prgen diese Bilder vom
Kriegsbeginn die kollektive Erinnerung der Nation. Und doch: Sie spiegeln allenfalls die halbe
Wahrheit wider.
Die Historikerzunft habe, so Kruse, den Volksglauben von der allgemeinen Kriegs-begeisterung
lange ungefagt bernommen. In Fachkreisen allerdings erregte der franzsische Historiker JeanJacques Becker 1977 Aufsehen mit einer Analyse von ber 600 Stimmungsberichten heimischer
Schulleiter. Fazit: Nicht mit allumfassendem Jubel htten die Franzosen auf die Mobilmachung
1914 reagiert, sondern mit einem breiten Spektrum von Stimmungen bis hin zu Entsetzen und
Panik.
Im Kaiserreich sei es nicht anders zugegangen, ergnzte der US-Historiker Jeffrey Verhey in einer
im Jahr 2000 in Deutschland erschienenen Studie. Der von der Heeresleitung immer wieder beschworene Geist von 1914 sei weitgehend auf brgerlich-akademische Grostdter beschrnkt
gewesen; in der Arbeiterschaft wie in der Provinz htten bei Kriegsbeginn Unruhe, Angst und
Entsetzen vorgeherrscht.
Tatschlich belegen Unmengen von Quellen die Ansicht, dass die These von der Dominanz der
Kriegsbegeisterung in Wahrheit ein Konstrukt gewesen sei, das die gelenkte Presse und die
gezielte Kriegspropaganda sowie spter die NS-Ideologen zum Mythos aufgeblasen haben.
Mittlerweile haben sich berall in Deutschland Profis wie Hobby-Historiker auf Spurensuche
begeben. In Kirchen- und Stadtarchiven, Tagebchern und Feldpostbriefen finden die Lokalforscher
Belege, die das so lange kolportierte Bild vom Kriegsbeginn relativieren.
Selbst im Berliner Zentrum wo Dokumentaraufnahmen den Zeitgenossen wie den
Nachgeborenen alles beherrschende Begeisterung suggerierten hielt sich die Hurra-Stimmung in
Grenzen. Yiele Frauen mit verweinten Gesichtern, notierte ein Augenzeuge, der Ernst und
Bedrcktheit registrierte: Kein Jubel, keine Begeisterung. Wohl vernahm der Tagebuchschreiber
Hochrufe und singende Gruppen vor dem Kronprinzenpalais. Aber: Die Weiterwegstehenden
passiv.
Whrend das Grobrgertum feiert und junge Studenten sich kriegerische Abenteuer in fremden
Lndern erhoffen, herrscht in Arbeiterfamilien Zukunfts
angst: Wer soll sie ernhren, wenn der Ernhrer in den Krieg zieht?
Im Berliner Arbeiterviertel Moabit hlt ein Pfarrer fest: Die eigentliche Begeisterung, ich mchte
sagen, die akademische Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der keine Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt sehr real, und die Not liegt schwer auf den
Menschen.
Verwirrung, zum Teil Verzweiflung befllt die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Noch am 28.
Juli hat etwa in Hamburg die internationalistisch gestimmte Partei zum Protest gegen die
Kriegshetze aufgerufen mit gewaltiger Resonanz.
Ungeheuerlich, meldet das Parteiorgan Hamburger Echo, sei der Andrang bei den
Friedenskundgebungen: Keiner der groen Sle knne auch nur entfernt die immer erneut
anrckenden Scharen werkttigen Volkes fassen. Trotz strmenden Regens harre die Menge in

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unbersehbarer Zahl auf den Straen aus.
Anfang August dagegen, nach der Mobilmachung, lassen sich Teile der Sozialdemokratie von der
chauvinistischen Stimmung im Brgertum mitreien. Mehr und mehr verfngt die Propagandathese
der Reichsregierung, Deutschland msse sich gegen einen Ansturm von Feinden verteidigen vor
allem gegen das unter Arbeitern verhasste reaktionre Zarenreich.
Die subjektiv ehrliche, tatschlich aber grundfalsche berzeugung, dass Deutschland sich eines
feindlichen berfalls erwehren msse, setzte auch unter SPD-Mitgliedern nationale Gefhle frei,
die ihnen Schule und Militr eingepflanzt hatten und die durch den deklamatorischen Antimilitarismus der Partei vor 1914 nur oberflchlich bertncht worden waren, analysiert der Historiker
Volker Ullrich.
Den von der SPD-Fhrung nach Kriegsbeginn offerierten Burgfrieden und die Bewilligung von
Kriegskrediten feiern grobrgerliche Militaristen als Augusterlebnis und als Geburt einer alle
Klassen bergreifenden Volksgemeinschaft. Viele Genossen dagegen reagieren auf die Wende
desorientiert. Manch einer frage sich, so beschreibt ein Hamburger SPD-Mann die Stimmung an der
Basis: Bin ich verrckt oder sind es die anderen?
Das von der Propaganda in allen Krieg fhrenden Nationen genhrte Gefhl, es gelte das
jeweilige Land gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen, lsst auch internationalistisch
gestimmte Arbeiter vorbergehend verstummen. Militante Kriegs-befrworter tun ein briges,
Zweifler und Kritiker zum Schweigen zu bringen. In einer vaterlndischen Kundgebung werden
Friedensfreunde derart verprgelt, dass es selbst dem brgerlichen Hamburger Fremdenblatt
missfllt: Dass gleich mit Fusten dreingeschlagen werde, entspreche nicht dem Ernst der
Stunde.
Whrend die Grostdter mit gemischten Gefhlen reagieren, dominieren in der
Landbevlkerung Beklemmung und Niedergeschlagenheit. In Sdbayern berichten Gendarmen,
Schulmeister und Pfarrer ber gedrckte, ernste Stimmung (Pfarrkirchen), offensichtliche
Beklemmung (Ering) und groe Betrbnis (Aretsried).
Kirchen sind berfllt, allgegenwrtig scheint die Ahnung, auch dieser Krieg werde mit den zu
erwartenden Opfern selbst bei gutem Ausgang eine schwere Heimsuchung bedeuten. Ein
Gottesdienst geht als Sacktchleinpredigt in die Chronik der Pfarrei Osterbuch ein:
Die Mnner weinten, die Weiber schluchzten.
Auf die dstere Stimmung auf dem Lande geht am 2. August 1914 auch ein Aufruf der Knigin
Marie Therese an die Frauen und Jungfrauen Bayerns ein, doch bitte zur Notlinderung beizutragen:
Drauen fliet Blut, herinnen flieen Trnen. Entsetzen herrscht im Badischen, nahe der
Westgrenze: Das wuchtete wie ein Hammerschlag auf Herz und Hirn, heit es im Freiburger
Stadtarchiv. Aus Ebingen in Wrtemberg ist eine hnliche Reaktion berliefert: Grauen erfllt die
Seelen.
Es gibt Ausnahmen von der Regel. Ledige junge Mnner erhoffen sich von dem vermeintlichen
Blitzkrieg (Weihnachten sind wir wieder zu Hause) Prestigegewinn und Abwechslung. Jetzt
kommen wir auch einmal hinaus aus solchen und hnlichen uerungen folgert Autor
Ziemann, der Krieg habe fr jungen Burschen auch einen touristischen Aspekt. Die
Kriegsfreiwilligen erwarten eher Auseinandersetzungen im Stil drflicher Raufereien als jenes
Gemetzel, das binnen vier Jahren 15 Millionen Tote fordern soll.
Als die jungen Soldaten in den Tagen der Mobilmachung in naiver Begeisterung die Zge zur
Front besteigen, kommt es auch vielerorts auf dem Land zu Szenen, die von fern an die
Jubelkundgebungen in Berlin erinnern. Auf den Bahnsteigen bemhen sich die Honoratioren, den
Soldaten einen reprsentativen Abschied zu bereiten und ihnen Mut zuzusprechen. Deshalb, so
Ziemann, werden die Reservisten dann in festlicher Stimmung verabschiedet obgleich es
vielen Angehrigen schwer fllt, die Trnen zu unterdrcken.
Mit einer merkwrdig anmutenden Melange aus Beklommenheit und Aufatmen reagieren auch in
der Provinz manche Menschen auf die Mobilmachung. Nach Wochen qulender Ungewissheit und
ewigem Hin und Her zwischen Kriegsngsten und Friedenshoffnungen lst die schlimme
Gewissheit des Kriegsbeginns so etwas wie Erleichterung aus lieber ein Ende mit Schrecken als
Schrecken ohne Ende.
Den Historiker Christian Geinitz erinnert die paradoxe Reaktion an das Verhalten von
Angehrigen eines lange zwischen Tod und Leben schwebenden Unfallopfers: Erst das Ende der

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Ungewissheit ermglicht eine emotionale Bewltigung des Ereignisses ein psychologisches Phnomen, das womglich auch einen Teil der Ausgelassenheit in den Stdten erklrt.
Erfahrene Beobachter reagieren auf den Jubel der Jungen mit Schrecken. Es war ein
unbeschreibliches Gefhl, diese singenden jungen Mnnerstimmen durch die Nacht zu hren und
dabei zu wissen, sie ziehen ja alle in den Tod, beschreibt Ernst Ludwig, Groherzog von Hessen,
den Kriegsbeginn: Es war oft kaum aus-zuhalten.
Der Mnchner Abiturient Wilmer, der sich, von Begeisterung bermannt, am 1. August als
Freiwilliger registrieren lsst, schreibt knapp ein Vierteljahr spter aus Flandern nach Hause: Mit
welchen berschwnglichen Gefhlen bin ich in diesen Krieg gezogen, liebe Mutter. Und jetzt sitze
ich hier, von Grauen geschttelt.
Im November 1914 trifft ihn bei Langemarck ein Lungensteckschuss, und er diktiert im Lazarett
einen weiteren Brief an seine Mutter: Die Hlle konnte nicht schlimmer sein. Wenig spter
meldet ein Oberstabsarzt der Familie per Feldpost den Exitus des jungen Studenten: Er starb fr
Gott und Vaterland.
DER KRIEG GEGEN DEN KRIEG
Millionen Soldaten verweigerten auf teilweise listige Art den Gehorsam oder versuchten, dem
mrderischen Gemetzel zu entkommen.
Flandern, Herbst 1917. Im Morgengrauen zerren Soldaten den jungen Mann auf einen Stuhl und
binden ihn fest. Das Exekutionskommando des London Scottish Regiments ist mit zwlf Mann
angetreten. Einige schwanken, sie haben sich betrunken. Der Offizier senkt die Hand: Feuer.
Anschlieend jagt auch er dem Wehrlosen mit seinem Revolver eine Kugel in den Kopf.
Der 17-jhrige Gefreite Victor Silvester war einer der Todesschtzen. Er war doch kaum lter als
ich, erinnert sich der sptere Tanzweltmeister an das Opfer der Hinrichtung.
Der unbekannte Deserteur war nur einer von 115 005 registrierten Fahnenflchtigen in der
britischen Armee, einer von 31 367 Soldaten, die aus diesem Grund vors Kriegsgericht kamen, einer
von 2004 Delinquenten, die zum Tode verurteilt wurden, einer von 272 Unglckseligen, bei denen
das Urteil vollstreckt wurde.
Deserteure blieben lange Zeit verfemt und vergessen. Ihr Name war auf keiner Gefallenenliste zu
finden. Erst in den letzten Jahren haben Historiker ein Stck Kriegswirklichkeit entdeckt, das von
einer Mauer des Schweigens umgeben und von Legenden berwuchert war: den Krieg der Soldaten
gegen den Krieg. Denn nicht nur Deserteure, sondern Millionen Soldaten suchten mit den
unterschiedlichsten Mitteln dem mrderischen Gemetzel zu entfliehen.
Als im Herbst 1914 die Westfront zum Stellungskrieg gefror, kamen die Gegner sich erstmals
nher. Die Kombattanten machten Feuerpausen whrend der Essenszeiten und erlaubten auch den
Latrinengngern, unbehelligt ihrem Geschft nachzugehen.
Eine wilde Waffenruhe konnte Stunden oder Tage anhalten. Die l3ner aus Mnster, schreibt im
Herbst 1914 der westflische Feldgraue Franz Tns von der Westfront nach Hause, sind an einigen
Stellen 15 Meter vom Feinde entfernt, bei Tage sind die franzsischen Offiziere nicht da, dann wird
nicht geschossen, die Feldwebel setzen sich auf beiden Seiten auf den Schtzengraben und
unterhalten sich miteinander. Die Mannschaften wechseln gegenseitig Kognak und Zigaretten aus.
Entsetzt waren die Generalstbe ber die Massenverbrderungen Weihnachten 1914. Tagelang
kehrten die Soldaten an einem 50 Kilometer langen Frontstreifen bei Ypern dem Krieg den Rcken,
trafen sich mit ihren Gegnern im Niemandsland, beschenkten sich mit Plumpudding und Zigarren,
tauschten Uniformknpfe gegen Koppel-schlsser und spielten Fuball.
Hauptmann Charles Stockwell, Kompaniechef bei den Kniglich Walisischen Fsilieren, notierte
den stilgerechten Ausklang eines 24-stndigen Weihnachtsfriedens: Um 8.30 Uhr feuerte ich
dreimal in die Luft und hisste eine Flagge mit der Aufschrift Merry Christmas. Der deutsche
Hauptmann erschien auf seiner Brustwehr. Wir salutierten. Er feuerte zweimal in die Luft. Dann
war wieder Krieg.
Und so sollte es nach dem Willen der Militrfhrung auch bleiben. Der deutsche
Generalstabschef Erich von Falkenhayn setzte den Weihnachtsfrevel mit Hochverrat gleich und
befahl, knftig jeden Mann, der den Graben Richtung Feind verlasse, sofort zu erschieen.

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Aber die Soldaten wussten sich zu helfen. Statt in aller Offenheit zu fraternisieren, verstndigten
sie sich nun heimlich mit dem Feind. Wochen und Monate schlief der Krieg an einzelnen
Frontabschnitten bisweilen ein. Leutnant Wyatt vom Yorkshire Regiment notierte: Die Deutschen
benachrichtigten uns, dass am Nachmittag ihr General kme. Wir sollten uns in Acht nehmen, denn
sie mssten dann ein bisschen schieen, um den Schein zu wahren.
Der Generalitt bereiteten diese kleinen Fluchten groe Sorgen. Mit allen Mitteln sei die Gefahr
des Burgfriedens unter dem Motto Tu mir nichts, ich tu dir nichts niederzuhalten, befahl
Konstantin Schmidt von Knobelsdorf, Generalstabschef der 5. Armee. Die Stbe ersannen absurde
Systeme der Leistungskontrolle, um den Verfall der Kampfmoral zu stoppen. Die Kompaniechefs
mussten bis zu sechsmal am Tag detaillierte Lageberichte vorlegen.
Aber auch das konnte die Kampfmoral nicht heben. Selbst die befohlenen Feuerberflle gingen
oft ins Leere. Jeden Mittag platzen mit automatischer Pnktlichkeit ber unseren Geschtzen ein
Dutzend Schrapnellschsse. Wir schieen die Antwort eine Stunde spter. Die franzsischen
Geschosse tun unseren Kanonen nichts, die deutschen Geschosse tun den franzsischen Kanonen
nichts, berichtete ein bayerischer Artillerist.
Wie viele waren es, die sich auf diese Weise dem Krieg entzogen? Keine offizielle Statistik erfasst
die Kriegsdienstverweigerer auf Zeit. Allein beim britischen Expeditionskorps, schtzt der Historiker Tony Ashworth, machte jeder dritte Soldat auf lau, wann immer es mglich war.
Bei den Franzosen kommt es im April 1917 zum Aufruhr. Die Soldaten lassen den Frieden
hochleben und beschimpfen ihre Offiziere als Schlchter. Bis September meutert etwa die Hlfte
aller Divisionen. Einheiten verweigern den Marschbefehl und bilden Soldatenrte. Rote Fahnen
werden gehisst. Das 370. Infanterieregiment kapert einen Zug und braust Richtung Paris, um die
Regierung zu strzen. Loyale Truppen stoppen den Zug und erschieen die Anfhrer.
23 385 Soldaten kamen vors Kriegsgericht. Etwa 75 von ihnen wurden exekutiert. Zugleich
erfllte Oberbefehlshaber Philippe Ptain eine zentrale Forderung der Soldaten und verzichtete auf
jede weitere Grooffensive.
Auch im deutschen Heer kippte die Stimmung. Einige Einheiten mussten von ihren Offizieren mit
vorgehaltener Waffe ins Gefecht getrieben werden.
Anders als spter im Dritten Reich ging die deutsche Militrjustiz eher milde mit Deserteuren um.
Es gab lediglich 49 Todesurteile, nur 18 wurden vollstreckt. Schtzungsweise 20 000 deutschen
Soldaten gelang es, sich ins neutrale Ausland abzusetzen.
Als im Herbst 1917 zahlreiche Divisionen von der Ost- an die Westfront verlegt wurden,
desertierten rund zehn Prozent der Mannschaften. Schlachtvieh nach Flandern stand auf vielen
Waggons.
Im Frhjahr 1918 hatten die deutschen Soldaten endgltig genug. Ein verdeckter Militrstreik,
so Militrhistoriker Wilhelm Deist, lhmte groe Teile des Heeres. Die Truppen greifen nicht an,
trotz Befehlen, meldete der Generalstabschef der 6. Armee Mitte April. Hunderttausende
Leichtverwundete marschierten Richtung Heimat oder strmten Krankenzge, um nach Hause zu
kommen.
In vielen Fllen, so das preuische Kriegsministerium, sei es zu offenem Widerstand und ttlichen Angriffen gegen Vorgesetzte gekommen. Bahnhfe wurden verwstet, Signalanlagen zerstrt, Wagen abgekoppelt, Notbremsen gezogen. 20 Prozent der Mnner, die 1918 mit
Ersatztransporten zur Front gebracht werden sollten, schlugen sich in die Bsche. Mit Beginn der
alliierten Gegenoffensive Mitte Juli lieen sich Tausende Soldaten ohne Gegenwehr gefangen
nehmen. Teile der Infanterie hielten die Hnde hoch, wenn der Feind noch einen Kilometer
entfernt war, berichtete eine Radfahrerbrigade.
Allein im ersten Halbjahr 1918 desertierten beim deutschen Heer etwa 40 000 Soldaten, bis
Kriegsende stieg ihre Zahl auf schtzungsweise 200 000 Fahnenflchtige. Insgesamt entzogen sich
in den letzten Kriegsmonaten vermutlich eine Million Soldaten dem Schlachten. Die deutsche
Armee war am Ende nicht viel mehr als ein Offizierskorps ohne Truppe.
WETTLAUF DER INGENIEURE
Moderne Waffentechnik und neue Produktionsmethoden, nicht mehr die Generle, entschieden ber
Sieg und Niederlage in den Militrschlachten.

