Bachmann Undine

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Hermann Dorowin Ingeborg Bachmann: Undine geht

Ungeheuer ist viel und nichts Ungeheurer als der Mensch. (...) Und die Sprache Und luftgewirkte Gedanken Lehrte er sich Und den Trieb zum Staat Und Obdach Gegen ungastlichen Reif vom Himmel Und Regengeschosse, Allberaten. Ratlos tritt er Vor nichts, was kommt, Nur dem Tod entrinnt er nicht. Sophokles: Antigone1

am Anfang der Literatur ist der Mythos, und ebenso am Ende 2 so beschreibt Jorge Luis Borges die sonderbare Wechselbeziehung der beiden Bereiche: Aus einem diffusen mythischen Wissen bezieht die Literatur oft ihre Bilder, Figuren, Geschichten und gibt ihnen eine neue, vernderte Interpretation. Doch nicht selten kehrt sich das Verhltnis um: Literarische Gestalten erlangen ein solches Eigenleben, eine so umfassende Reprsentativitt, da sie unabhngig von dem Werk, dem sie entstammen, fortexistieren, unsere Phantasie, unsere Sprache, unseren Alltag bevlkern, kurz ihrerseits wieder zu Mythen werden. Don Quijote und Faust, Hamlet und Lady Macbeth, Michael Kohlhaas und Emma Bovary stehen so gleichberechtigt neben Odysseus und Oedipus, Kassandra und Medea. Die Namen mancher literarischer Gestalten haben, sagt Ingeborg Bachmann in der vierten ihrer Frankfurter Vorlesungen, eine leuchtende Aura, und nicht einmal die Unkenntnis der Werke verhindert ihr Vorhandensein.
Denn

Ja, der Umgang mit ihnen in Gesprchen oder in Gedanken ist uns so selbstverstndlich, so geheuer, da wir nicht ein einziges Mal fragen, warum ihre Namen in der Welt sind. 3

Zu jenen literarischen Figuren, die sich von ihrem Urheber emanzipiert haben und zu einer eigenstndigen Existenz erwacht sind, zhlt Ingeborg Bachmann auch Undine: die Seefrau,
1 Sophokles: Antigone. Tragdie. bersetzt von Wilhelm Kuchenmller, Stuttgart 1955, S. 18. 2 Jorge Luis Borges: Parabel von Cervantes und Don Quijote. In: J.L.B.: Borges und ich. Gedichte

und Prosa, Mnchen 1969, S.45.


3 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenssischer Dichtung. In: Werke.

Hgg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Mnster, Mnchen 1984, Bd. IV, S. 181-271, hier: S. 238.

die aus Liebe zu einem Menschen ihr Element verlt, auf der Erde kein Glck findet und schlielich wieder in die Wassertiefen zurckkehren mu. Schon im antiken Mythos von den Sirenen ist die zwiespltige Faszination der Wasserwesen weiblich konnotiert, und bis hin zu Heines Lorelei und Andersens Meerjungfrau erklingt die Stimme des ganz Anderen als Stimme einer Frau. Undines Name ist von Paracelsus inspiriert, der in seinem naturmystischen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus (1581) von den Undenen spricht, die im Wasser hausen, so wie wir an der Luft, und die sich ber unsere Lebensweise ebenso wundern wie wir ber die ihre. 4 Doch als individualisierte literarische Gestalt verdankt die Wasserfrau ihr Leben dem Baron Friedrich de la Motte Fouqu, dessen Erzhlung Undine (1811) zu den Meisterwerken der deutschen Romantik gehrt und den Bezugspunkt fr alle weiteren Bearbeitungen des Stoffes in Anlehnung wie in Abgrenzung darstellt. In der Geschichte vom Ritter Huldbrand, der durch einen von Elementargeistern bewohnten Wald dringt, fern der menschlichen Gesellschaft auf das faszinierend fremdartige Naturwesen Undine stt, sich in sie verliebt und auf einer unversehens zur Insel gewordenen Landzunge mit ihr Tage eines unbeschwerten Glcks durchlebt, hatte Fouqu die romantische Utopie einer harmonischen Vereinigung von Mensch und Natur, von Mann und Frau, von Rationalitt und Gefhl, von Prosa und Poesie auf suggestiv-symbolische Weise gestaltet. Der Versuch Huldbrands, seine Geliebte, die erst durch die Ehe mit ihm eine Seele erlangt hat, in die Menschenwelt einzufhren, scheitert an den Schranken einer Gesellschaft, die die Andersartige als unheimliche Bedrohung empfindet und grausam ausstt, ja den Ritter selbst zum Verrat an seiner Liebe drngt. Whrend einer Bootsfahrt auf der Donau nimmt Undine, zutiefst verletzt, Abschied von Huldbrand und von all den anderen Menschen:
ber den Rand der Barke schwand sie hinaus. - Stieg sie hinber in die Flut, verstrmte sie darin, man wut es nicht, es war wie beides und wie keins. Bald aber war sie in die Donau ganz verronnen...5

