Erlaeuterungen Zur MHD Grammatik
Erlaeuterungen Zur MHD Grammatik
Erlaeuterungen Zur MHD Grammatik
lokal begrenzte Aussdehnung:
/pf/ nur oberdt.; /b/ zu /p/ und /g/ zu /k/ im Ahd. nur sdoberdt.; /k/ zu /kx/ nur sdl. der
Sundgau-Bodenseeschranke
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II. Unterschiede zum Nhd. in Aussprache und Graphie
Als sich am Ende des 8. Jahrhunderts erstmals eine Reihe jener Gelehrten, die Karl der
Groe an seinen Hof geholt hatte, daranmachte, Texte in deutscher Sprache zu
schreiben,
1
standen sie vor einem zentralen Problem: Welche Zeichen (bzw. Buchstaben)
sollten sie verwenden, um die verschiedenen Laute des frhmittelalterlichen Deutsch in
der Schrift darzustellen? Die Schriftlichkeit war im Mittelalter vom Latein dominiert.
Daher stand zur Verschriftung der europischen Volkssprachen von einzelnen
Runenzeichen abgesehen, die im kultischen Bereich Verwendung gefunden hatten
lediglich das lateinische Alphabet zur Verfgung.
ber die Schwierigkeiten, die sich fr die Verschriftung des Deutschen dabei ergaben,
berichtet der erste namentlich bekannte Dichter deutscher Zunge, Otfrid von
Weienburg (9. Jh.):
Der rohe Zustand dieser Sprache kennt einerseits keine Eleganz und Zucht und ist
nicht daran gewhnt, sich von den Regeln der Grammatik zgeln zu lassen, andererseits
ist sogar ihre schriftliche Fixierung bei vielen Wrtern entweder wegen der Hufung von
Buchstaben oder wegen deren nicht gelufigem Klang schwierig. Denn bisweilen verlangt
diese rohe Sprache meines Erachtens drei u nebeneinander, wobei die beiden ersten in
ihrem Lautwert Konsonanten sind, wie mir scheint, whrend an dritter Stelle der
vokalische Laut erhalten bleibt; bisweilen aber verlangt sie Laute von Vokalen, die weder
a noch i noch u entsprechen; ich konnte diese Schwierigkeit umgehen: in solchen Fllen
schien es mir geraten ein griechisches y hinzuschreiben. Und auch gegen diesen
Buchstaben strubt sich unsere Sprache bisweilen, indem sie sich manchmal bei einem
bestimmten Laut berhaupt nur schwer mit einem Schriftzeichen verbinden lt.
Abweichend vom Lateinischen gebraucht diese Sprache ziemlich oft k und z, die von den
Grammatikern unter die berflssigen Buchstaben gerechnet werden. Das z aber
gebraucht man in dieser Sprache, wie ich glaube, fr den gelegentlich vorkommenden
Zischlaut der Zhne, das k hingegen fr den Kehllaut.
2
Nicht alles, was Otfrid hier anspricht, setzte sich durch. Wenn er schreibt, da das
Deutsche mitunter drei u hintereinander verlange, dann geht es um den Fall, da einem
w-Laut der Vokal u folgte (nhd. Bsp.: Wurst, Wunde, Wunder). Das lateinische
Alphabet besitzt kein w-Zeichen. Tatschlich entwickelte sich unser heutiges <w> aus
dem Behelf der ersten Schreiber, fr den w-Laut zweimal hintereinander ein <u> zu
verwenden (vgl. die engl. Bezeichnung double-u). Daneben aber schrieben sie
verkrzend fr <w> nicht selten auch nur ein <u>.
Macht man sich diese Schwierigkeit klar, da das lateinische Alphabet vielfach keine
bzw. keine eindeutigen Zeichen fr bestimmte Laute des Deutschen bereitstellte, so
verwundert es nicht, da das mittelalterliche Deutsch zu keiner Zeit eine allgemein
verbindlich geregelte Schreibung (Graphie) kannte. Trotz gewisser Bemhungen um
Normierung und sich allmhlich entwickelnden Schreibertraditionen existierte fr das
Ahd. und das Mhd. keine Orthographie und keine Institution, die entsprechende
Normen fr die Rechtschreibung festgelegt htte. Hinzu kommt, da es im Mittelalter
keine Standardsprache gab, das heit: In den verschiedenen Dialektgebieten sprach man
nicht nur anders, sondern man schrieb auch anders (sog. Schriftdialekte bzw.
1
Die ahd. Isidorbersetzung und die sog. Monsee-Wiener Fragmente (vgl. KARTSCHOKE, Gesch., S. 90) legen
davon Zeugnis ab.
2
Aus dem lat. Approbationsschreiben Otfrids in der bersetzung von FIDEL RDLE (in: Kritische Bewahrung.
Beitrge zur deutschen Philologie. Festschrift fr Werner Schrder, hg. v. E.-J. SCHMIDT, Berlin 1975,
S 223.)
1. Lautung und Schreibung
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Schreibsprachen): Man verschriftete den jeweiligen Dialekt. In mhd. Zeit paten
Schreiber eines bestimmten Sprachgebiets ihre Vorlagen in der Regel dem dortigen
Gebrauch an, wenn ihre Vorlage in einem anderen Schriftdialekt geschrieben war. Da sie
dabei nicht immer konsequent verfuhren, kam es vielfach zu Handschriften, die eine
mehr oder weniger weitgehende Dialektmischung aufweisen.
II.1 Lautung und Schreibung (Graphie)
Die ltere Forschung nahm fr die Zeit der hochhfischen Literatur (um 1200) ein
sogenanntes Nor ma l mi t t e l hoc hde ut s c h an, eine weitgehend normierte Literatur-
sprache, die aufgrund des Bemhens der Autoren und Schreiber um
dialektbergreifende allgemeine Verstndlichkeit entstanden sei. Die berlieferung das
heit: die Handschriften, die wir heute noch aus mittelalterlicher Zeit besitzen
widersprechen einer solche Annahme. Dennoch treten die meisten Werke der hfischen
Literatur uns in heutigen Ausgaben in einer nor ma l i s i e r t e n Fassung entgegen. Die
Herausgeber, die die bedeutenden Werke dieser Zeit in kritischen Editionen einem
modernen Leserpublikum zugnglich machten, gingen von der Vorstellung des
Normalmittelhochdeutschen aus und standardisierten entsprechend die Schreibung. Sie
fgten zustzlich Interpunktion und Lesehilfen (Lngenzeichen) hinzu. blich ist es, in
den modernen Ausgaben Vokallnge mit einem Zirkonflex (^) anzuzeigen (vgl. Mhd.
Gr. 9 und 18). Die mittelalterlichen Handschriften kennen in aller Regel solche
Markierungen nicht. Trotz der Tatsache, da die Texte in den meisten modernen
Ausgaben einer sprachlich-grammatischen und vor allem einer graphemischen
Normalisierung durch die Herausgeber unterworfen wurden, bleiben noch eine ganze
Reihe von Unregelmigkeiten und zahlreiche lokal bedingte Eigenheiten in der Graphie
des sog. Normal-mittelhochdeutschen bestehen, die besonders dem Anfnger Probleme
bereiten knnen. Sie und die markantesten Unterschiede zum Nhd. sind in der
folgenden Auflistung der mhd. Vokal- und Konsonantengrapheme grau unterlegt.
Dabei ist zu beachten, da zwischen der Aussprache eines Lautes (Phon bzw. Phonem) und
dem Graphem, d. h. dem Zeichen (Buchstaben), das in der Schrift fr diesen Laut verwendet
wird, zu unterscheiden ist. (Vgl. hierzu oben, S. 9f.)
3
Am Bsp. des nhd. Wortes Lied wird die Notwendigkeit einer Trennung von
Graphem- und Phonemebene anschaulich:
(Vokal-)Graphem Aussprache (Phonem)
Bsp.: nhd. Lie
Der Stammsilbenvokal in nhd. Lied ist ein langes i (= /i:/; die Vokallnge wird durch
Doppelpunkt angezeigt; dagegen z. B. hat nhd. Kiste eine kurzes /i/ als
d <ie> /i:/
3
Zur Notation der Aussprache in diesem Kompendium: Auf eine Unterscheidung von phonetischer und
phonematischer Ebene wird in aller Regel verzichtet. Wo eine Unterscheidung der Phonem- von der Phonebene
zur Notation von Allophonen sinnvoll erscheint wird letztere zwischen eckigen Klammern notiert: z.B. [u:] fr
die Aussprache von ahd. /u:/ vor /i/, /i:/ oder /j/ in der Folgesilbe, da der Umlaut des langen u ahd. noch keinen
Phonemstatus besitzt. Bei Langvokalen werden zur deutlicheren Unterscheidbarkeit von Graphem und Phonem
nicht wie z. B. in der Mhd. Gr. die normalmhd. Grapheme zur Phonemnotation, sondern grundstzlich
Doppelpunkt als Lngenzeichen verwendet, also z. B. /i:/ statt // oder /:/ statt //, auch wenn damit die
historische Unterscheidbarkeit im Phonembereich leidet. Die Lngenmarkierung mit Zirkonflex ist in unserer
Darstellung ausschlielich der Graphem-Ebene vorbehalten. Analoges gilt auch fr die Aussprache der mhd.
Grapheme der langen Umlaute <>,<> und <iu>, die als /a:/, /;/ und /u:/ notiert wird.
II. Unterschiede zum Nhd. in Aussprache und Graphie
30
Stammsilbenvokal). Wir sprechen das nhd. Wort Lied also nicht etwa /lied/ (oder
/limd/) aus, sondern /li:t/.
Folgende Zeichen (bzw. Grapheme) begegnen uns in mhd. Texten:
a) Vokalgrapheme [ 19 u. 26f.]
Monopht honggrapheme (Einlautgrapheme)
kurze Vokale
<a> <e> <i> <o> <u>
umgelautet
<> <> <>
lange Vokale
<> <> <> <> <>
umgelautet
<#>
/:/
<A>
/:/
<iu>
/:/
Die Aussprache der mhd. Monophthonge entspricht weitgehend dem Nhd.
Besonders zu beachten:
Die Umlaute von /a:/ und /o:/ werden im Mhd. durch Ligaturen
(Zusammenschreibungen zweier Buchstaben) gekennzeichnet: <#> (fr /:/)
ist eine Ligatur aus <a> und <e>, <A> aus <o> und <e>.
4
Fr /:/ werden
dagegen zwei Buchstaben (!) verwendet, ein sog. Digraph: <iu>!
5
Eine Vielzahl von Wrtern besitzt im Mhd. noch kurze Vokale, wo im Nhd.
eine Dehnung eingetreten ist; z. B. geben, jagen, vogel. (Vgl. hierzu unten,
II.3.c)
Alle Vokale ohne Zirkonflex werden kurz ausgesprochen; <>, <A> und <iu>
werden lang ausgesprochen!
Wie in den letzten beiden Bsp. volgen, gelouben kann es auch zu Assimilations-
erscheinungen in den Endsilben der Prteritalformen kommen: Das /g/ in volgen
assimiliert mit /t/ in den Prteritalformen zu /k/ (in der Graphie zumeist als <c>), das
/b/ in gelouben (glauben) zu /p/ (Angleichung an die Stimmlosigkeit des /t/).
Umgekehrt kann bei verkrzten Formen mit Nasal vor dem Suffix das /t/ der
Prteritalendung zu /d/ assimiliert werden (sog. Lenisierung; vgl. oben II.2.f):
Bsp. dienen diende gedienet / gedient
nennen nannde genennet / genant
remen ruomde geruomet
Wenn schwache Verben im Stammauslaut bereits /t/ oder /d/ aufweisen, ergibt sich fr
ihre Prteritalformen regulr /t/ bzw. /d/ + Prteritalsuffix "-ete-"; also z. B. nhd.
reden er red-ete; beten er bet-ete; warten wir wart-ete-n.
Hier kommt es aber mhd. oft zu verkrzten Formen. So kann auch gerade dort, wo nhd.
"-ete-" verwendet wird, im Mhd. eine Krzung auftreten. Hufig ist mhd. die Synkope
des /e/: er redte, er bette. Zudem kann es mhd. zu einer Vereinfachung von /dt/ bzw. /tt/
zu /t/ kommen; etwa mhd. er bete, wir warten (statt er betete, wir warteten). In
diesen Fllen ist mhd. oft nur aus dem Kontext zu erschlieen, ob es sich um Prsens
oder Prteritum handelt!
a) Das umlautlose Prteritum bei schwachen Verben [ 262 / M 89]
3
Die schwachen Verben knnen ahd. noch nach ihrem stammbildenden Element bzw.
ihrer Endung in drei verschiedene Klassen eingeteilt werden: sog. n-, n- und jan-
Verben. Aufgrund der Endsilbenabschwchung ist die Klassenzugehrigkeit im Mhd.
nicht mehr erkennbar. Wichtig ist, da die jan-Verben ursprnglich in ihren
Prsensformen eine j- bzw. i-haltige Endsilbe aufwiesen, die bereits ahd. Umlautung
bewirkte, wenn im Stamm der umlautfhige Vokal /a/ auftrat. In den Prteritalformen
3
In der historischen Sprachwissenschaft und so auch in der Mhd. Gr. ist statt des Begriffs umlautloses
Prteritum ein Terminus Jacob Grimms gebruchlich, nmlich (Grimmscher) Rckumlaut. Der Begriff ist
jedoch irrefhrend. Grimm ging flschlich davon aus, da auch die Prteritalformen der betroffenen sw. Verben
zunchst umgelautet wurden und diese Umlautung spter wieder rckgngig gemacht wurde (vgl. Mhd. Gr.
262, Anm. 1 / M 89, Anm. 2). Nach heutigem Forschungsstand gilt diese Annahme als falsch; denn die
Prteritalformen der betroffenen Verben waren wohl niemals umgelautet worden.
IV. Formenlehre 1: Die Verben
60
dieser Verben war das /j/ bzw. /i/ der Endsilbe bereits frhahd. nicht mehr vorhanden
oder schwand in frhahd. Zeit, so da es hier nicht zur Umlautung kam. Die Mehrzahl
der jan-Verben zeigt daher ahd./mhd. (und in Einzelfllen auch noch nhd.)
4
sog.
uml aut l oses Prt eri t um, also (nicht umgelautetes) /a/ im Prteritum, aber ahd.
Primrumlaut /e/ im Infinitiv und in den Prsensformen.
Das got. Verb branjan zum Beispiel wird vorahd./frhahd. zu brennian, ahd. schlielich
zu brennen. Die 3. Pers. Sg. Prs. lautet ahd. brennit, die entsprechende Prteritalform
aber brannta. So erklrt sich der Vokalunterschied zwischen nhd. es brennt, aber: es
brannte.
Hier kommt es also zu einem Vokalwechsel zwischen Prsens- und
Prteritalformen bei schwachen Verben! Er geht nicht auf Ablaut (wie dies nur
bei starken Verben der Fall ist) zurck! Das ist eindeutig am Dentalsuffix zu
erkennen!
Bsp. zeln (zhlen) zalte gezalt
setzen satzte gesatzt / gesetzt
rennen rannte gerannt
Entsprechend gilt dies mhd. auch fr einige Verben, die umlautfhige Monophthonge
oder die umlautfhigen Diphthonge /ou/ oder /uo/ im Prteritum besitzen:
Bsp. hAren hrte gehrt
w#nen wnte gewnt
kssen kuste gekust
drcken dructe gedruct
trumen troumte getroumt
heten huotete gehuotet
veren vuorte gevuort
b) Nasalschwund mit Ersatzdehnung und Primrberhrung mit /t/
Zustzlich zum umlautlosen Prteritum kann bei schwachen Verben das Phnomen des
Nasalschwundes mit Ersatzdehnung auftreten: /n/ schwindet vor /h/ bzw. /x/, whrend
der Vokal gedehnt wird. So kommt es zum Nebeneinander von kurzem Vokal im
Prsens und langem im Prteritum; z. B. denken dhte gedht.
Dieses Beispiel weist gleich drei lautgeschichtliche Besonderheiten auf: Die Prterital-
formen von denken zeigen nicht nur Nasalschwund mit Ersatzdehnung und umlautloses
Prteritum, sondern daneben den Wechsel von /k/ zu /x/ (<h>). Die Verbindung /xt/ in
den Prteritalformen geht auf Primrberhrung mit /t/ (vgl. oben III.4.b) zurck. Der
sog. Primrberhrungseffekt mit /t/ fhrt zum Wechsel von voranstehendem /k/ oder
/g/ zu /x/. Diese Erscheinung tritt bei schwachen Verben dann auf, wenn ihr Stamm auf
/g/ oder /k/ endet. Es handelt sich nur um wenige Flle; neben denken sind betroffen:
decken dahte gedaht; drcken druhte gedruht; wirken/wrken worhte geworht
5
und wie bei denken mit Nasalschwund und Ersatzdehnung
dnken dhte gedht; bringen brhte gebrht (zum Verb bringen vgl. IV.4.2).
4
In vielen Fllen ist das umlautlose Prteritum im Nhd. ausgeglichen worden. Verben auf <nn> jedoch besitzen
noch heute umlautloses Prteritum: brennen, kennen, rennen, nennen. Fr die nhd. Verben senden,
wenden gibt es neben den Formen mit umlautlosem Prteritum bereits Ausgleichsformen: er sandte neben
er sendete, er wandte neben er wendete.
5
Das Verb wirken/wrken stellt hier insofern eine Ausnahme dar, als hier auch der Stammsilbenvokal einen
Wechsel im Prt. zu /o/ aufweist; dies tritt auch auf bei vrhten (1./3. Sg. Prt. Ind.: vorhte) und wird auf eine
Senkung im Germ. (sog. a-Umlaut) zurckgefhrt.
IV. Formenlehre 1: Die Verben
61
Konjugation der schwachen und starken Verben im Vergleich
schwaches Verb starkes Verb
Infinitiv suochen (nhd. suchen) geben
Prsens
Indikativ
Sg. 1. suoche gibe (ahd. gibu)
2. suochest gibest (ahd. gibist)
3. suochet gibet (ahd. gibit)
Pl. 1. suochen geben (ahd. gebn/-ms)
2. suochet gebet (ahd. gebet)
3. suochent gebent (ahd. gebent)
Konjunktiv
Sg. 1./3 suoche gebe (ahd. gebe)
2. suochest gebest (ahd. gebs[t])
Pl. 1. suochen geben (ahd. gebn)
2. suochet gebet (ahd. gebt)
3. suochen geben (ahd. gben)
Imperativ
Sg. suoch(e) gip (ahd. gibi)
Pl. suochet gebet (ahd. gebet)
Partizip Prs. suochende gebende (ahd. gebanti/-enti)
Prteritum
Sg. 1./3. suoh-t-e
Indikativ
1
(ahd. suohta) gap (ahd. gab)
2. suoh-t-est (ahd. suohtst) gbe (ahd. gbi)
Pl. 1 suoh-t-en (ahd. suohtun) gben (ahd. gbun)
2. suoh-t-et (ahd. suohtut) gbet (ahd. gbut)
3. suoh-t-en (ahd. suohtun) gben (ahd. gbun)
Im Gegensatz zu den starken Verben weisen schwache Verben im Konjunktiv
Prteritum in aller Regel keine Umlautung auf!
Konjunktiv
Sg. 1./3. suoh-t-e gbe (ahd. gbi)
2. suoh-t-est gbest (ahd. gbs[t])
Pl. 1 suoh-t-en gben (ahd. gbn)
2. suoh-t-et gbet (ahd. gbt)
3. suoh-t-en gben (ahd. gbn)
Partizip Prt. gesuoht gegeben (ahd. [gi]geban)
1
Da die Verbindung /ht/ in der mhd. Graphie grundstzlich Ach-Laut + /t/ anzeigt, weisen die Prteritalformen
von suochen zumeist nur h statt ch auf!
3. Starke Verben
62
IV.3 Starke Verben [ 239-252 / M 74-85]
Die sog. starken Verben bilden ihre Prteritalformen nicht durch Anhngen einer
Endsilbe, wie dies bei den schwachen Verben der Fall ist, sondern durch Vernderung des
Stammsilbenvokals (vgl. z. B. nhd. ich nehme vs. ich nahm). Wir unterscheiden
zwischen sog. ehemals reduplizierenden Verben (dazu siehe unten IV.3.4) und
ablautenden Verben.
Unter Ablaut sind Formen von Vokalalternanzen zu verstehen, die zum einen in der
Wortbildung (binden vs. Bund vs. Band) auftreten und zum anderen
Markierungsfunktion im Prteritum starker (ablautender) Verben besitzen.
Der Ablaut stellt einen geregelten Vokal-Wechsel in etymologisch verwandten Wrtern,
Wortformen oder Wortteilen dar.
Sprachhistorisch gesehen kann es sich dabei einerseits um eine qualitative Vernderung des Vokals
handeln, d. h. der Vokal wird durch einen anderen ersetzt (sog. Abtnung). Davon unterscheidet
man quantitative Vernderungen (Abstufung): Der Vokal kann gelngt werden (Dehnstufe), oder
der Vokal kann abgeschwcht (reduziert) werden zum Murmelvokal, dem sog. Schwa //
(Reduktionsstufe). Der Vokal kann schlielich nach den Theorien der Indogermanistik im Idg.
auch ganz ausgefallen sein, wenn ihm entweder ein weiteres (halb-)vokalisches Element zur Seite
stand oder aber ein sog. silbenbildender Konsonant (idg. , , , ) folgte (Schwund- oder
Nullstufe). Da im Germ. eine Silbe nicht rein konsonantisch gebildet werden kann, sondern dazu
ein Vokal ntig ist, kam es in diesem Fall zu einer sog. Sprovokalbildung: Im Germ. wurde ein
/u/ eingeschoben. Je nach dem auf welche Ablautstufe der Vokal ursprnglich zurckgeht,
variiert der Stammsilbenvokal in den verschiedenen Wortformen.
Der Ablaut bernimmt im Ahd. und Mhd. fr starke (ablautende) Verben die
flexionsmorphologische Funktion der Tempus- und Numerusmarkierung. Letzteres, im
Mhd. durch eine Vokal-Differenz zwischen Singular und Plural im Prteritum angezeigt,
wird zum Nhd. hin aufgegeben (Analogieausgleich), vgl.:
Infinitiv 1./3. Sg. Prt. Ind. 1.Pl. Prt. Ind. Part. Prt.
mhd. rten reit riten geriten
nhd. reiten ritt ritten geritten
mhd. binden bant bunden gebunden
nhd. binden band banden gebunden
Fr das Bsp. reiten findet sich mhd. ein Unterschied zwischen den Singular- und Pluralformen
im Prt. Ind. Hinsichtlich der Vokalqualitt (Diphthong /ei/ im Sg., /i/ im Pl.), die im Nhd.
aufgegeben ist: Hier finden wir im Sg. wie im Pl. /i/. Bei Beispiel binden stellen wir fr das
Mhd. zwischen Sg. und Pl. im Prt. Ind. ebenfalls einen qualitativen Vokalwechsel fest: /a/ vs. /u/.
Auch hier wurde im Nhd. ausgeglichen. Die Beispiele zeigen, dass die Richtung des
Analogieausgleiches im Nhd. variieren: Whrend bei reiten der Vokal der Pluralformen auf den
Singular bertragen und so vereinheitlicht wurde, ist dies bei binden genau umgekehrt.
Nach der Art der wechselnden Vokale und ihrer Verteilung auf die Verbformen nun
lassen sich fr die ablautenden Verben Gruppen mit gleichen Merkmalen bilden (die sog.