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Der Hinterlader des thringischen Gewehrbauers Johann Nikolaus Dreyse schien eine
Wunderwaffe: Statt Pulver und Kugel in den Lauf zu stopfen, musste der Grenadier nur Patronen
einlegen. Da das auch im Liegen ging, bot er dem Gegner kaum noch ein Ziel.
Experten waren tief beeindruckt. Nach Dreyses bahnbrechendem Zndnadelgewehr, so legte sich
der Kriegstheoretiker Friedrich Engels 1878 fest, sei in der Technik des Landkriegs kein neuer
Fortschritt von irgendeinem umwlzenden Einfluss mehr zu erwarten.
Das war ein bizarrer Irrtum des Kampfgefhrten von Karl Marx. Aber die Kriegstechnik
entwickelte sich gerade so schnell, dass auch die brige Fachwelt oft den berblick verlor: Noch
fnf Jahre vor Kriegsausbruch glaubte der frhere preuische Generalstabschef, Alfred von Schlieffen, die Entwicklung des Waffenarsenals sei endgltig auf dem Hhepunkt angekommen: Das
Denkbare ist erreicht.
Kurz darauf war das Denkbare wie weggesprengt, eine Umwlzung nach der anderen brachte die
Welt der groen Strategen ins Wanken. Denn das Geschehen bestimmte nunmehr ein Wettlauf der
Techniker: mit U-Booten, Funktechnologien, Chemiewaffen und vielem mehr.
Fliegereinheiten, die sich gerade noch als kleine, feine Kavallerie der Lfte gesehen hatten,
wuchsen binnen Monaten zu straff organisierten Luftstreitkrften. Neu entwickelte schnelle
Torpedoboote und Zerstrer brachten auf See die Aufmrsche von Linienschiffen und Panzerkreuzern durcheinander, an Land sprengte ein Ferngeschtz von Krupp mit 120 Kilometer
Reichweite die gegnerischen Linien. Dazu etablierte sich ein Horror vllig neuer Art der
Panzerkrieg.
So etwas verwirrte Stabsplaner, die auf ihren Militrschulen ber die neuen leichten
Maschinengewehre (bis zu 300 Schuss pro Minute) oder den Masseneinsatz der englischen
Splitterhandgranaten (70 Millionen Stck) nie etwas gehrt hatten ganz zu schweigen von der
monstrsesten Neuerung, dem Gaskrieg.
Den Kampfstoffeinsatz hatte das Reichsheer zwar nicht eingefhrt, aber am strksten forciert.
Anfangs wurde eine Entwicklung des spteren Nobelpreistrgers Walter Nernst eingesetzt, eine Art
Reizgas, das freilich die alliierten Soldaten beim ersten Einsatz im Oktober 1914 in Flandern
lediglich zum Niesen brachte; der Sohn des Armeechefs Erich von Falkenhayn soll sich sogar fr
eine Champagnerwette fnf Minuten lang in eine Gaswolke gestellt haben.
Mit solchen Kasinoscherzen war es vorbei, als Nernst abtrat und sein Nachfolger Fritz Haber,
spter ebenfalls Nobelpreistrger, die Eskalation organisierte. Nun waberte auch das berchtigte
Senfgas (Gelbkreuz) ber die Schtzengrben. Beide Seiten benutzten es mit schrecklichem
Resultat. Zahllose Soldaten wurden schwer geschdigt, 90 000 starben im Gas davon allein rund
56 000 Russen.
Hinter der technischen Revolution des Krieges standen starke Krfte. Die ganze Gesellschaft
war fr den Krieg mobilisiert, so der Stuttgarter Historiker Gerhard Hirschfeld. Da propagierte
selbst ein Friedensaktivist und Esperanto-Vorkmpfer wie der international renommierte Physiker
Wilhelm Ostwald eine nationale Chemie, der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud lie 1914
ernsthaft wissen, seine ganze Libido gelte sterreich-Ungarn, und der sanfte Mystiker Paul Klee
bemalte Tarnnetze fr die Armee.
Die Techniker und Naturwissenschaftler stellten sich meist weniger schwrmerisch auf die neuen
Umstnde ein. Viele sahen handfeste Chancen, mit ihrer als Dienst am Vaterland aufgemotzten
Zuarbeit Militrgelder ins eigene Forschungsgebiet zu lenken.
Neben den etablierten Waffenschmieden wie Krupp oder AEG wurden der Energiesektor, die
Transport- und Kommunikationstechnik sowie die Grochemie immer bedeutsamer. In
Zschornewitz entstand das grte Kraftwerk der Welt, das neue Stickstoffwerk Piesteritz bei Wittenberg verbrauchte doppelt so viel Strom wie ganz Berlin.
In dem neuen militrisch-industriellen Komplex dominierte die Chemie, die in Deutschland
binnen kurzem vom Farbenproduzenten zur Schlsselindustrie aufstieg, weil sie sehr erfolgreich
Ersatzstoffe fr kriegsbedingte Importausflle entwickelte. Das einen noch lange wirksamen
Panchemismus den Glauben an die universelle Anwendbarkeit der Chemie.
Der Krieg der Ingenieure, wie ihn der englische Schatzkanzler Lloyd George nannte, brachte
vllig neue Industriezweige hervor, die in den kommenden Jahrzehnten die Schwerpunkte der Weltwirtschaft bestimmen sollten.
Auch die neutralen Friedensstaaten profitierten von der Vlkerschlacht. Allseits begehrt waren

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Przisionswaffen von Bofors aus Schweden oder Oerlikon (Schweiz), die unter donnerndem non
olet auf Freund und Feind feuerten, wie der US-Historiker George Hallgarten schrieb
Den grten Schnitt machten die groen Mchte. Niemals zuvor seien in gleich kurzer Zeit neue
Erfindungen und neue Verfahren in hnlicher Flle ausgedacht, ausprobiert und ins Werk gesetzt
worden, rhmte der deutschnationale Rstungsorganisator Karl Helfferich, im Krieg Staatssekretr
des Schatzamts.
Und ein Generaldirektor von Daimler fand: Mag dieser Krieg noch so viel Schreckliches
gezeitigt haben, fr den Automobilismus war er die groartigste Propaganda, die man sich denken
kann.
Vor allem aber revolutionierten die Technologen das Handwerk der Generale. Vorbei die Zeiten
des Schlachtenlenkers auf dem Feldherrnhgel die Truppen konnten von jetzt an ziemlich
unspektakulr von rckwrtigen Lagezentren aus kommandiert werden. Kleine Heere von
Nachrichtenhelfern mit Telefonen und Funkgerten hielten von hier aus den Kontakt zur Front.
Allein auf deutscher Seite wurde ein Feldtelefonnetz von ber 900 000 Kilometern verlegt, fahrbare
Funkgerte reichten bis zu 300 Kilometer weit.
Zwar war die Erkundungstechnik alter Art mit Meldehunden und berittenen Sphtrupps noch
nicht ganz ausrangiert in abgeschnittenen Schtzengrben gab es fr den Notfall noch
Brieftauben. Im Kontrast dazu wirkte die moderne Kriegstechnik nur noch eindrucksvoller: Die
groe Funkstation in der Nhe von Berlin reichte bis Afrika und Amerika, alliierte Soldaten
schleppten die ersten drahtlosen Telefone bers Schlachtfeld.
Sogar Flugzeuge hielten schon Funkkontakt zur Bodenstation, auf deutscher Seite bereits ab 1915
wenn auch noch mit Morsetechnik. Englnder und Amerikaner bekamen gegen Kriegsende sogar
regulren Sprechfunk ins Cockpit.
Zugleich gewann die militrische Aufklrung gewaltige Bedeutung: Die Kopfstrke der
deutschen Nachrichteneinheiten wuchs von 800 Offizieren und 25 000 Untergebenen zu
Kriegsbeginn auf 4400 zu 185 000 am Ende an.
Auch die Luftfahrt entwickelte sich im militrischen Tempo. Kriegsgegner wie Bertha von
Suttner hatten schon frh kritisiert, dass der Traum von der vlkerverbindenden Fliegerei nur
Herstellerpropaganda sei, mit der die gleichzeitige Anbiederung beim Militr kaschiert werden
sollte. Tatschlich flogen erst einmal die Uniformierten vor allem sie sollten den Ablauf des
Krieges in nie gekannter Weise verndern.
Flugzeugmotorenentwickler sorgten schnell fr Leistungssteigerung mit hhentauglichen
Triebwerken und avantgardistischen Komponenten. Spriteinspritzung und Turbolader kamen bereits
auf.
Das anfangs belchelte fliegende Offiziersspielzeug war binnen kurzem zum
Schreckensinstrument des Kriegs der Zukunft geworden. Bereits Hunderte Maschinen kmpften
1918 ber Belgiens Schlachtfeldern um die Lufthoheit. Allein die kaiserlichen Luftstreitkrfte
zuletzt mehr als 60 000 Mann stark setzten 5000 Flugzeuge ein.
Bombenkrieg wurde ebenfalls schon praktiziert. Insgesamt warf das Royal Flying Corps 66o
Tonnen Bomben auf deutsche Ziele, bei den deutschen Luftangriffen auf England starben 1400
Zivilisten.
Noch gigantischer das U-Boot-Programm, mit dem die deutsche Marine den alliierten
Materialnachschub aus bersee bekmpfte. Insgesamt wurden 380 Boote gebaut, die 5500
Handelsschife versenkten. Die Westmchte konterten mit Horchtechnik und Luftaufklrung, um
so die Angreifer unter und ber Wasser aufzuspren. Sogar Jagd-U-Boote wurden konstruiert die
englischen erreichten getaucht ein Tempo von 15 Knoten (rund 30 Stundenkilometer). 187 deutsche
U-Boote wurden mit Hilfe der neuen Waffen versenkt.
Englands Admirle, Herren ber die bis dahin grte Schlachtschiffflotte, hatten lange Zeit nicht
allzu viel auf U-Boote gegeben. So versumten sie es, sich die Erkenntnisse des TorpedoKonstrukteurs Robert Whitehead exklusiv zu sichern.
Der Brite hatte eine hypermoderne Waffe entworfen: Seine pressluftgetriebene
Unterwasserprojektile verfgten ber automatische Seiten- und Tiefensteuerung, das einstellbare
Gyroskop hielt sie auf Kurs. Geniale Erfindung, applaudierte 1914 der viel beachtete Marine-Almanach des Geh. Regierungsrats Max Geitel. Whitehead arbeitete zwar auch der Royal Navy zu;
gleichwohl belieferte sein Unternehmen, das in Fiume an der Adria residierte, die Seestreitkrfte

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Europas. Besonders profitierte davon die U-Boot-Fbotte des Kaisers. Doch auch in der Kaiserlichen
Marine bersahen die Schlachtschiff-Ideologen richtungweisende Angebote der eigenen Industrie.
So fand etwa die Entwicklung eines schnellen Leichtkreuzers durch Ingenieure der Vulkan-Werft
Stettin nur im Ausland Interessenten: Russband baute nach Vulkan-Plnen den Torpedoboot-Bekmpfer Nowik. Der Rapid-Kreuzer, angetrieben von drei AEG-Dampfturbinen mit 36 000
PS, lief 37 Knoten, rund 70 Stundenkilometer. Ein Versumnis der deutschen Militrplaner wirkte
sich besonders verheerend aus die vernachlssigte Entwicklung von Kampfpanzern. Zwar waren
Panzer-Automobile gelegentlich bei Kaisermanvern mitgefahren, doch die militrischei
Mglichkeiten dieser Fahrzeuge schpften nur die Alliierten aus in streng geheimen
Entwicklungen, bei denen die klobigen Prototypen als Grobehlter (Tanks) getarnt waren.
Als sich dann im November 1917 bei Cambrai aus Nebelbnken eine Phalanx aus rund 300
englischen Panzern hervorwlzte, verursachte das bei den Kaisertruppen wahre Psychoschocks. Der
Generalstabshistoriker Max Schwarte berichtete kurz nach dem Krieg: Sie verbreiteten durch die
Ungewohntheit ihre Anblickes und durch ihre augenscheinliche Unverletzbarkeit Furcht und
Schrecken in den deutschen Reihen.
Das Entsetzen lie schnell nach, denn die Wunderwaffe war unausgereift. berschwer,
unbeweglich und zu dnn gepanzert, waren die Tanks ziemlich leicht zu bekmpfen. Doch die
Alliierten rsteten nach. Als deutsche Ingenieure mit einem Landpanzerkreuzer kontern wollten Besatzung: 18 Mann, Gewicht: 30 Tonnen hatten Englnder und Franzosen bereits schnelle
Kleintanks an der Front. Und vor allem: Gegen Hunderte alliierter Sturmpanzer brachten die
Deutschen ganze 20 ins Gefecht.
Das Versagen im Tank-Bau, folgert Chronist Schwarte, war denn auch ein Vorzeichen des
Zusammenbruchs.
WACHT AN DER SOMME
Der Erste Weltkrieg war auch eine Propagandaschlacht. Englnder und Franzosen stellten die
Deutschen als Hunnen und teutonische Barbaren dar. Die kaiserliche Propaganda konterte
matt und unbeholfen.
Propaganda fidei Verbreitung des Glaubens war die Aufgabe einer 1622 von Papst Gregor
XV. in Rom gegrndeten Gesellschaft zur Verbreitung des Katholizismus unter den Heiden. Fast
300 Jahre spter, im Ersten Weltkrieg, enthielt Propaganda wieder Elemente dieer ursprnglich
religisen Dimension.
Dieser Krieg ist ein Religionskrieg, schrieb der franzsische Historiker Ernest Lavisse bereits
im August 1914. Und von allen englischen, deutschen und russischen Kanzeln hallte das Echo
zurck: Ein heiliger Zorn muss euch beseelen (...). Mit uns ist das Recht, Gott ist mit uns, wer
kann da wider uns sein?
Was solches Aufwallen von religisen Gefhlen und Werten mit Propaganda zu tun hatte, merkten
die Deutschen bei ihrem ebenso eiligen wie brutalen Vormarsch durch Luxemburg und Belgien im
Sptsommer 1914. Ihr Angriff entfachte nicht nur militrischen Widerstand, sondern auch eine
massive Kampagne gegen die teutonischen Barbaren, die Hunnen, wie sie bald in aller Welt
genannt wurden.
Die Deutschen versuchten, ihr Vorgehen mit Sprchen wie Not kennt kein Gebot und dem
unglaubhaften Hinweis auf belgische Heckenschtzen zu rechtfertigen. Aber daraus lie sich
keine effiziente Propaganda schmieden allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz blieb die
Tatsache unbersehbar, dass die Deutschen einen Angriffskrieg fhrten.
Die Propagandaschlacht im modernen Krieg findet immer an mehreren Fronten statt: an der
Heimatfront und bei den eigenen Soldaten im Feld; bei den Neutralen genauso wie bei den
Verbndeten; und last but not least als Feindpropaganda zur Demoralisierung des Gegners.
Den Franzosen fiel das leicht, waren die Deutschen doch in ihr Land eingedrungen. Der Tenor
ihrer ungemein farbenprchtigen Propaganda war auch in den exzessivsten Formen grundstzlich
glaubhaft.
Der Deutsche wurde von vornherein zum Hunnen, mit unvorstellbar brutaler Fratze, zum
barbarischsten Kriegsgott namens Thor, der die Welt zertrampelt, Kinder verspeist, Frauen
vergewaltigt, Kirchen niederbrennt und die Landschaft verwstet. Kaiser Wilhelm 11. wurde gern