4 Theophrastus Paracelsus: Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris

spiritibus. In: P.: Werke. Bd. III: Philosophische Schriften. Hgg. v. Will- Erich Peukkert, Darmstadt 1967, S. 462-498, S.472. Zu den verschiedenen Behandlungen des Undine-Stoffes und Bachmanns Verhltnis hierzu vgl. Ortrud Gutjahr: Ironisierter Mythos? Ingeborg Bachmanns Undine geht. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien . Hgg. v. Irmgard Roebling, Pfaffenweiler 1992, S. 217-244; Ruth Fassbind-Eigenheer: Undine oder Die nasse Grenze zwischen mir und mir. Ursprung und literarische Bearbeitungen eines Wasserfrauenmythos. Von Paracelsus ber Friedrich de la Motte Fouqu zu Ingeborg Bachmann , Stuttgart 1994; Mona El Nawab: Ingeborg Bachmanns Undine geht. Ein stoff- und motivgeschichtlicher Vergleich mit Friedrich de la Motte Fouqus Undine und Jean Giraudoux Ondine, Wrzburg 1993; Rita Calabrese: Figlie dellacqua, figlie dellaria: alcune variazioni sul motivo di Ondina . In: Il riso di Ondina. Immagini mitiche del femminile nella letteratura tedesca . Hgg. v. Rita Svandrlik, Urbino 1992, S. 57-97. 5 Friedrich de la Motte Fouqu: Undine. Eine Erzhlung, Stuttgart 1953, S. 81.

Huldbrand, der die Geliebte bald vergit, wird die Ehe mit der schnen Bertalda nicht mehr genieen, denn am Tag seiner Hochzeit kehrt Undine ein letztes Mal an die Erdoberflche zurck, um durch einen tdlichen Ku das Urteil der Wassergeister an ihm zu vollstrecken. Zahlreiche, nicht immer gelungene Bearbeitungen6 des Undine-Stoffes in Literatur, Musik und bildender Kunst lieen in der Folge erkennen, da Fouqu mit seiner Erzhlung einen tief verwurzelten Zwiespalt in der patriarchalischen Zivilisation aufgezeigt und eine verbreitete Sehnsucht der Menschen nach einem verlorengegangenen, verdrngten, unterdrckten anderen Zustand zum Ausdruck gebracht hatte.7 150 Jahre nach dem deutschen Romantiker greift Ingeborg Bachmann mit der Souvernitt der groen Dichterin nach dem Stoff, in dem sie das Potential zur Gestaltung einer fr sie selbst zentralen Problematik erkennt. Im dialogischen Proze der Arbeit am Mythos (H. R. Jau) 8 antwortet Bachmann einerseits auf Fouqu diesen intertextuellen Bezug mu jede Interpretation von Undine geht bercksichtigen andererseits verfat sie einen autonomen Text, der im Ausformungsproze ihrer eigenen Poetik eine wichtige Etappe darstellt. Wie die anderen Erzhlungen des Bandes Das dreiigste Jahr handelt dieser zwischen Lyrik und Prosa changierende Monolog von Sprache und Gewalt, von existentieller Wahrheit des Individuums und Anpassung an die gesellschaftliche Norm, von der qulenden Last der Erinnerung und der Freiheit zur Rebellion. Wohl erstmals in ihrem Werk stellt Bachmann hier die Frage nach der Mglichkeit der Kommunikation zwischen Mann und Frau von jenem dezidiert weiblichen Standpunkt aus, der die spte Prosa ihres Todesarten- Zyklus kennzeichnen wird. Nicht zuletzt setzt der Text eine poetologische Reflexion fort, die implizit in Gedichten und Erzhlungen, explizit in Essays und Vorlesungen, um die Mglichkeit einer neuen, radikal anderen, nicht entfremdeten Sprache kreist.9
6 E.T.A. Hoffmann schrieb auf der Basis von Fouqus Erzhlung eine uerst erfolgreiche