Ablautreihen), die als Formmuster (Paradigmata) der ablautenden Verben gelten knnen.
Die Kenntnis dieser Ablautreihen ist ntig, um anhand der abgelauteten Formen den im
Wrterbuch als Stichwort (Lemma) verzeichneten Infinitiv zu ermitteln.
IV. Formenlehre 1: Die Verben
63
Zur Erschlieung des jeweiligen Stammsilbenvokals im gesamten Formenbestand
eines ablautenden Verbs ist die Kenntnis der vier sog. Ave r bof or me n (=
Stammformen; das sind: Infinitiv, 1./3. Sg. Prt. Ind., 1. Pl. Prt Ind., Part. Prt.)
Voraussetzung. Mit Hilfe dieser Formen knnen alle anderen erschlossen werden:
Bsp.fr die Ableitung aller brigen Wortformen aus den Stammformen:
Pr s e n s Pr t e r i t u m
werden (Ablautreihe IIIb)
Infinitiv/1.Sg.Prs.Ind. 1/3.Sg.Prt Ind..
werden / wirde* wart wurden
1.Pl.Prt.Ind.
ich wart
Sg.Ind. er/sie/ez
Pl.Ind. ich wirde wart
wir werden du wirdest 2.Sg.Ind.
ir werdet er wirdet du wrde (!!)
si werdent
Konj. Konj.
ich werde ich wrde
du werdest du wrdest
er/sie/ez werde er/sie/ez wrde
wir werden wir wrden
ir werdet ir wrdet
si werden(!) si wrden
Part. Prs.
:
werdende
Part. Prt.:
*) Hebung des Stammsilbenvokals /e/ zu /i/ im Sg. Prs. Ind. In diesen Fllen wird zustzlich zu den
Stammformen die 1. Sg. Prs. Ind. angegeben; vgl. unten IV.3.1 u. IV. 3. 2., Punkt 1)!
**) Einige mhd. Verben bilden ihr Part. Prt. ohne die Vorsilbe ge-; vgl. unten, IV.3.2, Punkt 5)!
Das Beispiel zeigt, da grundstzlich folgendes Muster fr das Auftreten der
unterschiedlichen Vokale bzw. Vokalquantitten in den verschiedenen Wortformen gilt:
(ge)worden**
Stammsilbenvokal im findet sich
a) Infinitiv auch im gesamten Prsens (Indikativ und Konjunktiv)
- wird im Sg. Prs. Ind. im Falle von /e/ zu /i/, im Falle von /i/ zu /:/
gehoben. In Reihe VI kommt es regelmig zur Umlautung in der 2. u. 3.
Pers. Sg. Prs. Ind. (Assimilationserscheinungen im Prs.! Kein Ablaut!)
- die Imperativformen weisen den Stammsilbenvokal des Infinitivs auf; wo es
jedoch im Sg. Prsens zu einer Hebung kommt, gilt dies auch fr den
Imperativ Sg. (vgl. die bersicht oben, S. 61, das Bsp. geben!)
b) 1./3. Sg. Prt. Ind. nur hier
c) 1. Pl. Prt. Ind. auch:
- im gesamten Plural Prteritum
- in der 2. Sg. Prt. Ind. umgelautet
- im gesamten Konjunktiv Prteritum umgelautet
d) Part. Prt. nur hier
Umlautung !
Pl. Ind.
ir wurdet
sie wurden
3. Starke Verben
64
IV.3.1 Die mhd. Ablautreihen
Whrend sich auf der Basis der sprachhistorischen Theoriebildung fr das Idg. ein
vergleichsweise einfach zu durchschauendes Ablaut-System rekonstruieren lt,
2
Die ahd. Endsilben im Sg. Prs. lauten: 1. Pers.: -u; 2. Pers.: -ist; 3. Pers.: -it! (Vgl. dazu die
bersicht oben, S. 61, das Bsp. geben!) Das /i/ der Endsilbe bewirkte hier in der 2. und 3.
Pers. Sg. Prs. Ind. eine Umlautung des Stammsilbenvokals! Das ist eine Besonderheit der
Ablautreihe VI. Das Verb geben dagegen gehrt der Ablautreihe V an. Hier wurde der
Stammsilbenvokal /e/ bereits ahd. im gesamten Singular des Prsens zu /i/ gehoben (mhd.
ich gibe, du gibest, er gibet). Denn sowohl das /i/ als auch das /u/ in den ahd.
Flexionssilben (ahd. ich gibu, du gibist, er gibit) sind Hochzungenvokale und knnen also
eine Hebung des Stammsilbenvokals bewirken.
fhren
Lautwandelerscheinungen auf verschiedenen Ebenen zu einer komplizierten Mischung
aus Ablautphnomenen und Formen kombinatorischen Lautwandels aufgrund von
Assimilation. Das schafft fr die starken, ablautenden Verben, um die es uns hier geht,
insgesamt 6 verschiedene Flexions-Paradigmata, 6 Ablautreihen. Dabei dient der Ablaut
grundstzlich zur Markierung der Prteritalformen, whrend Vokalwechseln im Prsens
stets Assimilationserscheinungen zugrunde liegen.
Gehen wir fr letzteres von einem nhd. Bsp. aus: Wieso lautet die 1. Pers. Sg. Prs. Ind.
von schlagen ich schlage, die 2. Pers. aber du schlgst, die 3. Pers. er schlgt? Es
hat offenbar in der 2. und 3. Pers. eine Umlautung stattgefunden. Aber warum?
3
2
Auf eine Erluterung des rekonstruierten idg. Ablautsystems wird hier bewut verzichtet. Den Versuch einer
Einbeziehung der rekonstruierten vorahd. Entwicklung unternimmt in Anstzen HENNINGS (2003), S. 73-88.
3
Da im Nhd. die 1. Pers. Sg. Prs. ich gebe (und nicht ich gibe) lautet, ist auf Analogieausgleich
zurckzufhren: Der Stammsilbenvokal der 1. Pers. Sg. Prs. wurde dem des Infinitivs angeglichen (nhd. /e:/:
geben). In der 2. und 3. Pers. Sg. Prs. dagegen fand eine entsprechende Anpassung im Nhd. nicht statt: du
gibst, er gibt.
Das gilt analog fr Verben der
Ablautreihen IIIb und IV.
Der mhd. Stammsilbendiphthong /i/ im Infinitiv (z. B. bei bieten), der Kennzeichen der
Ablautreihe II ist, wird im Prsens ebenfalls regelmig gehoben zu <iu> = mhd. /:/
(ahd. Hebung des zweiten Bestandteils des Diphthongs, nmlich /e/ zu /u/, aus dem ahd.
Diphthong /iu/ wird mhd. der Monophthong /:/, whrend die Schreibung <iu> auch im
Mhd. beibehalten wird [historische Graphie]).
In den gngigen Wrterbchern des Mhd. findet sich eine Darstellung der Ablautreihen
mittels Beispielverben, das neben den Stamm- bzw. Averboformen zumeist auch die
1. Pers. Sg. Prs.. Ind., die 2. Pers. Sg. Prt. Ind. sowie eine Konjunktivform des
Prteritums verzeichnet, um nicht nur die auf Ablaut zurckgehenden Vokalwechsel
anzuzeigen, sondern auch diejenigen, die auf kombinatorischem Lautwandel mittels
Assimilation beruhen.
Die zuletzt beschriebenen Vokalalternanzen im Prsens gehen auf Assimilation zurck
und stellen somit keine Ablautphnomene dar!
Die f o l g e n d e b e r s i c h t z u d e n mh d . Ab l a u t r e i h e n verzeichnet
prinzipiell nur die Stammformen, fgt aber dem Infinitiv bei Hebung im Sg. Prs. Ind. die
1. Pers. Sg. Prs. Ind. nach einem Schrgstrich hinzu: Bsp. sehen/sihe.
Zu beachten ist ferner: Bei umlautfhigem Stammsilbenvokal der 1. Pers. Pl. Prt. Ind. wird bei
ablautenden Verben sowohl die 2. Pers. Sg. Prt. Ind. als auch der gesamte Konjunktiv im
Prteritum umgelautet (vgl. die obige Darstellung mit dem Bsp.-Verb werden, S. 63).
IV. Formenlehre 1: Die Verben
65
Di e mhd. Abl aut r ei hen (ber si c ht )
Infinitiv/Prsens 1./3. Sg. Prt. 1. Pl.Prt. Part.Prt._
I a) rten reit riten geriten
b) lhen lh lihen gelihen
Aufspaltung der Reihe aufgrund von ei--Alternanz (vgl. III.3.d.1); Ib ( statt ei) wenn
/h/ oder /w/ dem Stammsilbenvokal folgen..
___
II a) biegen / biuge* bouc bugen gebogen
b) bieten / biute* bt buten geboten
Aufspaltung der Reihe aufgrund von -ou-Alternanz: /o:/ (<>) vor /t/, /d/, /s/, /z/,/ h/,
sonst /ou/ (vgl. III.3.d.2)
___
III Dem ablautenden Vokal folgt Nasal + Konsonant
+
(a) oder Liquid + Konsonant
++
(b)
a) binden bant bunden gebunden
b) werfen / wirfe* warf wurfen geworfen
Die Nasalverbindung in IIIa bewirkt eine Hebung des ursprgl. /e/ zu /i/ im Prsens und
verhindert eine Senkung (vgl. III.3.b) des Sprovokals im Part. Prt., wie sie in IIIb auftritt.
+
oder Doppelnasal; Bsp.: rinnen, swimmen
++
oder Doppelliquid; Bsp.: scherren (scharren), hellen (hallen)
IV Dem ablautenden Vokal folgt einfacher Nasal oder Liquid (/n/, /m/, /l/, /r/)
nemen / nime* nam nmen genomen
___
V Dem ablautenden Vokal folgt einfacher Konsonant (nicht Liquid o. Nasal!)
geben / gibe* gap gben gegeben
___
VI Kennzeichen: /a/ im Infinitiv, /uo/ im Prt. Sg. und Pl. (nhd. monophthongiert zu /u:/!)
graben gruop gruo
*) In den Reihen II, IIIb, IV und V kam es aufgrund der ahd. Endsilben (vgl. S. 61!) im Sg. Prs. Ind. zu
einer Hebung des Stammsilbenvokals /e/ zu /i/ bzw. in Reihe II von /i/ zu /:/(<iu>); vgl. unten IV.3.2.,
Punkt 1)!
**) In Reihe VI kommt es in der 2. und 3. Pers. Sg. Prs. Ind. zur Primrumlautung des
Stammsilbenvokals aufgrund der ahd. /i/-haltigen Endsilben in diesen Formen.
ben gegraben
2.Pers.Sg.Prs.:greb(e)st**
3.Pers.Sg.Prs.: greb(e)t**
ACHTUNG! Die Einteilung der Ablautreihen in unserer bersicht entspricht systematisch der Mhd. Gr. ( 245-
252) und dem Taschenwrterbuch von LEXER (Kl. Lex.). Das Wrterbuch von BEATE HENNIG (Kleines
Mittelhochdeutsches Wrterbuch, bearb. von B. HENNIG, 4., verbesserte Auflage, Tbingen 2001) weicht davon
ab! Statt einer Zhlung mit rmischen Ziffern plus Kleinbuchstaben findet sich im Kl. Lex. eine Zhlung mit
rmischer plus arabischer Ziffer (also z. B. III.1 statt IIIa). Die Angaben im sog. groen Lexer (Gr. Lex.)
folgen einer anderen, lteren Systematik!
3. Starke Verben
66
Welcher Ablautreihe ein Verb zugehrt, kann im Wrterbuch nachgeschlagen werden,
wenn man den Infinitiv kennt. Kennt man ihn nicht, mu im Ausschluverfahren zunchst
die Reihe ermittelt werden, um den Stammsilbenvokal des Infinitivs erschlieen zu knnen.
(Vgl. jedoch unbedingt die folgenden Anmerkungen zu Ausnahmen und Besonderheiten
der ablautenden Verben im Mhd., IV.3.2 u. IV.3.3!)
IV.3.2 Wichtige Anmerkungen zu den ablautenden Verben
1) Gegenber dem Nhd. ist der Stammsilbenvokal der Reihen III-V im Sg. Prs. Ind. und
im Pl. Prs. Ind. unterschiedlich. Es handelt sich dabei nicht um eine
Ablauterscheinung, sondern um eine Hebung des /e/ zu /i/ aufgrund /i/-bzw. /u/-haltiger
Endsilbe im Ahd. Zum Nhd. wurden die Formen hufig durch Analogieausgleich
angeglichen. Auch in Reihe II wechselt auf diese Weise der Vokal zwischen
Sg. Prs. Ind. und Pl. Prs. Ind., nur ist hier je ein Diphthong betroffen; z. B. beim Verb
bieten: 1. Sg. Prs. Ind. ich biute, aber 1. Pl. Prs. Ind. wir bieten oder biegen ich
biuge wir biegen. Vgl. oben, die Ausfhrungen unter IV.3.1!
2) Abweichend vom Nhd. ist die 2. Sg. Prt. Ind. bei ablautenden Verben mit
umlautfhigem Vokal in der 1. Pl. Prt. Ind. im Mhd. umgelautet (vgl. das obige Bsp.,
S. 63: du wrde, nhd. du wurdest!). Auch hier fand zum Nhd. hin ein
Analogieausgleich der Formen statt.
3) Nicht selten ist auch der Unterschied zwischen den Prteritalformen der 1. und 3.
Pers. Sg. Ind. und des Pl. Ind. im Nhd. durch Analogieausgleich beseitigt. Vgl. das
obige Bsp., S. 63: ich wart, nhd. ich wurde.
4) Noch hufiger kommt es zu einem Analogieausgleich im Nhd. bei mhd. verschiedenen
Konsonanten zwischen den Formen des Sg. Prt. und des Pl. Prt. aufgrund
Grammatischen Wechsels (vgl. oben III.4.a): ich was wir wren, nhd. ich war wir
waren
Gr ammat i s che r We chs el zwischen den Formen eines ablautenden Verbs ist im
Mhd. nicht selten. Vgl. die folgende bersicht!
Bsp. fr Grammatischen Wechsel bei mhd. ablautenden Verben
[AV = Auslautverhrtung]
Infinitiv Sg.Prt. Pl.Prt. Part.Prt.
I lden leit (mit AV!) liten geliten
mden meit (mit AV!) miten gemiten
II sieden st (mit AV!) suten gesoten
kiesen ks kurn gekorn
ziehen z(c)h zugen gezogen
V wesen was wren gewesen (!)
VI slahen sluoc (!; mit AV) sluogen geslagen
IV. Formenlehre 1: Die Verben
67
5) In einigen wenigen Fllen, zu denen auch das Verb werden gehrt, finden sich nicht
selten Partizipien des Prteritums ohne
Infinitiv Part. Prt. gehrt zur Ablautreihe
finden funden (nhd. gefunden) IIIa
komen komen (nhd. gekommen) IV
treffen troffen (nhd. getroffen) IV (vgl. unten, IV.3.3, Punkt 1)
die Vorsilbe ge-:
bringen brht (nhd. gebracht) (schwach flektiert)
4
lzen lzen (nhd. gelassen) (ehemals reduplizierendes Verb)
5
6) Prfigierte Verben (Verben mit den Vorsilben be-, er-, ver- usw.) bilden ihr Part. Prt.
mit der eigenen Vorsilbe, nicht mit ge-, z. B. verbieten Part. Prt. verboten.
7) Das der Ablautreihe V angehrige mhd. Verb jehen (sagen, sprechen, erzhlen)
weist hinsichtlich seiner Stammformen keine Besonderheiten auf, doch in den
Prsensformen im Sg. zeigt es einen ungewhnlichen Konsonantenwechsel. Da auch
hier regulr der Stammsilbenvokal im Prs. Sg. Ind. zu /i/ gehoben wurde, mte im
Sg. Prs. Ind. die fr das Deutsche ungewhnliche Lautabfolge /ji/ auftreten: z. B. man
*jiht. Doch diese Form gibt es nicht. Hier tritt wohl aus Grnden der leichteren
Artikulation fr das anlautende /j/ der sth. Plosiv /g/ ein: ich gihe, du gihest, man giht.
IV.3.3 Ausnahmen
1) Eine Reihe von Verben mit /r/ oder /l/ vor
brechen, rechen, sprechen, schrecken (!), treffen, vlehten
und (in Analogie zu vlehten) auch vehten und stechen, obgleich sie weder Nasal
noch Liquid vor oder nach dem Stammsilbenvokal besitzen!
Hintergrund fr diese Bildungen sind nach heutigem Forschungsstand kaum eindeutig zu klrende
Unregelmigkeiten im ahd. Flexionssystem bei Verben mit /l/ oder /r/ vor dem Stammsilbenvokal,
die im Ahd. teilweise nach der Reihe IIIb, teilweise nach der Reihe IV flektieren. Im Mhd. kam es
offenbar zu einem Ausgleich der Formen dieser Verben nach dem Paradigma der Reihe IV.
dem Stammsilbenvokal, die /x/ oder <ff>
nach dem Stammsilbenvokal aufweisen, werden ebenfalls nach dem Muster der
Rei he I V gebildet (obgleich die Regel fr diese Reihe grundstzlich lautet: Dem
ablautenden Vokal folgt einfacher Nasal oder Liquid). Dazu gehren:
2) Der I V. Abl aut r ei he gehr t f er ner das Ver b komen ( nhd.
kommen) an, obgleich es mhd. ein /o/ in Infinitiv und Prsens besitzt. Dieses
Verb geht auf die ltere ahd. Form queman zurck, wobei <u> fr halbvokalisches
/w/ steht: /kweman/. Das Verb hatte also ahd. tatschlich ein /e/ als
Stammsilbenvokal, wie wir dies fr die Reihe IV erwarten. Im Mhd. trat aber
Rundung /e/ > /o/ ein.
4
Vgl. zum Verb bringen unten IV.4.2.
5
Zu den ehemals reduplizierenden Verben siehe unten IV.3.4.
3. Starke Verben
68
3) Zu den ablautenden Verben der Rei he V gehren drei recht hufig vorkommende
Verben, die statt eines /e/ ein /i/ in Infinitiv und Prsens aufweisen:
bitten bat bten gebeten;
sitzen saz szen gesezzen;
ligen lac lgen gelegen.
Sprachhistorischer Hintergrund: Es handelt sich hierbei um sog. j-Prsentia (vgl. Mhd. Gr., 254 /
M 85), die durch das Stammbildungselement /j/ im Prsens mit den schwach flektierenden jan-Verben
verwandt waren, ihr Prteritum aber stark (ablautend) bilden. Das /j/ im Prsens fiel aus; der
Stammsilbenvokal in Infinitiv und Prsens blieb aber erhalten. (Vgl. Ahd. Gr., 327.)
4) Ausnahmen in der Abl aut r ei he VI , die <e> statt <a> in Infinitiv und Prsens
aufweisen, stellen dar:
heven/heben huop huoben gehaben;
schepfen/schaffen schuof schuofen geschaffen;
swern (schwren) swuor swuoren geswarn/gesworn.
Sprachhistorischer Hintergrund: Auch diese Verben gehren zu den sog. j-Prsentia. Der
Stammsilbenvokal in Infinitiv und Prsens, der aufgrund des /j/ Primrumlautung /a/ > // (<e>)
aufweist, blieb erhalten. (Vgl. Ahd. Gr., 347 u. Mhd. Gr. 252 / M 85.)
IV. 3.4 Ehemals reduplizierende Verben [ 253 / M 84]
6
In aller Regel werden die sogenannten ehemals reduplizierenden Verben als Ablautreihe
VII gefhrt.
7
Auch sie weisen, wie die ablautenden starken Verben, Vokalalternanzen zur
Markierung des Prteritums auf. Beispiel: mhd. heizen hiez hiezen geheizen zu nhd.
heien hie hieen geheien.
Den Prteritalformen dieser Verbklasse liegt jedoch nur in Einzelfllen (und mitunter
wohl sekundr) Ablaut zugrunde. Sprachhistorisch mageblich fr ihre Bildung ist jedoch
eine ehemalige Reduplikation (Verdoppelung) von Stammsilbenbestandteilen: Ehemals
reduplizierende Verben bilden im Gotischen ihre Prteritalformen durch Verdoppelung
des anlautenden Konsonanten in Kombination mit dem Stammsilbenvokal oder aber
unter Einschub eines Ersatzvokals, so z. B. got. haitan ( ahd. heizan heien), dessen
Prt. im Gotischen in der 1. Pers. Sg. haihaite, in der 1. Pers. Pl. haihai
6
Ausfhrlicher zur sprachhistorischen Entwicklung dieser Verben siehe Ahd. Gr., 348-354.
7
Vgl. z. B. HENNINGS 2003, S. 86f. Die Mhd. Gr. verwendet zur Einteilung primr den Begriff der Verbklasse
und zhlt diese Verben entsprechend als Klasse VII der starken Verben. In Wrterbchern werden die ehemals
reduplizierenden Verben zumeist als Ablautreihe VII gefhrt, dabei jedoch unterschiedlich in Untergruppen
geordnet. Also: Mit dem eigenen Wrterbuch gut vertraut machen!
tum lautete. (Vgl.
die Bildungsweise des Perfekts bei lat. dare, pendere, cadere, pangere.)
Je nachdem, ob diese Verben zustzlich Ablaut aufweisen oder nicht, werden sie zumeist
fr vormhd. Zeit in zwei (oder mehrere) Unterklassen eingeteilt. Im Ahd. weisen sie im
Prteritum gegenber dem Prsens durchgngig Vokalwechsel auf. Das Part. Prt. besitzt
wie das Prsens den Stammsilbenvokal des Infinitivs. Die Flexionsendungen der ehemals
reduplizierenden Verben entsprechen denjenigen der ablautenden Verben.
IV. Formenlehre 1: Die Verben
69
Im Ahd. haben die ehemals reduplizierenden Verben im Sg. und Pl. Prteritum in aller
Regel entweder den Diphthong /ia/, z. B. haltan hialt hialtum (gi)haltan, oder /eo/
bzw. /io/ , wie in loufan liof liofun (gi)loufan.
Die ahd. Diphthonge /ia/, /eo/, /io/ fallen im Mhd. zu /i/ (<ie>) zusammen
(Phonemzusammenfall), und s o s i nd di es e Verben noch i m Nhd. i n al l er
Regel am <i e> ( mhd. / i / nhd. / i : / ) i n den Prt eri t al f ormen i n
Sg. und Pl . gut zu erkennen.
Eine Kategorisierung in Unterklassen, wie sie ahd. noch sinnvoll scheint, ist an dieser
Stelle fr das Mhd. nicht ntig.
scheiden schiet schieden geschei(!)den
Inf./Prsens Sg. Prt. Pl.Prt. Part.Prt.
verschiedene Vokale ie ie verschiedene Vokale
(wie im Prsens)
Bsp. vallen viel vielen gevallen
ruofen rief riefen geruofen
stzen stiez stiezen gestzen
8
slfen slief sliefen geslfen
halten hielt hielten gehalten
Anm.
8
Im Nhd. ist es hier beim Part. Prt. zu einem Analogieausgleich zu den Prteritalformen des Sg. und Pl.
gekommen, nhd. daher: geschieden. Im Mhd. weist das Part .Prt. der ehemals reduplizierenden Verben
durchgngig denselben Stammsilbenvokal wie der Infinitiv und die Prsensformen auf.