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als Metzger dargestellt, bluftriefend.
Nicht die in einem zentralisierten Staat wie Frankreich unproblematische Presseberwachung und
-lenkung im Maison de la Presse war entscheidend fr den Vorsprung der franzsischen
Propaganda. Es war in erster Linie die gelungene Mobilisation der Geister, die Freund und Feind
frappierte.
Hervorragende Wissenschaftler, vom Philosophen Henri Bergson bis zum Historiker Charles
Seignobos, fanden sich in Comits zusammen. Sie verfassten Berichte, Stellungnahmen, Anklagen
gegen den Bruch des Vlkerrechts durch Deutschland. Gro herausgestellt wurden auch Massaker
an der Zivilbevlkerung sowie vorgebliche oder tatschliche Misshandlungen franzsischer
Kriegsgefangener.
Die Franzosen fanden sofort den Tonfall und die Bildwelt, die totaler Kriegfhrung angemessen
sind, also hchstmgliche Steigerung aller Phantasmen, Phobien, Vernichtungsszenarien und
Hoffnungen. Hier wurde fr den Krieg angewandt, was Intellektuelle und Journalisten bereits mit
dem Entstehen der Massenpresse haften einben und ausprobieren knnen.
Die Situation der Englnder war hnlich. Auch hier gab es eine alte Streitkultur, die sich auf den
ueren Feind lenken lie. Dies umso mehr, als die Deutschen den Briten schon seit dem
gigantischen Floftenprogramm von Wilhelm II. und Groadmiral Alfred von Tirpitz als bedrohliche
Strenfriede der internationalen Ordnung galten.
Die englische Propaganda vermied es hnlich wie die franzsische penibel, als staatlich oktroyiert
zu erscheinen, um die Glaubwrdigkeit nach innen und auen zu strken. Die mit Hilfe der
Regierung angefertigten Dokumentationen deutscher Kriegsverbrechen erhoben den Anspruch auf
objektive Tatsachenforschung, waren sie doch von Wissenschaftlern zusammengestellt. Das so
genannte Bryce Committee verlegte sich insbesondere auf den Nachweis der Grueltaten deutscher
Soldaten beim Durchmarsch durch Belgien. Diese galten damals als Propagandalge, werden aber
heute von der Forschung weitgehend besttigt.
Die Deutschen hatten grte Schwierigkeiten, sich dagegen zu stemmen. Das lag nicht zuletzt
daran, dass im wilhelminischen Obrigkeitsstaat die politische Streitkultur ungleich schwcher
entwickelt war als in den demokratischen Nationen; hier hatten nur Auenseiter wie das Satireblatt Kladderadatsch den tzenden Tonfall kultiviert, der in Frankreich und England seit
langem gang und gbe war.
Deshalb blieb die deutsche Propaganda eher autoritr und betulich, vermischte sich stndig mit
Zensur und forderte quasi Ruhe und Ordnung auch vom Gegner ein. Deutschland hatte alle Mhe,
schon im eigenen Land die Behauptung aufrechtzuerhalten, man kmpfe einen gerechten, ja
heiligen Krieg der Selbstverteidigung. Den Soldaten sollte dies mit dem Gedicht Wacht an der
Somme des Kriegsdichters Ernst von Wolzogen eingeblut werden:
Die Grauen, sie hocken und schmiegen sich tief
Im Scho der kreienden Erde
Wie Kindlein, eh sie die Stunde rief
Zum schmerzvoll erlsenden Werde!
Und lacht der Tag
Mit Amselschlag
Und schweigt das teuflische Toben
Der Graben lebt,
Es steigt und hebt
Und schaufelt sich keuchend nach oben
Und liegt und lugt aus zerrissenem Nest
Die Wacht an der Somme steht bomben fest.
Exemplarisch deutlich wird die Argumentationsnot der Deutschen in dem Aufruf an die
Kulturwelt!, einem von 93 renommierten deutschen Wissenschaftlern unterzeichneten Manifest
an die zivilisierte Welt. Kein anderes Produkt deutscher Propaganda hat international mehr
Aufsehen erregt als dieses Manifest.
Heute ist bekannt, dass viele der Unterzeichner den vom Schriftsteller Ludwig Fulda ersonnenen
Aufruf nicht einmal genau gelesen, sondern blanko unterschrieben haften.
Das Ausland empfand die unverblmte Verteidigung des deutschen Militarismus und das
Abstreiten evidenter Tatsachen als Verhhnung jeder Wahrhaftigkeit. Franzsische, englische, auch

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amerikanische Universitten erkannten den Wissenschaftlern, die den Aufruf unterzeichnet hatten,
Ehrendoktorwrden oder Honorarprofessuren ab.
Wenn die deutsche Propaganda sich linkisch auf die deutsche Kultur berief und trotzig die
Ideen von 1914 (Gemeinschaftssinn, Ehrlichkeit, Opferbereitschaft) gegen die angeblich
dekadente und lgnerische westliche Zivilisation stellte, so bestckte sie auch auf diese Weise das
Arsenal der alliierten Propaganda.
Sowohl Briten als auch Franzosen, spter auch die Amerikaner brachten ganze
Sprchesammlungen deutscher Geistesgren heraus. Mit Vorliebe wurde die Trias
Fichte/Treitschke/Nietzsche mit ihren uerungen ber germanische bermenschen und deutsche
Sendung in der Welt zitiert. Dazu noch besonders gern der General a. D. und Militrschriftsteller
Friedrich von Bernhardi. Dessen ultramiitaristisches und alldeutsches Buch von 1912 ber den
nchsten Krieg forderte fr die Deutschen das Recht zum Kriege ein.
Zwei Ereignisse verstrkten 1915 das Bild deutscher Barbarei: die standrechtliche Erschieung
der englischen Krankenschwester Edith Cavell und die Versenkung des britischen
Luxusdampfers Lusitania durch ein deutsches U-Boot am 7. Mai 1915. Die deutsche
Marinefhrung war berzeugt, dass die Lusitania, bei deren Untergang etwa 1200 Personen ums
Leben kamen, Waffen und Munition transportierte und die Versenkung daher rechtens war. Fr die
Toten fand sie kein Wort des Bedauerns. Ein Privatmann lie sogar eine Medaille prgen, mit der
die Torpedierung gefeiert wurde.
Die Lusitania-Versenkung gilt dank britischer Propaganda die deutsche Medaille wurde in
zigtausend Exemplaren nachgeprgt bis heute als abschreckendes Beispiel deutscher
Kriegfhrung. Inzwischen konnte aber nachgewiesen werden, dass der Passagierdampfer
tatschlich militrische Konterbande mitfhrte.
hnliche Wirkung wie die Versenkung der Lusitania hatte die Hinrichtung Cavells am 12.
Oktober 1915 in Brssel. Ihr wurde vorgeworfen, sie habe verwundeten Soldaten der Alliierten die
Flucht aus dem von ihr geleiteten deutschen Militrhospital ermglicht. Dass Edith Cavell auch
deutsche Verwundete liebevoll betreut und nur aus menschlichen Erwgungen gehandelt hatte,
spielte keine Rolle. Die deutschen Militrs wollten ein Exempel statuieren die Folge war ein
weiterer Riesenerfolg der alliierten Propaganda.
In dem Mae, wie sich der Krieg einfra, wie er im Felde stecken blieb (Ernst Jnger),
vernderte sich auch die Propaganda. Die Geistlichen redeten jetzt kaum noch vom Kreuzzug
gegen das Bse, eher vom Kreuzweg der Leiden, den die Soldaten und immer strker auch die
Zivilbevlkerung zu ertragen haften. Die Propaganda diente mehr und mehr der Stabilisierung der
brckelnden inneren Front.
Wichtig war besonders, die berlasteten Frauen und Mtter bei Laune zu halten. Im so genannten
Steckrbenwinter 1916/17, als die Masse der Bevlkerung in Deutschland die Auswirkungen der
umfassenden englischen See- und Kstenblockade zu spren bekam, sank die Stimmung in der
Heimat auf den Tiefpunkt. Aber den deutschen Propagandisten fiel nicht viel dagegen ein. Man
brachte lustige Bilder unter das Volk, man verteilte Kriegs-Kochbcher, in denen Varianten der
Rbenzubereitung zum kulinarischen Genuss verklrt wurden; man propagierte lauthals eine neue
Kau-Technik, um den Essensvorgang zu verlngern und die Nahrungsaufnahme zu verbessern.
Im Jahr 1917, als Flugzeuge und Panzer das Schlachtfeld zu beherrschen begannen, schlug sich
der Maschinenkrieg auch in moderneren Propagandatechniken nieder. Neu hinzu kamen nun
Filmpropaganda sowie Flugzettel, die massenweise ber den feindlichen Linien abgeworfen
wurden.
Die deutsche Filmpropaganda hatte in erster Linie den Zweck, die Durchhaltekraft der
Bevlkerung zu strken. Im Unterschied zu den in Soldatenkinos vorgefhrten Spiel- und
Unterhaltungsfilmen sollten Streifen wie Mit dem Kronprinzen bei der Armee von Verdun oder
Bei unseren Helden an der Somme der Heimat die mental weit entfernte Front wieder nher
bringen.
Die Filmszenen waren allerdings in keiner Weise realistisch. Denn
a) erstens war die Kameratechnik nicht so perfekt, dass es mglich gewesen wre, direkt aus
dem Kampfgeschehen zu berichten; und
b) zweitens hatten die deutschen Propagandabehrden kein Interesse, die Bevlkerung mit der
Wirklichkeit des Stellungskriegs zu konfrontieren. Kampfszenen wurden entweder im Studio

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gedreht oder hinter der Front simuliert. Tod und Verstmmelung waren hier ebenso wenig zu
sehen wie die Schlammwsten und tropfnassen Soldaten-Unterstnde.
Franzsische Frontfilme mussten bei den Aufnahmen von Kampfszenen mit denselben
technischen Schwierigkeiten fertig werden. Sie zeigten gleichwohl ungeschminkt die Schrecken des
Kriegs und machten vor zerfetzten Krpern nicht Halt.
Der meistverbreitete soldatische Erfahrungsbericht, Maurice Genevoix Roman Sous Verdun,
erschien 1917 in unzensierter Form, obwohl nichts, aber auch gar nichts an Grauen ausgelassen war.
Die Franzosen waren berzeugt, dass eine derartige Drastik in der Kriegsdarstellung die
Entschlossenheit strken wrde, den Deutschen bis zuletzt zu widerstehen.
Auch hier wirkte also die Dialektik von Angriff und Verteidigung, der sich die Deutschen bis zum
Kriegsende nicht entziehen konnten. Deutschland litt Hunger, aber die Franzosen litten unter den
Deutschen, das war der ganze Unterschied und das Dilemma deutscher Propaganda.
Gegen Ende des Kriegs konzentrierten sich die Alliierten vor allem auf das Ziel, die Moral der
deutschen Soldaten durch die Versprechungen einer demokratischen Zukunft ins Wanken zu
bringen. In der Flugblattpropaganda verfolgten sie den Kurs, den einer der Macher der alliierten
Propaganda, der berhmte Schriftsteller H. G. Wells, folgendermaen vorgezeichnet hatte:
Es sollte deutlich gemacht werden, dass nichts zwischen den feindlichen Vlkern und einem Dauer
frieden steht, auer den rduberischen Plnen ihrer herrschenden Dynastien und militrischen und
wirtschaftlichen Kasten; dass es nicht Absicht der Alliierten ist, irgendein Volk zu vernichten,
sondern die Freiheit aller auf der Grundlage des Rechts auf Selbstbestimmung zu sichern.
Flugbltter dieses Inhalts wurden ber den deutschen Linien und ber Deutschland selbst
abgeworfen. Allein im Juni und Juli 1918 waren es nach offiziellen Angaben mehr als 2,8
Millionen. Hindenburg und Ludendorff haben nach dem Krieg immer wieder die Erfolge dieser
Zersetzungspropaganda bei den deutschen Soldaten beklagt, womit sie vertuschen wollten, dass
es vor allem die berbeanspruchung durch eine verantwortungslose Siegfriedens-Strategie war, die
den deutschen Armeen auf Dauer den Kampfesmut nahm.
Hindenburg und Ludendorff selbst hatten als Oberkommandierende ebenso phantasielos wie
vergebens versucht, durch die Einrichtung eines staatsbrgerlichen Unterrichts fr die Soldaten
und durch massierte Film- und Bildpropaganda seitens des fr diesen Zweck im Januar 1917
gebildeten Bild- und Film-Amts Bufa die Moral von Heer und Heimat zu strken.
Selbst der militrfromme Adolf Hitler hat sich spter ber diesen grotesken Mangel an
Psychologie des Kriegfhrens echauffiert. In Mein Kampf hat er das Versagen der deutschen
Propaganda als Hauptgrund fr die Niederlage von 1918 bezeichnet und versprochen, alles daranzusetzen, dass sich so etwas nicht wiederhole. Die feindliche Propaganda im Weltkrieg sei genial
gewesen, und er selbst habe aus ihr unendlich gelernt.
POLEN, DAS SIND WIR
Marschall Pilsudski schuf am Ende des Ersten Weltkriegs nach mehr als hundert Jahren wieder
einen polnischen Staat und ist bis heute in seiner Heimat ein gefeierter Held.
Am Morgen des 11. November 1918 war fr die deutschen Besatzer in Warschau alles anders.
Polen schlenderten vorbei, ohne zu gren, Studenten schubsten verdatterte deutsche Wachposten
zur Seite und entrissen ihnen die Karabiner. Am Abend zogen Massen singend und Fahnen
schwenkend den Prachtboulevard Krakowskie Przedmiescie entlang. Eingeschchtert verzogen sich
die Soldaten des Kaisers in ihre Quartiere.
Polen war wieder da. Mit der Niederlage der Mittelmchte hatte das einst dreigeteilte Land nach
mehr als 120 Jahren preuischer, russischer und sterreichischer Herrschaft die Unabhngigkeit
wiedergewonnen.
Der Preis dafr war allerdings hoch, viel hher, als die Polen zunchst vermutet hatten. Begeistert
hatten diese den Beginn des Vlkerschlachtens 1914 begrt. Dass die Besatzer aufeinander
losgingen, so glaubten viele, knne nur gut sein fr die polnische Sache. Doch der Zar und die
beiden Kaiser in Berlin und Wien zogen 1,5 Millionen Polen als Wehrpflichtige ein und zwangen
sie, gegeneinander zu kmpfen. Mehrfach rollte die Front ber das Land. Die deutsche und die
russische Armee verbrannten Felder, verwsteten Drfer, demontierten und raubten
Industrieanlagen. Fast eine Million Menschen wurden vertrieben, 450 000 Soldaten fielen in den