romantische Oper, Johann Heinrich Fssli widmete dem Werk eine Reihe von Illustrationen. Weitaus trivialer als ihr Vorbild waren die meisten Bearbeitungen des Stoffes im spten 19. Jahrhundert. Um die Jahrhundertwende war die Wasserfrau eine Art neuromantisches Einheitssymbol geworden. Vgl. Ute Schmidt-Berger: Undine. Ein Mrchen der Berliner Romantik. In: Friedrich de la Motte Fouqu: Undine. Ein Mrcher der Berliner Romantik. Musik von E.T.A. Hoffmann. Bilder von Karl Friedrich Schinkel, Frankfurt 1992, S. 123- 161, S. 155. 7 Peter von Matt fhrt den Erfolg der Fouquschen Undine auf eine spezifisch deutsche, chiliastische Gegenreligion zurck, die in dem Text emblematisch zum Ausdruck komme. Vgl. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, Mnchen 1989, S. 236. 8 Hans Robert Jau benutzt diesen treffenden Ausdruck in seinem Aufsatz: Von Plautus bis Kleist: Amphitryon im dialogischen Proze der Arbeit am Mythos. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hgg.v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 114-143. 9 Vgl. hierzu vor allem die Frankfurter Vorlesungen, die Essays ber Wittgenstein, Musil, Proust und Musik und Dichtung, sowie die Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (alle in Werke, Bd. IV). Aus der umfangreichen Sekundrliteratur zum Thema seien erwhnt: Hans Hller : Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frhesten Gedichten bis zum Todesarten -Zyklus , Frankfurt/M. 1987; Kurt Bartsch: Ingeborg Bachmann, Stuttgart 1988; Ute Maria Oelmann: Deutsche poetologische Lyrik nach 1945: Ingeborg Bachmann, Gnter Eich, Paul Celan , Stuttgart

Was Bachmanns Erzhlung zuallererst von derjenigen Fouqus unterscheidet, ist der Blickwinkel. Anstelle des allwissenden Erzhlers, der mit einer Mischung aus Sympathie und Befremden, vor allem aber vom sicheren Festland aus berichtet, hat jetzt Undine selbst das Wort, zieht uns auf ihre Seite, lt uns die Welt mit ihren Augen wahrnehmen. Diese Umkehrung der Perspektive nimmt der Figur jeden exotischen Anstrich und verleiht ihr den Absolutheitsanspruch der Subjektivitt. Zugleich verlieren die gesellschaftlichen Zustnde ihre Normalitt, werden zu etwas Fremdartig-Ungeheurem. Wenn Fouqu seine Undine in einem Augenblick der Verzweiflung ausrufen lt:
Ihr Leute, die ihr so feindlich ausseht und so zerstrt [...] ich wute von euren trichten Sitten und eurer harten Sinnesweise nichts und werde mich wohl mein lebelang nicht dreinfinden,10