: In Ausnahmefllen wenn halbvokalisches /w/ einem Stammsilbendiphthong folgte tritt im
Sg. und Pl. Prt. /:/ (<iu>) ein; Bsp.:
houwen hiu(w) hiuwen gehouwen
70
IV.4 Besondere Verben
IV.4.1 Die Prterito-Prsentia [ 269-276 / M94-100]
Die Gruppe der sog. Prterito-Prsentia (Sg.: Prterito-Prsens, wrtl.: Vergangenheits-
gegenwart) ist von besonderer Bedeutung, da diese Verben als Hilfs- bzw. Modalverben
benutzt werden und die meisten von ihnen in mhd. Texten sehr hufig vorkommen.
Im Mhd. gehren zu dieser Gruppe insgesamt neun Verben, deren ursprngliche
Prteritalformen, die nach starker Flexion mittels Ablaut gebildet wurden,
Gegenwar t s bedeut ung angenommen haben.
Das Prterito-Prsens kunnen zum Beispiel zeigt im Indikativ Prsens folgende Formen:
ich/er/siu/ez kan(n) du kan(n)st wir kunnen.
Man erkennt hier die Bildungsform gem der Ablautreihe III: vgl. zum Bsp. die
Prteritalformen des starken Verbs vinden: vant vunden. Der Vergleich zeigt, da kan
und kunnen eigentlich Prteritalformen sind, die jedoch im Gegensatz zu vant und vunden
prsentische Bedeutung gewonnen haben.
Wenn nun aber die ehemaligen Vergangenheitsformen dieser Verbgruppe prsentische
Bedeutung haben, fehlen den Prterito-Prsentia die Formen zum Ausdruck der
Vergangenheit: Ich wute etwas, ich kannte etwas. Die nhd. Bsp. zeigen bereits: Die
Prterito-Prsentia bilden ihre Vergangenheitsformen sekundr mittels schwacher
Flexion: Ihre Vergangenheitsformen weisen ein Dentalsuffix -t- auf, das im Falle von
kunnen aufgrund des vorangehenden Nasals zumeist zu d assimiliert ist: ich kunde, wir
kunden/konden. So auch bei sol(e)n/sul(e)n aufgrund des vorangehenden Liquids: ich
solde, wir solden neben ich solte, wir sol(l)ten.
Als Prterito-Prsentien wird eine Gruppe von Verben bezeichnet, deren ursprnglich
auf Ablaut beruhende Prteritalformen Gegenwartsbedeutung erlangt haben und die
ihre sprachhistorisch neuen Vergangenheitsformen mittels schwacher Verbflexion (mit
Dentalsuffix) bilden.
Der sog. Primrberhrungseffekt (vgl. oben III.4.b) fhrt bei den Prteritio-Prsentia
tugen (taugen, ntzen) und mugen/mgen (knnen, vermgen) zum Auftreten eines
Ach-Lautes im Prteritum: ich tohte ich mahte/mohte. Bei wizzen und mezen bewirkt
die Verschmelzung von idg. /tt/ (und /td/) zu germ. /ss/ (vgl. oben ebd.) die dentallosen
Prteritalformen ich wisse/wesse bzw. ich muose. Aufgrund von Ausgleichs-
erscheinungen finden sich zuweilen auch die regelgerechten Formen ich wiste/weste
bzw. ich muoste.
Die genannten Beispiele zeigen, da die meisten Prterito-Prsentia eine gewisse Varianz
des Stammsilbenvokals aufweisen: Im Prsens und im Infinitiv gibt es hufig
umgelautete Formen neben den unumgelauteten: z. B. mugen/mgen. Im Prteritum
alternieren dialektal unterschiedlich /i/ und /e/ (wisse/wesse), /u/ und /o/ (kunde, konde)
bzw. /a/ und /o/ (mahte/mohte). Daher (und weil es zu Analogieausgleichserscheinungen
im Prsens kam) lt sich die Zuordnung der Prsensformen zu einer der Ablautreihen
im Mhd. nur noch partiell erkennen. In der folgenden bersicht wird deshalb auf eine
Zuordnung der Prterito-Prsentia zu einer Ablautreihe verzichtet.
IV.4 Besondere Verben 71
berblick: Die mhd. Prterito-Prsentia
INDIKATIV PRSENS INDIKATIV PRTERITUM
Infinitiv 1./3. Sg. 2. Sg. 1./3.Pl. 1./3. Sg. 2. Sg. 1./3. Pl.
wizzen
(wissen)
weiz weist wizzen wisse / wesse
2
/
wiste / weste
wis(t)est /
wes(t)est
wiss(t)en /
wess(t)en
tugen
(taugen,
ntzen)
touc - tugen /
tgen
tohte
3
tohtest tohten
gunnen
(gnnen)
gan ganst gunnen /
gnnen
gunde / gonde gundest /
gondest
gunden /
gonden
kunnen
(vermgen,
verstehen)
kan kanst kunnen /
knnen
kunde /
konde
kundest /
kondest
kunden /
konden
durfen/drfen
(brauchen,
bedrfen)
darf darft (!)
1
durfen /
drfen
dorfte dorftest dorften /
durften
turren
(wagen)
tar tarst turren /
trren
torste torstest torsten
soln/suln
(sollen,
mssen,
werden)
sol /
sal
solt (!)
1
suln /
sln /
soln
solde / sollte soldest /
soltest
solden /
solten
mugen /
mgen
(knnen,
vermgen)
mac maht (!)
1
mugen
mgen /
magen /
megen
mahte / mohte
3
mahtest /
mohtest
mahten /
mohten
mezen
(mssen,
werden)
muoz muost mezen muose
2
/
muoste
muosest /
muostest
muosen /
muosten
1
Whrend die brigen Prterito-Prsentia in der 2. Sg. Ind. Prs. die nhd. gewohnte
Endung -st aufweisen, sind die entsprechenden Formen bei suln, durfen und mugen/mgen mhd.
verkrzt. Bei der Form maht tritt zudem (wie bei den Prteritalformen dieses Verbs)
Primrberhrungseffekt auf!
2
Verschmelzung von idg. tt/dt zu germ. ss fhrt zu Formen ohne Dental!
3
Primrberhrungseffekt in den Prteritalformen von tugen und mugen/mgen!
Im Konjunktiv Prsens weisen die Prterito-Prsentia in der Regel den Stammsilbenvokal des Infinitivs
und Endsilben gem dem Paradigma der schwachen Verben auf. Im Konjunktiv Prteritum zeigen
die Prterito-Prsentia im Gegensatz zu den meisten schwachen Verben grundstzlich umgelautete
Formen, wenn im Indikativ ein umlautfhiger Vokal vorliegt (was bei allen mhd. Prterito-Prsentia
auer wizzen der Fall ist). Die 1./3. Pers. Sg. Prteritum Konjunktiv von tugen lautet dementsprechend
thte, die entsprechende Form von mezen lautet meze/meste; diejenige von mugen/mgen lautet
mhte/mhte. Bei gunnen, kunnen und suln/soln finden sich auch unumgelautete Konjunktivformen des
Prteritums: 1./3. Sg. Prt. Konj. von kunnen tritt als knde, aber auch als kunde auf; entsprechend
findet sich fr gunnen neben gnde auch gunde und fr soln neben slde/sllte auch solde/sollte.
IV.4 Besondere Verben 72
Zur Bedeutung der mhd. Prterito-Prsentien
Die meisten der Prterito-Prsentien weichen in ihrer Bedeutung von derjenigen ihrer
nhd. Nachfahren betrchtlich ab. Beim bersetzen ist diese Tatsache unbedingt zu
beachten.
Die Prterito-Prsentia durfen/drfen und mugen/mgen weichen am deutlichsten von
ihren nhd. Nachfahren drfen und mgen ab:
durfen/drfen ,brauchen; bedrfen; ntig haben er darf im nicht gesagen danc
er braucht ihm nicht zu danken
mugen/mgen knnen; vermgen da muget ir vinden bluomen
dort knnt ihr Blumen finden
Die brigen Prterito-Prsentien sind in ihrer Bedeutung weniger festgelegt, wodurch
der Unterschied zum Nhd. nicht so stark deutlich wird. Ihre breiteren
Einsatzmglichkeiten und der zumeist grere Bedeutungsumfang im Mhd. sollte
jedoch (insbesondere fr die folgenden Verben) beachtet werden.
wizzen
wissen [um]; verstehen;
kennen; sich auskennen
er wiste manige liste
er kannte (kannte sich aus in) zahlreiche(n) Wissenschaften
ich weiz wol
ich wei genau / kenne sehr gut
kunnen
vermgen; verstehen; kennen;
wissen; knnen (im Sinne von:
etwas [geistig] beherrschen)
ichn kan deheinen buochstap
ich kenne keinen einzigen Buchstaben
wir kunnen niht ze turney noch ze tjoste
wir verstehen es nicht/vermgen es nicht zu turnieren, noch
die Tjost zu reiten
wir ne kunnen leider baz
wir wissen es leider nicht besser zu machen
mezen
mssen; notwendigerweise
tun/geschehen; mgen; drfen;
sollen; knnen; zuteil werden
- auch zur Futurumschreibung
verwendet; dann mit werden
zu bersetzen
ez muoste den wsen wol gefallen
es mute/durfte/konnte/sollte den Weisen gut gefallen
daz muoz eht als sn
das mu nun einmal so geschehen
frge sie, ob ich si meze sehen
frage sie, ob ich sie sehen darf/soll/kann/(werde)
1
meste ich noch geleben, daz
sollte es mir noch zu Teil werden (zu erleben), da
1
Da neben soln/suln und dem Verb wellen auch mezen bisweilen zur Umschreibung des Futurs benutzt wird,
knnte der Satz auch futurisch gemeint sein. Das ist beim bersetzen aus dem Kontext zu entscheiden.
IV.4 Besondere Verben 73
soln/suln
sollen; mssen; schuldig sein
- auch zur Futurumschreibung
verwendet; dann mit werden
zu bersetzen
ich soll im einen schillinc
ich bin ihm einen Schilling schuldig
der sol komen in unser lant
der mu/wird in unser Land kommen
Beispiele fr die Verwendung von soln/suln und mezen zur Umschreibung des Futur:
ich hn der vrouwen gedienet und sol Ich habe der Herrin/Dame gedient und
ir iemer dienen werde ihr immer dienen
ir sult ir willkommen sn Ihr werdet ihr willkommen sein
dez muoz ich iemer schande hn Dafr werde ich immer verachtet werden
er muoz mir dez entgelten Das wird er mir ben/wird er mir
bezahlen
[] want uns d sehen mezen vil denn dort werden uns viele liebenswerte
minneclche wp Frauen sehen
IV.4.2 Die mhd. Mischverben bringen und beginnen [ 267f.]
Die Verben bringen und beginnen weisen im Mhd. fr das Prteritum eine
Mischkonjugation auf. Sie mten sprachgeschichtlich eigentlich starke Verben der
Ablautreihe IIIa sein, doch treten fr beide in mhd. Texten auch schwach flektierte
Formen mit Vokalwechsel auf, die neben die starken Formen treten. Fr die schwachen
Formen wird der Vokal der 2. bzw. 3. Stammform der starken Flexion (in den folgenden
Paradigmen unterstrichen) dem Stamm zugrundegelegt. Daher der Vokalwechsel im
Prteritum bei der schwachen Flexion und daher die Begriffe Mischverben und
Mischkonjugation.
bringen
stark flektiert branc brungen (ge)brungen
schwach flektiert brhte brhten brht
beginnen
stark flektiert began begunnen - begunnen
schwach flektiert begunde begunden begunst/begonst
Die schwach flektierten Formen von bringen weisen neben dem Primrberhrungseffekt
mit /t/ (/g//x/; vgl. III.4.b) Nasalschwund mit Ersatzdehung (vgl. IV.2.b) auf. Bei
beginnen wird das Dentalsuffix lenisiert.
IV.4 Besondere Verben 74
IV.4.3 Wurzelverben [ 278-282]
Unter Wurzelverben versteht man eine Gruppe von Verben, die in ihrer sprach-
historischen Entwicklung niemals ein sog. stammbildendes Suffix besaen (= sog.
athematische Formenbildung), das heit: Die Flexionssilbe trat primr unmittelbar an
die Wurzelsilbe ohne jedes weitere Wortbildungsmorphem. Das ist bei anderen Verben
nicht der Fall, da sie in aller Regel zumindest ursprnglich ein Bindeglied zwischen der
Wurzel und der Flexionsendung aufwiesen. Die Wurzelverben im Mhd. besitzen eine
/n/-haltige Endung im Infinitiv (und den meisten Prsensformen), die auf ein idg. Suffix
*-mi zurckgefhrt wird. Sie werden deshalb in der vergleichenden Sprachgeschichte
auch als mi-Verben bezeichnet. Mit Ausnahme von tuon (tun) existieren die mhd.
Wurzelverben nur prsentisch. Fr die Prteritalformen tritt ergnzend (suppletiv) ein
(auf eine andere Wurzel zurckgehendes) regelmiges starkes Verb ein.
a) gn/gn (gehen), stn/stn (stehen)
Die Formen der Verben gn/gn und stn/stn weisen hohe dialektale Varianz auf. Es
existieren hufig gleichberechtigt mehrere Formen mit geringen Abweichungen
voneinander. Die Formen mit Stammsilben- berwiegen im Bairischen und
Frnkischen, die mit Stammsilben- sind hauptschlich im Alemannischen zuhause. Im
Konjunktiv finden sich -Formen grundstzlich hufiger.
gn/gn stn/stn
Prsens
Indikativ
Sg. 1 gn/g; gn/g stn/st; stn/st
2 gst; gst stst; stst
3 gt; gt stt; stt
Pl. 1 gn; gn stn; stn
2 gt, gt stt; stt
3 gnt; gnt stnt, stnt
Konjunktiv
Sg. 1 (g) g (st) st
2 (gst) gst (stst) stst
3 (g) g (st) st
Pl. 1
2
3
Partizip gnde; gnde stnde; stnde
Im Pr t e r i t um treten Formen der starken Verben ahd. gangan und ahd. stantan ein:
mhd. gienc - giengen gegangen (nach dem Schema ehemals redupl. Verben)
mhd. stuont stuonden gestanden (nach Ablautreihe VI).
Zuweilen treten auch im Prteritum verkrzte Formen auf: Belegt sind das Part. Prt. gestn
(statt gestanden), und (insbes. im obd. Raum) die 1./3. Sg. Prt. Ind. gie (statt gienc).
IV.4 Besondere Verben 75
b) sn (sein)
Von besonderer Bedeutung unter den Wurzelverben ist das Verb s n:
Das Verb sn existiert (mit Ausnahme des Part. Prt. gesn) nur prsentisch.
Es handelt sich um ein suppletives Verb; sn geht prinzipiell auf zwei idg. Wurzeln
zurck: Die Formen mit bi- auf idg. *bheu-, dagegen ist (3. Pers. Sg. Ind.) auf idg. *es-
(vgl. lat. esse; lat./frz. est; engl. is) und die s-Formen auf idg. Schwundstufe aus der
Wurzel *es- (idg. *e fllt aus, es bleibt *s-). Fr sn ergibt sich ein sog.
Suppletivparadigma (verschiedene Wurzeln bzw. Verben liegen zugrunde). Neben den
beiden Wurzeln des Prsens tritt das Verb wesen hinzu, denn:
Fr das Pr t er i t um t r i t t das abl aut ende s t ar ke Ver b wes en ( Rei he V)
ei n:
was wren gewesen.
Das Part. Prt. gewesen steht zu der von sn abgleiteten Form gesn (die besonders im
Alemannischen zuhause ist, zuweilen jedoch auch im Mitteldeutschen auftritt) in
Konkurrenz. Es handelt sich bei wesen um ein eigenstndiges starkes Verb, das jedoch
(bis auf das Partizip und die Konjunktivformen sowie vereinzelte frhmhd. Formen)
mhd. fast ausschlielich im Prteritum existiert wesen ist kein Wurzelverb!
Die Imperativformen wis und weset gehen ebenfalls auf wesen zurck und stehen zu bis
und st in Konkurrenz. Im Konjunktiv des Prsens stehen mhd. die Formen von sn und
wesen vom Gebrauch her gleichwertig nebeneinander.
Die Eigenarten von sn sind auch in den nhd. Prsensformen noch erhalten. Auch heute
noch erkennen wir, da sein ein suppletives Verb ist: ich bin er ist - wir sind.
Im Nhd. fallen die beiden Verben sn und wesen jedoch zusammen, wobei sich im
Prsens grundstzlich die Formen von sn, im Prteritum diejenigen von wesen
durchsetzen. Der Infinitiv und die alternativen Formen von wesen im Imperativ und
Konjunktiv Prsens gehen unter. Unser nhd. Verb sein geht also ingesamt auf drei
verschiedene Wurzeln zurck; die beiden genannten fr sn und die Wurzel von wesen,
idg. *ues-.
IV.4 Besondere Verben 76
c) tuon (tun)
Das Verb tuon stellt unter den Wurzelverben insofern eine Ausnahme dar, als die
Prteritalformen von tuon nicht suppletiv von einem anderen Verb gebildet werden. Das
Verb tuon ist ein reduplizierendes Verb: Es ist das einzige Verb im Mhd., das die
Reduplikationssilbe gem der Prteritalbildung durch Reduplikation bewahrt hat. Die
Reduplikationssilbe besteht hier aus dem stammanlautenden Konsonanten (/t/) und dem
Reduplikationsvokal /e/; deshalb 1./3. Sg. Prt. Ind. te-te! Das auslautende /e/ ( /m/)
dieser Form wird jedoch schon mhd. hufig apokopiert.
Die Formen des Verbs tuon lauten:
Sg. Pl.
Prsens
Indikativ 1. tuon (!) tuon
2. tuost tuot
3. tuot tuont
Konjunktiv
1. tuo tuon
2. tuost tuot
3. tuo tuon
Prteritum
Indikativ 1. tet(e) tten
2. t#te ttet
3. tet(e) tten
Konjunktiv
1. t#te t#ten
2. t#test t#tet
3. t#te t#ten
IV.4.4 Kontrahierte Formen von haben/hn und lzen/ln [ 287-288]
Die kontrahierten Formen des starken Verbs lzen (ln) und des schwachen Verbs
haben (hn) werden in Angleichung an die Wurzelverben gebraucht.
a) haben/hn
Im Prsens Indikativ von haben/hn berwiegen die kontrahierten Formen; dagegen sind
kontrahierte Formen im Prsens Konjunktiv selten. Die seltener auftretenden Formen
werden in der folgenden bersicht in runden Klammern angegeben.
Prsens
Indikativ Sg. Pl.
. ich hn (haben [!]) wir hn (haben)
du hst (habest) ir ht (habet)
er ht (habet) sie hnt (habent)
Konjunktiv
:
ich habe (h) wir haben (hn)
du habest (hst) ir habet (ht)
er habe (h) sie haben (hn)
IV.4 Besondere Verben 77
Im Prteritum findet sich haben/hn nur selten kontrahiert; hier existieren aber
zahlreiche, recht gebruchliche Nebenformen.
Prteritum
Indikativ
kontrahierte Formen: Nebenformen selten nicht kontrahiert:
Sg. ich hte hte, hete, h#te (!) (habete)
du htest htest, hetest, h#test (habetest)
er hte hte, hete, h#te (habete)
Pl.
wir hten hten, heten, h#ten (habeten)
usw.
Konjunktiv
regelmig kontrahiert mit Umlaut bzw. mit Stammsilbenvokal /e:/ oder /e/
Sg. ich h#te, hte, hete
du h#test, htest, hetest
usw.
Selten treten im Prt. Konj. auch unumgelautete Formen mit dem
Stammsilbenvokal /a:/ (<>) auf.
b) lzen/ln
Mhd. lzen gehrt zu den ehemals reduplizierenden Verben. Entgegen den entsprechend zumeist
regelmig mit /im/ gebildeten Prteritalformen (ich liez, wir liezen usw.) treten im Prsens
Indikativ in Anlehnung an die Wurzelverben gn/gn und stn/stn Formen des kontrahierten
Infinitivs (ln) auf. Dagegen sind auch bei diesem Verb kontrahierte Formen im Prsens
Konjunktiv selten.
Prsens
Indikativ
Sg. Pl.
Sg. ich ln wir ln
du lst ir lt
er lt sie lnt
Konjunktiv
selten kontrahiert:
Sg. ich lze (l)
du lzest (lst)
er lze (l)
Pl. wir lzen (ln)
ir lzet (lt)
sie lzen (ln)
Im Prteritum berwiegen bei lzen/ln nicht kontrahierte Formen nach dem Paradigma
der ehemals reduplizierenden Verben; Stammformen: lzen liez liezen gelzen.
Kontrahierte Formen (lie statt liez, lien statt liezen) sind im Prt. sehr selten; nur das Part. Prt.
tritt hufiger kontrahiert als geln auf.
IV.4 Besondere Verben
78
IV.4.5 Das Verb wellen [ 277]
Das Verb wellen (wollen) fgt sich keiner der bisher genannten Verbklassen.
Die Unregelmigkeiten von wellen in der Formenbildung resultieren aus einer Verschiebung
des Modus, d. h. die im Prsens gebrauchten Formen sind sprachgeschichtlich (ihrer Entstehung
nach) Konjunktivformen, die aber zur indikativischen Aussage verwendet wurden. Bereits im
Germanischen gingen die ursprnglichen Indikativformen vollstndig verloren. In Ermangelung
des eigentlichen Konjunktivs (der eine indikativische Funktion angenommen hatte) wurde ein
neuer Konjunktiv analog zur Formenbildung der jan-Verben gebildet. Entsprechend mu der
Infinitiv germ. *waljan ( ahd. wellan wellen) gelautet haben.
Die Konjunktiv-Formen des Prsens sind im Mhd. regelmig ich welle, du wellest usw. (mit
Doppelkonsonanz und Primrumlaut!). Im Sg. Ind. Prs. jedoch sind die alten, ehemals
konjunktivischen Singularformen noch erhalten (hier keine Doppelkonsonanz), die ahd.
Endsilbenvokale bewirkten eine Hebung des Stammsilbenvokals zu /i/: ich wil [ ahd. ich
willu], du wilt [ ahd. du wili]), whrend der Infinitiv und die indikativischen Pluralformen
wiederum auf germ. *waljan zurckgehen (mit Doppelkonsonanz und Stammsilben-/e/: wir
wellen, ir wellet usw.).
Das Prteritum besitzt das Dentalsuffix der schwachen Verben, den Stammsilbenvokal /o/ und
in der Regel keine Doppelkonsonanz. Hufig ist das /t/ im Prteritalsuffix zu /d/ lenisiert. Im
Konjunktiv Prteritum treten neben unumgelauteten auch Formen mit Umlaut des
Stammsilbenvokals auf (wir wolten/wolden neben wir wlten/wlten).
Hier die Formen des Verbs wellen im berblick:
Sg. Pl.
Prsens
Indikativ
1. wil(e) wellen (weln) (wollen)
2
2. wil(e), wilt wellet (welt) (wollet)
3. wil(e) wellen(t) (welnt); (wollen[t])
Konjunktiv
1. welle (wolle) wellen (wollen)
2. wellest (wollest) wellet (wollet)
3. welle (wolle) wellen (wollen)
Prteritum
Indikativ
1. wolte/wolde wolten/wolden
2. woltest/woldest woltet/woldet
3. wolte/wolde wollten/wolden
Konjunktiv
1. wolte/wolde (wlte/wlde) wolten/wolden (wlten/wlden)
2. woltest/woldest (wltest/wldest) woltet/woldet (wltet/wldet)
3. wolte/wolde (wlte/wlde) wolten/wolden (wlten/wlden)
Partizip Prsens: wellende
Partizip Prteritum: gewellet/gewellt/gewllet/gewlt (erst sptmhd. belegt)
[Imperative fr mhd. wellen sind nicht belegt!]