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Kmpfen.
Dass der Erste Weltkrieg dennoch als Triumph endete, verdanken die Polen vor allem Jzef
Klemens Pilsudski. Der romantische Nationalist eroberte fr die Polen die Unabhngigkeit und
weite Landstriche im Osten doch die Demokratie nahm er ihnen schon nach ein paar Jahren
wieder.
1914 war der 47-Jhrige aus einem Dorf bei Wilna bereits eine Legende. Er hatte die Polnische
Sozialistische Partei mitbegrndet und um sich Freischrler geschart, mit denen er gegen die russisehe Besatzungsmacht in Ostpolen kmpfte.
Als der Weltkrieg begann, versuchten die Mittelmchte die Polen durch Zugestndnisse auf ihre
Seite zu ziehen. So erhielt Pilsudski in Wien die Erlaubnis, Freiwilligenverbnde aufzustellen, um
in das russische Teilungsgebiet einzumarschieren.
Dieser Vorsto, so glaubte er, wrde einen Volksaufstand gegen die zaristisehen Unterdrcker
auslsen. Doch der Empfang fr Pilsudskis 200 Mann fiel frostig aus. Die Landbevlkerung interessierte sich nicht fr die nationalisti
sehen Trumereien der Kmpfer. Viele von Pilsudskis Soldaten und Offizieren begannen auf ihr
Volk herabzusehen. Polen, das sind wir, wurde ihr Credo.
Nach dem Fehlschlag unterstellte Pilsudski seine Verbnde dem sterreichischen Oberkommando.
Er wurde Befehlshaber der viel besungenen 1. Brigade, die gegen die Armeen des Zaren manchen
Triumph erfocht.
Im November 1916 versprachen die Mittelmchte den Polen die Errichtung einer
konstitutionellen Erbmonarchie nach dem Krieg. Berlin hoffte, damit polnische Freiwillige in das
deutsche Heer zu locken. Man setzte einen provisorischen Regierungsrat in Warschau ein, dem auch
Pilsudski als Miitrbeauftragter angehrte.
Zum Bruch mit den Deutschen kam es im Juli 1917. Der Kommandant rief seine Legionen
auf, den Eid auf den Kaiser zu verweigern. Dieser lie ihn verhaften und in Magdeburg einsperren.
Die Gefangenschaft machte den legendren Fhrer in den Augen vieler Polen endgltig zum
Helden.
Als im November 1918 die Mittelmchte vor dem Zusammenbruch standen, lieen die Deutschen
Pilsudski frei. Der machte sich auf den Weg nach Warschau und bernahm die Macht an der
Weichsel durch seine bloe Anwesenheit. Aus dem Kommandanten wurde der Vorlufige
Staatschef.
Jetzt fehlten dem neuen Polen nur noch sichere Grenzen. Die Versailler Friedenskonferenz legte
die Westgrenze auf Kosten des Deutschen Reichs fest was Polen die Feindschaft des Nachbarn
eintrug. Im Osten versuchte Pilsudski, einen Grenzverlauf nach dem Vorbild des
sptmittelalterlichen Groreichs der Jagellonen durchzusetzen und verlngerte dadurch den
Krieg fr Polen um mehr als zwei Jahre.
1920 schlugen polnische Verbnde die Rote Armee vernichtend an der Weichsel. Im Frieden von
Riga 1921 musste die Sowjetunion Polens Grenzforderungen weitgehend erfllen. Pilsudski hatte
den Hhepunkt seines Ruhms erreicht.
Das Land war jedoch von inneren Konflikten zerrissen: Es gab Streit zwisehen den Polen und den
Minderheiten. Immerhin ber 30 Prozent der Bevlkerung verstanden sich als Deutsche, Ukrainer,
Weirussen oder Juden. Hinzu kam eine schwere Wirtschaftskrise. Pilsudski war ein Kmpfer fr
die Unabhngigkeit. Wie die tiefe Zersplitterung der Gesellschaft zu berwinden gewesen wre,
davon hatte er keine Vorstellungen. Frustriert zog er sich 1923 auf sein Gut bei Sulejwek zurck.
Doch schon im Mai 1926 war er wieder da. An der Spitze alter Kmpfer aus der Kriegszeit
marschierte er in Warschau ein. Der Putsch kostete mehr als 300 Menschen das Leben. 1930 wurde
seine Herrschaft endgltig zur Diktatur, als er 70 Oppositionspolitiker in der Festung Brest-Litowsk
einkerkern lie.
1935 starb der Marschall. Sein Sarg wurde in der Kirche auf dem Krakauer Wawel beigesetzt,
gleich neben den grten polnischen Knigen des Mittelalters, sein Herz in Wilna beigesetzt, denn
er hielt sich fr einen Litwin.
Die Heldenverehrung dauert bis heute an. Jeden 11. November, dem Unabhngigkeitstag, brennen
zu Fen des Pilsudski-Denkmals beim Warschauer Belweder-Palast Kerzen. Pilsudski ist in Polen
der populrste Pole, wei der Historiker Andrzej Garlicki.

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EIN VOLK AUF DER SCHLACHTBANK
Im Frhjahr 1915 begann im Osmanischen Reich der Vlkermord an den Armeniern. Das deutsche
Kaiserreich deckte das Verbrechen.
Die Mnner holten sie zuerst. Eines Somni ermorgens im Jahr 1915
fhrten trkische Hscher alle mnnlichen Bewohner des Ortes Adiyaman ab. Ihre Familien sahen
sie nie wieder.
Als Nchstes traf die zurckgebliebenen Frauen und Kinder der Bannstrahl der Machthaber in
Konstantinopel. Sie wurden aus ihrer Heimatstadt gejagt und wochenlang kreuz und quer durch die
glhende Hitze getrieben. 2000 Menschen, ohne
Wasser und ohne Brot. Mtter, deren Suglinge in ihren Armen verendeten. Junge Mdchen, die
sich ngstlich vor Vergewaltigungen zu schtzen suchten.
Das Wenige, was die Verbannten am Leibe mitfhrten, nahmen ihnen schon bald Wegelagerer ab.
Wen die Krfte verlieen, der blieb am Straenrand liegen. ber dem Land lag beiender
Verwesungsgeruch.
Vergebens hatten die verzweifelten Frauen den Gouverneur in Adiyaman angefleht, sie nicht erst
auf lange Todesmrsche zu schicken, sondern gleich vor Ort zu erschieen. Nicht einmal diese
Gnade mochte Konstantinopel seinen armenischen Untertanen noch gewhren.
Seit Oktober 1914 stand das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und sterreichs im
Krieg, und im Schatten der groen Schlachten orchestrierte die Regierung noch ein anderes blutiges
Projekt
die Vertreibung und Ermordung der christlichen Armenier.
Es war ein Genozid, der an Grausamkeit wohl nur noch vom Holocaust an den europischen Juden
mehr als zwei Jahrzehnte spter berboten wurde. Uber eine Million Menschen starben qualvoll,
und auch diesmal waren die Deutschen nicht ohne Schuld.
Zwar hatte das Kaiserreich den Vlkermord nicht initiiert, wie es die Propaganda der Entente
behauptete. Aber Berlin deckte ihn. Aus Sorge, den Waffen-bruder am Bosporus zu verlieren, aber
wohl auch, weil viele im wilhelminischen Deutschland die Abneigung der Trken gegen die
Armenier teilten. Blutsauger seien sie, hie es, und gewissenlose Kr
mer, verschlagen und hinterlistig Stereotype, wie sie die antisemitische Hetze in Deutschland
auch gegen Juden benutzte. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt, schrieb Karl
May, der in seinem Leben nie mit Armeniern zusammengetroffen war.
Die Menschen, gegen die sich diese Schmhungen richteten, lebten vor allem im Ostteil des
Osmanischen Reichs, an der Grenze zu Persien und zum trkischen Erzfeind Russland, wo es ebenfalls groe armenische Siedlungsgebiete gab.
Die Armenier waren besser ausgebildet als ihre trkischen oder kurdischen Nachbarn und deshalb
zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor im Vielvlkerstaat aufgestiegen. Schmiede und Schlosser,
Maurer und Schneider, Apotheker und Advokaten gehrten berwiegend der christlichen
Minderheit an.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begeisterten sich armenische Intellektuelle zunehmend fr nationale
Bewegungen eine Entwicklung, die in Konstantinopel mit Misstrauen registriert wurde. Zumal
sich auch die europischen Mchte und, fataler noch, das am Bosporus verhasste Russland fr mehr
Eigenstndigkeit der armenischen Minderheit stark machten. Schon 1895 begannen antiarmenische
Pogrome, bei denen Tausende starben.
Die Lage spitzte sich zu, als 1913 Mitglieder der jungtrkischen Bewegung im
Osmanischen Reich die Alleinherrschaft bernahmen. Getrieben von der Angst, ihr ohnehin in
Auflsung begriffener Vielvlkerstaat knnte vollstndig auseinander brechen, verschrieben sich
die neuen Machthaber einem radikalen Nationalismus. Die Trken, so ihre berzeugung, mssten
andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zu entgehen.
Die Deportationen begannen in Zeytun, einem Ort im Taurusgebirge, dem Franz Werfel in seinem
berhmten Roman Die
vierzig Tage des Musa Dagh ein bewegendes Denkmal gesetzt hat. Im April 1915 verschanzten
sich dort in einem Kloster 150 Deserteure. 4000 trkische Soldaten strmten das Gebude. Einen
Tag spter wurden die Bewohner der Stadt, die heute Sleymanhi heit, ~in die nahe gelegenen
Smpfe oder ~ die Syrische Wste getrieben.

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Bald schleppten sich aus fast allen armenischen Ansiedlungen ~ des Osmanischen Reichs verngs~
tigte Menschen ber die staubi~ gen Straen. Oder sie wurden in ~ berfllten Bahnwaggons wie
Vieh durchs Land transportiert. ~ Wer die Strapazen berlebte, musste in einem der Konzentrationslager in der Wste ausharren. ohne Dach ber dem Kopf.
Allenfalls ein paar Erdlcher boten sprlichen Schutz vor Hitze und Klte. Mein Volk, so die
Klage eines armenischen Geistlichen, liegt auf der Schlachtbank.
Der Regierung des deutschen Kaiser-reichs blieb das mrderische Treiben ihres trkischen
Verbndeten nicht verborgen. Schon am 10. Mai 1915 berichtete der Konsul in Aleppo, Walter
Rler, von einer ~ernichttmg der Armenier in ganzen Bezirken. Seine Kollegen aus Erzurum und
Adana schlugen ebenfalls Alarm.
Berlin beeindruckte das nicht. Die Regierung in Konstantinopel hatte militrische Grnde fr die
Vertreibungen vorgeschoben, und die deutsche Regierung hielt sich an diese Version. Die Manahmen, so der deutsche Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim, bedeuteten zwar eine groe
Hrte, seien aber leider nicht zu vermeiden.
Erst als die Kriegsgegner Deutschlands das Kaiserreich fr die grausamen Mas
saker mit verantwortlich machten, entschloss sich Berlin, in Konstantinopel zu protestieren
besorgt allerdings mehr um den eigenen Ruf als um das Leben der Armenier. Er habe die Hohe
Pforte, so Botschafter von Wangenheim im Juli 1915, darauf aufmerksam gemacht, dass wir
Deportationen der Bevlkerung nur insofern billigen, als sie durch militrische Rcksichten
geboten sind.
Konstantinopel blieb uneinsichtig und konnte sich dabei auch auf deutsche Militrs berufen, die
das Kaiserreich zur Reorganisation der osmanischerl Armee an den Bosporus entsandt hatte. Etwa
auf Korvettenkapitn Hans Huniann, der feststellte: Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger
ausgerottet. Das ist hart, aber ntzlich. Oder auf den Offizier Eberhard Wolffskeel, fr d~n die
Deportation der Bewohner von Zeytun eine gnstige Gelegenheit war, endlich aufzurumen.
Nur Paul Graf Wolff-Metternich, seit dem is. November 1915 Botschafter in Konstantinopel,
mochte nicht stillhalten. Knapp einen Monat nach seinem Amtsantritt schrieb er an Reichskanzler
Theobald von Bethmann Hollweg, dass gegen die Armeniergreuel unbedingt schrfere Mittel
notwendig seien etwa die Verffentlichung eines scharfen Protestes in deutschen Zeitungen.
Bis dahin hatten die Deutschen in der zensierten Presse des Kaiserreichs von den Vorgngen im
Osmanischen Reich kaum etwas erfahren. Und auch jetzt lehnte Bethmann Hollweg jede ffentliche
Verurteilung des Bndnispartners ab. Unser einziges Ziel ist, die Trkei bis zum Ende des Kriegs
an unserer Seite zu halten, gleichgltig ob darber Armenier zu Grunde gehen oder nicht, schrieb
er unter die Metternich-Vorlage.
Zehn Monate spter musste der Botschafter seinen Posten rumen. Die meisten Deutschen konnten
auch weiterhin allenfalls in Kirchenblttchen lesen, dass im Osmanischen Reich gerade ein ganzes
Volk auslscht wurde.
Adolf Hitler allerdings muss ber das Schicksal der Armenier wohl informiert gewesen sein und
hocherfreut darber, dass der Genozid nach Kriegsende so schnell in Vergessenheit geraten war.
Wer spricht heute noch vom Vlkermord an den Ar
meniern?, soll der Diktator seine Luflrer im August 1939 auf dem Obersalzberg spttisch gefragt
haben.
Gut zwei Jahre danach begannen die Massendeportationen in die deutschen
Vernichtungslager.
SEINE SCHULD IST SEHR GROSS
Der Wilhelm-II.-Biograf John Rhl ber die Verantwortung des Kaisers fr den Ausbruch des
Ersten Weltkriegs
SPIEGEL: Professor Rhl, am 1. August 1914 sagte der franzsische Botschafter in Berlin, Jules
Cambon, zu seinem britischen Kollegen: Heute Abend gibt es drei Leute in Berlin, die bedauern,
dass der Krieg begonnen hat: Sie, ich und Kaiser Wilhelm! Hat Wilhelm II. den Ersten Weltkrieg
nicht gewollt?
Rhl: Er hat ihn so, wie er gekommen ist, nicht gewollt.

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SPIEGEL: Einen begrenzten Waffengang hat Wilhelm demnach aber schon angestrebt?
Rhl: Ja, obwohl zugegebenermaen seine Reaktion auf das Attentat von Sarajevo am 28. Juni
1914 zunchst nicht sehr kriegerisch war. Er segelte gerade in der Kieler Frde, als Admiral von
Mller ihn unterrichtete. Wilhelm fragte dann Mller:
Meinen Sie, ich soll die Regatta abbrechen? Er wusste gar nicht, was er tun sollte. Und auch in
den folgenden Tagen war von Kriegstreiberei nichts zu spren. Man kann noch nicht einmal sagen,
dass er unschlssig war. Er ging einfach nicht davon aus, dass noch Verwicklungen kommen
wrden.
SPIEGEL: Aber Sie haben doch hnlich wie Fritz Fischer behauptet, dass Berlin bereits seit
1912 einen Krieg vorstzlich geplant habe. Dazu passt die Reaktion Wilhelms nicht.
Rhl: Ich will das nicht zurckziehen, aber ich weise darauf hin, dass ich hinter die Formulierung
vom vorstzlichen Krieg ein Fragezeichen gesetzt habe. Sicher ist eines: Die Berater des Kaisers
sprachen seit 1911 davon, dass in wenigen Jahren der optimale Zeitpunkt fr einen Krieg kommen
wrde. Sie wollten die deutsche
Vorherrschaft in Europa erreichen, hegten aber die Sorge, dass das Krfteverhltnis sich langfristig
zu Ungunsten Deutschlands verschieben wrde.
SPIEGEL: Aber was wollte Wilhelm?
Rhl: Am 3. oder 4. Juli genau wissen wir das nicht notierte der Kaiser am Rand eines
Dokuments: Jetzt oder nie. Mit den Serben muss aufgerumt werden, und zwar bald. Das war ein
Pldoyer fr einen Krieg sterreich-Ungarns gegen Serbien.
SPIEGEL: Woher rhrte der Wandel Wilhelms?
Rhl: Wahrscheinlich reagierte er so auf Grund eines Gesprchs, das er mit einem
Generalstabsoffizier und Balkanexperten am Abend des 3. Juli fhrte. Um das alles zu verstehen,
mssen Sie sich eine Matrjoschka-Puppe vorstellen. Der Serbienkrieg ist die kleine Figur im Innern.
Den wollten
alle: der Kaiser, die Generalitt, Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Osterreich sollte
damit seine Vorherrschaft auf dem Balkan sichern. Die Hoffnungen der Militrs und Bethmann
Hollwegs gingen allerdings weiter: Sie planten auch einen Krieg gegen Russland und Frankreich,
weil sie glaubten, dass die Gelegenheit gnstig wre, den Eindmmungsring zu sprengen, den Paris,
London und St. Petersburg um das Reich gelegt hatten. Das ist die zweite Puppe. Das Attentat von
Sarajevo kam Bethmann Hollweg insofern gelegen. Vielleicht haben die Deutschen sogar von dem
Anschlagsplan vorab gewusst.
SPIEGEL: Wie kommen Sie denn darauf?
Rhl: Oberquartiermeister Graf Georg von Waldersee hat zwlf Tage vor dem Attentat die
Militrbevollmchtigten, die die Knige von Sachsen, Bayern und Wrttemberg in Berlin
unterhielten, zu sich gerufen und gebeten, keine schriftlichen Berichte mehr fr die Kriegsminister
ihrer Staatsregierungen zu verfassen. Das deutet darauf hin, dass etwas streng Geheimes vor sich
ging.
SPIEGEL: Das klingt nach einer groen Verschwrung.
Rhl: Sicher ist: Im Kalkl Bethmann Hollwegs sollte sterreich-Ungarn im Falle eines Kriegs an
der deutschen Seite stehen. Daher brauchte man eine Balkankrise, so dass Wien von Anfang an involviert war. Russland musste zugleich als Angreifer dastehen. Denn sonst war die deutsche
Bevlkerung fr einen Krieg nicht zu gewinnen.
SPIEGEL: Und was ist die dritte Puppe?
Rhl: Der Krieg gegen England. Den wollten weder der Kaiser noch seine Generle. Die
Konsequenz ihrer Politik haben sie insofern ganz falsch eingeschtzt.
SPIEGEL: Teilte der Kaiser denn das Kalkl Bethmann Hollwegs?
Rhl: Es gibt Indizien dafr. Am s. Juli erschien der sterreichische Botschafter im Neuen Palais in
Potsdam mit einem Schreiben. Darin bat der sterreichische Kaiser Franz Joseph um
Rckendeckung fr seine Plne, gegen Serbien vorzugehen. Wilhelm sah sofort, dass sich ein Krieg
mit Russland und Frankreich ergeben knnte. Dennoch sagte er: Auf mich knnen Sie sich verlassen. Das ist der berhmte Blankoscheck.
SPIEGEL: Haben Sie noch mehr Indizien?
Rhl: Am gleichen Abend und am nchsten Morgen empfing er Bethmann Hollweg, den
Kriegsminister und fhrende Militrs, um sie ber die Mglichkeit eines Kriegs mit Russland zu