so lt Bachmann diese signifikanten Worte anklingen, steigert aber den Ausdruck, indem sie an die Stelle des Rhrend-Empfindsamen die Wucht des sophokleischen Chores setzt: Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 190).11 Schonungslos luzid ist Undines Blick auf die Menschen, zumal auf die Mnner, doch in ihre Wut mischen sich immer wieder die Wehmut der enttuschten Liebe und die verzweifelte Hoffnung auf ihre Wiederkehr. Diese Ambivalenz der Gefhle, dieses Schwanken zwischen Sehnsucht und berdru, Nhe und Distanz, Anziehung und Abstoung, verleiht dem Monolog seine eigenartige Dynamik, die einer unaufhaltsamen Wellenbewegung gleicht. 12 Auf sprachlicher Ebene uert sich dies im stndigen Wechsel des Tonfalls, der vom trockenen Sarkasmus ber die sanftere Ironie bis zum leidenschaftlichen Appell reicht. Nicht zufllig greift die Dichterin gerade den Moment des Abschieds heraus, da jeder Versuch, in die Menschenwelt Eingang zu finden, gescheitert, jeder Kompromi als sinnlos erkannt ist. Was Undine Hans zum Vorwurf macht, ist sein groer Verrat, Verrat an ihr und zugleich an seiner eigenen existentiellen Bestimmung: Ich habe immer geglaubt, da ihr mehr seid, Ritter, Abgott, von einer Seele nicht weit, der allerkniglichsten Namen wrdig. (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 194). Doch Hans, der sich einmalig whnt in seiner Individualitt, gleicht aufs Haar allen anderen Hnsen. Verschanzt hinter den Wnden ihrer Huser, all dem Festgelegten, dem Ntzlichen und Brauchbaren ( Vom Nullpunkt zur
1980; Mechthild Oberle: Liebe als Sprache und Sprache als Liebe. Die sprachutopische Poetologie der Liebeslyrik Ingeborg Bachmanns, Frankfurt/M. 1990. 10 Fouqu: Undine, S. 58. 11 Da Bachmann mit dem Anfang der Erzhlung auf Sophokles anspielt, besttigt indirekt ihre Vorrede zum Romanfragment Der Fall Franza, wo es heit: Denn nichts ist ja, wenn auch nicht gewaltiger, das vielleicht, aber jedenfalls ungeheurer als der Mensch, wenn ich Sie an eine Schulstunde erinnern darf. (W, III, S. 342) Gewaltig statt ungeheuer lautete die bersetzung bei Hlderlin. 12 Mehrere Interpreten weisen auf die zirkulre Struktur des Textes hin, die durch den Lockruf Komm! am Ende entsteht. Vgl. Calabrese, S. 87; von Matt, S. 244.

Wende..., S. 192), hinter Grenzen und Politik und Zeitungen und Banken und Brse und Handel (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 192), bentzen die Hnse ihre Ehe als das groe Alibi auf der Flucht vor sich selbst. Sie degradieren ihre allzu willigen Frauen zu Musen und Tragtieren (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 192) und gelehrten, verstndigen Begleiterinnen, speisen sie mit hochmtiger Nachsicht und Wirtschaftsgeld und gemeinsamen Gutenachtgesprchen (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 191) ab, kaufen sie und lassen sich kaufen, Betrger und Betrogene zugleich. Die Sprache mibrauchen die Hnse zum Verdecken der Wahrheit, ihre Redensarten sollen die Leere fllen, damit euch nichts fehlt, damit die Welt rund ist (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 191), damit nicht jene Stille entsteht, in der der Ruf von weither hrbar wird, der Muschelton, die Windfanfare (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 191), Undines gurgelndes Gelchter (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 192), ihr Schmerzton, ihre geisterhafte Musik ( Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 191). Denn das ist es, was Undine trotz alledem in Liebe zu Hans hinzieht und was sie immer noch auf eine Vereinigung mit ihm hoffen lt: da er den Ruf zu hren vermag, da er die ferne Stimme erkennt, ja in seltenen glcklichen Augenblicken auf sie antwortet.
Wenn ihr allein wart, ganz allein, und wenn eure Gedanken nichts Ntzliches dachten, nichts Brauchbares, wenn die Lampe das Zimmer versengte, die Lichtung entstand, feucht und rauchig der Raum war, wenn ihr so dastandet, verloren, fr immer verloren, aus Einsicht verloren, dann war es Zeit fr mich. Ich konnte eintreten mit dem Blick, der auffordert: Denk! Sei! Sprich es aus! (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 192f.)