2
Die in Analogie zu den Prteritalformen gebildeten Formen mit /o/ im Pl. Prs. sind zunchst nur md. belegt,
dringen aber seit dem 14. Jh. ins Obd. ein.
79
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd. [174-189]
Whrend es im Indogermanischen noch insgesamt acht Kasus mit jeweils bestimmten
Endungen gegeben haben soll, existieren im Mhd. ebenso wie im Nhd. nur noch vier
Ka s us : Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Die Formenbildung der mhd.
Substantive ist darber hinaus gekennzeichnet durch das Ge nus (Maskulinum,
Femininum, Neutrum) und den Nume r us (Singular, Plural).
Zur Bestimmung einer Substantivform gehrt also die Angabe des Kasus und des
Numerus. Um sie vornehmen zu knnen, ist ferner die Kenntnis des Genus des
Substantivs ntig. Die nhd. Form Graben kann Nominativ Sg., Dativ Sg. oder auch
Akkusativ Sg. des Maskulinum Graben sein. Zur Entscheidung mu der Kontext
herangezogen werden: der Graben (Nom. Sg.), dem Graben (Dativ Sg.), den
Graben (Akkusativ).
V.1 Starke und schwache Substantivflexion (bersicht)
Im Hinblick auf die mhd. Deklinationsklassen unterscheidet man nach Jacob Grimm
grundstzlich zwischen starker und schwacher Substantivflexion, die auf ursprnglich
vokalischer bzw. konsonantischer Stammbildung beruhen.
1
Schwach flektierte Substantive besaen ursprnglich ein konsonantisches Stamm-
bildungselement (= Bindeglied, Bindeelement), die stark flektierten ein vokalisches.
Sprachhistorisch lassen sich die stark flektierten Substantive nach ihrem ursprnglich
stammbildenden Bindevokal in verschiedene Klassen einteilen (sog. -, a- und i-Deklination).
Aus synchroner Sicht ist eine solche Einteilung fr das Mhd. verzichtbar, da aufgrund von
Abschwchungs- und Ausfallerscheinungen nur noch in sehr wenigen Ausnahmefllen die
Zugehrigkeit eines Substantivs zu einer bestimmten Klasse unmittelbar erkannt werden kann.
(Zur Erklrung der Formenbildung bestimmter Substantive, die im Plural Primrumlaut
aufweisen, mu allerdings ebenso wie zur Erluterung einiger Besonderheiten spezifischer stark
flektierender Substantive auf die historische Entwicklung der unterschiedlichen
Deklinationsklassen hingewiesen werden. Vgl. V.2 bis V.4.)
Kennzeichen der schwachen Flexion ist das berwiegen der "-en"-Endung, die im Nhd.
in allen Kasus auer dem Nom. auftritt; vgl. z. B. nhd. das schwach flektierte
Maskulinum Held (Sg. Nom.) Sg. Gen./Dat./Akk.: des/dem/den Helden; Pl.
Nom./Gen./Dat./Akk.: die/der/den/die Helden gegenber dem starken Maskulinum
Weg des Weg(e)s; dem Weg; den Weg die Wege; der Wege; den Wegen; die
Wege (starke Flexion).
Das mhd. Flexionssystem unterscheidet sich bei der schwachen Flexion vom Nhd.
dadurch, da die "-en"-Endung auch im Gen., Dat. und Akk. der Feminina auftritt (vgl.
die folgende bersicht und unter Besonders zu beachten, Punkt a).
Bei der starken Flexion unterscheiden sich einige Endungen vom nhd. Gebrauch: Bei
den Feminina im Nom./Akk. Pl. steht nur "-e"-Endung gegenber nhd. "-en". Bei den
Neutra weichen der Dativ Singular sowie der Nom. und Akk. im Pl. von den nhd.
Endungen ab (vgl. unten Besonders zu beachten, Punkte b-c).
Abweichungen der mhd. Endungen gegenber dem nhd. Flexionssystem sind in der
folgenden bersicht fett gedruckt und unterstrichen. Zum besseren Verstndnis ist der
bestimmte Artikel mit angegeben. Vom Paradigma ohne Umlaut im Plural ist die
Gruppe der Substantive mit Umlaut im Plural (rechte Kolumne) zu unterscheiden (vgl.
dazu V.2).
1
Die neueste Auflage der Mhd. Gr. von 2007 fhrt eine neue Systematik ein und unterscheidet (aus synchroner
Sicht) insgesamt 8 verschiedene Paradigmata bzw. Klassen fr die mhd. Substantivflexion (S. 183-199).
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd. 80
Schwache Flexion
Maskulina Feminina Neutra
Sg. Nom. der bote diu zunge daz herze
Gen. des boten der zungen des herzen
Dat. dem(e) boten der zungen dem(e) herzen
Akk. den boten die zungen daz herze
Pl. Nom. die boten die zungen diu herzen
Gen. der boten der zungen der herzen
Dat. den boten den zungen den herzen
Akk. die boten die zungen diu herzen
Starke Flexion
ohne Umlaut im Pl. mit Umlaut im Pl.
1. Maskulina (vgl. V.2!)
Sg. Nom./Akk. der/den tac gast
Gen. des tages gastes
Die Dativformen im Singular der
starken Flexion weisen mhd. ein
Endungs-e auf, das im heutigen Nhd.
berwiegend apokopiert ist! (Vgl. nhd.
dem Tag, dem Gast!)
Dat. dem(e) tage gaste
Pl. Nom/Akk. die tage geste
Gen. der tage geste
Dat. den tagen gesten
2. Feminina
Sg. Nom./Akk. diu/die gebe (Gabe) kraft
Gen. der gebe krefte/kraft
Dat. der gebe krefte/kraft
Pl. Nom/Akk. die gebe krefte
Gen. der geben krefte
Dat. den geben kreften
3. Neutra
Sg. Nom./Akk. daz wor t lamp (Lamm)
Gen. des wortes lambes
Dat. dem(e) worte lambe
Pl. Nom/Akk. diu wort [!] lember
Gen. der worte lember(e)
Dat. den worten lember(e)n
Folgendes ist besonders zu beachten:
a) Wie alle brigen Formen der schwachen Flexion mit Ausnahme des Nominativs
aller Genera sowie des Akk. Sg. der Neutra enden mhd. auch Gen./Dat./Akk. Sg.
bei schwach flektierten Feminina auf -en! Im Nhd. findet sich hier kein "-n" (vgl.
nhd. Zunge, Blume bzw. [ohne "-e" im Sg.!] nhd. Frau); dadurch entsteht
fr den Sprecher des Nhd. hier eine Verwechslungsgefahr der mhd. Formen im
Singular Gen./Dat./Akk. mit dem Plural! (Vgl. das Bsp. oben, S. 15, 4. Absatz!)
Der Grund hierfr ist, da di e mhd. s c hwa c h f l e kt i e r t e n Fe mi ni na
i m Nhd. i m Si ngul a r gr unds t zl i c h e ndungs l os a uf t r e t e n.
b) Nominativ und Akkusativ Plural der nicht im Pl. umgelauteten starken Neutra
sind mhd. endungslos (gegenber nhd. "-e"!); vgl. das Bsp. wort.
c) Der Genitiv Plural der meisten stark flektierten Feminina besitzt regelmig die
Endung "-en" (vgl. oben gebe Gen. Pl. geben); eine Ausnahme bilden hier die
Feminina der sog. i-Deklination (vgl. V.3), die im Gen. Pl. die Endung "-e"
aufweisen (vgl. oben kraft Gen. Pl. krefte).
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd. 81
V.2 Umlautung der Pluralformen
Die oben in unserer bersicht angegebenen Beispiele fr die starke Flexion weisen im
jeweils zweiten Beispielwort (rechte Kolumne) Umlautung im Plural auf (und zwar alle
Primrumlaut <e>); die Bsp. in der linken Kolumne dagegen nicht. So zeigt tac im Plural
keinen Umlaut; gast dagegen weist Primrumlaut (geste) auf.
Der Grund ist wieder einmal im Ahd. zu suchen.
Vgl. die Formen:
Im Gegensatz zu tac besaen die Pluralformen von gast ahd. durchgngig eine /i/-haltige
Endung. Das /i/ der Endung bewirkte Umlautung. Das gilt entsprechend auch fr das
Femininum kraft, das teilweise sogar umgelautete Nebenformen in Singular besitzt,
2
die
im Nhd. durch Analogieausgleich verschwunden sind. Sowohl gast als auch kraft
gehrten der sog. i-Deklination an.
Etwas anders liegt der Fall bei lamp (Lamm). Dieses Substantiv gehrt der Sonderklasse
der ursprnglich konsonantischen sog. iz/az-Stmme an, die in manchen Formen ein /i/
als Bindeglied aufwiesen. Ahd. lautet z. B. der Nom. Pl. lambir. Daher die
Primrumlautung der entsprechenden Formen von lamp.
3
Im Mhd. finden wir entgegen den ahd. Schreibweisen, die nur das Graphem <e> fr den
Primrumlaut vorsehen, die Umlautung auch durch die mhd. Umlautgrapheme
gekennzeichnet; Bsp.:
kopf kpfe
vuoz veze
rt - r#te
ln - lAne
Merke: Nicht alle Substantive weisen Umlaut im Plural auf!
Beachte: Neutra mit umgelautetem Plural weisen hier entgegen denjenigen ohne Umlaut
im Plural zumeist eine "-er"-Endung auf (vgl. die bersicht oben, S. 80).
2
Im Gegensatz zu Maskulina der i-Deklination haben die femininen i-Stmme im Ahd. ein /i/ nicht nur im Plural,
sondern auch im Genitiv und Dativ Sg.
3
Sprachgeschichtliche Anm.: Umlautung des Stammsilbenvokals der Plural-Formen fand grundstzlich bei
Substantiven der i-Deklination sowie bei den sog. iz/az- Stmmen statt. Substantive der a-Deklination und der -
Deklination besitzen dagegen mhd. auch bei umlautfhigem Stammsilbenvokal in aller Regel keinen Umlaut im
Plural. (Teilweise kam es jedoch zu Analogiebildungen.)
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd. 82
V.3 Besonderheiten bei starken Substantiven mit ehemaligem
Bindeelement /i/
4
Das stammbildende Suffix germ. /i/ der i-Deklination ist im Mhd. zu /m/ (<e>)
abgeschwcht bzw. ganz ausgefallen, hat aber in einigen Kasus den Umlaut des
Stammsilbenvokals bewirkt (vgl. oben, V.2). Zwischen der Flexion der Maskulina und
der der Feminina dieser Klasse bestehen z. T. erhebliche Unterschiede.
Maskulina: Der i-Deklination gehren nur Maskulina mit umlautfhigem Stamm-
silbenvokal an. Der Wechsel von unumgelauteten Singularformen und durchgehendem
Umlaut in den Pluralformen ist hier die Regel. Beispiel: mhd. der gast die geste.
Feminina: Die Feminina der i-Deklination unterscheiden sich durch die Nullendung
im Nom. und Akk. Sg. von den Feminina anderer Deklinationsgruppen. Nahezu alle
Feminina der i-Stmme enden mhd. auf den Konsonanten /t/; z. B. kraft, vrist.
Besonders wichtig ist, da die Feminina der i-Deklination im Gen. Pl. eine "-e"-Endung
aufweisen, whrend fr die brigen Feminina im Gen. Pl. die vom Nhd. abweichende
Endung "-en charakteristisch ist (vgl. in der bersicht oben die Gen.Pl.-Formen von gebe
[-Klasse] vs. kraft [i-Klasse]).
Darber hinaus besitzen die umlautfhigen Stammsilbenvokale der femininen i-Stmme
einen Umlaut in den Pluralformen und teilweise im Gen. und Dat. Sg. (vgl. die bersicht
oben u. Anm.1). Beispiel: die kraft die krefte, ohne Umlaut, da der Stammsilbenvokal
nicht umlautfhig ist: diu vrist die vriste.
V.4 Sonderklassen (Ausnahmen)
Sprachhistorisch werden neben sog. reinen i-, a- und o-Stmmen Subklassen
unterschieden, die zumeist ein weiteres konsonantisches Bindeelement aufwiesen. Fr
uns ist nicht die Zugehrigkeit zu einer dieser Subklassen wichtig, sondern die durch die
sprachhistorische Entwicklung der betroffenen Substantive bedingten Ausnahme-
phnomene bei der Flexion. Die Feminina mit sog. ja- oder j-Stamm haben sofern es
der jeweilige Stammsilbenvokal zult i n a l l e n Ka s us durchgehend Umlaut. Als
weiteres Charakteristikum tritt eine e-Endung im Nominativ Sg. hinzu (damit
unterscheidet sich die ja-Klasse von den im Nom./Akk. Sg. ,endungslosen a-Stmmen;
vgl. tac). Bsp.: mhd. daz knne (Geschlecht, Stamm) und diu wnne (Freude):
Sg. Pl.
Nom. daz knne diu knne
Gen. des knnes der knne
Dat. dem knne den knnen
Akk. daz knne diu knne
Nom. diu wnne die wnne
Gen. der wnne der wnnen
Dat. der wnne den wnnen
Akk. die wnne die wnne
4
Zum Folgenden vgl. ausfhrlicher HENNIGS 2003, S. 136-149.
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd. 83
Einen weiteren Sonderfall bilden die seltenen Maskulina und Neutra mit sog. altem wa-
oder w-Stamm.
Das ursprngliche /w/ des Stammbildungselements ist in einzelnen Formen mhd. noch
erhalten, fllt sptmhd. jedoch aus. Bsp.:
Mask. Neutr.
Sg. Pl. Sg. Pl.
Nom. der s die swe daz knie diu knie
Gen. des swes der swe des kniewes der kniewe
Dat. dem swe den swen dem kniewe den kniewen
Akk. den s die swe daz knie diu knie
Zu den wa-Stmmen gehren neben knie und s (See) nur noch die Maskulina kl
(Klee), l (Hgel), r (Leichnam, Bahre), sn (Schnee) und b (Bau), die Neutra bl
(Blei), w (Schmerz), str (Stroh) und mel (Mehl) sowie spriu (Spreu), tou (Tau),
die zum Nhd. ihr Genus gewechselt haben.
Bei Substantiven mit w-Stamm ist der ursprngliche Wurzelvokal /o:/ (<>)
kombiniert mit dem Halbvokal /w/. Im Mhd. existieren neben den Formen, bei denen
das /w/ erhalten ist, auch gekrzte Formen. Die grundstzlich femininen Substantive mit
w-Stmmen sind uerst selten.
Bsp. brwe (Braue):
Sg. Pl.
Nom. diu brwe/br die brwe/br
Gen. der brwe/br der brwen/br
Dat. der brwe/br den brwen/br
Akk. die brwe/br die brwe/br
Neben brwe gehren klwe/kl (Klaue) und diuwe/diu (Dienerin) der w-Deklination
an. Ansonsten finden sich nur noch vereinzelt Formen mit /w/ bei we (statt [Ehe,
Gesetz] und drouwe (statt dr [Drohung].
V.5 Weitere Besonderheiten bei der mhd. Substantivflexion
a) Sog. motivierte Feminina
Sogenannte movierte Feminina, d.h. Feminina, die von Maskulina abgeleitet sind (wie
etwa mhd. knegn) flektieren wie gebe (vgl. die bersicht oben), obwohl sie endungslos
sind. Sie besitzen oftmals Varianten mit dem Suffix inne (z. B. knegn/kneginne,
wirtn/wirtinne, tiufeln/tiufelinne).
b) Verwandschaftsbezeichnungen auf -er [ 179,1 u. 185,3]
Die fnf Verwandtschaftsbezeichnungen auf -er (vater, bruoder, muoter, tohter und
swester) erscheinen im Singular oftmals unflektiert (sie weisen somit ebenfalls eine
Nullendung auf). Diese Substantiva sind im Mhd. den starken Deklinationsklassen
zugehrig: Die femininen Verwandtschaftsbezeichnungen zhlen zur -Deklination, die
maskulinen zur a-Deklination. Im Plural knnen umgelautete neben nicht umgelauteten
Formen stehen:
V. Formenlehre 2: Die Substantivflexion im Mhd.
84
Maskulinum Femininum
Sg. Pl. Sg. Pl.
Nom. vater vater(e)/veter(e) muoter muoter(e)/meter
Gen. vater/vater(e)s vater(e)/veter(e) muoter muoter(e)/meter
Dat. vater/vater(e) vater(e)n/veter(e)n muoter muoter(e)/meter
Akk. vater vater(e)/veter(e) muoter muoter(e)/meter
c) Die Wurzelnomina man und naht [ 179,2 u. 181]
Von den sog. Wurzelnomina (d. h. endungslosen Substantiven) ist im Maskulinum nur
mhd. man erhalten, das neben unflektierten zuweilen auch flektierte Formen im Sg.
aufweist (unten in runden Klammern angegeben). Nur im Gen. Pl. und Dat. Pl. ist die e-
bzw. en-Endung nach dem Muster von tac hufiger als die (in eckigen Klammern
angegebenen) endungslosen Formen:
Sg. Pl.
Nom. man man (manne)
Gen. man (mannes) manne [man]
Dat. man (manne) mannen [man]
Akk. man man (manne)
Die Formen des femininen Wurzelnomens naht werden mhd. regelmig nach dem
Muster gast (i-Deklination) gebildet und weisen somit im Plural Umlautung auf; es
finden sich aber noch vereinzelt unumgelautete Formen. Vor allem frhmhd. treten im
Gen. Sg., im Dat. Sg., im Nom. Pl. und Akk. Pl. sowohl umgelautete als auch nicht
umgelautete sowie daneben endungslose Formen auf:
Sg. Pl.
Nom. naht naht; nhte; nahte
Gen. naht; nhte; nahte nahte, nhte
Dat. naht; nhte; nahte nahte, nhte
Akk. naht naht; nhte; nahte
d) Genus- und Flexionsklassenwechsel
Eine Anzahl von Substantiven besitzt im Mhd. ein anderes Genus und/oder gehrt einer
anderen Flexionsklasse an als im Nhd. Zudem knnen im Mhd. durchaus zwei
grammatische Geschlechter und zwei Flexionsarten fr ein Wort belegt sein. Dieses
Nebeneinander von Mask./Fem., Mask./Neutr. bzw. starker/schwacher Flexion ist in
den Wrterbchern ausgewiesen.
Bsp.
- zwei Genera:
der/diu gewalt (die Gewalt);
der/daz liut (das Volk);
der/diu angest (die Angst);
der/daz lop (das Lob).
- starke neben schwacher Flexion:
der smerz/der smerze;
des gebres/des gebren (des Bauern).
85
VI. Formenlehre 3:
Flexion und Gebrauch der mhd. Adjektive [ 196-204]
VI.0 Allgemeines
Im Unterschied zu den Substantiven, die (von einigen Ausnahmen abgesehen) in der
Regel entweder stark oder schwach flektieren und einer bestimmten Flexionsklasse
angehren, knnen Adjektive grundstzlich sowohl schwach als auch stark flektiert
werden. Whrend der Gebrauch von starker bzw. schwacher Adjektivflexion im Nhd.
recht eindeutig geregelt ist, unterliegt er im Mhd. noch keiner Regelmigkeit. Im Nhd.
ist es fr die attributive Verwendung von Adjektiven blich, bei bestimmtem Substantiv
(durch den bestimmten Artikel z. B.) das Adjektiv schwach zu flektieren: der groe
Hund, das kleine Mdchen, die bunten Farben. Stark flektieren im Nhd. Adjektive,
die attributiv zu einem Substantiv gebraucht werden, wenn sog. Nullartikel vorliegt (also
kein Artikel, Pronomen oder Numerale verwendet wird): kleines Mdchen, bunte
Farben. Tritt dagegen der unbestimmte Artikel (oder dessen Negation kein) hinzu,
zeigt das Nhd. eine gemischte Deklination: Im Nominativ wird hier stark flektiert (ein
groer Hund, ein kleines Mdchen), in den anderen Kasus aber schwach; z. B. Dat.
Sg. bei Neutra: (Ich gebe) einem kleinen Mdchen (ein Bonbon) oder Akk. Pl. bei
Maskulina: (Ich will) keine groen Hunde, aber: (Ich mag) groe Hunde (nicht).
Eine derart geregelte Distribution zeigt das Mhd. noch nicht: Prinzipiell kann ein
Adjektiv im Mhd. in allen Verwendungsweisen stark oder schwach flektiert auftreten.
Einige Tendenzen fr den Gebrauch lassen sich jedoch angeben (dazu unten, VI.2).
VI.1 Paradigmen der schwachen und starken Adjektivflexion im Mhd.
a) Die schwache Flexion
Die schwache Flexion der Adjektive entspricht, was die Endungen angeht, derjenigen
der schwach flektierten Substantive. In allen Kasus auer dem Nom. Sg. aller Genera
und dem Akk. Sg. der Neutra lautet die Endung also -en! Die mhd. schwache
Adjektivflexion unterscheidet sich vom Nhd. folglich nur dadurch, da wie bei der
schwachen Substantivflexion auch der Akk. Sg. Fem. auf -en endet (in der folgenden
bersicht fettgedruckt).
Bsp. guot
Maskulina Feminina Neutra
Sg. Nom. guote guote guote
Gen./Dat. guoten guoten guoten
Akk. guoten guoten guote
Pl. alle Kasus guoten guoten guoten
Zum Vergleich die nhd. Formen bei der Verwendung mit bestimmtem Artikel:
Sg. Nom. der gute die gute das gute
Gen. des guten der guten des guten
Dat. dem guten der guten dem guten
Akk. den guten die gute(!) das gute
Pl. alle Kasus Art.+guten Art.+guten Art.+guten
VI. Formenlehre 3: Flexion und Gebrauch der mhd. Adjektive 86
b) Die starke Flexion
Die starke Flexion der mhd. Adjektive entspricht nur zum Teil der starken
Substantivflexion. Die meisten Endungen stimmen dagegen mit der Flexion der
Pronomina, insbesondere mit der des bestimmten Artikels berein. Zum Vergleich daher
an dieser Stelle zunchst eine Tabelle mit den Formen des bestimmten Artikels im Mhd.:
Der bestimmte Artikel im Mhd.
Maskulinum Femininum Neutrum
Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl.
Nom. der die diu die daz diu
Gen. des der der der des der
Dat. dem(e) den der den dem(e) den
Akk. den die die die daz diu
Starke Adjektivflexion im Mhd.; Bsp.: guot:
Maskulina Feminina Neutra
Sg. Nom. guoter/guot guotiu/guot guotez/guot
Gen. guotes guoter guotes
Dat. guotem(e) guoter guotem(e)
Akk. guoten guote guotez/guot
Pl. Nom. guote guote guotiu
Gen. guoter guoter guoter
Dat. guoten guoten guoten
Akk. guote guote guotiu
Zu beachten ist, da im Nom. Sg. aller drei Genera neben guoter (Mask.), guotiu (Fem.) und
goutez (Neutr.) und im Akk. Sg. der Neutra neben guotez di e e ndungs l os e For m
guot auftritt. (Diese erscheint jeweils in den Wrterbchern als Lemma [Stichwort, unter
dem man nachschlagen mu].) Sie ist in der obigen Tabelle jeweils unterstrichen.