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informieren. Und was mir auf-fllt: Es gab keinen Dissens. Die nahmen das alle so hin, als ob dies
eine Absprache sei, von der sie schon lange wussten.
SPIEGEL: Wenn Wilhelm wirklich das Risiko eines Weltkriegs einging, warum stach er dann am
7. Juli zu einer Kreuzfahrt in See? Rhl: Bethmann Hollweg hatte ihn ausdrcklich gebeten, die
bliche Nordlandreise anzutreten. Andernfalls, so sagte der Reichskanzler, wrde ganz Europa
merken, dass sich hier etwas anbahnt.
SPIEGEL: Aber fhrende Militrs gingen ebenfalls in die Ferien. Das macht man doch nicht,
wenn ein Krieg bevorsteht.
Rhl: Auch dies sollte den Schein der Friedfertigkeit erwecken. Auerdem hielten sie ihre
Vorbereitungen fr abgeschlossen. Es gab keinen Grund, in Berlin zu verweilen.
SPIEGEL: Dennoch. Es fllt schwer zu glauben, dass ein Kaiser, der die Regierungszentrale
verlsst, wirklich auf Kriegskurs ist.
Rhl: Es gibt noch einen Hinweis. Normalerweise fuhr der Kaiser bis zum Nordkap. Dieses Mal
aber ging sein Schiff nur in Balholm vor Anker, rund 100 Kilometer nrdlich von Bergen. In 22
Stunden konnte der Kaiser von dort aus Cuxhaven erreichen.
SPIEGEL: Aber das ist doch kein Beweis, dass der Kaiser den Krieg wollte.
Rhl: Vielleicht berzeugt Sie das: Am 25. Juli kam der Kommandant der deutschen Hochseeflotte
nach Balholm und berichtete,
dass der Krieg mit Russland nher rcke. Und was war die erste Reaktion Wilhelms? Er wollte die
russischen Flottensttzpunkte Reval (Tallinn) und Libau (Liepaja) an der Ostsee beschieen lassen.
Das redete man ihm aus, aber so war der Mann. Bethmann Hollweg bezeichnete Wilhelm in diesen
Tagen als geschwollenen Leutnant: nassforsch, militaristisch, kriegerisch.
SPIEGEL: Dann kehrte Kaiser Wilhelm nach Deutschland zurck und bekam offenbar kalte Fe.
Am 28. Juli notierte der preuische Kriegsminister Erich von FaIkenhayn, der Kaiser halte wirre
Reden, aus denen nur klar hervorgeht, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will.
Rhl: Das stimmt. Jetzt nicht mehr. Er bekam wirklich Angst, wenn auch nur vorbergehend.
Aber man muss genau hinsehen: Die Unterjochung der Serben, die er als Ruberpack bezeichnete,
durch die sterreicher wollte er weiterhin. Und auch den Flottenwettlauf mit Grobritannien
mochte er nicht aufgeben. Als Bethmann Hollweg ihm auf dem Hhepunkt der Julikrise vorschlug,
mit London eine Verstndigung in dieser Frage zu suchen, lehnte er ab. Mit hochrotem Kopf verlie
der Reichskanzler nach dem Gesprch damals den Raum.
SPIEGEL: Die Alliierten wollten den Kaiser vor Gericht stellen, wegen schwerster Verletzung des
internationalen Sittengesetzes. Dazu kam es nicht, weil die Hollnder den 1918 ins Exil
geflohenen Monarchen nicht auslieferten. Gehrte Wilhelm vor Gericht?
Rhl: Er hat keine Kriegsverbrechen verbt, keinen Mordbefehl erlassen oder dergleichen. Aber
Verschwrung zu einem Angriffskrieg das muss man ihm vorwerfen. Ich glaube, seine Schuld ist
sehr gro, viel grer, als gemeinhin unterstellt wird. Und wenn er vor Gericht gekommen wre,
wre er auch verurteilt worden. SPIEGEL: Waren die anderen denn vollkommen unschuldig?
Immerhin koppelte Zar Nikolai II. sein Land immer enger an Serbien, das von einem
groserbischen Reich trumte und aus der Gromacht sterreich-Ungarn eine Art Schweiz des
Ostens machen wollte. Auf friedlichem Wege war das nicht mglich.
Rhl: Ich will Russen und Serben nicht verteidigen. Aber eines ist sicher: Das Ultimatum
sterreich-Ungarns an Serbien bedeutete Krieg, und ohne die Deutschen htte es das Ultimatum
nicht gegeben. Ich glaube brigens, dass es berhaupt nicht
zu einem Krieg gekommen wre, wenn die Deutschen ihren Weltmachtanspruch reduziert htten.
SPIEGEL: Gemessen an den Mastben der Zeit, war der deutsche Wunsch nach einem Weltreich
freilich nicht mehr und nicht weniger legitim als der franzsische oder britische.
Rhl: Da haben Sie Recht. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die deutsche Politik ein
Weltreich nicht an der Peripherie des Staatensystems, sondern auf Kosten der drei etablierten
Weltmchte Russland, Frankreich und Grobritannien im Herzen Europas errichten wollte, und das
musste zum Krieg fhren.
SPIEGEL: Auch die britische Regierung hat sich in der Julikrise nicht mit Ruhm bekleckert. Sie
hat in Berlin den Eindruck genhrt, dass England neutral bleiben wrde, und damit den deutschen
Kriegsbefrwortern in die Hnde gespielt.
Rhl: Na ja, am 3. Dezember 1912 hat Kriegsminister Lord Haldane im Auftrag des britischen

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Auenministers Edward Grey ganz deutlich ausgesprochen, dass man die Vorherrschaft
Deutschlands in Kontinentaleuropa nicht dulden knne.
SPIEGEL: Das war anderthalb Jahre vor der Julikrise. Es gab spter auch andere Signale.
Rhl: Die Briten haben sich teilweise um einen Ausgleich bemht, was in Berlin als Beleg dafr
angesehen wurde, dass London im Kriegsfall neutral bleiben wolle. Insofern kann man sagen, dass
die Briten den Fehler gemacht haben, zu freundlich gewesen zu sein.
SPIEGEL: Das war nicht die einzige Fehleinschtzung in der Julikrise.
Rhl: Stimmt. Der Kaiser unterschtzte seine Gegner. Er hielt wenig von Frankreich, weil es eine
Demokratie war. Die Russen verachtete er als Slawen, da war Wilhelm ein Rassist. Und bei den
Briten setzte er auf
Verstndigung mit Knig George V., obwohl der politisch keine Rolle spielte.
SPIEGEL: Wilhelm fhlte sich ernsthaft von seinen Cousins Nikolai I. und George V.
hintergangen.
Rhl: Das war eine Art Verdrngung. Wilhelm sah ja, was fr ein Desaster er angerichtet hatte. Er
hatte bezeichnenderweise bei Kriegsbeginn eine Art Nervenzusammenbruch, der ihn fr die Dauer
des Kriegs schwchte.
SPIEGEL: Welche Verwandlung ging da vor sich?
Rhl: Er wurde depressiv. Seine Frau schrieb ihm zwei Wochen nach Kriegsbeginn: Nimm Dir
nicht Alles so zu Herzen, Du mein Liebling, Du stehst so klar und gerecht vor der Welt. Er war in
einem kmmerlichen Zustand und auch physisch angeschlagen auf Grund einer Hoden-erkrankung,
die 1917 operiert werden musste. Wilhelm konnte deshalb whrend des Kriegs nicht reiten.
SPIEGEL: Dass er bei Kriegsbeginn von Skrupeln geqult wurde, macht ihn immerhin etwas
sympathisch.
Rhl: Wilhelm war ein schwacher, leicht krnkbarer Mann. Sobald er sich verletzt fhlte, reagierte
er unglaublich aggressiv. Das blieb so sein ganzes Leben lang.
SPIEGEL: Mit dieser psychischen Disposition stand er ja nicht allein, das war durchaus typisch fr
die damalige Zeit.
Rhl: Das mag sein, aber bei ihm war es auf Grund seiner Machtflle von besonderer Bedeutung.
SPIEGEL: Wilhelm hat sich wieder aufgerappelt und wollte mit martialischen Reden die
Deutschen fr den Krieg mobilisieren.
Rhl: Na ja, er hat die Reden gehalten, die ihm aufgeschrieben wurden. Er hat sie im Studio
brigens noch mal nachgesprochen. Das sind die Aufnahmen, die wir heute hren knnen.
SPIEGEL: Der Wunsch nach Selbstdarstellung zog sich wie ein roter Faden durch Wilhelms
Leben. Er war in der Hinsicht modern, fast ein Medienkaiser.
Rhl: Ja, das hat er frh begriffen, dass er sich zeigen musste. Aber seinem Selbstverstndnis nach
war er autokratisch, militaristisch und reaktionr.
SPIEGEL: Hat sich der Kaiser vorher uberlegt, wie er die Sozialdemokraten fr den Krieg
gewinnen knnte?
Rhl: Er wollte die sozialdemokratischen Fhrer alle verhaften, aber Bethmann Hollweg sagte zu
ihm, ich mache das auf meine Weise. Und das hat sehr gut geklappt. Viele Deutsche glaubten
tatschlich, sie wrden angegriffen.
SPIEGEL: Wilhelm hielt sich whrend des Kriegs im Hauptquartier auf. Welche Rolle spielte er
dort?
Rhl: Seine Berater durften ihm schlechte Berichte nicht zeigen. Niederlagen hat er schnell als
Katastrophen empfunden. Und wenn ein Sieg gemeldet wurde, lie er
gleich Champagner kommen, weil er glaubte, der Krieg sei gewonnen. Er hat sich da in
Phantasiewelten geflchtet. So faselte er 1917 von einem Kreuzzug gegen das Bse Satan in
der Welt und sah sich als Werkzeug des Herrn. Diese Flucht hat schon fast etwas Hitlerisches.
SPIEGEL: Aber anders als der Fhrer
hat er sich nicht eingemischt. Rhl: An der Kriegfhrung im Detail war er nicht beteiligt. Das heit
aber nicht, dass er auch poli
tisch keine Rolle mehr spielte. Denn er war die letzte Entscheidungsinstanz.
SPIEGEL: Aber hat er denn wirklich so viel entschieden?
Rhl: Er hat gegen das Drngen der Marine bis 1916 der Hochseeflotte die Erlaubnis zum
Auslaufen verweigert, weil er um seine Schiffe frchtete und die Strke der britischen Flotte richtig

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einschtzte. Er traf sodann alle wichtigen Personalentscheidungen. Und er sagte Ja zum
uneingeschrnkten U-BootKrieg, was den Kriegseintritt der USA bedeutete. Eine verhngnisvolle
Fehlentscheidung.
SPIEGEL: Aber er war eher Getriebener als Treiber.
Rhl: Ich habe das als Knigsmechanismus beschrieben. Es waren fast immer zwei Richtungen in
Militr und Regierung vorhanden, die gegeneinander kmpften, und er musste entscheiden.
SPIEGEL: Von programmatischer Politik-gestaltung ist das weit entfernt.
Rhl: Vor dem Krieg war
das anders. Wilhelm hatte nach der Entlassung Bismarcks 1890 das politische System ganz auf sich
zugeschnitten.
SPIEGEL: Und damit hat er sich bernommen.
Rhl: Ja, es kam mit der Zeit zu einem heillosen Durcheinander. Wir Historiker nennen das
polykratisches Chaos. Die Behrden machten, was sie wollten. Die Armee plante fr einen
Landkrieg, die Marine fr einen Seekrieg, ohne dass man sich koordinierte.
SPIEGEL: Wilhelm war bis 1914 ein gewhnlicher Antisemit. Wurde sein Juden-hass whrend des
Kriegs schrfer?
Rhl: Ich glaube, die Niederlage und seine erzwungene Abdankung lieen ihn zu einem wirklich
eliminatorischen Antisemiten werden. 1919 bezeichnete er die Juden a 1.~ Giftpilz am deutschen
Eichbaum, der ausgerottet und vom deutschen Boden vertilgt werden msse. Und 1927 lie er bei
Fritz Haber, dem Erfinder des Giftgases, anfragen, ob es mglich sei, ganze Grostdte zu vergasen.
Aus dem gleichen Monat stammt dieses schreckliche Zitat, in dem er die Presse, Juden und Mcken
als Pest bezeichnete, von der sich die Menschheit befreien msse. Er notierte handschriftlich
dazu: Ich glaube, das Beste wre Gas.
SPIEGEL: Aber kann das nicht auch nur ein weiteres Beispiel fr Wilhelms gedankenloses
Schwadronieren sein?
Rhl: Wissen Sie, damit wird Wilhelm immer entschuldigt. Jeder andere Staatsmann wrde bereits
fr einen Bruchteil der uerungen Wilhelms verurteilt werden.
SPIEGEL: Wilhelm wurde mit einem verkrppelten Arm geboren, als Kind mit Stromsten
und Kopfstreckmaschinen schrecklich geqult, um die Behinderung zu beheben. Dass der Mann
gestrt war, kann einen nicht verwundern.
Rhl: Das stimmt. Und dann sammelte er leider um sich Berater wie Philipp zu Eulenburg, die
dafr sorgten, dass seine Macht wuchs, obwohl es hundertfach Warnungen gab, dass Deutschland
nicht so autokratisch regiert werden knne, wie es der Kaiser anstrebte.
SPIEGEL: Sie haben im Zusammenhang mit Eulenburg einmal davon gesprochen, dass Wilhelm
bisexuell gewesen sei.
Rhl: Das muss ich zurcknehmen. Inzwischen kenne ich die ganzen Frauengeschichten Wilhelms
inklusive der unehelichen Kinder. Manchmal ist er mit zwei Frauen gleichzeitig ins Bett gegangen.
Das tut ein homosexueller Mann wohl eher nicht.
SPIEGEL: Dass viele Homosexuelle wie Eulenburg und General Kuno Graf von Moltke in seiner
Entourage waren, hat also nichts zu sagen.
Rhl: Nein, Wilhelm wollte angehimmelt werden, und wenn das Mnner taten, hatte das aus seiner
Sicht mehr Gewicht, als wenn die Bewunderung von Frauen kam. SPIEGEL: Es gibt wohl
niemanden auf der Welt, der sich so intensiv mit Wilhelm beschftigt wie Sie. Haben Sie auch
sympathische Zge an ihm entdeckt?
Rhl: Das vielleicht nicht, aber Mitleid kann man mit ihm haben fr die frhen Jahre. Man kann
zudem seine Dynamik bewundern. Er war ja an vielem interessiert. Und er schneidet im Vergleich
zu den anderen Monarchen in Europa nicht schlecht ab. Denn das waren nun ganz traurige Typen,
wirklich totale Nieten.
SPIEGEL: Professor Rhl, wir danken Ihnen fr dieses Gesprch.
DER KRIEG DER GEISTER
Binnen Tagen nach Beginn des groen Massakers berzogen weltberhmte Schriftsteller, Gelehrte
und Knstler der Alten Welt die jeweiligen Kriegsgegner mit Hasstiraden. In Deutschland trieb der
nationalistische Wahn besonders bizarre Blten.