Was Ingeborg Bachmann hier evoziert, ist ein Moment der Epiphanie, der Begegnung eines Menschen mit sich selbst angesichts des Wissens um den eigenen Tod (fr immer verloren), ein Moment radikaler Freiheit, da alle ueren Zwnge und Motivationen abfallen und die Zeit zum Stillstand kommt. In einem solchen Moment findet die Wahrheit zur Sprache, das Unsagbare wird sagbar (Sprich es aus!), knstlerische Inspiration mglich. Da die lang ersehnte und beglckende Begegnung Undines mit Hans gerade den knstlerischen Schpfungsakt darstelle, Undine selbst aber keineswegs ein reales Lebewesen, gar eine Frau, sondern die Kunst, ach die Kunst verkrpere, hat Ingeborg Bachmann in einem viel zitierten Interview erklrt. 13 Dieser Hinweis der Autorin wird uns nicht daran hindern knnen, Undines kritischen Blick auf die Mnnerwelt als dezidiert weiblich zu empfinden und ihre radikale Forderung nach Freiheit, Daseinsflle, Grenzberschreitung als Ausdruck eines zutiefst menschlichen Glcksverlangens zu deuten. Ja, beziehen wir den Text auf andere dichtungstheoretische uerungen Ingeborg Bachmanns, so scheinen die beiden

13 Vgl. Ingeborg Bachmann: Wir mssen wahre Stze finden. Gesprche und Interviews. Hgg. v.

Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, Mnchen 1983, S. 46. Vor allem wehrt sich die Autorin gegen die oft behauptete Identitt ihrer Person mit Undine.

Deutungen die existentielle14 bzw. die poetologische einander durchaus nicht zu widersprechen. Denn in ihren Frankfurter Vorlesungen definiert die Autorin die Dichtung ja gerade nicht als eine vom Leben getrennte Sphre, sondern als existenznotwendig wie das Brot, das scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sei, als ein stndiges, den ganzen Menschen forderndes, Abschiednehmen von Gewohntem, berschreiten von Grenzen, Richtungnehmen auf ein Utopia der Sprache15. Von ihren frhesten Gedichten bis zum Todesarten-Zyklus hat Ingeborg Bachmann diese Suche nach Utopia, dem Ort, der kein Ort ist, immer wieder gestaltet und dabei ein eigenes Metaphernfeld ausgebildet: Inseln, Ksten, Fluufer, Auen, berschwemmungsgebiete, 16 unsichere, changierende Orte, Orte des bergangs zwischen den Elementen, der Grenzberschreitung, der Begegnung und der Trennung. Zwischen dem gerechten Wasser, jenem dichten, durchsichtigen Element der sprachlosen Geschpfe (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 190), wo Undines geisterhafte Musik ( Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 191) ertnt, und dem Festland, wo Hans mit seinem eifrigen Reden immer nur die halbe Wahrheit erfassen wird (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 194), verluft jene nasse Grenze (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 190), an der allein die Begegnung beider mglich ist. An einem solchen Ort, wo die sonst getrennten Elemente sich liebend ineinander verschlingen, hatte schon Fouqu sein Utopia angesiedelt, wo eine unaussprechlich se Ahnung Huldbrand sagte, hier msse gut wohnen und Htten bauen sein.17 Hier wurden der Ritter und die Seejungfrau durch ein wunderbares Hochwasser in einem zeitlosen Glckszustand isoliert, als gbe es keine Welt mehr jenseits dieser umgebenden Fluten 18. Wie Fouqu lt auch Ingeborg Bachmann im Augenblick der Wahrheit die Wasser ber die Ufer treten, lt die Begegnung der beiden Liebenden fern aller menschlichen Zivilisation und an einem Ort stattfinden, der kein Ort ist, der sich stndig neu bildet und wieder zerfliet:

14 Die Nhe des Textes zum existentialistischen Weltempfinden ist unleugbar.Wenn jedoch manche

Interpreten, aufgrund von Schlsselwrtern wie Lichtung, Ruf, etc., darin geradezu eine Diskursivierung der Heideggerschen Philosophie erblicken (vgl. Gutjahr, S. 229, von Matt, S. 258), so bersehen sie m.E. Bachmanns polemische Abwehrhaltung gegenber Heidegger, dem sie ein widerrechtliches Eindringen in die angestammte Sphre der Dichtung zum Vorwurf machte. Vgl. Bachmanns Dissertation Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Diss. Wien 1949). Hgg. v. Robert Pichl, Mnchen 1985 (dort v. a. die Schlupassage). 15 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. In: W, IV, S. 197, S. 268. 16 Vgl. z. B. die Ksten- und Hafengedichte Ausfahrt, Die groe Fracht, Die gestundete Zeit, Bhmen liegt am Meer, die Insel-, See- und Flugedichte aus Lieder von einer Insel bzw. Von einem, Land, einem Flu und den Seen, sowie insbesondere die Donau-Symbolik in Groe Landschaft bei Wien und in der mythisch-utopischen Erzhlung Die Prinzessin von Kagran aus dem Roman Malina. 17 Fouqu: Undine, S. 27. 18 Ebd., S. 28.

Wenn dir nichts mehr einfiel zu deinem Leben, dann hast du ganz wahr geredet, aber auch nur dann. Dann sind alle Wasser ber die Ufer getreten, die Flsse haben sich erhoben, die Seerosen sind gleich hundertweis erblht und ertrunken, und das Meer war ein machtvoller Seufzer... (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 194)

Das Hochwasser, der Ausnahmezustand, das Verlassen des gewohnten, sicheren Terrains sind fr Hans die Bedingungen eines radikalen Innewerdens und eines mglichen Neubeginns. Doch auch Undine kann nicht allein als reine Kunst, als absolute Frau, als das abstrakte Andere existieren; sie bedarf der Liebe, der Begegnung, menschlicher Kommunikation. Darum hat sie mit Hans, dem Verrter, dem Ungeheuer, auf schonungslos enthllende Weise abgerechnet: um ihn zu sich selbst zu bringen, zu seiner wahren Bestimmung, zur Erinnerung an seinen kniglichen Namen. Darum ruft sie, nach alledem und trotz alledem: Komm. Nur einmal. Komm. (Vom Nullpunkt zur Wende..., S. 196) Und horcht auf seine unsere Antwort.
Denn es ist Zeit, ein Einsehn zu haben mit der Stimme des Menschen, dieser Stimme eines gefesselten Geschpfs [...] wer wrde da wenn sie noch einmal erklingt, wenn sie fr ihn erklingt! nicht pltzlich inne, was das ist: Eine menschliche Stimme.19

Stand: 1.6.2000 Hermann Dorowin ist Universittsprofessor fr Germanistik an der Universitt von Florenz.

19 Ingeborg Bachmann: Musik und Dichtung. In: W, IV, S. 59- 62, S. 62.

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