Bei einer kleineren Gruppe von Adjektiven besitzt die endungslose Form grundstzlich ein -e
im Auslaut: z. B. schAne, st#te, milte.
Abweichungen der Endungen vom Nhd. sind in der obigen Tabelle durch Fettdruck hervorgehoben.
Zu beachten sind: die nhd. abgeschwchte <iu>(=/:/)-Endung im Nom./Akk. Pl. der Neutra und im
Nom. Sg. der Feminina sowie im Nom./Akk. Sg. der Neutra das mhd. <z> gegenber nhd. <s> in der
Endung.
Die Genitivendung im Sg. bei Maskulina und Neutra weicht vom Nhd. ab!
Im Dat. Sg. kommen mhd. zudem Formen mit zustzlichem -e vor, oben in Klammern gesetzt.
Gelegentlich finden sich Formen mit zustzlichem -e auch im Gen. Pl. aller Genera und vereinzelt
auch im Gen. Sg. der Feminina.
Zum Vergleich die Formen im nhd. Gebrauch bei Nullartikel (starke Flexion):
Maskulina Feminina Neutra
Sg. Nom. guter gute gutes
Gen. guten guter guten
Dat. gutem guter gutem
Akk. guten gute gutes
Pl. Nom. gute gute gute
Gen. guter guter guter
Dat. guten guten guten
Akk. gute gute gute
VI. Formenlehre 3: Flexion und Gebrauch der mhd. Adjektive 87
VI.2 Zum Adjektivgebrauch im Mhd.
Die endungslosen Adjektive sowie die brigen stark und schwach flektierten Formen
sind mhd. in verschiedenen syntaktischen Funktionen austauschbar. Eine Regelung
ihres Gebrauchs ist im Mhd. weniger streng als im Nhd. Ein Adjektiv kann im
Gegensatz zum Nhd. auch dem Substantiv, dem es zugeordnet ist, nachgestellt werden.
So sind z. B. fr nhd. der gute Wein prinzipiell folgende Varianten denkbar:
der guote wn (wie nhd. sw. flektiertes Adj.)
der wn guote (sw. flektiertes Adj., aber nachgestellt)
der guot wn (endungslose Form des Adjektivs)
der wn guot (endungslose Form des Adjektivs, nachgestellt)
der guoter wn (stark flektiertes Adj.)
der wn guoter (stark flektiertes Adj., nachgestellt)
Ein gewisse Tendenz, wann schwache oder starke Flexion des Adjektivs eintritt bzw.
wann flektierte und wann endunglose Formen vorherrschen, kann jedoch ausgemacht
werden:
a) Adjektive in attributiver Verwendung knnen vor und nach einem Substantiv
stehen, und zwar sowohl endungslos als auch in flektierter Form. Nach dem Substantiv
berwiegt die endungslose (nominale) Form. Sie kann fr alle Kasus im Sg. und Pl.
eintreten. In diesem Sinn stellen etwa nachfolgende Beispiele Abweichungen vom Nhd.
dar:
der winter kalt der kalte Winter
durch diu kneginne guot der guten Knigin wegen
von einem adamante hart von einem harten Edelstein
an manegen vriden guot mit vielen guten Freuden
Daneben gibt es auch Belege fr stark flektierte Adjektive nach dem Substantiv:
der man listiger der kluge Mann
der knappe guoter der gute Knappe/Jngling
von helden lobeb#ren von ruhmvollen Helden
ein wolken so trebez eine derart dunkle Wolke
Vor dem Substantiv knnen ebenfalls flektierte als auch endlungslose Formen er-
scheinen:
grzer jmer groer Jammer/groes Leid
grz jmer groer Jammer/groes Leid
Wenn im Nhd. mehrere attributive Wrter einem Substantiv zugeordnet sind, trgt das
erste Wort (meist Artikel oder Pronomen) als Kasus- und Numerus-Determinativ die
starke Flexion. Diese Regel gilt fr das Mhd. ebenfalls noch nicht grundstzlich. Nach
dem bestimmten Artikel kommen auer schwach flektierten auch stark flektierte
Formen vor, ebenso nach Demonstrativpronomen; Bsp.:
der listiger man der kluge Mann
des ganzes apfels halben teil die Hlfte des ganzen Apfels
vil der varender diete eine (groe) Menge des fahrenden Volkes
dirre (=dieser) vriuntliche strt dieser freundschaftliche Kampf
VI. Formenlehre 3: Flexion und Gebrauch der mhd. Adjektive 88
Was die Wortstellung von Substantiv und Adjektiv angeht, ist sie im Mhd., wie die Bsp.
zeigen, recht frei. Es kann dabei auch zu einem umschlieenden Wortstellungstypus
kommen. D. h.: Wird einem Substantiv mehr als ein Adjektiv zugeordnet, kann eines
(flektiert oder endungslos) vor, ein weiteres (flektiert oder endungslos) nach dem
Substantiv stehen; Bsp.: der listiger man guot; der edel knappe guoter.
b) Adjektive in prdikativer Verwendung erscheinen berwiegend in endungsloser
Form: mn lp ist arm, daz herze rch. Hier ist also die nominale Adjektivflexion
vorherrschend, aber noch nicht wie im Nhd. ausschlielich, wie die folgenden Bsp.
zeigen:
ndes was er voller er war von Ha erfllt
sn jmer wart s vester sein Leid wurde so gro
Auch in prdikativer Verbindung mit anderen Verben als sn, wesen oder werden
erscheint das Adjektiv mhd. im Nominativ sowohl flektiert als auch endungslos:
der nu vil sre wunder(!) lt der nun schwer verwundet liegt / als
schwer Verwundeter daliegt
sie lgen sre wunt sie lagen schwer verwundet da
VI.3 Adjektivkomparation (Steigerung) im Mhd. [ 203f.]
Die Steigerungsstufen des Adjektivs sind ausgehend vom Nhd. in aller Regel leicht
zu erkennen; vgl.
Posititiv (Grundstufe) Komparativ Superlativ
mhd. lanc lenger(e) lengest(e)
nhd. lang lnger (am) lngste(n)
Neben der Markierung der Auslautverhrtung unterscheiden sich die Formen lediglich
durch den Ausfall (Synkope) des mhd. eingeschobenen e im Superlativ. Das im Beispiel
jeweils eingeklammerte e am Ende dieser Formen wird auch schon mhd. hufig
apokopiert; Bsp.: wizzer danne sn (weier als Schnee).
Bisweilen finden sich mhd. umgelautete neben unumgelauteten Formen, z. B.:
hch hAher(e) hAhest(e) neben hch hher(e) hhest(e).
Einige mhd. Adjektive bilden den Komparativ und Superlativ suppletiv aus einem
anderen Wortstamm als den Positiv ( unr e ge l m i ge St e i ge r ung) . Hier die
wichtigsten:
Posititiv Komparativ Superlativ
guot (gut) bezzer bezzest/beste
bel (bse, schlecht) wirser wirsest/wir(se)ste
ltzel (klein; wenig) minner/minre minnest/min(ne)ste
michel (gro; viel) mre meiste
VI. Formenlehre 3: Flexion und Gebrauch der mhd. Adjektive
89
VI.4 Zu den mhd. Adverbien [ 205-208]
Von Adjektiven abgeleitete Adverbien werden mhd. grundstzlich durch das Anhngen
eines Endungs-e gebildet; vgl.
Adj. lanc Adv. lange
Adj. hch Adv. hhe
Bei Adjektiven, die bereits ein Endungs-e besitzen, lauten Adjektiv und Adverb gleich;
z. B. Adj. kleine Adv. kleine.
Manche dieser Adverbien mit e-Endung, die von einem Adjektiv mit umgelautetem
Stammsilbenvokal abgeleitet sind, besitzen gegenber dem Adjektiv keinen Umlaut; vgl.
Adj. feste Adv. faste
Adj. schAne Adv. schne
Dies gilt sprachhistorisch jedoch nur fr zweisilbige Adjektive und Adverbien. Zudem
tritt bereits mhd. durch Analogieausgleich auch bei zweisilbigen Adverbien mitunter der
Umlaut des Adjektivs auf; z. B. Adj. st#te Adv. st#te.
Eine Reihe von Adverbien ist aus sog. erstarrten Kasus entstanden und weist deshalb
unregelmige Endungen auf, z. B. ghes (schnell), michels (um vieles) oder nhen
(nah) und unlangen (nicht lange, zeitl.) neben nhe und unlange.
Zur Verstrkung von adjektivischen Ausdrcken werden einige Adverbien im Mhd.
hufig benutzt und sind dann zumeist wie folgt zu bersetzen:
mhd. harte sehr
mhd. dicke oft
mhd. gar ganz und gar; vollstndig
mhd. rehte richtig
mhd. vaste sehr
mhd. vil, wol, vol gut; sehr
Gesteigert werden die Adverbien in aller Regel (wie im Nhd.) ebenso wie die Adjektive
in attributiver Verwendung (s. o. VI.3).
Bei unregelmiger Steigerung unterscheidet sich jedoch der Komparativ: guot baz;
bel wirs; ltzel min/minre; michel m/mr(e).
Einige Beispiele hierzu:
ich mac mich des baz versinnen (Ich verstehe mich besser darauf/wei es besser)
daz will ich dir bescheiden baz (Das will ich dir besser = genau[er] mitteilen /
erlutern / erklren)
baz danne er (besser als er)
daz mac dir minre vervn (das wird dir [noch] weniger ntzen / zum Ziel
verhelfen)
deste wirs (umso schlimmer/schlechter)
des will ich mich vliezen deste m (ich will mich umso mehr darum bemhen)
90
VII. Das Wichtigste zu den mhd. Pronomina
VII.1 Personalpronomen der 1., 2. und 3. Person [ 213f. /M 40f.]
Die Personalpronomen der 1. und 2. Person werden im Gegensatz zum sog.
geschlechtlichen Pronomen der 3. Person nicht nach Genera unterschieden.
1. Person 2. Person
Singular Plural Singular Plural
Nom. ich wir d/du ir
Gen. mn unser dn iuwer
Dat. mir uns dir iu
Akk. mich uns (unsich) dich iuch
3.Person
Maskulinum Femininum Neutrum
Singular Plural Singular Plural Singular Plural
Nom. er sie* siu/sie* sie* ez siu/sie*
Gen. sn (es) ir(e) ir(e) ir(e) es/sn ir(e)
Dat. im(e) in ir(e) in im(e) in
Akk. in (inen) sie* sie (siu)* sie* ez siu/sie*
* Bei siu bzw. sie kommt es nicht selten zu den verkrzten Formen s, si!
Als Abweichung vom Nhd. ist besonders der Gen. Sg. Mask. sn (seltener: es) und
Gen. Sg. Neutr. es/sn sowie der Dativ Pl. (in = ihnen; hier besteht Verwechslungs-
gefahr mit dem Akk. Sg. Mask.!) zu vermerken.
Der folgende Textausschnitt aus dem mhd. Artusroman >Iwein< Hartmanns von Aue berichtet
vom verwundeten Begleiter des Artusritters Iwein, einem ihm treu ergebenen Lwen. Er macht
deutlich, da Pronomen in mhd. Texten nicht selten unmittelbar hintereinander auf verschiedene
Figuren bzw. Personen bezogen werden, auch in mehrfachem Wechsel und ber Satzgrenzen
hinweg:
n was der leu s starke wunt / daz er michel arbeit / f dem uege mit ime leit./ d er niht mre mohte
gn, / d muoser von dem rosse stn, / und las zesamne mit der hant / mies und swaz er lindes fand:
/ daz legter allez under in / in snen schilt und huop in hin / f das ors vr sich (V. 5564-5574).
Dadurch wird es bisweilen schwierig, zu verfolgen, von wem gerade die Rede ist. Der Bezug
mu also im Mittelhochdeutschen hufig aus dem Sinnzusammenhang erschlossen werden:
n was der leu s starke wunt daz er [Iwein] michel arbeit f dem uege mit ime [dem Lwen] leit. d er
[der Lwe] niht mre mohte gn, d muoser [Iwein] von dem rosse stn, und las zesamne mit der hant
mies und swaz er [Iwein] lindes fand: daz legter [Iwein] allez under in [den Lwen] in snen [Iweins]
schilt und huop in [den Lwen] hin f das ors vr sich.
Eine sinnvolle bersetzung dieser Passage, die die Bezge eindeutig macht, wre zum Beispiel:
Nun war der Lwe so sehr verwundet, da Iwein mit ihm unterwegs viele Mhen hatte. Weil das Tier
nicht zu gehen vermochte, musste der Ritter vom Pferd absitzen und Moos, und was er sonst noch
Weiches fand, sammeln. Das legte er unter den Lwen in seinen Schild, mit dem er das Tier / seinen
Begleiter vor sich auf das Pferd hob.
Iwein macht also eine Trage fr den Lwen aus seinem Schild und hebt ihn damit auf sein
Pferd, weil das Tier so schwer verletzt ist, da es nicht mehr gehen kann.
VII. Das Wichtigste zu den mhd. Pronomina 91
VII.2. Possessivpronomen [ 216 /M 42]
Die Possessivpronomen mhd. mn, dn, sn, unser, iuwer, ir zeigen ein bestimmtes
Zugehrigkeitsverhltnis an. Fr die 3. Pers. Sg. Fem. und fr die 3. Pers. Pl. in allen drei
Genera werden die Genitivformen des Personalpronomens (ir) benutzt. Die 3. Pers. Sg.
Mask. und Neutr. sind mit dem Genitiv des Reflexivpronomens (sn) gebildet:
1. Sg. mn 1. Pl. unser
2. Sg. dn 2. Pl. iuwer
3. Sg. sn/ir 3. Pl. ir
Die Form mhd. ir ist im klassischen Mhd. unflektiert, whrend alle anderen
Possessivpronomina normalerweise wie starke Adjektive flektiert werden. Abweichend
vom Nhd. werden die mhd. besitzanzeigenden Pronomina hufig mit dem bestimmten
Artikel verbunden. Sie knnen wie die mhd. Adjektive sowohl in starker als auch in
schwacher Flexionsform erscheinen, hufig stehen sie flexionslos nach dem Substantiv,
das mit bestimmtem Artikel verbunden ist, der bei der bersetzung ins Nhd.
weggelassen werden mu.
Beispiele:
der mner minne meiner Liebe
diu sniu keiserlichen bein seine kaiserlichen Glieder
des snen willen seines Willens
der herre mn mein Herr
Seltener gibt es im Mhd. auch die Verbindung mit dem unbestimmten Artikel, der dann
in der Regel mit zu bersetzen ist: Bsp. ein mn wange (meine eine Wange).
Possessivpronomina knnen in Verbindung mit Verbalabstrakta wie haz, vorhte, helfe
oder liebe sowohl den Ausgangspunkt als auch das Ziel dieser Empfindungen
bezeichnen, ganz hnlich wie heute mit Gottesliebe die Liebe Gottes oder die Liebe zu
Gott bezeichnet werden kann:
mn vorhte [meine Furcht] wart gesenftet aber so ist dn vorhte [die Furcht vor dir]
uber siu chomen
VII. 3. Interrogativa (Fragepronomen) [ 223/M 49]
Maskulinum/Femininum Neutrum
Nom. wer waz
Gen. wes wes
Dat. wem(e) wem(e)
Akk. wen waz
Im Singular sind die maskulinen Formen mit den femininen identisch, das Neutrum hat
dagegen im Nominativ und Akkusativ abweichende Formen. Pluralformen fehlen.
Zu beachten ist, da der Genitiv wes auch eine Ursache bezeichnen kann: weshalb, z. B.
wes seht ir mich an? Weshalb seht Ihr mich an?. Der Akkusativ des Neutrums waz
kann die modale Bedeutung inwiefern?, was? annehmen.
VII. Das Wichtigste zu den mhd. Pronomina 92
Sonderfunktion und Bedeutung von mhd. swer/swaz
Das systematisch wohl zu den Indefinitpronomen zu zhlende swer/swaz dient im Mhd.
hufig zur Konstruktion relativischer Aussagen, wird also als verallgemeinerndes
Relativum (vgl. Mhd. Gr. 224,3) verwendet: z. B. swer welle, (der) gloube daz.
Seine Bedeutung ist nhd. zumeist mit jeder der, wer auch immer (swer) bzw. alles
was, was auch immer (swaz) wiederzugeben. Daneben tritt sweder in der Bedeutung
von welcher von beiden auch immer, der von zweien, welcher und swelch in der
Bedeutung welcher auch immer, jeder der auf. Grundstzlich dient jedoch der
bestimmte Artikel als Relativpronomen (vgl. zu den Relativkonstruktionen im Mhd.
VIII.3.3).
Wortgeschichtliche Anmerkung:
Swer/swaz, sweder und swelch sind aus der Verbindung von wer/waz, weder und welch mit s ... s
entstanden. Ab dem 9. Jahrhundert wird das zweite s hufig weggelassen, whrend sich das erste
proklitisch mit dem Interrogativpronomen verbindet: mhd. swer aus ahd. s wer (s). Swer/swaz,
sweder und swelch verschwinden im Frhneuhochdeutschen.
VII.4 Reflexivpronomen [ 224 /M 50]
Mask./Neutr. Fem. Mask./Fem./Neutr.
Singular Singular Plural
Gen. sn ir ir(e)
Dat. im(e) ir(e) in
Akk. sich sich sich
Als Abweichung vom Nhd. ist hier der Dat. Sg. mhd. im/ir und der Dat. Pl. mhd. in =
nhd. sich hervorzuheben (unterstrichene Formen). Fr den reflexiven Dativ Singular
und Plural erscheint sich erst ab dem 16. Jahrhundert!
Beispiele:
mhd. er twuoc im die hende (er wusch sich die Hnde)
mhd. si suochten in nemen des guotes ein grz teil (sie versuchten, sich von dem
Besitz eine Menge anzueignen)
Dagegen im Akk.:
mhd. siu sah sich an (sie sah sich an)
VII. Das Wichtigste zu den mhd. Pronomina
93
VII.5. Zusammengesetztes Demonstrativpronomen [ 219 /M 46]
Nachdem das ursprngliche, einfache Demonstrativum der als bestimmter Artikel und
Relativpronomen Verwendung gefunden hatte, entwickelte sich das zusammengesetzte
Demonstrativpronomen nhd. dieser, mhd. dirre/diser, das im Grundsatz aus den
ursprnglichen einfachen Demonstrativa plus se-Suffix hervorging. Whrend frhahd.
noch Reste einer Flexion der Mittelsilbe auftreten, setzt sich schlielich auch bei diesem
Pronomen die Endflexion durch, die dann ber weite Strecken der Flexion des
geschlechtlichen Pronomens der dritten Person entspricht, jedoch zeitlich-lokal
betrchtliche Varianz aufweist.
Die gebruchlichsten Formen lauten:
Singular Plural
Mask. Fem. Neutr. Mask. Fem. Neutr.
Nom. dirre (diser) disiu ditz(e) dise dise disiu
Gen. dises dirre dises dirre dirre dirre
Dat. disem(e) dirre disem(e) disen disen disen
Akk. disen diese ditz(e) disen diese disiu
Zu beachten sind inbesondere die unterstrichenen Formen bzw. Endungen: 1. die Form dirre
(diser im Nom. Sg. Mask. ist teilweise, besonders sptmhd. auftretende Nebenform), die in
allen Fllen steht, in denen es im Nhd. dieser heit; 2. die iu-Endung im Nom. Sg. Fem. und
Nom. Pl./Akk. Pl. der Neutra (vgl. die Formen des bestimmten Artikels und die Endungen der
starken Adjektivflexion!) sowie die -tz(e)-Endung im Nom. und Akk. Sg. der Neutra.
94
VIII. Syntax (von DOMINIK BRCKNER)
VIII.1 Negation [ 436-441]
1. 1 Formen der Negation
Die Negation wird im Mittelhochdeutschen viel lockerer gehandhabt, als wir es vom in
diesem Punkt nahezu mathematisch geregelten Neuhochdeutschen kennen. Es gibt
wesentlich mehr Negationsadverbien und -partikel, diese knnen frei im Satz oder
proklitisch bzw. enklitisch mit anderen Wrtern verbunden auftreten, und Negationen
knnen im Satz gehuft auftreten. All diese Unterschiede machen das Verstndnis der
mhd. Negation zunchst etwas schwieriger.
1. 2 Hufung von Negationen
Der mhd. Hauptsatz wird in der Regel durch die heute nicht mehr gebruchliche
Negationspartikel ne/en verneint, die unmittelbar vor dem Verb in den Satz
eingeschaltet wird und oft auch in ihren ausschlielich proklitisch mit dem Verb
verbundenen bzw. enklitisch mit dem vorhergehenden Wort unmittelbar verbundenen
Varianten en- -n und n- auftritt.
proklitisch verbunden:
nu enwelle got das mge Gott nicht zulassen
ich enweiz ich wei nicht
enklitisch verbunden:
erne kumt er kommt nicht
Gerade bei enklitisch verbundener Negationspartikel kommen hufig Krzungen vor,
die diese beinahe unkenntlich machen. in zum Beispiel kann eine verkrzte Enklise von
ich en sein:
hrre, in (= ich en) mac Herr, ich kann nicht
hnlich: nn (= n ne), sn (= s ne), dn (= d ne).
Dazu tritt dann meist ein zustzliches niht,
erne kumt niht er kommt nicht
hrre, in (= ich en) mac niht Herr, ich kann nicht
ein Negationsadverb oder ein Pronomen. Solche verneinenden Adverbien sind:
nie niemals
niemer niemals
niender(t) nirgendwo, absolut nicht
niene absolut nicht
niener nirgendwo, absolut nicht
niergen(t) nirgendwo, absolut nicht
Die Pronomina lauten:
nehein/dehein kein
nieman kein
neweder/deweder keiner von beiden
VIII. Syntax 95
Das heit: Wenn mehrere verneinende Ausdrcke in einem Satz beieinander stehen,
werden diese nicht, wie im Neuhochdeutschen oder im Lateinischen mathematisch
gegeneinander aufgerechnet, vielmehr bleibt der Satz einfach verneint. Dies ist auch
heute in vielen Dialekten, aber auch z. B. in der franzsischen Standardsprache noch so
(il ne vient pas).
Also:
erne kumt niht bedeutet er kommt nicht und nicht, wie heute,
er kommt nicht nicht = er kommt
daz iu nieman niht entuot bedeutet: da euch niemand etwas tut
Sprachgeschichtliches zur Negation
niht war ursprnglich nur eine Verstrkung der alten Negationspartikel
ne/en. Ab dem 12. Jahrhundert bernimmt sie jedoch zunehmend die negierende
Funktion, whrend die tonschwache Partikel nach und nach verschwindet. Eine
analoge Erscheinung kann heute im Franzsischen beobachtet werden, wo die
alte Negationspartikel ne umgangssprachlich ohne weiteres weggelassen
werden kann: il vient pas. pas, das eigentlich Schritt bedeutet und
die Verneinung lediglich verstrkt, bernimmt langsam die Funktion der
Negationspartikel. hnlich wie im Frhneuhochdeutschen verlagert sich damit
die Negation im Satzgefge nach hinten:
ahd. ih ni weiz -> mhd. ih enweiz niht -> nhd. ich wei nicht
Die einfache Negationspartikel gengt bei den Modalverben mugen, kunnen, drfen,
suln, wellen, turren, wenn der abhngige Infinitiv ausgelassen ist, sowie bei ln, tuon,
ruochen, wnen und wizzen.