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Die Wende vom Frieden zum Krieg im Sommer 1914 hat Stefan Zweig in seiner Autobiografie
Die Welt von Gestern suggestiv beschrieben. Sie erscheint abrupt und Schwindel erregend.
Der Erzhler beginnt mit einer poetischen Beschwrung des Prachtsommers 1914: Seidenblau
der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwl die Luft, duftig und warm die
Wiesen, dunkel und fllig die Wlder. Die Nachricht vom Attentat in Sarajevo, die Ende Juni in
das Idyll platzte, habe bei den Landsleuten des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand zwar
kurze Zeit fr Aufregung gesorgt. Vor allem wegen der Unbeliebtheit des Opfers habe sie aber
wenig Erschtterung oder Emprung geweckt. Statt sich die Laune trben zu lassen, htten sich
viele auf den populren jungen Erzherzog Karl als neuen Thronfolger gefreut.
In einem Kurpark bei Wien und anschlieend in einem belgischen Strandbad erfreut sich Zweig
wie andere internationale Feriengste des Bilderbuchsommers. Als die Zeitungsmeldungen ber
zunehmend aggressive Tne zwischen den Gromchten immer bedenklicher klingen und die
Uniformierten sich in Belgien ebenso vermehren wie die Gerchte ber eine bevorstehende
deutsche Invasion, versucht der Autor die Sorgen belgischer Freunde zu zerstreuen:
Mir schien es vllig absurd, dass, whrend Tausende und Zehntausende von Deutschen hier
lssig und frhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der
Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte. Erst nach sterreichs Kriegserklrung an Serbien
flieht Zweig mit dem letzten Zug.
Buchstblich ber Nacht sei dann Anfang August der erste Schrecken ber den Krieg, den
niemand gewollt, einem allgemeinen Enthusiasmus gewichen. Ganz Wien im Schwindel der
Kriegsbegeisterung, berall Fahnen, Spruchbnder, Musik. Der Rausch der Millionen habe etwas
Groartiges, Hinreiendes und sogar Verfhrerisches gehabt, versichert Zweig und bekennt, er
wolle diese Erinnerung trotz allem Hass und Abscheu gegen den Krieg in seinem Leben nicht
missen: Jeder Einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch
von frher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete
Person hatte einen Sinn bekommen ... So gewaltig, so pltzlich brach diese Sturzwelle ber die
Menschheit herein, dass sie, die Oberflche berschumend, die dunklen, die unbewussten Urtriebe
und Instinkte des Menschtiers nach oben riss. Der kollektive Rausch ist fast unvorstellbar fr
sptere Generationen, die das Grauen zweier Weltkriege vor Augen haben ganz zu schweigen
von Vlkermord, Massenvertreibungen und ethnischen Suberungen.
Allen voran war es die kulturelle Elite, die diesem Rausch 1914 erlag. Nationalistische Euphorie
verbreitete sich, mit einigen Abstufungen, auch in England, Frankreich und Russland. Die Russen
warfen den angestammten Namen ihrer Hauptstadt beiseite wie einen faulen Apfel, weil er pltzlich
allzu deutsch klang aus St. Petersburg wurde Petrograd.
Uberall lieferten Intellektuelle die ideologischen Stichworte und forcierten die geistige
Mobilmachung. Dichter und Denker, Knstler und Komponisten, Priester und Pdagogen wurden
von der Kriegsstimmung mitgerissen und feuerten sie an.
In der berfllten Aula der Universitt von Jena spricht im August 1914 der LiteraturNobelpreistrger Professor Rudolf Eucken (1846 bis 1926), der Paradephilosoph des Kaiserreichs.
Zwar erweise sich ein Krieg als schweres bel, doziert Eucken, wenn er aus niedrigen
Beweggrnden gefhrt werde aus Hass, Neid, Ruhmsucht oder Erfolgsgier etwa. Als Quelle
sittlicher Strkung dagegen bewhre sich der Kampf eines ganzen Volkes fr seine
Selbsterhaltung und fr die Wahrung seiner heiligsten Gter. Dass Deutschlands Krieg von
ebendieser Art sei, also einer gerechten Sache diene, das zeige die durchgreifende Luterung und
Erhebung, die er an unserer Seele bewirke.
Die wirklichen Ursachen tauchen nicht auf in dieser eigentmlichen Argumentation, deren
Grundmuster in der Kriegsrechtfertigung deutscher Intellektueller fortan wiederkehren wird: Das
Erlebnis des Krieges beweist sich von selbst.
Der renommierte Historiker Friedrich Meinecke schreibt am 4. August, dem Tag der britischen
Kriegserklrung, in einem Grundsatzartikel ber Politik und Kultur: Jeder Einzelne hat sich von
jetzt an nur noch als ein Stck der groen Armatur des Staates zu betrachten. Schon wegen seiner
berlegenen Kultur sei Deutschland Vlkern wie Serbien und Russland gegenber politisch im
Recht.
Der Behauptung einer angeblich erdrckenden kulturellen berlegenheit Deutschlands ber seine

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Feinde, auch in Westeuropa, ist eines der meiststrapazierten Argumente deutscher Kriegsrechtfertigung. Scharenweise rsten Gelehrte ihre akademischen Elfenbeintrme zu patriotischen
Trutzburgen um. Warum stehen die Belgier sittlich so tief?, fragt der Grzist Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff: Weil ihnen unser Schulsystem und unsere Sozialversicherung fehlt.
Die Elite der deutschen Wissenschaft hlt im Herbst 1914 kriegsbegeisterte Vortrge, die unter
dem Titel Deutsche Reden in schwerer Zeit als Buch gedruckt werden; Kurt Flasch hat viele
davon unlngst in seinem bestrzenden Buch Die geistige Mobilmachung in Erinnerung gerufen.
Charakteristisch ist der religise Ton, in dem sich patriotische Ergriffenheit bekundet. Da wird
staunende Andacht beschworen, heilige Zeit und wunderbare Kraft, die in uns einstrmte.
Bei so viel Mystik macht sich jeder Skeptiker, der auf dem Unterschied von Fhlen und Denken,
Glauben und Wissen, Propaganda und Universitt besteht, als undeutscher Kleingeist verdchtig.
England und Frankreich bleiben im Krieg der Geister Deutschland nichts schuldig, wobei in
England mavolle und nchterne Stimmen vor allem anfangs eher zu vernehmen sind als in
Frankreich. Dort hatte ein Fanatiker den groen Pazifisten und hochgebildeten Sozialisten Jean
Jaurs am 31. Juli 1914 ermordet. Das Attentat ist das Fanal fr die Entfesselung des franzsischen
Chauvinismus, der nach Rache fr die Niederlage von 1871 schreit.
Ebenso wie in Deutschland und sterreich whnt sich die Bevlkerung in England, Frankreich
und Russland in einem von auen aufgezwungenen Verteidigungskrieg. Gleichzeitig hat aber
berall in Europa, im Zeitalter des nationalistischen Wettstreits um koloniale Beute, eine Art
politischer Darwinismus das Denken durchsetzt. Sie lsst den Krieg als biologische Notwendigkeit
bei der Auslese und Entwicklung nationaler Arten erscheinen.
Ist Deutschland zu Kriegsbeginn auf den Schlachtfeldern der Panzer und Maschinengewehre in
der Offensive, so sieht es sich im Krieg der Worte und Gedanken in die Defensive gedrngt
international angeprangert als Volk von Barbaren, Hunnen, Militaristen.
Im besten Fall werden die Deutschen bemitleidet als eine von preuischen Pickelhauben
versklavte Nation, die leider nur gewaltsam von Kadavergehorsam und Kasernengcist zu befreien
und in den Kreis zivilisierter Nationen zurckzufhren sei.
Wie in Deutschland, so wird auch in England der Krieg als eine Art philanthropische
Kulturmission dargestellt. Nur die Begrndung variiert. Sinnfllig formuliert Arthur Conan Doyle,
der Erfinder des Sherlock Holmes, das Stereotyp vom Kulturkrieg der Westmchte in einem Zeitungsartikel im September 1914:
Wir kmpfen fr das starke, tiefe Deutschland der Vergangenheit, das Deutschland der Musik
und der Philosophie, gegen das jetzige monstrse Deutschland von Blut und Eisen. Fr die
Deutschen, die nicht der regierenden Klasse angehren, wird unser Sieg dauernde Erlsung
bringen. Aus den Trmmern des Reiches wird sich der Deutsche dann jenes herrliche Juwel
heraussuchen: das Juwel der persnlichen Freiheit, das hher steht als der Ruhm der Eroberung
fremder Lnder.
Hhnisch weist die Klnische Zeitung die liebenswrdigen Ratschlge des britischen
Erzhlers zurck:
Wenn die Deutschen so dumm wren, wie Herr Conan Doyle offenbar glaubt, dann wrden sie
vielleicht auf diesen Leim kriechen. Ein Deutschland wie das zur Zeit der Kleinstaaterei, in
Dichtung, tiefgrndiger Philosophie und Musik aufgehend, macht- und einflusslos in der Welt,
vertrumt nach den Wolken starrend, whrend England unterdes die Weltherrschaft fhrt und
ringsum Macht und Reichtum mehrt, das wre so ein Ideal nach dem Geschmack des freundlichen
Herrn Conan Doyle. Schade, dass die Deutschen realistisch geworden sind, schade, dass ein
Bismarck gelebt hat!
Im Ensemble der franzsischen Intellektuellen hat der weltberhmte Philosoph Henri Bergson
die antideutsche Fanfare geblasen. In einer Sitzung der Acadmie des Sciences Morales et
Politiques konstatiert er im Namen der Wissenschaft lapidar: Der engagierte Kampf gegen
Deutschland ist der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.
Wer da noch vershnliche Tne riskiert, hat einen schweren Stand. Der groe fanzsische
Erzhler Anatole France kritisiert in einem Artikel zwar das Vorgehen der deutschen Truppen in
Belgien scharf, schliet aber damit, nach dem militrischen Sieg ber Preuen-Deutschland

45
mssten die Franzosen die Deutschen wieder wie Freunde aufnehmen. Der 70-Jhrige wird
daraufhin von Pariser Blttern derart heftig attackiert, dass er schleunigst seine Dienste in Uniform
anbietet.
Sein Landsmann Romain Rolland verweigert sich mutig der nationalistischen Hysterie. Mit
seiner legendren Schrift Au-dessus de la mle (ber dem Getmmel) beweist er als einer von
wenigen Europern, dass die Alte Welt den Geist noch nicht ganz aufgegeben hat. Anderentags wird
er von Buchhndlern und von seinen ltesten Freunden boykottiert.
Sogar dieser unerschrocken pazifistische Dichter und Deutschenfreund verliert aber die Geduld,
als Deutschlands groer Dramatiker Gerhart Hauptmann die Kritik aus dem Ausland rundheraus
als lgnerische Mrchen abtut. Er gehre gewiss nicht zu denen, erwidert Rolland, die
Deutschland als barbarisches Land traktierten. Aber die Wut, womit Ihr diese hochherzige Nation
(Belgien) behandelt, sei zu viel. Seid Ihr die Enkel Goethes oder Attilas?, fragt er.
Auf alliierter Seite scheint die Antwort klar. Rudyard Kipling, Autor des Dschungelbuchs und
literarischer Anwalt des britischen Imperiums, formuliert sie in einem poetischen Kampfaufruf in
der Times: The Hun is at the gate!, der Hunne pocht ans Tor. In derselben Zeitung
verffentlichen 52 britische Schriftsteller die Erklrung Ein gerechter Krieg: Die Verletzung der
belgischen Neutralitt lasse England keine Wahl.
Gegen die massive internationale Kritik an Deutschland wenden sich 93 prominente Vertreter des
deutschen Geisteslebens in dem am 4. Oktober 1914 verffentlichten und in 14 Sprachen versendeten Manifest An die Kulturwelt!.
Die Physiker Max Planck und Wilhelm Rntgen, der Zoologe Ernst Haeckel, der Regisseur Max
Reinhardt, der Dramatiker Gerhart Hauptmann und Dutzende anderer Gren erheben vor der
gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lgen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde
Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen
trachten.
Es folgt ein sechsfaches, fett hervorgehobenes Es ist nicht wahr. Lge sei
der Vorwurf der Kriegsschuld: Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde
bermacht von drei Seiten ber unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann;
der Vorwurf der ruchlosen Verletzung belgischer Neutralitt: Deutschland sei lediglich dem
von Belgien akzeptierten Einmarsch durch England und Frankreich zuvorgekommen;
dass eines einzigen belgischen Brgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten
angetastet worden ist, ohne dass die bitterste Notwehr es gebot;
dass unsere Truppen brutal gegen (die belgische Stadt) Lwen gewtet haben;
dass unsere Kriegsfhrung die Gesetze des Vlkerrechts missachtet;
dass der Kampf gegen unseren so genannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur
ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wre die
deutsche Kultur lngst vom Erdboden getilgt.
Auf die trotzige Bekundung der Solidaritt mit dem Militarismus ein Begriff, der in der
wilhelminischen Gesellschaft und Kultur bis Kriegsausbruch durchweg negativ besetzt war
reagierte die angesprochene Kulturwelt mit Abscheu. Das galt auch fr neutrale Lnder wie die
Schweiz, die fr ein Grppchen entschiedener Gegner der deutschen Kriegspolitik bald zur Zuflucht
vor der Zensur wurde unter ihnen die jdischen Denker Ernst Bloch und Walter Benjamin.
Paradoxerweise waren die treibenden Krfte hinter dem Aufruf aber nicht etwa notorische
Chauvinisten oder servile Untertanen des Kaisers. Das Gegenteil ist richtig: Gerade die
Hauptbeteiigten hatten sich in den beiden Vorkriegsjahrzehnten als herausragende liberale
Widersacher der reaktionren Kulturpolitik Wilhelms II. hervorgetan. Das gilt vor allem fr den
Verfasser des Aufrufs, Ludwig Fulda (1862 bis 1939). Sein Leben und Wirken zwischen
Kaiserreich und Nationalsozialismus bezeichnet die Tragdie eines hoch begabten jdischen
Deutschen und geistigen Weltbrgers, der sich zeit seines Lebens als deutscher Patriot verstand.
Der polyglotte und ungeheuer produktive Mann gehrte im ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert zu Deutschlands erfolgreichsten Dramatikern und populrsten Schriftstellern. Er
schrieb Dutzende Theaterstcke, von denen viele um die Welt gingen, und wurde am Wiener
Burgtheater hufiger gespielt als Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler und Hugo von
Hofmannsthal.

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Ahnlich populr waren seine bersetzungen aus sieben Sprachen. Dass etwa Molire vor 1914 in
Deutschland mehr als in Frankreich aufgefhrt wurde, war auch ein Verdienst von Fuldas geistigem
Brckenbau. In der Weimarer Republik hnlich geachtet wie zuvor im Kaiserreich, wurde Fulda
nach 1933 als Jude verfemt, isoliert und 1939 in den Selbstmord getrieben. Das Zerstrungswerk
des Nationalsozialismus hat dafr gesorgt, dass Ludwig Fulda heute zu Deutschlands vergessenen
Schriftstellern gehrt.
Die berzeugung, die er 1914 vertrat tief gekrnkt durch den Pauschalangriff auf deutsche
Barbarei stand fr ihn selbst keineswegs im Widerspruch zu seiner unerschrocken
oppositionellen Haltung in Friedenszeiten. Der Aufruf an die Kulturwelt sollte vielmehr deren
konsequente Fortsetzung sein: Wiederum sah er die deutsche Kultur bedroht. Diesmal freilich durch
uere Anfeindung.
Die Deutschen sind mehr als ein gebildetes Volk, trumpfte er im 1916 verffentlichten Werk
Deutsche Kultur und Auslnderei auf, sie sind das gebildetste Volk der Welt. Sogar William
Shakespeare werde in Deutschland unvergleichlich viel besser gespielt unvergleichlich viel besser
verstanden als in England, wo unser Shakespeare nur versehentlich zur Welt gekommen sei.
Und falls es uns glckt, England niederzuzwingen, dann meine ich, wir sollten in den
Friedensvertrag eine Klausel setzen, wonach William Shakespeare auch formell an Deutschland
abzutreten ist.
Neben der absurden Komik dieser uerung ist der widerwillige Respekt nicht zu verkennen, den
sie der Weltmacht England zollt. Weil die allgemein als gefhrlichster der deutschen Gegner gilt,
richtet sich literarisches Sperrfeuer auch vor allem gegen diesen Feind.
Das populrste deutsche Gedicht der ersten Kriegszeit, Ernst Lissauers Hassgesang gegen
England, ist zum Inbegriff lyrischer Kriegsgesinnung geworden.
Wir lieben vereint, wir hassen vereint,
Wir haben nur einen einzigen Feind:
Denn ihr alle wisst, denn ihr alle wisst
Er sitzt geduckt hinter der grauen Flut,
Voll Neid, voll Wut, voll Schlue, voll List,
Durch Wasser getrennt, die sind dicker als Blut.
... Vernehmt das Wort, sagt nach das Wort,
Es wlze sich durch ganz Deutschland fort:
Wir wollen nicht lassen von unserem Hass,
Wir haben alle nur einen Hass,
Wir lieben vereint, wir hassen vereint,
Wir haben alle nur einen Feind:
England.
Autor Lissauer glaubte als preuischer Jude mit besonderer Inbrunst an Deutschlands Mission.
Wie alle Kombattanten im internationalen Krieg der Geister war er ehrlich von der verfolgten
Unschuld seines Landes berzeugt. Zum martialischen Tremolo des Hassliedes, von dem sich der
unglckliche Dichter spter distanzierte, stand freilich Lissauers Erscheinung in skurrilem Kontrast:
Ein Zeitgenosse schildert ihn als tonnenfrmigen, kurzatmigen Gemtsmenschen, der untrstlich
ber die Abweisung seines Gesuchs war, mit der Waffe fr Deutschland zu kmpfen.
Mit den Elaboraten professioneller Literaten schwillt ab August 1914 eine nie dagewesene Flut
von Laien-Lyrik wie aus Maschinengewehren rattert es da von Krieg und Sieg. Die Zahl der
Gedichte, die anfangs von der Bevlkerung tglich an die Presse eingesandt werden, schtzt eine
neuere Studie auf 50 000.
Da alles ruht in Gottes Hand, wir bluten gern frs Vaterland, reimt der angesehene Dichter
Richard Dehmel, der sich mit ber 50 Jahren zu den Waffen drngt. Zahllose Knstler,
Intellektuelle und Schriftsteller tun es ihm nach wie Oskar Kokoschka, Franz Marc, Alfred Kerr
oder Hermann Hesse. Der Dichter hat das Glck, wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit
zurckgewiesen zu werden; er solidarisiert sich daraufhin in dem Gedicht Der Knstler an die
Krieger: Alle sind dem Alltag jetzt entflogen / Jeder ward ein Knstler, Held und Mann.
Die enge Wesensverwandtschaft von Knstler und Soldat betont auch Thomas Mann: Jenes