Also:
n enkrte ich gerne, ich enkan ich wrde jetzt gerne umkehren, aber ich kann
nicht
ichn weiz obe ich schne bin ich wei nicht, ob ich schn bin
1. 3 Negation durch ansonsten positiv gebrauchte Ausdrcke
In bestimmten Stzen knnen statt der negierenden Pronomina bzw. Adverbien niht,
nieman, nie, niender und niemer auch ihre eigentlich antonymischen Pendants iht
(etwas, irgendetwas), ieman, ie, iender und iemer stehen. Dies gilt fr daz-Stze und
fr Stze, die vom Verb wnen abhngig sind. Der anhngige daz-Satz steht dabei meist
im Konjunktiv:
darumbe ht er sich genant, er hat seinen Namen deswegen genannt,
daz er ne ln iht belibe damit er nicht ohne Lohn bleibe
ich wne man d iemen ne weinen vant Ich glaube, man fand dort niemanden, der
nicht weinte
Ganz hnlich knnen mhd. dehein und kein irgendein oder kein bedeuten:
dehein wp was ir gelch Keine Frau glich ihr
wre er mir keine wle b, er lieze ez Wre er eine Weile bei mir, so unterliee
er es
Diese Erscheinung bleibt weitgehend auf abhngige Stze beschrnkt. In selbstndigen
Stzen tritt sie nur uerst selten auf.
VIII. Syntax 96
Sie ist im brigen nicht so ungewhnlich, wie man zunchst denken mag. Man denke z.
B. an Wrter wie Unwetter, Unfall oder unheimlich, mit denen ja nicht ihr
Gegenteil verneint wird.
1.4 Negation durch bildliche Ausdrcke
Ebenso mglich ist eine (zustzliche) Verneinung durch ein bildhaft gebrauchtes
Substantiv im Akkusativ (vgl. nhd.: das interessiert mich nicht die Bohne), das etwas
sehr Kleines oder Minderwertiges bezeichnet. Mglich sind hier: bast, ber, blat, bne, ei,
hr, str oder wint.
daz allez ist niht eine bne wert All das ist berhaupt nichts wert
Hier mu Vorsicht beim bersetzen walten: Wer an dieser Stelle Phraseme wie keinen
Schu Pulver wert sein oder keinen Penny wert sein verwendet, produziert Science
Fiction!
1. 5 Negation durch stilistische Mittel (Litotes)
hnlich knnen auch ltzel, eigentlich wenig, klein, wnec, eigentlich wenig, klein,
gering, kleine, eigentlich klein, gering, schwach, fein und selten, eigentlich selten,
kaum zur Verneinung (berhaupt nicht/berhaupt nichts, niemals) verwendet
werden (Litotes).
ltzel ieman berhaupt keiner
Dies kann mit Ausdrcken wie vil, harte, dicke (sehr) noch verstrkt werden.
1.6 Syntaktische Aspekte der Negation - zur Negation im abhngigen Satz
1
1. In mit daz eingeleiteten Nebenstzen, die von Verben mit prohibitiver (verbietender)
Bedeutung oder von Verben, mit denen in anderer Weise eine Verneinung zum
Ausdruck gebracht wird, abhngig sind (z. B. verbieten, verln, widerstreben, bewarn
etc.), kann eine Negation stehen, die im Nhd. als pleonastisch betrachtet wrde und
damit berflssig wre. Sie wird in solchen Fllen nicht bersetzt:
ih verbot iu, daz ir niht sprechen soldet ich verbot euch zu sprechen
2. hnlich erscheint in konjunktivischen, sogenannten uneingeleiteten Nebenstzen (d.
h. in Nebenstzen, die ohne Subjunktion angeschlossen werden) in den Fllen auch dann
eine Negationspartikel, wenn der Nebensatz eine positive Aussage enthlt, wenn der
bergeordnete Satz formal (d. h. durch einen negierenden Ausdruck wie z. B. niht und
nicht blo semantisch) negiert ist. Diese ist nicht zu bersetzen:
Parzivl des niht vergaz Parzival verga nicht,
ern holte snes brouder swert das Schwert seines Bruders zu holen
1
Zu abhngigen Stzen vgl. Kapitel VIII. 3, Parataxe und Hypotaxe.
VIII. Syntax
97
3. In konjunktivischen, uneingeleiteten Nebenstzen mit exzipierender
2
2
Zu diesem Nebensatztyp vgl. Kapitel 3 5.5.
(d. h.
ausnehmender) Bedeutung erscheint ne/en, obwohl der Satz eine positive Aussage
darstellt:
den lp wil ih verliesen, Ich will sterben,
sine werde mn wp es sei denn, sie werde meine Frau/
Wenn sie nicht meine Frau wird,
will ich nicht mehr leben
Das Adverb danne/dan kann die Negationspartikel ergnzen oder gar ersetzen:
wir sn vil ungescheiden, wir werden unzertrennlich bleiben,
ez entuo dan der tt es sei denn, es geschhe durch den Tod
des st ir iemer ungenesen Davon werdet Ihr nie geheilt werden,
got welle dan der arzat wesen wenn nicht Gott selbst der Arzt sein will
Die Negation kann im exzipierenden Nebensatz ganz fehlen, wenn der bergeordnete
Satz negiert ist:
niemen kan erwenden daz, Niemand kann das abwenden,
ez tuo ein edeliu frouwe es sei denn, da eine edle Dame es tue/
eleganter: Niemand auer einer edlen
Dame kann das abwenden.
Solche exzipierenden Nebenstze werden, wie hier auch, am besten mit es sei denn
oder wenn nicht bersetzt.
4. Auch bei einer Hypothese im bergeordneten Satz ist ne/en in uneingeleiteten
konjunktivischen Nebenstzen nicht zu bersetzen:
wirde ih ein rehte vrumer man, wre ich ein hochangesehener Mann,
in gediene wol ir minne wrde ich ihre Liebe sicher verdienen
5. Der durch ne/en verneinte konjunktivische Nebensatz kann auch das im
bergeordneten Satz (oft mit s oder solh) Gesagte erlutern. Hier wird am besten mit
da nicht, ohne da oder einem Relativum + nicht bersetzt:
ih wne nieman in der werlde lebe, ich glaube, da niemand auf dieser Welt
lebt,
ern habe ein leit der nicht seine Sorgen hat
zu kmere enkunde ouch niht gesn, in der Kammer konnte nichts geschehen,
Brangne enmese ez wizzen von dem Brangne nichts gewut htte/
in der Kammer konnte nichts geschehen,
ohne da Brangne davon gewut htte
VIII. Syntax 98
VIII.2 Tempus [ 303 - 315]
Im Mittelhochdeutschen existieren nur zwei einfache (d. h. nicht-zusammengesetzte)
Tempora: das Prsens und das Prteritum (vgl. hierzu auch oben, IV.1.c). Dies bedeutet
jedoch nicht, da im Mittelalter etwa ber Zuknftiges oder Vorvergangenes nicht
gesprochen werden konnte. hnlich wie heute konnte sehr wohl z. B. mit prsentischen
Formen Futurisches ausgedrckt werden (ich komme, sobald es dunkel wird).
Probleme knnen beim bersetzen jedoch dann entstehen, wenn zwei gleiche Formen
zusammentreffen, die jedoch unterschiedliche Zeitstufen ausdrcken:
d disiu rede was getn [Prteritum], Als diese Dinge gesagt worden
waren [Plusquamperfekt],
d sprach [Prteritum] aber der guote man (da) sprach [Prteritum] der edle
Mann
2. 1 Funktionen des Prsens:
- Ausdruck der Gegenwart (wie nhd.)
- Ausdruck keiner bestimmten Zeitstufe (atemporales Prsens) (wie nhd.)
- Vergangenheit (praesens historicum, das, im Wechsel mit dem Prteritum,
Vergangenes vergegenwrtigt, sehr selten)
- Ausdruck zuknftigen Geschehens (z. T. durch Adverbien wie morgen oder noch
verdeutlicht) (wie nhd.)
2. 2 Funktionen des Prteritums:
Da im Mittelhochdeutschen die Notwendigkeit der Staffelung vergangenen Geschehens
offenbar nicht so sehr gegeben war, ist bei der bersetzung sehr genau auf das zeitliche
Verhltnis der geschilderten Ereignisse zu achten. Die Funktionen des Prteritums sind
demnach:
- Ausdruck eines vergangenen Geschehens ohne Bercksichtigung einer
eventuellen Beziehung zur Gegenwart (wie nhd.)
- Ausdruck eines vergangenen Geschehens unter Bezugnahme auf seine
Auswirkungen auf die Gegenwart (vgl. nhd. Perfekt):
ichn kom nie her durch iuwer leit ich bin nicht hierher gekommen, um
Euch Leid zuzufgen
- Ausdruck eines Geschehens, das zeitlich noch vor einem ebenfalls bereits
vergangenen Geschehen angesiedelt ist (vgl. nhd. Plusquamperfekt):
d disiu rede was getn, Als diese Dinge gesagt worden waren,
d sprach aber der guote man (da) sprach der edle Mann
- Ausdruck einer allgemeinen Erfahrung in sentenzhafter Form (gnomisches
Prteritum)
wol im der ie nch stten friden ranc Wohl dem, der immer nach
stabilem Glck strebt(e)
- wenn das Verb im Nebensatz im Konjunktiv Prteritum steht, kann es futurische
Bedeutung haben, wenn der bergeordnete Satz prterital ist:
er weste wol daz Kei in niemer er wute genau, da Keie ihn niemals
gelieze vr vor spotte mit seinem Spott verschonen wrde
VIII. Syntax 99
Neben diesen einfachen Tempora entstehen die zusammengesetzten Tempora Perfekt,
Plusquamperfekt und Futur. Sie hneln in Form und Bedeutung weitgehend den
entsprechenden nhd. Tempora. Lediglich das mhd. Futur ist strker vom nhd. Futur
unterschieden:
2. 3 Die Futurumschreibungen des Mittelhochdeutschen entstehen aus Kenn-
zeichnungen fr Modalitt mit Hilfe der Verben suln, wellen und mezen + Infinitiv,
dazu tritt das heute ausschlielich gebruchliche werden + Infinitiv. Dabei ist die modale
Komponente lange Zeit noch sehr stark, und die temporale Bedeutung tritt erst in
frhneuhochdeutscher Zeit in den Vordergrund. Der bergang zwischen modaler und
futurischer Verwendung ergibt sich aus der Bedeutung dieser Verben: Wenn ich z. B.
etwas soll, dann liegt dessen Erledigung in der Zukunft (vgl. hierzu auch oben IV,4.1).
swaz der kneginne liebes geschiht, was auch immer der Knigin an Gutem
widerfhrt,
des sol ich ir wol gunnen bin ich verpflichtet, ihr zu gnnen [modal]/werde
ich ihr gnnen [futurisch]
Gerade werden wird noch sehr selten futurisch gebraucht. Meist wird mit werden +
Infinitiv der Beginn einer Handlung bzw. eines Zustandes bezeichnet (inchoative oder
ingressive Aktionsart, vgl. hierzu Kapitel VIII. 4., Aktionsarten).
VIII. 3 Parataxe und Hypotaxe
3. 1 Semantische und syntaktische Ordnungen
Das Verhltnis von Stzen und Satzteilen untereinander ist der zentrale Bereich der
Syntax. In allen Ordnungsrelationen gibt es zwei prinzipielle Mglichkeiten: Die
Ne be nor dnung und die Unt e r or dnung. In der Syntax spricht man daher von
Par at axe (Nebenordnung) und Hypot axe (Unterordnung). Die Wrter, mit
denen die entsprechenden Verbindungen hergestellt werden, heien entsprechend
Konj unkt i one n (nebenordnende Wrter wie und) und Subj unkt i one n
(unterordnende Wrter wie weil).
3
In einem Satz wie ich ging nach Hause und sah fern sind ich ging nach Hause und
(ich) sah fern einander nebengeordnet, keine der beiden Aussagen ist von der anderen
abhngig. Beide knnen alleine stehen, beide sind Hauptstze. In ich ging nach Hause,
weil ich fernsehen wollte ist ich ging nach Hause von weil ich fernsehen wollte
abhngig: Die zweite Aussage liefert die Begrndung fr die erste. Durch die Stellung
des finiten Verbs ist der erste als Haupt-, der zweite als Nebensatz gekennzeichnet: Er
knnte nicht alleine stehen. Auch in ich ging nach Hause, denn ich wollte fernsehen
wird ein kausales Verhltnis ausgedrckt, allerdings ist ich wollte fernsehen ebenfalls
ein Hauptsatz. Hier liegt also trotz eines kausalen Verhltnisses auf der semantischen
Ebene eine syntaktische Nebenordnung vor. Weil ist ein unterordnendes
(Subjunktion), denn ein nebenordnendes Bindewort (Konjunktion).
3
Leider wird diese Unterscheidung nicht in der gesamten wissenschaftlichen Literatur durchgehalten. Bisweilen
werden die Subjunktionen als unterordnende Konjunktionen bezeichnet.
VIII. Syntax 100
Wie wir gesehen haben, spielt fr den Status eines Satzes als Haupt- oder Nebensatz vor
allem die Stellung des finiten Verbs eine Rolle (Wobei hier bereits anzumerken ist, da
die Stellung des finiten Verbs im Mittelhochdeutschen bei weitem noch nicht festgelegt
ist). Im Hauptsatz steht es an zweiter (ich ging nach Hause), im Nebensatz an letzter
Stelle (weil ich fernsehen wollte). Dies bedeutet im Umkehrschlu, da Haupt- oder
Nebenstze nicht unbedingt durch Konjunktionen oder Subjunktionen eingeleitet
werden mssen, um als solche bestimmbar zu sein: Das Nebenordnungsverhltnis in
Nicht du bernimmst die Sache, er bernimmt sie ist ebensowenig durch eine
Konjunktion markiert wie das Unterordnungsverhltnis in Ich hoffe, du kommst
morgen. Gerade bei Konditional- und Konzessivstzen war die uneingeleitete Form
lange Zeit blich, und sie ist auch heute noch mglich: Kommt morgen deine Mutter,
bin ich nicht zuhause. Hier noch ein Beispiel aus dem Mhd. (zu uneingeleiteten
Nebenstzen vgl. 445 - 447):
gstu mir dne swester, s wil ich ez tuon Gibst du mir deine Schwester, so werde ich es tun.
oder: Wenn du mir deine Schwester gibst, dann
werde ich es tun.
Darber hinaus kann auch die indirekte Rede uneingeleitet sein:
er sprach im wre anderes ze muote Er sagte, er sei anders gesonnen
ich wn ez tagen welle ich glaube, da es Tag werden will
Sprachgeschichtliche Hintergrnde
Die Bedeutungen, oder besser, Funktionen unserer neuhochdeutschen
Konjunktionen und Subjunktionen sind scharf gegeneinander abgegrenzt und
beschreiben sehr feine Unterschiede. Kausale, finale und konditionale
Verhltnisse zum Beispiel sind einander sehr hnlich: Eine Bedingung, die
erfllt sein mu, damit ein Ereignis eintritt und ein Grund, der bewirkt,
da es eintritt, sind einander zumindest in ihren Wirkungen sehr nahe. Um
solche komplexen und feinen Unterschiede auch sprachlich ausdrcken zu
knnen, bedurfte es eines langen Zeitraums, innerhalb dessen die
entsprechenden semantischen, funktionalen und syntaktischen Formen nach und
nach entwickelt wurden. Wie man schon an den drei genannten Beispielen
(Kausalitt, Finalitt und Konditionalitt) sehen kann, spielte dabei die
Juristerei eine nicht zu unterschtzende Rolle, stehen doch kausale, finale
und konditionale Verhltnisse im Zentrum juristischen Fragens. Es hngt
aber nicht nur mit den Inhalten zusammen, die vermittelt wurden, sondern
mageblich auch mit der Medialitt der Kommunikation: Die Zunahme der
Schriftlichkeit machte bestimmte sprachliche Formen notwendig, die in
mndlicher Rede kaum eine Rolle spielten. Da durch die rumliche und
zeitliche Separierung der Kommunikationspartner vor allem das Nachfragen -
eines der wichtigsten Mittel der Verstndnissicherung - unmglich wird, mu
der Schreibende eventuelle Verstehensprobleme des Lesenden antizipieren und
diese, wenn mglich, von vornherein ausschlieen. Das dadurch notwendige
hhere Ma an Genauigkeit bewirkt eine Ausdifferenzierung sprachlicher
Mittel. Ein wichtiger Teil dieses Prozesses war die Ausdifferenzierung der
Bindewrter.
Im Mittelalter, einer Zeit, die ungleich weniger durch Schriftlichkeit
dominiert war als die Neuzeit, waren die Bindewrter funktional noch nicht
so eindeutig festgelegt, wie dies im Neuhochdeutschen der Fall ist. Mhd.
und z. B. konnte bedeuten: und, whrend, wenn, welches usw., und
damit an einer Stelle Konjunktion, an einer anderen dagegen Subjunktion
sein. Das hngt damit zusammen, da die Satzverbindung in den frheren
Sprachstufen eher parataktisch ausgerichtet war und sich erst im Laufe der
Entwicklung des Deutschen eine Tendenz zum Ausbau hypotaktischer
Mglichkeiten herausbildete. Der beschrnkte Vorrat an aus dem
Althochdeutschen ererbten Bindewrtern (und, da, daz, wan etc.) reichte
nicht aus, um die zahlreichen neuen Anforderungen an das System im Sinne
einer eins-zu-eins-Zuordnung von Ausdruck und Funktion zu erfllen. Neue
Formen wurden erst nach und nach gebildet, und man sieht einigen
VIII. Syntax 101
umstndlichen Bildungen der frhen Neuzeit wie trotzdem, soda oder
nichtsdestoweniger ihr geringes Alter noch deutlich an. Das Mittelalter
stellt in diesem Sprachwandelgeschehen eine bergangsphase dar, in der fr
die neuen Anforderungen noch nicht gengend Lsungen zur Verfgung standen
und die alten Wrter die neuen Funktionen zunchst mit bernehmen muten,
was zu einer teilweise bunten Polysemie dieser Ausdrcke fhrte. Vgl. z. B.
st, das hnlich wie engl. since sowohl temporale als auch kausale
Funktionen bernehmen konnte.
3. 2 Gebruchliche Konjunktionen und Subjunktionen
Die folgende Liste fhrt die gebruchlichsten mittelhochdeutschen Konjunktionen und
Subjunktionen mit ihren Bedeutungen bzw. Funktionen und einigen Ver-
wendungsbeispielen auf (vgl. 445-467):
1. als/als/s
Aus der Ver bi ndung von so mi t ver st r kendemal ent st anden.
1. vergleichend wie, so wie, auf diese Weise
du tuost als diu kint Du benimmst dich so wie die Kinder
grene als der kl grn wie der Klee
s man saget wie man sagt
2. modal: wie wenn, als ob
ir gebret, als st ir vr Ihr benehmt euch, als ob ihr froh wret/
ihr tut so, als ob ihr froh wret
3. temporal wenn
daz sol sn getn, Das wird erledigt werden,
als wir komen widere wenn wir wiederkommen
4. adversativ dagegen, jedoch
ich bin heiden, Ich bin Heide,
s ist diu vrouwe kristen die Herrin dagegen Christin
5. konsekutiv: in der Weise, da, derart
si strten als sre Sie kmpften derart heftig,
daz al die burc erscal da der Lrm die ganze Burg erfllte
2. alsam/sam
1. vergleichend-modal wie, genauso wie
doch tete sie sam diu wp tuont ,Doch sie handelte, wie die Frauen/wie
Frauen es zu tun pflegen
2. mit Konjunktiv: vergleichend-modal wie wenn, als ob
man sach die ringe rsen Man sah die Ringe der Panzerung fallen,
sam s wren von str als ob sie aus Stroh wren
VIII. Syntax 102
3. beide ... und
korrelativ: sowohl ... als auch ...
sie wrn beide guot unde ws sie waren sowohl tugendhaft als auch
weise
4. d
lokal: dort, da
d ich ie mit vorhten bat, Wo ich stets furchtsam bat,
d wil ich nu gebieten will ich jetzt befehlen
Seit dem 13. Jh. werden d und d zunehmend unterschiedslos gebraucht. (vgl. daher unten d!)
5. danne/denne/dan
vergleichend nach Komparativ: als
wzer danne sn Weier als Schnee
6. dar
lokal (relativisch): dorthin, dahin, wohin
in eine gruft, in eine Gruft,
dar selten kom des windes luft wohin selten frische Luft gelangt
7. die wle
1. temporal: so lange (wie), whrend
j hn ich des gesworn, Ich habe geschworen,
daz ich den hort iht zeige da ich keinem meiner Herren den Hort
die wle deheiner lebe zeige, solange einer von ihnen lebt
der mnen edelen herren
2. kausal: weil (aus als (al) die wle (daz))
die wle ez mich niht hilfet weil es mir nicht hilft
8. d
1. temporal, einen Hauptsatz einleitend: dann, danach
d giengen sie vrbaz Dann/danach gingen sie weiter
2. temporal, einen prteritalen Nebensatz einleitend: als, damals, als (oft mit
Plusquamperfekt zu bersetzen), teils adverbial
d disiu rede was getn, Als diese Dinge gesagt worden waren,
d sprach aber der guote man (da) sprach der edle Mann
Seit dem 13. Jh. werden d und d zunehmend unterschiedslos gebraucht.
VIII. Syntax 103
9. doch
konzessiv, einen meist konjunktivischen Nebensatz einleitend: obgleich
doch iz dir, herre, wre leit, Auch wenn es dir nicht pate,
er seite dir die wrheit er sagte dir die Wahrheit
10. durch daz
1. kausal: deshalb, weil
durch daz diu kneginne weil die Knigin
als gesprochen hat auf diese Weise gesprochen hat
Zu anderen Verbindungen mit daz (f daz) in finaler Bedeutung vgl. 463
2. final: damit, oft mit Infinitiv + zu zu bersetzen:
si heten sich der ruowe mit arbeit Ohne Unterbrechung bemhten sie sich,
bewegen,
durch daz si den gesten trsten wol den alle Gste aufs Angenehmste zu
muot unterhalten
Zu anderen Verbindungen mit daz (fur daz, umbe daz) in kausaler Bedeutung vgl. 462
11. / daz/ danne
temporal: ehe, bevor
daz d wre hie bevor du hier gewesen bist
12. joch
auch, noch, doch
der joch den willen hte der auch die Absicht hatte
13. n(n)/n(n) daz
1. temporal: als nun, wie nun, nachdem nun, als Einleitung von Hauptstzen: jetzt
n daz disiu rchiu kint Als nun diese edlen Kinder
sus beidenthalp verweisent sint, auf solche Weise beide verwaist waren,
der juncherre sich underwant sner swester nahm sich der junge Herr seiner Schwester
an.
2. kausal: da ... nun
n ir st s kene da ihr nun so tapfer seid
14. ob
1. konditional: wenn, falls
waz thte, ob ich rche wre Was ntzte es, wenn ich mchtig wre
2. konzessiv: wenn auch, wenngleich
ob ez halt frou Kamille wre, Und wenn es auch Frau Kamille wre,
ez wurde iedoch versuocht an sie der Kampf wrde dennoch gegen sie
gewagt
3. interrogativ: ob
er vragete, ob si kme Er fragte, ob sie kme
VIII. Syntax 104
15. sam (siehe 2., alsam/sam)
16. st/st daz
1. temporal: seit, seitdem, nachdem
st ich her komen bin, Seit ich hier angekommen bin
s hn ich arbeit gedolt habe ich Leid ertragen
2. kausal: da, weil
ich gib dir strt, st du des grs Ich lege mich mit dir an, weil du es nicht
anders willst
Vgl . engl . si nce, das ebenf al l s t empor al e und kausal e Funkt i onen
ber nehmen kann.
17. s
1. vergleichend-modal: wie
s man saget wie man so sagt
2. temporal oder temporal-konditional: (dann) wenn, als
daz bediutet sich alsus, Das heit,
daz wir in dem tode sweben da wir mit einem Bein im Grabe stehen,
s wir aller beste wnen leben wenn wir glauben, da es uns besonders
gut geht
S die bluomen z dem grase dringent, Wenn die Blumen aus dem Gras
same si lachen hervorwachsen, als ob sie lachen wrden.
3. relativisch: der/die/das, welcher/welche/welches
der besten vrhten ist er vol, Er hngt voll der besten Frchte,
s ie f erden vunden wart die man je auf der Erde gefunden hat
Di e r el at i vi sche Ver wendung i st i mMi t t el hochdeut schen noch neu.
18. swanne/swenne, wanne/wenne
(aus ahd. wanne)
1. temporal oder temporal-konditional: wenn, wann immer, immer wenn, sobald
swenne aber si mn ouge an siht, Immer wenn sie mir in die Augen sieht,
seht s tagt ez in dem herzen mn geht in mir die Sonne auf, versteht ihr?
2. interrogativ: wann, wann auch immer
ine weiz, wenn ich dich mr gesehe Ich wei nicht, wann ich dich
wiedersehen werde
19. swie
1. temporal: sowie, (dann) wenn
swie daz geschiht, s bin ich tt Wenn das passiert, sterbe ich
2. modal: wie, wie auch immer, ganz so wie
swie si sint s wil ich sn Genau so wie sie sind will ich sein
3. konzessiv: obgleich, wenn auch
swie er was ein arm man Obgleich er ein armer Mann war,
er was der tugende rche besa er doch viele innere Werte
VIII. Syntax
105
20. umbe daz
kausal: deshalb, weil, aus dem Grund
si engetet ez nie wan umbe daz Sie tte es nicht, wenn nicht deshalb,
daz si mich noch wil versuochen baz weil sie mich noch hrter prfen will
21. unde/und/unt
1. konjunktional: und
er gienc unde ein ander kam Er ging fort und ein anderer kam
2. temporal: wie, sobald, als
den marcgrven dhte grz ir kraft Dem Markgrafen erschien ihre Kraft gro,
und er si reht ersach als er sie deutlich sah
3. konditional, mit Spitzenstellung des Verbs: wenn
ich erkande in wol, und she ich in Ich wrde ihn sicher erkennen, wenn ich
ihn she
4. relativisch: der/die/das, welcher/welche/welches
des scheltens unde man ir tete die Schmach, die man ihr antat
22. unze/unz
temporal: bis
dem wec volgte ich eine wle Ich folgte dem Weg einige Zeit lang,
unz ich eine burc ersah bis ich eine Burg sah
23. wan/wan daz
1. einschrnkend: nur
d sterbent wan die veigen da sterben nur die Todgeweihten
2. exzipierend: auer, nur nicht
niemen bevinde daz wan er unt ich Niemand erfahre das, auer ihm und mir
3. einschrnkend adversativ: aber, sondern
er nam fr sich niht sorgen war Er sah fr sich keine Sorgen,
wan er lebete sondern lebte
4. einschrnkend konditional: nur da, wenn nicht (...gewesen wre)
ouch wre ich tt, Auch wre ich tot,
wan daz mir half der vriunt mn wenn mir mein Freund nicht geholfen
htte
wan die tarnkappe, Wre die Tarnkappe nicht gewesen,
sie wren tt d bestn wren sie alle dort umgekommen
5. vergleichend nach verneintem Komparativ oder nach ander: als
diu sprach niht m wan ouw Sie sagte nichts weiter als Oh weh!
der anders niht wan strten gert der nichts anderes als Streit will
VIII. Syntax 106
24. wande, want, wan, wanne, wenne
(aus ahd. (h)wanta)
1. kausal, meist einen Hauptsatz einleitend: denn, im Nebensatz da, weil
wan ich wil in gehorsam wesen denn ich will ihnen gehorsam sein
2. interrogativ: warum nicht
wan minnest du mich? Warum liebst du mich nicht?
3. Zur Einleitung eines Wunschsatzes
wan wre daz wr! Wre das doch wahr!
3. 3 Relativstze [ 450 - 455, 473]
3. 3. 1 Allgemeines
Relativstze knnen eingeleitet werden durch die Pronomina der, diu, daz, swer/swaz,
swelch und sweder, die relativen Adverbien d, (dort) wo/dorthin wo, dar, (dorthin)
wohin, dannen, (von) woher, sw, wo auch immer/berall wo, swar, wohin auch
immer, und swannen, woher auch immer sowie die Partikeln s und und (Vgl. hierzu
auch Kapitel VIII 3. 2., gebruchliche Konjunktionen und Subjunktionen. Zu weiteren
Mglichkeiten der Einleitung von Relativstzen s. auch 404).
in eine gruft, in eine Gruft,
dar selten kom des windes luft wohin selten frische Luft gelangt
Da relative Adverbien oft an Stellen erscheinen, wo eine Prposition vor dem Relativpronomen
stnde, tritt die Prposition oft als sog. starktoniges Adverb nach hinten - wenn sie berhaupt
vorkommt:
man huop in von der bre, Man hob ihn von der Trage,
d [rel. Adv.] er fe [Prp.] lac auf der er gelegen hatte
Sprachgeschichtliche Anmerkung
Die Partikeln s und und treten im Mhd. noch selten auf. s ist die jngere
der beiden, die Funktionen von und dagegen sind noch sehr breit gefchert.
s bleibt bis ins 19. Jahrhundert hinein neben den Pronomina die
dominierende Relativsatzeinleitung, und dagegen entwickelt sich in eine
andere Richtung weiter.
der besten vrhten ist er vol, Er hngt voll der besten Frchte,
s ie f erden vunden wart die man je auf der Erde gefunden hat
d b und ich geseit hn Dem, was ich gesagt habe,
mac wol ein iegelch man verstn ... kann sicherlich jeder entnehmen ...
VIII. Syntax 107
3. 3. 2 Einsparung doppelter Pronomina
In den Fllen, in denen das Bezugswort im bergeordneten Satz und das Relativum
dieselbe Gestalt haben, kann das Pronomen der/diu/daz nur einfach vorkommen. Es
bernimmt dann beide Funktionen, die des Bezugsworts und die des Relativums:
ich bin der ht gewarnet die frsten ich bin der, der die Frsten gewarnt hat
Zur Verdeutlichung: In einer anderen Handschrift lautet dieselbe Stelle:
ich pin iz der ht gewarnet die frsten
Dies geht sogar dann, wenn Bezugswort und Relativum in unterschiedlichen Kasus
stehen:
unz ich getuon des er mich bat bis ich das tue, worum er mich bat
Damit verwandt ist eine Erscheinung, die als A t t r a k t i o n bezeichnet wird:
Das Bezugswort kann den Kasus des Relativums annehmen, das Relativum kann aber
auch umgekehrt den Kasus des Bezugwortes annehmen.
den schilt den er vr bt, Der Schild, den er vor sich hielt
der wart schiere zeslagen wurde schnell zertrmmert
Zur Verdeutlichung: In einer anderen Handschrift lautet dieselbe Stelle:
der schilt den er vr bt, ...
Diese Erscheinung tritt auch im Neuhochdeutschen auf, hier stellt sie allerdings eine
Unachtsamkeit in mndlich-umgangssprachlicher Kommunikation dar.
3. 3. 3 Der Modus im Relativsatz [ 473]
Wie im Neuhochdeutschen ist der normale Modus des Relativsatzes der Indikativ. Der
Konjunktiv kann allerdings dann verwendet werden, wenn der Aussage des Relativsatzes
voluntativer oder potentialer Charakter verliehen werden soll.
4
3. 4 Der Aufbau komplexer Stze im Mittelhochdeutschen [ 488 - 490]
Der Aufbau komplexer Stze war von wesentlich grerer Freiheit geprgt als im
Neuhochdeutschen. Abhngige Stze konnten im Gegensatz zum Neuhochdeutschen an
verschiedenen Stellen des bergeordneten Satzes eingeschaltet werden: Relativstze
konnten dem bergeordneten Satz z. B. vorangestelt werden (abhngige Stze sind im
Folgenden unterstrichen):
an dem uns unser mge erworben habent hulde, Hetele der rche vergbe uns nimmer unser schulde
Der edle H., dessen Huld uns unser Verwandter erwarb, vergebe uns niemals unsere
Schuld
Sie knnen vor dem Satzglied stehen, das sie ergnzen:
des dnen guoten willen gibe ich dir ze lne, die ich tragen solte, mner muoter Grlinde krne
Zum Lohn fr deine guten Absichten gebe ich dir die Krone meiner Mutter Gerlinde,
die eigentlich ich tragen sollte.
4
Mehr zum Modus in abhngigen Stzen findet sich in Kapitel VIII. 3.5.
VIII. Syntax 108
Es kann auch der bergeordnete Satz so in den abhngigen Satz eingeschaltet werden,
da einige seiner Teile vor, andere nach dem bergeordneten Satz stehen:
ist iemen baz enpfangen, daz ist mir unbekant, dan die helede mre in Sigemundes lant
wrtlich: Ist irgendjemand besser empfangen worden - ich wei es nicht - als die
Helden...
besser: Ich wei nicht, ob irgendjemand besser empfangen worden ist als die Helden...
Dies gilt auch fr Konjunktionalstze:
nu heiz disen stein, ob du wellest got sn, werden ze brote
wrtlich: Nun befiehl diesem Stein, wenn du Gott zu sein behauptest, zu Brot zu
werden
besser: Nun befiehl diesem Stein, zu Brot zu werden, wenn du Gott zu sein behauptest
Kompliziert werden die Hypotaxen, wenn untergeordnete Stze unterschiedlicher
Ordnungsgrade zusammenkommen. Hier kann der untergeordnete Satz niedrigeren
Grades vor dem untergeordneten Satz hheren Grades stehen, der Hauptsatz kann
beiden voranstehen oder nachfolgen:
wa man in verhouwen solde, do er daz an mir ervant, wie moht ich des getrouwen daz er im trege haz?
Als er von mir in Erfahrung brachte, wo man ihn treffen msse, wie konnte ich
vermuten, da er ihn hate?
Manchmal ist ein vorangestellter Relativsatz Subjekt eines folgenden daz-Satzes und
wird in diesem durch ein Personalpronomen aufgenommen:
mn gedinge ist, der ich bin holt mit rehten triuwen, dazs ouch mir daz selbe s
Meine Hoffnung ist, da sie, der ich aufrichtig zugetan bin, mir ebenso zugetan sein
mge
Meistens sind die Satzglieder aber entsprechend ihrer Abhngigkeit angeordnet.
3. 5 Der Modus im abhngigen Satz
5
[ 468 - 487]
3. 5. 1 Allgemeines
Regelhaftigkeiten zum Gebrauch von Indikativ und Konjunktiv im untergeordneten
Satz knnen fr das Mittelhochdeutsche nicht festgestellt werden. Zu sehr ist die
Verteilung der Modi den individuellen Gestaltungsbedrfnissen in Bezug auf die
Bedeutungsnuancierung den Verfassern berlassen. Hinzu treten Phnomene der
A t t r a k t i o n , d. h. die Modi von Haupt- und Nebensatz knnen zu
Zwecken reiner Gleichfrmigkeit einander angepat werden. Es gilt allerdings eine
bestimmte Zeitenfolge fr das Verhltnis der konjunktivischen untergeordneten Stze
zum Hauptsatz:
5
Vgl. hierzu auch die Kapitel zum Relativsatz (VIII. 3. 3.) und die Bemerkungen zu den uneingeleiteten
Nebenstzen. In Kapitel VIII. 3.
VIII. Syntax 109
bergeordneter Satz untergeordneter Satz
prsentisch Konjunktiv Prsens
imperativisch Konjunktiv Prsens
prterital Konjunktiv Prteritum
Diese Zeitenfolge gilt dann, wenn eine Gleichzeitigkeit der Hauptsatz- und der
Nebensatzaussage ausgedrckt werden soll. Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit werden
mit Mitteln zum Ausdruck gebracht, die diesen einfachen Zeitenfolgen bei
Gleichzeitigkeit entsprechen.
6
Der Zweck des Konjunktivs ist, wie im Nhd., der Ausdruck von Mglichkeit
(Potentialitt, Potentialis) oder Unwirklichkeit (Irrealis). Er stimmt daher in seiner
Bedeutung, wenn auch nicht in seiner syntaktischen Funktion, meist mit den
neuhochdeutschen Pendants berein. Wenn z. B. die Aussage des bergeordneten Satzes
durch formale (d. h. mittels eines negierenden Ausdrucks wie z. B. niht vorgenommene
und nicht blo semantische) Negation oder durch ein Wort mit negativer Bedeutung (z.
B. verbieten, verln, widerstreben, bewarn etc.) als nicht-seiend oder nicht-geschehend
gekennzeichnet ist, steht im abhngigen Satz der Konjunktiv als Ausdruck der
Potentialitt oder Irrealitt des Geschehens:
in sach vil ltzel iemen Ihn erblickte niemand,
der im wre gehaz der ihm feindlich gesinnt war
Nur selten steht in solchen Fllen der Indikativ:
und wer s beide wren, Wer die beiden (in Wirklichkeit) waren,
dazn was d nieman erkant das wute dort niemand
3. 5. 2 Imperativ, voluntativer Konjunktiv oder Modalverb voluntativen Charakters
im bergeordneten Satz
Im Mittelhochdeutschen begnstigt eine Reihe von syntaktisch-formalen Eigenschaften
der bergeordneten Stze den Konjunktivgebrauch im abhngigen Satz. Diese
Modusangleichung von Haupt- und Nebensatz braucht bei der bersetzung meist nicht
bercksichtigt zu werden: Solche Satzgefge kann man meistens mit Indikativ
bersetzen. Wenn im bergeordneten Satz der Imperativ oder der (voluntative)
Konjunktiv steht oder der voluntative Modus durch ein entsprechendes Modalverb zum
Ausdruck kommt, kann die Modalitt des abhngigen Satzes verschiedene Nuancen
haben.
1. Voluntativ-optativisch, d. h. als Fortsetzung der Modalitt im bergeordneten
Satz:
und lt si des geniezen, und lat ihr das von Nutzen sein,
daz sie iuwer swester s da sie eure Schwester ist.
Hier steht der Konjunktiv, obwohl im untergeordneten Satz ein Faktum zum
Ausdruck gebracht wird. Er ist daher mit nhd. Indikativ zu bersetzen.
2. Prospektiv-futurisch:
ir mezet alle rten Ihr mt alle reiten
unz ez werde tac bis es hell wird.
6
Vgl. Kapitel VIII. 2. Tempus.
VIII. Syntax 110
Hier steht ebenfalls der Konjunktiv, obwohl im untergeordneten Satz ein Faktum
zum Ausdruck gebracht wird. Er ist daher mit nhd. Indikativ zu bersetzen.
3. Konditional: Im Bedingungssatz eines konditionalen Satzgefges kann der
Konjunktiv Prsens stehen, whrend im bergeordneten Satz der Imperativ oder
der voluntative Konjunktiv Prsens steht oder der voluntative Modus durch ein
entsprechendes Modalverb zum Ausdruck kommt:
gedenket iuwer truiwe Denkt an Eure Treue,
vil edel knec hr erhabener Knig,
gesende iuch got von hinnen wenn Gott Euch von hier fortlt
Wenn allerdings zu der Mglichkeit der Realisierung der Bedingung keine
Stellung genommen wird, steht im Konditionalsatz der Indikativ Prsens:
herre, vrhtents dnen zorn, Herr, wenn sie deinen Zorn frchten,
so gebiut in vride dann gebiete ihnen Frieden (zu halten)
Die Unterschiede in anderen Nebensatztypen sind meist geringfgig. Auf einige
Besonderheiten soll aber im Folgenden noch eingegangen werden. Zum Modus im
Relativsatz vgl. Mhd. Gr., 473.
3. 5. 3 Indirekte Fragestze und indirekte Rede
Es ist wichtig zu wissen, da in Inhaltsstzen (indirekte Rede), die von ve r ba
di c e ndi e t s e nt i e ndi u. . abhngig sind, und in indirekten Fragestzen sowohl -
wie heute - der Konjunktiv, als auch der Indikativ stehen kann. In beiden Satztypen mu
mit dem Konjunktiv nicht unbedingt eine Einschrnkung der objektiven Gltigkeit der
Aussage zum Ausdruck gebracht werden. Es zeichnet sich vielmehr bereits im
Mittelhochdeutschen die Tendenz ab, den Konjunktiv zum rein formalen Kennzeichen
indirekter Aussagen bzw. Fragen zu machen. Der Indikativ steht in beiden
Nebensatztypen besonders dann, wenn der faktische Charakter ihres Inhaltes
hervorgehoben werden soll. Der Konjunktiv wird dann bevorzugt, wenn ein indirekter
Fragesatz von einem Verb abhngig ist, mit dem ein Wissen-Wollen zum Ausdruck
gebracht wird:
Gunter der edele vrgete sne man, Der vornehme Gunther fragte seine Gefolgsleute,
wie in diu rede geviele wie ihnen die Rede zusagte.
Mit dem Konjunktiv kann in beiden Nebensatztypen auch eine Distanzierung vom
Inhalt des Satzes zum Ausdruck gebracht werden, hier ist aber auch Indikativ mglich.
man saget in manegen landen wt, man sagt weithin,
daz Keie wre ein ribbalt: da Keie ein Grobian gewesen sei;
des sagen in mniu mre blz davon sprechen ihn meine Texte frei.
Der Konjunktiv kann auerdem auffordernde Bedeutung haben (hier mit
uneingeleitetem Inhaltssatz):
im rieten sne mge, Seine Verwandten rieten ihm,
er wurbe umb ein wp er solle um eine Frau werben/um eine Frau zu
werben.
VIII. Syntax 111
3. 5. 4 Zum Modusgebrauch in den eingeleiteten Nebenstzen
7
Zum Modusgebrauch in den eingeleiteten Nebenstzen s. Mhd. Gr., 475 - 485. Er ist
meist dem neuhochdeutschen Gebrauch hnlich. Der Konjunktiv erscheint z. B. in
Konditionalstzen, wenn Potentialitt oder Irrealitt der Bedingung zum Ausdruck
gebracht werden soll, wenn dagegen keine Stellung zur Wahrscheinlichkeit der
Bedingung genommen wird, kann der Indikativ stehen:
sleht er mich, s bin ich tt Wenn er mich besiegt, sterbe ich
In Modalstzen etwa steht normalerweise der Indikativ, der Konjunktiv kann dann
erscheinen, wenn als oder sam einen Vergleichssatz einleiten, der den Charakter eines
irrealen Bedingungssatzes hat:
ir gebret, als st ir vr ihr benehmt euch, als ob ihr froh wret/
ihr tut so, als ob ihr froh wret
3. 5. 5 Zum Modusgebrauch in den uneingeleiteten Nebenstzen
Der Modus in uneingeleiteten Nebenstzen ist (meist) der Konjunktiv (Prs. oder Prt.)
oder, wie hier, der Indikativ Prsens:
gstu mir dne swester, s wil ich ez tuon Gibst du mir deine Schwester, so werde ich es tun/
Wenn du mir deine Schwester gibst, dann werde ich es
tun.
Hier interessieren uns vor allem die verneinten Konditional- und Konsekutivstze (vgl.
Abschnitt VIII. 1. 2.), die meist im Konjunktiv stehen.
a. Exzipierende Stze (ohne Konjunktion)
E x z i p i e r e n d e S t z e sind eigentlich verneinte Konditionalstze: Es wird keine
Bedingung genannt, unter der ein Ereignis (nicht) eintritt, vielmehr wird eine
Ausnahmebedingung genannt, die, wenn sie erfllt werden sollte, das Eintreten eines fr
ansonsten sehr wahrscheinlich oder gar sicher gehaltenes Ereignis verhindern kann.
Solche exzipierenden (ausnehmenden) Stze sind im Mittelhochdeutschen am
Konjunktiv und der Verneinung durch ne/en erkennbar.
8
Sie werden am besten mit
wenn nicht, es sei denn, da oder auer bersetzt.
mich enmac [Indikativ] getrsten nieman, Mich kann niemand trsten,
sie entuoz [Konjunktiv] es sei denn, sie tue es/wenn nicht sie/auer ihr.
den lp wil [Indikativ] ih verliesen, Ich will sterben,
sine werde [Konjunktiv] mn wp es sei denn, sie werde meine Frau/
Wenn sie nicht meine Frau wird,
will ich nicht mehr leben.
Das Adverb danne/dan kann die Negationspartikel ergnzen oder gar ersetzen:
wir sn vil ungescheiden, Wrtlich: Wir mgen nicht getrennt werden,
ez entuo dan der tt es sei denn, es geschhe durch den Tod
Eleganter: Nur der Tod kann uns trennen.
7
Vgl. zu den Typen eingeleiteter Nebenstze Kapitel VIII. 3. 2., gebruchliche Konjunktionen und Subjunktionen.
8
Vgl. hierzu Kapitel VIII. 1., Negation.
VIII. Syntax 112
Wenn der bergeordnete Satz negiert ist, kann die Negation im exzipierenden
Nebensatz fehlen:
niemen kan erwenden daz, Wrtlich: Niemand kann das abwenden,
ez tuo ein edeliu frouwe es sei denn, da eine edle Dame es tue.
Eleganter: Auer einer edlen Dame kann das
niemand abwenden
Auch mit wan oder wan daz eingeleitete Stze haben exzipierenden Charakter. Sie
werden am besten mit auer da, nur da oder wenn nicht geschehen/gewesen
wre da bersetzt.
er hete geweinet benamen, Er htte wahrhaftig geweint,
wan daz er sich muose schamen wenn er sich [dafr] nicht htte schmen mssen.
b. Konsekutivstze
b. 1 Positive Konsekutivstze
Konsekutivstze werden im Hauptsatz oft durch s, sus, solh o. . vorbereitet. Der
untergeordnete Satz steht im Indikativ und ist mit so da zu bersetzen:
Gwan sprach: frouwe, Gawan sagte: Herrin,
iuwer munt ist s kssentlch getn, Euer Mund ist so sehr zum Kssen geschaffen,
ich sol iuwern kus mit gruoze hn da ich gleich zur Begrung einen Ku von
Euch haben mchte.
nch im kom die knegn, Hinter ihm kam die Knigin;
ir antltze gap den schn, ihr Gesicht war so strahlend,
so wnden alle ez wolle tagen da alle glaubten, die Sonne ginge auf.
b. 2 Verneinte Konsekutivstze
Verneinte Konsekutivstze werden im Hauptsatz ebenfalls oft durch sus, s oder als/als
vorbereitet. Sie werden am besten mit da nicht bersetzt.
herre, ich hn gevlizzen Herr, ich habe mich
an iegelchem seitenspil, in jeder Art Saitenspiel gebt,
und enkan doch keines alse vil, beherrsche aber keines so (gut),
ich ne knde es gerne mre da ich es nicht gerne besser knnte.
c. Konzessivstze
Meist im Konjunktiv:
wr nieman sns geleites wer, Wenn auch niemand Brge fr sein Geleit wre,
er solt iedoch durch sie genesen so sollte er doch um ihretwillen verschont bleiben
3. 5. 6 Zum Modus im Relativsatz [ 473]
Wie im Neuhochdeutschen ist der normale Modus des Relativsatzes der Indikativ. Der
Konjunktiv kann allerdings dann verwendet werden, wenn der Aussage des Relativsatzes
voluntativer oder potentialer Charakter verliehen werden soll.