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siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation es ist ja das erste Prinzip, das Wesen der
Kunst. Wie das Gros der deutschen Intellektuellen setzt er auf die berwindung westlicher
Zivilisation durch deutsche Kultur.
Die Ideen von 1914 so der Titel eines damals einflussreichen Buches werden dem
geistig-politischen Erbe der Franzsischen Revolution entgegengestellt. Das Zeitalter der
Organisation lst demnach die individualistischen Ideen von 1789 ab. An die Stelle von Freiheit,
Gleichheit und Brderlichkeit treten Hierarchie und Aristokratie. Die hchsten Tugenden sollen
fortan Idealismus, Selbstaufopferung, Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze sein: Volk
gegen Individuum. Idealismus gegen Materialismus. Gemeinschaft gegen Gesellschaft. Organismus
gegen Mechanismus. Tiefsinn gegen Oberflchlichkeit. Kultur gegen Zivilisation.
Diese Konstruktion bildet den mentalen Humus einer verhngnisvollen Politik, deren Wurzeln tief
in die deutsche Geschichte zurckreichen. Ideologie und Praxis des deutschen Sonderweges, von
dem Historiker sprechen, endeten mit der Katastrophe des Nationalsozialismus. Der wirft in der
intellektuellen Mobilmachung von 1914 seine dsteren Schatten voraus.
Treue gegen den Fhrer, dem er sich ergeben hat, bis in den Tod zu halten, hat dem Deutschen
von den ltesten Zeiten her im Blut gelegen, ruft der greise Philosoph und Hegel-Epigone Adolf
Lasson vom Katheder herab. Ernst Troeltsch, Professor fr Theologie und Philosophie, will von
keiner weichlichen Humanitt angekrnkelte Kmpfer: Die Mittel, die zum Zweck ntig sind,
mssen unbedenklich anerkannt und gewollt werden. Es muss ber Tod und Leichen gehen.
Nur in einem lichten Moment erscheint ihm alles wie ein wster Traum, wie ein ungeheurer,
verbrecherischer Wahnsinn.
Ebendiesem verbrecherischen Wahnsinn wird Karl Kraus mit seinem Drama Die letzten
Tage der Menschheit 1919 ein Denkmal setzen. Doch sein grimmiger Rat, nach Friedensschluss
die Kriegsliteraten einzufangen und vor den Invaliden auszupeitschen, verhallt ungehrt.
Erst als die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg zerstoben sind und der geistige Vollrausch einem
nie dagewesenen Kater weicht, wandelt Ernst Troeltsch sich zum Friedensfreund und
Vernunftrepublikaner. Auch andere Hurrapatrioten der ersten Stunde besinnen sich spter eines
Besseren, wie Thomas Mann und Hermann Hesse. Ein groer und einflussreicher Teil der
deutschen Intelligenz indes klammert sich nach der Niederlage von 1918 erst recht an die Ideen
von 1914. Er wird eine leichte Beute des Nationalsozialismus. Aber nicht einmal die Nazis mit
ihrer riesigen Propagandamaschine werden nach der frchterlichen Erfahrung des Ersten Weltkrieges eine hnliche intellektuelle Begeisterung fr ihren neuen Krieg entfachen.
Wie konnten so viele deutsche und europische Gren zu Flammenwerfern des Nationalismus
werden? Eine Hypothese macht den Zeitgeist haftbar: Im imperialistischen Zeitalter sei eben alles
Denken unterschwellig von der Vorstellung einer naturwchsigen Auslese der Strksten
durchdrungen gewesen. Eine andere sucht den Grund im elementaren, irrationalen Sog der
Massenpsychologie. Und der Literaturwissenschaftler Helmut Fries hat in seiner zweibndigen
Studie Die groe Katharsis den deutschen Fall so erklrt: Deutschlands Dichter und Denker
htten den Krieg als Chance missverstanden, ihre angestammte Rolle von geistigen Fhrern der
Nation zurckzuerobern die sei ihnen nmlich im 1871 einsetzenden Triumphzug der
kapitalistischen Mechanisierung entrissen worden.
All das mag zutreffen und kann doch das Rtsel letztlich ebenso wenig aufklren wie die
Deutung von Stefan Zweig: Es war so resmiert Zweig mitten im Zweiten Weltkrieg seine
Erinnerung an den Ersten der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Glubigkeit der Vlker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die grte
Gefahr.
SNDENBCKE DER NIEDERLAGE
Als Deutschland 1914 in den Krieg zog, zeigten die Juden die gleiche Mischung aus
Entschlossenheit und Unsicherheit, aus Kriegsbegeisterung und Friedenssehnsucht wie ihre nichtjdischen Mitbrger. So demonstrierten auch sie die fr jene Tage typische Kampf-bereitschaft.
Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, ber das Ma der Pflicht hinaus Eure
Krfte dem Vaterland zu widmen!, gab der Centralverein deutscher Staatsbrger jdischen
Glaubens den ausrckenden Soldaten mit auf den Weg.

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Kaum eine Bevlkerungsgruppe in Deutschland hat das Versprechen Wilhelms II., -keine
Parteien mehr zu kennen, hufiger beschworen als die Juden. Denn obwohl sie seit ber vier
Jahrzehnten gleichberechtigte Staatsbrger gewesen waren, blieben Vorurteile und Abneigung, von
skrupellosen Agitatoren geschrt, in der Gesellschaft gegenwrtig. Nun aber schien das alles
vergessen. Die antisemitische Hetzpresse schwieg, und erstmals seit Jahrzehnten wurden sogar
wieder Juden zu preuischen Offizieren befrdert.
Die Hoffnung, sich durch demonstratiyen Patriotismus aus ihrer Auenseiter-rolle befreien zu
knnen, teilten die deutschen Juden mit den Sozialdemokraten. Und so war es der jdische SPDReichstagsabgeordnete Ludwig Frank, der als Kriegsfreiwiliiger bereits am 3. September 1914 fiel
als einziges Mitglied dieses an Stammtischpatrioten reichen Parlaments.
Und noch eines verband beide: ihre von der Reichsregierung geschickt ausgenutzte Abneigung
gegen das zaristische Russland, die Heimat der Pogrome und der Unterdrckung, den Inbegriff der
Rckstndigkeit. Die zionistische Jdische Rundschau etwa schrieb, dass der Sieg des
Moskowitertums jdische und zionistische Hoffnungen ... vernichtet ... Denn auf deutscher Seite ist
Fortschritt, Freiheit und Kultur.
Ungeachtet solch patriotischer Tne brachen jedoch die Antisemiten den emphatisch verkndeten
Burgfrieden sehr schnell. Houston Stewart Chamberlain etwa, Schwiegersohn Richard Wagners
und antisemitischer Theoretiker, zeigte sich im September 1914 reumtig, weil die Juden ihre
Pflicht vor dem Feinde und daheim getan hatten. Doch bald schon hatte er zu seinem alten Hass
gegen das Teufelsgezcht zurckgefunden. Ahnlich hielt es der Leipziger Antisemit Theodor
Fritsch, dessen Reichshammerbund bereits seit Ende August 1914 wieder Belastungsmaterial
gegen die Juden sammelte.
Die schlimmsten Auswchse antisemitischer Propaganda wurden jedoch von der Militrzensur
unterdrckt, so dass die Judenfeinde zum Mittel der Denunziation griffen. Ihre erste Kampagne
richtete sich gegen die angeblich wie ein Heuschreckenschwarm ber das Deutsche Reich
herfallenden Juden aus dem deutsch besetzten Osteuropa.
Etwa 50000 ostjdische Arbeiter lebten bereits vor dem Krieg in Deutschland, nach 1914 kamen
rund 30000 hinzu, die Hlfte davon als Zwangsarbeiter. Sie waren fr die Kriegswirtschaft ebenso
unverzichtbar wie der Chemiker Fritz Haber, der Reeder Albert Ballin oder der Gro-industrielle
und sptere Reichsauenminister Walther Rathenau. Haber war der Initiator und Organisator des
Giftgaskrieges auf deutscher Seite, Ballin organisierte im Herbst 1914 die deutsche Getreideversorgung. Doch es war vor allem Rathenau, der die deutsche Kriegswirtschaft 1914/15 als erster
Leiter der auf seinen Vorschlag hin gegrndeten Kriegsrohstoffabteilung im Preuischen
Kriegsministerium prgte.
Juden in einigen leitenden Positionen der von Mangel und Verteilungskmpfen geprgten
Kriegswirtschaft, in der viele Menschen um ihr tglich Brot kmpfen mussten das war ein
gefundenes Fressen fr die Antisemiten, die das alte Klischee
vom jdischen Wucherer begierig aufwrmten.
Auch im Heer wuchs bald wieder der Antisemitismus. Desillusioniert vertraute etwa im
September 1916 der VizeFeldwebel Julius Marx seinem Tagebuch an: Ich mchte hier nichts sein
als ein deutscher Soldat aber man sorgt nachgerade dafr, dass ich s anders wei. Schlimmer
noch als der Vorwurf der Kriegsgewinnlerei war in diesem menschenverschlingenden Krieg die
heimtckische Behauptung, viele Juden entzgen sich dem Frontdienst.
Seit Ende 1915 berschwemmten die Antisemiten das Preuische Kriegsministerium mit
anonymen Eingaben. Am lt. Oktober 1916 ordnete der Preuische Kriegsminister Wild von
Hohenborn schlielich unter dem aktenstaubtrockenen Titel Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden eine von den Zeitgenossen schlicht Judenzhlung genannte Statistik
an. Zwar lautete deren offizielle Begrndung, man wolle den Vorwurf der Drckebergerei
lediglich nachprfen, um ihm gegebenenfalls entgegentreten zu knnen. Doch alle gegenteiligen
Beteuerungen halfen nichts: Mit diesem Erlass bernahm das Ministerium antisemitische
Stereotypen.
Die Ergebnisse der Judenzhlung wurden nie verffentlicht, worin die Antisemiten eine
Besttigung ihrer Vorwrfe erblickten. Nach Kriegsende wurden dem radikalvlkischen Autor
Alfred Roth die amtlichen Quellen zugespielt, aus denen er den angeblichen Beweis fr die
Wahrheit jenes Spruches erbrachte, der 1918 an der

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Front kursierte: Uberall grinst ihr Gesicht, nur im Schtzengraben nicht! Der Soziologe und
Nationalkonom Franz Oppenheimer und andere entlarvten die Taschenspielertricks, mit denen
Roth und Konsorten die an sich schon fragwrdige Statistik weiter verflscht hatten.
Serise Hochrechnungen zeigten, dass unter rund 550 000 deutschen Staatsbrgern jdischer
Religionszugehrigkeit knapp 100 000 Kriegsteilnehmer waren, von denen 77 Prozent an der Front
standen. Allein die Zahl von 30000 Kriegs-auszeichnungen und 12000 Gefallenen beweist ihre
Opferbereitschaft. Nach 1933 wurden die Frontkmpfer daher zunchst noch von einigen
antijdisehen Manahmen des Nazi-Regimes ausgenommen, doch sptestens 1935 war es auch
damit vorbei. Kein im Weltkrieg erworbenes Eisernes Kreuz schtzte sie spter vor der Deportation
in den Tod.
Die Judenzhlung kann nicht allein durch den Antisemitismus erklrt werden. Sie stand
vielmehr im Zusammenhang mit der Ausbildung der verdeckten Militrdiktatur unter
Generalstabschef Paul von Hindenburg und seinem Adlatus Erich Ludendorff, der totalen
Mobilmachung aller menschlichen und industriellen Ressourcen sowie der aggressiven Agitation
gegen den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Der war gewiss kein Liberaler oder gar
DemokrAt. Aber er war doch Realist genug, um zu erkennen, dass innenpolitische Reformen
notwendig waren und der Krieg notfalls auch ohne militrischen Sieg beendet werden musste.
Das gengte, um ihn als Flaumacher zu diffamieren und das Schreckbild einer Regierung unter
alljdischer Leitung zu malen. Angesichts der Niederlage rief Heinrich Cla, Fhrer des
antisemitischen und ultranationalistischen Alldeutschen Verbandes, im Oktober 1918 dazu auf,
die katastrophale Lage Deutschlands zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als
Blitzableiter zu benutzen. Die Dolchstolegende war geboren, der zufolge Deutschland nicht
militrischer berlegenheit, sondern einer internationalen Verschwrung von Sozialisten, Pazifisten
und Juden erlegen war, obwohl beispielsweise Walther Rathenau bis zuletzt zum Durchhalten
aufrief.
Seit der Oktoberrevolution in Russland gewann auch die Behauptung der Iden
titt von Revolution und Judentum durch den Hinweis auf fhrende Revolutionre jdischer
Herkunft wie Leo Trotzki eine scheinbare Plausibilitt im verunsicherten Brgertum. 1941 diente
der Kampf gegen den jdischen Bolschewismus als Propagandafanfare fr den berfall auf die
Sowjetunion und half, Hemmungen vor dem systematischen Judenmord abzubauen. Die HohmannAffre hat gezeigt, dass die Gleichsetzung der Juden mit den Verbrechen des Bolschewismus bis
heute herumgeistert.
So kamen im Krieg all jene Zutaten zusammen, aus denen die Antisemiten nach 1918 einen neuen
Giftcocktail mischten. Das uralte Motiv des jdischen Schmarotzers erstand in Gestalt des
Kriegsgewinnlers neu. Der vermeintlich zersetzende. liberal-individualistische .lnde des
19. Jahrhunderts wandelte sich in den bolschewistischen Revolutionr. Und einmal mehr galten
die Juden als national illoyale, wurzellose Kosmopoliten. Die deutsch-nationalen Krfte
verhhnten die erste deutsche Demokratie daher als angeblich undeutsch und als Judenrepublik.
Viele Deutsche akzeptierten diesen Wahn als Realitt. Der Schriftstel1er Jakob Wassermann schrieb
1921 verbittert ber seine Mitbrger: Es ist vergeblich, in das tobschtige Geschrei Worte der
Vernunft zu werfen ... Es ist vergeblich, fr sie zu leben und fr sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein
Jude.
Der Patriotismus und die Opferbereitschaft der deutschen Juden wurden im Ersten Weltkrieg
bitter verhhnt. Doch unter staatlicher Diskriminierung hatten andere Bevlkerungsgruppen
womglich noch mehr gelitten, vor allem die nationalen Minderheiten im polnisch geprgten Osten
Preuens, in Elsass-Lothringen sowie in Nordschleswig. Und Opfer eines Vlkermords in diesem
Krieg wurden nicht die Juden, sondern die Armenier im Osmanischen Reich. Dieser nach wie vor
von der Trkei geleugnete Genozid erscheint heute als ein Probelauf zu der noch greren
Katastrophe, die einen Weltkrieg spter ber die europischen Juden hereinbrach. Die zwischen
1914 und 1918 erbrachten Opfer waren umsonst gewesen.
SCHLANGE VORM BORDELL
In der Heimat fehlten die Mnner, an der Front die Frauen. Der Krieg zerstrte auch die
brgerliche Sexualmoral.The Great War, der Groe Krieg, wie er bei Deutschlands einstigen Geg-