9
9
Mehr zum Modus in abhngigen Stzen findet sich in Kapitel VIII. 3. 5.
VIII. Syntax 113
VIII. 4 Aktionsarten [ 328, 329]
Unter diesem Ausdruck versteht man (syntaktische, morphematische, semantische)
Ausdrucksformen fr objektiv (also unabhngig von der Auffassung des Sprechenden)
gegebene Varianten von Handlungsverlufen. Man unterscheidet unter anderem
ingressive (den Beginn eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende), inchoative
(den allmhlichen Beginn eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende), iterative
(die regelmige Wiederholung eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende),
kausativ-faktitive (das Verursachen eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende),
resultative (den Abschlu eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende), durative
(die gleichmige Dauer eines Vorgangs oder Zustands charakterisierende)
Aktionsarten. Einige Verben sind bereits semantisch auf eine bestimmte Aktionsart
festgelegt, so wie etwa beginnen ausschlielich den Anfang eines Vorgangs oder
Zustands charakterisieren und damit nur ingressiv verwendet oder wecken
ausschlielich das Verursachen eines Zustands charakterisieren und damit nur kausativ
verwendet kann.
Da das Mittelhochdeutsche nicht ber grammatische Kategorien verfgt, die ein System
der Aktionsarten zum Ausdruck bringen knnte (wie etwa die Verlaufsform im heutigen
Englischen, die die durative Aktionsart markiert), werden verschiedene Mittel
angewendet, um dies zu leisten. Ein System zur Wiedergabe der Aktionsarten hat sich
allerdings bis heute nicht entwickelt.
4. 1 Verbindungen von sn/wesen mit dem Partizip Prsens
Mit dem Prsens oder dem Prteritum von sn/wesen kann in Verbindung mit dem
Partizip Prsens eines Verbs der durative Charakter des mit dem Verb bezeichneten
Vorgangs oder Zustands charakterisiert werden. Dabei kann ein eigentlich vorhandener
temporaler Gehalt der Aussage reduziert werden.
der rter, mit dem der leu varend ist der Ritter, mit dem der Lwe (immer) herumzieht
ich wil iemer varnde sn Ich will/werde auf ewig herumziehen
4. 2 Das Prteritum von werden kann in Verbindung mit dem Partizip I Ausdruck des
inchoativen Charakters eines Vorgangs oder Zustands sein, der in der Vergangenheit
liegt.
sie wurden spilnde sie begannen zu spielen
Etymologische Anmerkung
Das Flexionsparadigma des Verbs sn ist aus verschiedenen, etymologisch
nicht zusammengehrigen Formen zusammengesetzt. Man nennt dies
Suppletion, die dadurch entstehenden Paradigmen heien Suppletiv-
paradigmen (vgl. hierzu auch S. 84, sn). Das ahd. Verb werdan bedeutet
entstehen, geschehen, sich ereignen und geht auf die indogermanische
Wurzel *uer-, drehen, wenden zurck. In Verbindungen wie sie wurden
spilnde ist diese alte inchoative Bedeutung noch erhalten.
VIII. Syntax 114
4. 3 Verbindungen von tuon mit dem Infinitiv knnen kausativ-faktitive Bedeutung
annehmen:
die mich frlich singen tuot
10
die mich dazu bringt, frhlich zu singen
Oft wird tuon jedoch lediglich intensivierend zu einem Infinitiv gestellt:
eins tue ich nicht vergezzen eines werde ich sicher nicht vergessen
VIII. 5 Kasus
Nominativ und Akkusativ werden im Mittelhochdeutschen hnlich wie im
Neuhochdeutschen verwendet, im folgenden liegt der Schwerpunkt daher auf den vom
heutigen Gebrauch abweichenden Verwendungen von Genitiv und Dativ.
11
5. 2 Genitiv [ 360-379]
Im Mittelhochdeutschen werden weit mehr Genitivkonstruktionen gebraucht als im
Neuhochdeutschen. Vor allem zahlreiche Verben, aber auch Substantive, Adjektive,
Interjektionen, Pronomina, Prpositionen und Numeralia werden im Zusammenhang
mit Genitivkonstruktionen gebraucht. Diese Wrter gibt es heute entweder nicht mehr -
dann ist mit ihnen auch die Genitivkonstruktion geschwunden - oder sie werden heute
anders in den Satz eingebunden (meist durch Dative, Akkusative oder
Prpositionalkonstruktionen). Beispiele hierfr sind das nhd. sich einer Sache
befleiigen, das heute nicht mehr gebruchlich ist, in mittelhochdeutscher Zeit als sich
vlzen eines dinges aber oft verwendet wurde, oder das Wort pflegen, das noch bis ins
Neuhochdeutsche hinein mit Genitiv gebildet wurde (mhd. eines dinges pflegen, mit
Genitiv, nhd. etwas pflegen, mit Akkusativ). Im folgenden wird dieser abweichende
Genitivgebrauch bei den unterschiedlichen Wortarten beschrieben.
5. 2. 1 Genitivgebrauch bei Verben [ 361-366]
Im Mittelhochdeutschen werden weit mehr Verbalphrasen mit Hilfe von
Genitivkonstruktionen gebildet als im heutigen Deutsch. Teilweise gibt es diese Verben
heute nicht mehr (z. B. gebresten, ruochen, erwinden), teilweise sind ihre
Genitivergnzungen durch Dativ-, Akkusativ- oder Prpositionalergnzungen ersetzt
worden. Fr das Verstndnis mittelhochdeutscher Texte gengt es, dies zu wissen, und
sich den prinzipiellen Aufbau solcher Genitivkonstruktionen einzuprgen:
a. Objektsgenitiv:
sich vlzen eines dinges sich einer Sache befleiigen/sich um eine Sache bemhen
eines dinges (be)gern etwas begehren
eines dinges ruochen sich um etwas kmmern
eines dinges pflegen etwas pflegen
eines dinges geniezen Vorteil/Nutzen von etwas haben
10
Zum ACI im Mittelhochdeutschen vgl. Mhd. Gr., 335, b).
11
Zu Inkongruenzen im Kasusgebrauch vgl. Kapitel VIII. 7. 3.
VIII. Syntax 115
bei unpersnlich gebrauchten Verben:
mir (ge)bristet eines dinges mir fehlt es an etwas
mich betrget eines dinges mich verdriet etwas
mich geneget eines dinges mir gengt etwas
Bei diesen und allen anderen mit Genitiv konstruierten Verben (eine Auflistung findet
sich in der Mhd. Grammatik, 361) knnen bereits in mittelhochdeutscher Zeit
konkurrierend Akkusativ- oder Prpositionalergnzungen auftreten.
b. Partitiver Genitiv
Mit dem G e n i t i v u s p a r t i t i v u s als Objekt transitiver Verben kann zum
Ausdruck gebracht werden, da etwas nur teilweise (partitiv) ausgefhrt wird:
er az daz brt er a das Brot [ganz]
und tranc d zuo eines wazzers und trank darber hinaus/(zum Brot) dazu
Wasser/etwas Wasser/von dem Wasser [nicht
alles],
daz er vant das er gefunden hatte
hnlich gibt es das noch im heutigen Franzsisch: je voudrais de leau, ich htte gerne
etwas/von dem Wasser.
c. In der Verbindung von niemen mit exzipierenden (ausnehmenden) wan oder danne
steht ein Personalpronomen hufig im Genitiv statt, wie im Nhd., im Nominativ,
(auer +) Dativ oder Akkusativ:
er ht hie niemen danne mn er hat hier niemanden auer mir/als mich
d. hnlich in der Komparation mit danne und nach ander danne:
im ist lieber dann mn ein slaf ihm ist Schlaf lieber als ich
e. In Verbindung mit sn oder werden kann der Genitiv zur Bezeichnung eines
Zugehrigkeitsverhltnisses, eines partitiven Verhltnisses oder einer Beschaffenheit
gebraucht werden:
daz er des tdes mese wesen da er des Todes sein mu [wie im Nhd.]
[Zugehrigkeit]
d bist mn, ich bin dn Du bist mein, ich bin dein [Zugehrigkeit]
ich muoz wesen dns gesindes Ich mu einer deiner Leute werden [partitiv]
diu welt ist [] innan swarzer varwe Die Welt ist im Inneren von schwarzer
Farbe/schwarz [Beschaffenheit]
f. Genitiv der Relation: Hier wird durch ein Nomen (in diesem Fall meist ein Substantiv
oder Pronomen) ein Bereich bezeichnet, innerhalb dessen eine verbale Aussage gltig ist.
er was [...] der jre ein kint, seinem Alter nach war er ein Kind,
der witze ein man was seinen Verstand betraf, ein erwachsener
Mann
Die bersetzung mit in Bezug auf ist nicht immer sehr geschickt, bietet sich aber in
solchen Fllen oft an.
VIII. Syntax 116
g. in Verbindung mit Verben, mit denen eine Gemtsbewegung bezeichnet wird, wie
etwa sich vreuen, lachen, jmern, danken oder gnden kann der Genitiv kausale oder
kausal-instrumentale Bedeutung erlangen.
si vreuten sich ir jugent sie freuten sich ihrer Jugend/sie freuten sich ber
ihre Jugend/sie waren glcklich, jung zu sein
der rede sie lachten sie lachten ber das Gesagte
des einen slags daz ors lac tt durch einen einzigen Schlag fiel das Pferd tot um
5. 2. 2 Genitivgebrauch bei Substantiven, Pronomina, Numeralia [ 367 - 372]
a. Auch hier kann der Genitiv partitive Bedeutung annehmen.
mn vrouwe enbzet iuwer nicht meine Herrin beit euch nicht [eigentlich: beit
nichts von euch ab]
ob mn tsent wren (selbst) wenn ich [eigentlich: von mir] tausend
Mann/Mnner wre
b. G e n i t i v u s q u a l i t a t i s : Mit dem Genitiv kann eine Beschaffenheit
oder Eigenschaft bezeichnet werden.
boten guotes willen wohlgesonnene Boten
ein samtes mantelln ein samtenes Mntelchen/ein Mntelchen aus
Samt
c. Bisweilen ist das Verhltnis von Genitiv und Bezugswort nur aus dem Text-
zusammenhang zu erschlieen:
Ereckes enpfhen kann bedeuten: der Empfang, der Erec zuteil wurde (genitivus
objectivus)
oder: der Empfang, den Erec bereitete (genitivus
subjectivus)
d. Lediglich in der festen Wendung Hungers sterben ist eine besondere Verwendung
des Genitivs erhalten, die im Mittelhochdeutschen und noch einige Zeit danach auch in
anderen Wendungen verbreitet war:
hungers sterben an Hunger sterben
e. Attributive Genitivverbindungen knnen, anders als im Neuhochdeutschen, vor oder
nach dem Substantiv stehen (im Beispiel liegt ein g e n i t i v u s d e f i n i t i v u s
vor):
er was ein bluome der jugent, er war eine Zierde der Jugend,
der werltvreude ein spiegelglas, ein Spiegel der Lebensfreude,
stter triuwe ein adamas, ein Diamant fester/ungebrochener Treue/
Standhaftigkeit/Integritt
ein ganziu krne der zuht ..
..
..
VIII. Syntax 117
5. 2. 3 Genitivgebrauch bei Adjektiven [ 373 - 376]
a. Auch hier kann der Genitiv partitive Bedeutung annehmen, besonders bei den
Quantittsadjektiven vil, wnec, ltzel, genuoc, mre, minner.
des ist genuoc davon ist genug da/das reicht
hnlich bei den Pronomina wer/waz und swer/swaz und bei ieman, iht und niht:
waz rtes mhte ich dir nu tuon? Was fr einen Rat knnte ich dir nur geben?
des mac niht ergn nichts davon wird geschehen
b. Bei Adjektiven, mit denen eine Gemtsbewegung bezeichnet wird, wie z. B. geil,
gemeit, vr, gram oder riuwec kann eine kausale oder kausal-instrumentale
Bedeutungsnuance auftreten.
ich bin [...] ir leides gram, ir liebes fr ich rgere mich ber ihre Migunst und freue
mich ber ihre Gunst
5. 2. 4 Genitivgebrauch bei Prpositionen [ 377]
Auch als Prpositionalkasus wird der Genitiv anders verwendet als heute. Eine
Zusammenstellung von Prpositionen, die mit dem Genitiv verbunden sein knnen,
finden Sie in Kapitel VIII. 6 und in der Mhd. Gr., 377.
5. 2. 5 Genitivgebrauch bei Interjektionen [ 378]
Interjektionen sind im Mhd. anders in den Satzzusammenhang eingebunden als im Nhd.
Mit dem Genitiv kann ausgedrckt werden, worauf sich die Interjektion bezieht.
Ouw mns lieben herren! Oh weh, mein lieber Herr,
Waz mac im danne werren? was kann ihm Kummer bereiten?
Zur Verdeutlichung wrtlicher:
Oh, das Leid [Ou, w] meines lieben Herren
5. 3 Dativ [ 380-385]
5. 3. 1 Dativgebrauch bei Verben [ 381-382]
a. hnlich wie bei einigen neuhochdeutschen Verben (mir schwant, mir graut, mir
scheint) tritt der Dativ als Objektskasus auf: mir eiset, grwet, anet, versmhet, hnlich:
mir ist nt/gt nt, ist leit, ist durft, ist zorn.
b. An einigen Stellen wird mit dem Dativ eines Substantivs oder Pronomens das Objekt
oder Ziel einer Handlung bezeichnet. Hier bietet sich oft eine bersetzung mit fr
oder mit Dativ und Infinitiv + zu an.
unsern herren got bat er er bat Gott unseren Herrn
in beiden umbe hulde fr sie beide um Gunst/ihnen beiden gewogen zu sein
VIII. Syntax 118
VIII. 6 Prpositionen
Neben einer Reihe von bereinstimmungen mit den Nhd. weichen die mhd.
Prpositionen zum Teil in der variantenreichen Lautgestalt, in der Kasusrektion und
Bedeutung vom heutigen Sprachgebrauch ab. Die nachfolgende Liste der Prpositionen
erhebt keinen Anspruch auf Vollstndigkeit. Mit Textbeispielen aufgefhrt sind hier
lediglich einige der wichtigsten und am hufigsten auftretenden Abweichungen vom Nhd.:
ab, abe
mit Dat. = von herab; wegen; von weg
ab dem turne schouwen (vom Turm herab sehen)
ich hAr vil liute ab iu klagen (ich hre viele Leute euretwegen klagen)
abe ir [] munde ein kssen [] versteln (von ihrem Mund [weg] einen Ku stehlen
[und mitnehmen])
12
an, ane
1. mit Dat. = an; auf; in
an der hant haben (in der Hand halten)
an der wer stn (auf der Brstung stehen)
an den buochen stt geschriben (in den Bchern steht geschrieben)
2. mit Akk. = (bis) an; in
unz an disen tac (bis zu diesem Tag)
an den arm nemen (in [!] den Arm nehmen)
ne, n
1. mit Akk. = ohne; auer
daz weste niemen d ne in (Niemand auer ihm wute das dort)
2. mit Gen. = ohne
daz kint was valsches ne (das Kind war ohne Falsch/ohne Makel)
b
mit Dat. = an; bei; neben; whrend; zu
b dem hse stn (neben/nahe bei dem Haus stehen)
b der stimme erkennen (an der Stimme erkennen)
b der naht komen (whrend der Nacht kommen)
b mnen tagen (zu meinen Lebzeiten)
durch
mit Akk. = durch, hindurch; wegen, um ... willen; um (zu)
durch diu lant varn (durch die Lnder ziehen)
durch got (um Gottes willen)
durch mne vriunde (wegen meiner Freunde)
durch vorhte (aus Furcht)
durch klagen (um zu klagen)
durch daz (deswegen; wegen; um zu)
12
Da es hier um einen Bewegungsaspekt von weg geht, wird nur im Kontext deutlich: Der Teilsatz
stammt aus einem Minnelied Reinmars (Ich wirbe umbe allez, daz ein man, Str. 3, V. 2 [= MF 159,38]: daz ich
abe ir wol redendem munde ein kssen mac versteln); es geht tatschlich darum, da der Snger des Liedes
einen Ku seiner Dame stehlen und mitnehmen will, um ihn sich sozusagen unter das Kopfkissen zu legen
ist es unrecht, bringe ich es wieder zurck, fhrt er pointiert fort.
VIII. Syntax 119
gegen, gein, gn
mit Dat. = zu; nach; gegen (im feindl. Sinn); gegenber; um
gegen der stete varn (zu der Stadt reisen)
gegen den venden strten (gegen die Feinde kmpfen)
der sunne gegen den sternen stt (die Sonne steht den Sternen gegenber)
gegen der dritten stunde (um die dritte Stunde)
nch, n
mit Dat. = nach; um; fr; gem
d sprang si nch dem wurfe (da sprang sie dem Wurf nach/hinterher)
nch helfe schren (um Hilfe rufen)
nch einer kenginne dienen (einer Knigin dienen)
sus wurben nch den ren die ritter (so strebten die Ritter nach Ansehen)
nch kneclichen ren (gem dem kniglichen Ansehen)
obe, ob
1. mit Dat. = ber; oberhalb; auf; bei
ob dem tische (bei Tisch)
er sprach den segen ob im (er sprach den Segen ber ihn)
diu schnste ob allen wben (die Schnste aller Frauen)
2. mit Akk. = ber
ob 1200 dorfer (ber 1200 Drfer)
ob dr jre (ber drei Jahre)
st
mit Gen. / mit Dat. = seit
st des tages (seit dem Tag)
st des (seitdem)
st dem jre (seit dem Jahr)
[st al s Adver b kann neben seit(her)auch spter(hin) bedeuten!]
sunder
mit Akk. / mit Gen. = ohne
sunder allen wn (ohne jede Hoffnung)
sunder re / sunder danc (ohne Ansehen/ohne Dank)
sunder krieges (ohne Krieg)
[sunder kann auch als Subjunktion im Sinne von auer, aber, sondern eingesetzt werden;
sunder als Adverb bedeutet u. a. = auf gesonderte Weise; im einzelnen; insbesondere!]
unz, unze
mit Akk. = bis
unz in den tt (bis zum/in den Tod)
unze f disen tac (bis zu diesem Tag)
vor, vore
mit Dat. / mit Gen. = vor; eher
vor dem tage (vor dem Tag)
vor mir (eher als ich)
vor des (zuvor, vor dem)
VIII. Syntax 120
vr, vre, vur, vor, vore
mit Akk. = vor; auf; gegen; im Interesse von; anstelle von; ber
vr den knec stn (zum Knig gehen/vor den Knig treten)
er leget die schilde fr den vuoz (er legte die Schilde vor den Fu/auf die
Erde)
guot sn vr den tt (gut sein gegen den Tod)
daz hs sol vr regen gedeckt sn (das Haus soll [zum Schutz] gegen Regen
gedeckt sein)
Etzel fr Dieterche sprch (Etzel sprach anstelle von Dietrich)
vr disen tac hiute (von heute an)
er minnet in vr alle die bruoder sn (er liebt ihn mehr als alle seine Brder)
wider, widder, weder
1. mit Akk. = zu; gegen (feindl. und freundl.); gegenber
wider einen man sprechen (zu einem Menschen sprechen)
si fuoren wider den knec (sie zogen gegen den Knig)
daz hs lac wider den Salzhof (das Haus lag dem Salzhof gegenber)
2. mit Dat. = trotz; im Gegensatz zu
er zch z wider dem eide (er zog trotz des Eides aus)
der vogel ht die art wider allen andern vogeln (der Vogel hat dieses Wesen im Gegensatz
zu allen anderen Vgeln)
ze, zuo
mit Dat. = zu; in; an; bei; samt; bis zu
ze Rne (am Rhein)
daz lant zuo den brgen (das Land samt den Stdten)
ze vier tagen (bis zu vier Tagen/vier Tage lang)
VIII. 7 Inkongruenzen der grammatischen Kategorien
[ 340-342 und 425-431]
Die Wortarten sind im Mittelhochdeutschen durch die gleichen grammatischen
Kategorien bestimmt wie heute. Werden Wrter unterschiedlicher Wortarten
miteinander kombiniert (wie z. B. Artikel, Adjektiv und Substantiv), dann stimmen diese
im Nhd. in der Regel in den mageblichen Kategorien berein: Substantiv und Attribut
in Numerus, Genus und Kasus (schne Frauen), Subjekt und Prdikat in Person und
Numerus (die Frauen sind schn) etc. Im Mittelhochdeutschen werden diese
Kongruenzen meistens eingehalten, es gibt jedoch Ausnahmen.
7. 1 Inkongruenzen beim Genus [ 426]
Das natrliche Geschlecht kann das grammatische ersetzen, wenn ein Adjektiv attributiv
zu einem Substantiv gestellt oder wenn ein Substantiv durch ein Pronomen wieder
aufgenommen wird:
sn wp, von der ich wart geborn seine Frau, die mich geboren hat
VIII. Syntax
121
Mehrere Substantive knnen unabhngig von deren Genera durch ein neutrales
Pronomen im Singular zusammenfassend wieder aufgegriffen werden:
er vuorte daz wp unde den man und volget ime dewederz
Andere Inkongruenzen des Genus finden sich im Mittelhochdeutschen wie im
Neuhochdeutschen (z. B. der iu mre bringet, daz bin ich: ich bin es, der die Nachricht
bringt).
7. 2 Inkongruenzen beim Numerus [ 427 - 430]
Auch hier werden vor allem solche Inkongruenzen beschrieben, die im
Neuhochdeutschen nicht mehr vorkommen:
Der Plural von eigentlich nicht pluralfhigen Abstrakta kann eine intensivierende
Bedeutung haben:
vor vorhten bleichent mir diu wangen rt vor lauter Furcht erblassen mir die roten
Wangen
Auch bei pronominaler Wiederaufnahme einer durch ein Substantiv bezeichneten Sache
treten Inkongruenzen auf:
swaz ich freuden hte, diu ligit von iu erslagen welche Freude ich auch hatte, Ihr habt sie
zerschlagen
7. 3 Inkongruenzen beim Kasus
13
[ 431]
Hier treten Inkongruenzen zwischen Substantiv und Attribut oder Apposition auf:
in des knec Artses lande Im Lande des Knigs Artus
Auch wenn zwei Adjektive attributiv oder prdikativ auf ein Substantiv bezogen
werden, kann es vorkommen, da nur eines flektiert wird:
daz was ein stolz und werder man der war ein stolzer und wrdiger Mann
arme unde riche hten in liep und werden Arme und Reiche hatten ihn gern und
hielten ihn wert
hnlich wie in der neuhochdeutschen Umgangssprache knnen sich das Relativpronomen und
das Beziehungswort des Relativsatzes im bergeordneten Satz einander anpassen - dabei
kommen beide Mglichkeiten vor:
daz er alles des verpflac des im (statt: daz im) ze schaden mohte komen
den schilt (statt: der schilt) den er vr bt, der wart schiere zeslagen
7. 4 Subjekt-Prdikat-Inkongruenzen [ 340-342]
Zwischen Subjekt und Prdikatsverb knnen Inkongruenzen beim Numerus und
(selten) bei der Person auftreten:
driu grziu fiwer gemachet waz (statt: gemachent warn)
13
Vgl. hierzu Kapitel VIII. 5., Kasus.