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nern bis heute heit, bescherte britischen Polizisten ungewohnten Zusatzdienst. Sie sollten in den
Schlafzimmern von Soldatenfrauen nach Liebhabern schnffeln. Denn Sittsamkeit an der Heimatfront wurde mit dem Krieg zur nationalen Pflicht.
Ehebruch der Strohwitwen htte die Moral der Kmpfenden beeintrchtigen knnen, wurde
deshalb mit Streichung staatlicher Zuwendungen an deren Familien geahndet. Neben den Bobbys
wachten eigens aufgestellte Frauenpatrouillen ber Zucht und Anstand ihrer Geschlechtsgenossinnen. Aufreizende Literatur oder zweideutige Theaterstcke wurden vorbeugend
zensiert.
Probleme mit der kriegsbedingten Trennung von Ehepartnern hatten smtliche am Waffengang
beteiligten Staaten. In England wie in Frankreich, in Russland wie in Deutschland brachte der
massenhafte Marsch der Mnner an die Front das Sexualleben in der Heimat durcheinander.
Im Deutschen Reich verpflichtete das Kriegsministerium Soldatenfrauen per Propaganda und
Runderlassen zur ehelichen Treue. Auch unter dem Kaiser konnten Ehebrecherinnen mit Untersttzungsentzug bestraft werden. Durch namentliche Verffentlichungen an den Pranger gestellt und
strafrechtlich verfolgt wurden Frauen, die sich mit Kriegsgefangenen einlieen. Das blieb
angesichts 13 Millionen eingezogener Mnner und ber eine Millionen an der Heimatfront schuftender Gefangener keine Seltenheit.
Um die Sexualmoral der Soldaten selbst war der Staat weniger besorgt. Die konnten sich in
Bordellen ausleben, in denen die geschlechtliche Notdurft, so formulierte es eine feministische
Publizistin, vielfach auf vllig gemtslose, ja tierische Art gestillt werden musste. Die frontnahen
Puffs, wo die Freier Schlange standen, wurden zum Teil vom Militr selbst betrieben und
stabsrztlich berwacht. Denn Geschlechtskrankheiten zersetzten die Wehrkraft. An die Truppe
wurden deshalb auch Kondome oder Desinfektionsmittel ausgegeben. Fr Offiziere gab es
luxurise Etablissements mit Champagnerservice. So blieb die Krankenrate bei deutschen Kriegern
auf 1,5 bis maximal 3 Prozent (in der kopulationsfreundlicheren Etappe) beschrnkt.
Beim zunchst weniger peniblen Feind stieg die Lustseuchenrate etwa bei kanadischen
Einheiten zeitweise auf in der Tat wehrkraftgefhrdende 29 Prozent. Mit harten Strafen
bedrohten die Briten angesichts fnf Prozent geschlechtskranker Kmpfer infizierte Frauen, die Sex
mit Soldaten Seiner Majestt suchten.
Amerika erklrte fr seine Truppe in Frankreich Bordelle als off limits, trieb sie aber damit nur
kaum kontrollierten freiberuflichen Gunstgewerblerinnen in die Arme.
Sex, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in der ffentlichkeit noch weithin Tabuthema, sollte
auch im Krieg unter der Decke bleiben. Doch die Macht des Faktischen war strker. Von den ber
70 Millionen dienenden Mnnern, die zum Teil an Fronten fern der Heimat kmpften und tglich
mit dem Tod rechnen mussten, kmmerten sich viele kaum mehr um brgerliche Sexualmoral,
lebten sich vielmehr mit Mademoiselles oder Slawenhuren, so der Soldatenjargon, aus wenn
sich die Chance dazu ergab.
Millionen Frauen, die im Alltag daheim Mnner ersetzen mussten und gleichzeitig zur
Kinderproduktion angehalten wurden, scherten sich ebenfalls immer weniger um die
Keuschheitsappelle ihrer Obrigkeiten. Reichswochenhilfe wurde nmlich auch unehelichen
deutschen Mttern zuteil, deren Prozentsatz in den Kriegsjahren um zwei Drittel anstieg. Frankreich
verkndete eine Mobilisierung der Wiegen. England feierte 1917, zum Hhepunkt der gezielten
Menschenvernichtung an der Westfront, eine National Baby Week im Hinblick auf knftiges
Kanonenfutter.
Gleichzeitig chtete die fortdauernde Doppelmoral frei ausgelebte weibliche Sexualitt.
Deutschland lie als unzchtig aufgefallene Frauen sittenpolizeilich berwachen. In Frankreich,
wo derl Kriegsschriftsteller Roland Dorgels den gefhrlichsten Feind an der Heimatfront in
Gestalt der Frauen, die ihre Mnner an der Front betrogen, ausmachte, mussten Gaststtten um 21
Uhr schlieen, Alkoholausschank an weibliche Gste war verboten. In England drohte amateur
girls, die Mnner anmachten, Inhaftierung bis zum 19. Lebensjahr. In Garnisonsorten wurden
Prostituierte mit nchtlichem Ausgehverbot belegt.
Da die spiebrgerliche Einbindung sexueller Beziehungen in die Ehe mangels Ehemnner aber
nicht mehr funktionierte, verallgemeinerten sich die erotischen Verhltnisse zwischen Frauen und
Mnnern, die weder verheiratet noch Prostituierte und Freier waren, so Ute Daniel in der
Enzyklopdie Erster Weltkrieg. Freie Liebe grassierte.

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Je lnger der Krieg dauerte, umso mehr spielten Frauen auch im Kampfgeschehen eine Rolle. Im
besetzten Belgien etwa waren die Frauen, in denen ein Feuer glhte, so ein Historiker, die Seele
des Widerstandes gegen die deutschen Soldaten. Eine 18-jhrige Franktireurin, wie die
Partisaninnen genannt wurden, erschoss einen deutschen Offizier und wurde dafr hingerichtet.
Im Frhjahr 1917 wurden Frauen auch im regulren Militrdienst eingesetzt. Die Alliierten
stellten als Erste zur Entlastung der kmpfenden Mnner weibliche Hufskorps auf. Britische
Traditionalisten erregte, dass die Frauen das geheiligte Khaki der Soldaten trugen, und sorgten sich,
dass sie womglich die boys verfhren und von ihrer Kampfaufgabe ablenken knnten. Etliche
der eingezogenen Girls wandten sich freilich eher Angehrigen des amerikanischen
Expeditionskorps zu, einige entfleuchten fr immer nach bersee.
Rund 17 000 junge Frauen aus Deutschland dienten als Etappenhelferinnen in besetzten
Gebieten, vor allem in Frankreich, und waren dort bald als abenteuerliche Mdchen bekannt. Von
der Westfront nahm das deutsche Heer in den letzten Kriegsmonaten zudem mehrere tausend
Franzsinnen mit auf den Rckzug wie viele davon unter Zwang, wurde nie bekannt. An der
Ostfront grassierte die Legende von Flintenweibern. Tatschlich gab es gegen Kriegsende ein russisches Frauenbataillon mit etwa 300 Schtzinnen.
Vergewaltigungen kamen an allen Fronten vor, waren aber im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg
keine Massendelikte. Gleichwohl heizten die Englnder schon zu Kriegsbeginn eine
Gruelpropaganda an, wonach deutsche Soldaten sengen, morden, rauben und vergewaltigen,
wohin sie auch kommen mgen. Zum Propaganda-Arsenal gehrten auch Berichte ber
abgehackte Kinderhnde oder ausgestochene Augen Schauermrehen, die keiner objektiven
Uberprfung standhielten.
Wahr hingegen ist: Der Erste Weltkrieg sprengte traditionelle Gesellschaftsformen. Der sexuellen
Versuchung im Schlachtengetmmel folgten die wilden zwanziger Jahre in Berlin oder London mit
einer bis dahin unbekannten sexuellen Freizgigkeit.

DER SCHATTEN-KAISER
Die Kriegsjahre verbrachte Wilhelm II. fast vollstndig im Groen Hauptquartier. An den
militrischen Entscheidungen war der psychisch labile Monarch jedoch kaum beteiligt.Am 4.
August 1914, drei Tage nach der Mobilmachung, erklrte Wilhelm II. in seiner Thronrede zur
Erffnung des Reichstags: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!
Nie whnte sich Wilhelm II. seinem Ideal des Nationalkaisertums nher als in diesen Tagen zu
Beginn des Kriegs und war doch in Wahrheit meilenweit davon entfernt.
Der Kaiser war in den vier Kriegsjahren zu keinem Zeitpunkt in der Lage, die militrischen
Operationen persnlich zu leiten. Weder intellektuell noch psychisch war er fhig, die Geschicke
des Deutschen Reichs effektiv und zielgerichtet zu lenken. Er war wie seit Beginn seiner Regentschaft 1888 labil, sprunghaft und oft in Wunschvorstellungen fern der Realitt verhaftet.
Noch wenige Tage vor Kriegsausbruch hie es, der Kaiser sei entschlossen, die Sache
durchzufechten, koste es, was es wolle. Einen Tag darauf war die Stimmung vllig
umgeschlagen, wie der preuische Kriegsminister Erich von Falkenhayn feststellte. Der Kaiser
halte wirre Reden, aus denen nur klar hervorgeht, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will.
Wiederum einen Tag spter vermerkte Falkenhayn, die Stimmung des Kaisers habe sich erneut
gendert, jetzt sei er der Meinung, die ins Rollen gekommene Kugel sei nicht mehr aufzuhalten.
Unmittelbar bei Kriegsbeginn bertrug Wilhelm II. seine Befugnisse als Oberster Kriegsherr an
den Chef des Groen Generalstabs, Helmuth von Moltke. Dieser wurde durch ihn ermchtigt, im
Namen des Kaisers selbstndig Befehle zu erteilen. Nach auen sollte aber unter allen Umstnden
die Fiktion aufrechterhalten werden, alle Entscheidungen und Befehle wrden entweder durch
Wilhem II. selbst oder mit seinem Wissen und seiner Billigung erfolgen.
Die Wirklichkeit war davon jedoch weit entfernt. Zwar verbrachte der Kaiser fast die gesamte
Kriegszeit im Groen Hauptquartier, das sich zu Kriegsbeginn in Koblenz, dann in Luxemburg, im
franzsischen Charleville-Mzires und in der zweiten Kriegshlfte in Bad Kreuznach und im
belgischen Spa befand.

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Dort lie er sich jeden Vormittag ber die militrischen Ereignisse Bericht erstatten und markierte
Erfolge gern hchst-persnlich mit Fhnchen auf groen Karten. Ansonsten nahm der Kaiser jedoch
nicht an strategischen Planungen teil. Vielmehr bemhten sich die Militrs, ihn so weit wie mglich
von ihren Vorhaben und Entscheidungen auszuschlieen. Bereits im Herbst 1914 klagte Wilhelm
II.: Der Generalstab sagt mir nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland
einbildet, dass ich das Heer fhre, so irrt man sich sehr. Und fuhr frustriert fort: Ich trinke Tee und
Sge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz
wie es den Herren beliebt. Hin und wieder startete er zwar verschiedenen Truppenteilen
Frontbesuche ab. Die Militrs vermieden es jedoch, ihn in unmittelbare Nhe der Kampfhandlungen zu bringen. Einen persnlichen Eindruck des menschenverachtenden Grabenkrieges etwa
bekam er nie. Als Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff im August 1916 die Oberste
Heeresleitung bernahmen, sank der Einfluss Wilhelms II. noch weiter.
Vor dem Krieg war der Kaiser stets in der ffentlichkeit prsent, er liebte Empfnge, Paraden und
Aufmrsche, Jagden, Reisen im Reich und ins Ausland. Nun, meist im Groen Hauptquartier und
nur noch selten in Berlin, verschwand Wilhelm II. auch fr die ffentlichkeit immer mehr von der
Bildflche und verlor, je lnger der Krieg dauerte, an Bedeutung. Der britische Historiker John C.
G. Rhl nennt ihn daher den Schatten-Kaiser,
Mit fortschreitendem Kriegsverlauf litt Wilhelm II. zunehmend unter Realittsverlust und
flchtete sich hufig in eine monarchisch-religise Phantasiewelt. So schrieb er etwa im Januar
1917 dem Rassenideologen Houston Stewart Chamberlain: Der Krieg sei ein Kreuzzug gegen:
das Bse Satan in der Welt, von uns gefhrt als Werkzeuge des Herrn. Gott will diesen Kampf
.. Er wird ihn leiten, um den Ausgang brauchen wir nicht zu sorgen, wir werden leiden, fechten und
siegen unter Seinem Zeichen! Dann kommt der Friede, der deutsche, der Gottes-Friede, in dem die
ganze befreite Welt aufatmen wird. 1
Im Herbst 1918, als sich in Deutschland eine aggressive Anti-Kriegsstimmung ausbreitete und die
Matrosen rebellierten, verlor Wilhelm II. weitestgehend den Bezug zur Realitt. Auf die wiederholte
Forderung des Reichskanzlers Max von Baden, auf den Thron zu verzichten, erklrte er noch am 1.
November: Wenn zu Hause der Bolschewismus kommt, stelle ich mich an die Spitze einiger
Divisionen, rcke nach Berlin und hnge alle auf, die Verrat ben. Da wollen wir mal sehen, ob die
Masse nicht doch zu Kaiser und Reich hlt. Am 8. November phantasierte er gar: Es ist nicht
ausgeschlossen, dass die Englnder mir noch Truppenhilfe anbieten, um den Bolschewismus in
Deutschland zu unterdrcken.
Um den Kaiser auf den Boden der militrischen und politischen Tatsachen zurckzuholen,
bestellte General Wilhelm Groener, seit 26. Oktober Nachfolger Ludenforffs in der Obersten
Heeresleitung, am Vormittag des 9. November 50 Frontoffiziere in das Hauptquartier. Die 39, die
eintrafen, wurden gefragt, ob die Armee bereit sei, gegen die revolutionren Umtriebe in der Heimat
vorzugehen. Nur ein einziger bejahte.
Als Wilhelm II. ankndigte, er sei bereit, als Deutscher Kaiser abzudanken, aber nicht als Knig
von Preuen, und daran denke, nach einem Waffenstillstand an der Spitze der Truppen nach Berlin
zu marschieren, erwiderte General Groener kalt: Unter seinen Generlen wird das Heer in Ruhe
und Ordnung in die Heimat zurckmarschieren, aber nicht unter der Fhrung Eurer Majestt.
Im Morgengrauen des 10. November floh der Deutsche Kaiser Wilhelm II. mit einer Handvoll
Getreuer. In zwei Personenwagen, bewaffnet mit vier Karabinern, erreichten sie den
niederlndischen Grenzposten Eijsden. Nach berschreiten der Landesgrenze musste Seine Majestt im Wartesaal des Bahnhofs auf seinen Hofzug warten.

Das groe Sterben


Europa und der 1.WK
4.August 1914 Die deutsche Offensive im Westen beginnt mit dem Einmarsch in Belgien.
26.30. August 1914 Der Sieg ber die russische Armee bei Tannenberg macht Feldmarschall
Hindenburg zum Kriegshelden.

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2. September 1914 Deutsche Truppen stehen nur noch SO Kilometer von Paris entfernt.
5.-12. September 1914 Franzosen und Briten stoppen den deutschen Vormarsch an der Marne.
Februar bis Dezember 1915 Im Kampf um Verdun verlieren beide Seiten insgesamt weit ber eine
halbe Million Soldaten.
6. April 1917 Die USA erklren Deutschland den Krieg.
3. Mrz 1918 Russland scheidet mit dem Separatfrieden von Brest-Litowsk aus dem Krieg aus.
11. Novmber 1918 Matthias Erzberger unterzeichnet den Waffenstillstandsvertrag.
10. Januar 1920 Der Fnedensvertrag von Versailles tritt in Kraft.

DIE DOPPELTE SCHULD


Vor 40 Jahren schreckte Fritz Fischer die Deutschen mit der These auf, sie seien auch fr den
Ersten Weltkrieg verantwortlich.
Es herrschte ein Andrang wie bei einem Popkonzert 2000 Menschen strmten im Herbst des Jahres
1964 in das Audimax der Freien Universitt Berlin. Wer nicht dabei war, konnte die Veranstaltung
am Radio oder Fernseher verfolgen. Zu beobachten war jedoch kein Popstar, sondern ein
unscheinbarer deutscher Professor, der gekommen war, um auf dem Historikertag seine
Forschungsergebnisse zu verteidigen.
Fritz Fischer hatte seine Kollegen mit der Behauptung geschockt, dass Deutschland nicht nur
schuld am Zweiten Weltkrieg war, sondern auch die Verantwortung fr den Ausbruch des Ersten
Weltkriegs trug.
Ausgangspunkt fr die schockierenden Thesen waren bisher unbekannte Akten, die 1956 von
Moskau nach Potsdam in die DDR zurckgebracht worden waren, darunter Material ber die
Kriegszielplne des ehemaligen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg im so genannten
Septemberprogramm. Dieser hatte gut fnf Wochen nach Kriegsbeginn, am 9. September 1914,
die deutschen Kriegsziele aufgeschrieben: Ausschaltung Frankreichs als Gromacht, Unterwerfung
Belgiens, Zurckdrngung Russlands und, als Krnung eine deutsche Hegemonialstellung ber
ganz Mitteleuropa.
Fischer verarbeitete die Fakten in seinem 1961 erschienenen Buch Griff nach der Weltmacht.
1969 folgte Krieg der Illusionen, dem er die imperialistische Politik des Kaiserreichs vor 1914
analysierte.
In der zweiten Publikation spitzte Fischer sei Thesen zu. War er 1961 noch davon ausgegangen,
Deutschland trage einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung daran, dass zum Ersten
Weltkrieg gekommen war, so gab er Deutschland spter die Alleinschuld am Kriegsausbruch. Das
Kaiserreich, argumentierte er nun, habe den Waffengang von Anfang an geplant, um seine Ziele
durchzusetzen. Diese Schlussfolgerung gilt heute als berzogen.

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