Volksfrömmigkeit

Ausdruck der Religiosität unter den Laien einer regionalen Glaubensgemeinschaft

Im Allgemeinen versteht man unter Volksfrömmigkeit den sichtbaren Ausdruck der Religiosität unter den Laien einer regionalen Glaubensgemeinschaft. Sie setzt sich zusammen aus der „offiziellen“ Liturgie (Gesamtheit der religiösen Zeremonien und Riten) und traditionellen Bräuchen, die in „gutem Glauben“ mit der Religion in Verbindung gebracht werden. Die (möglicherweise heidnischen) Ursprünge solcher Kulthandlungen sind nicht mehr präsent.[1] Die unklare Bezeichnung Volksreligiosität wird manchmal gleichbedeutend verwendet.[2]

Die Verwendung von Gebetsketten gibt es in vielen Weltreligionen (hier Buddhismus)

Aus theologischer Sicht werden mit Volksfrömmigkeit nur jene religiös motivierten Handlungen bezeichnet, die nicht durch die heiligen Schriften legitimiert sind, die jedoch auch nicht als Aberglaube oder Ketzerei angesehen werden. Im Gegensatz zum Volksglauben werden sie geduldet oder auch integriert, jedoch nicht gefördert.[3]

Die 'Volksfrömmigkeit ist Teil des Volksglaubens. Diese beiden Begriffe werden (vor allem in der deutschen Volkskunde) häufig nicht scharf voneinander abgegrenzt und synonym benutzt. Letzteres ist im Gegensatz dazu jedoch konkret auf den „geistigen Überbau“ religiöser und spiritueller Überzeugungen bezogen.

Ausgeprägte Volksfrömmigkeit mit vielen synkretistisch eingemischten Elementen aus ethnischen Religionen findet sich in den katholisch geprägten Gebieten Subsahara-Afrikas und Lateinamerikas sowie in den orthodoxen Gebieten Osteuropas und Asiens.[3]

Ausdrucksformen

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Wallfahrt zum heiligen Rock Jesu 2012
 
Ekstatische Reaktionen bei einer Massenevangelisation
 
Zum volkstümlichen Daoismus gehören eine Vielzahl historischer und mythischer Figuren. Im Bach-Ma-Tempel in Hanoi, Vietnam, wird Bach Ma, ein weißes Pferd verehrt, das einst zum Himmel flog und dem Gründer der Stadt den rechten Platz wies.
 
Katholische Wegkapelle (Heiligenhäuschen) bei Bildein, Österreich
 
Kirche in Awan, einem Stadtteil der armenischen Hauptstadt Jerewan. Für die ansonsten schlicht eingerichteten Armenisch-Apostolischen Kirchen eine ungewöhnlich reiche Ausstattung mit Kultobjekten in einer Dorfkirche.
 
Im Islam ist die Verehrung von Heiligengräbern überwiegend Frauensache. Frauen umlagern die Grabstätte eines der Sieben Heiligen von Marrakesch in Marokko.

Volksfrömmigkeit spricht das subjektive Empfinden stärker an als den Verstand. Sie äußert sich häufig in expressiven, ausdrucksstarken Formen und arbeitet mit vielfältigen Symbolen. Gelebte und offizielle Frömmigkeit standen oft in einem oppositionellen Verhältnis.[4] Dies amtliche gottesdienstliche Handeln muss bei Inkulturationsprozessen, etwa im Rahmen von Missionierung, offen sein für religiöse Ausdrucksformen, die dem jeweiligen Volkscharakter entsprechen, und diese zu integrieren suchen.[5] Es wäre verfehlt, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen der „mehrdeutigen Religiösität der Vielen“ und dem „wahren Glauben“; vielmehr zeigt die Frömmigkeit des Volkes die „vielfältige und inkulturierte Vermittelbarkeit des Glaubens“, wie es der Religionswissenschaftler Diego Irarrázaval ausdrückt.[6]

Folgende Dinge und Ausdrucksformen sind für die Volksfrömmigkeit außerhalb der Liturgie typisch:[7]

Religionswissenschaftlicher Hintergrund

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1750 entwarf der Aufklärer David Hume ein religionswissenschaftliches „Zweischichtenmodell“, nach dem es im Monotheismus immer eine „Religion des gemeinen Volkes“ und eine „Elitereligion“ gäbe. Während die Elite – die Theologen und der Klerus – die Lehre vollumfänglich verstehe und sie zu bewahren versuche, würde im Volk eine Tendenz zur (verdeckten) Vielgötterei herrschen (Beispiel: frenetische Heiligenverehrung im Katholizismus).[3] Johann Gottfried Herder entwickelte das Konzept einer „Volkspersönlichkeit“ mit naturhaft-schöpferischer „Volksseele“, die er als Gegensatz zum oberschichtlichen Bildungswissen ansah.

Der Begriff „Volksfrömmigkeit“ ist „ein spätes, fachsprachliches Konstrukt mit ambivalenten Bewertungsmöglichkeiten“, so der Volkskundler Wolfgang Brückner; der wissenschaftliche Gebrauch sei umstritten, die Konnotationen zwiespältig. Er entstand erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts; das Grimmsche Wörterbuch kannte ihn in seiner Auflage von 1951 noch nicht.[8]

Ursachen der Entstehung

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Die Volksfrömmigkeit entsteht oft durch den praktischen Umgang gläubiger Laien mit ihrem Glauben. Ihnen ist häufig die Tradition der intellektuellen Diskussion innerhalb des Glaubens (Theologie) nicht oder nur in Ausschnitten bekannt. Hierbei kann auch Eigenes und Neues in der Glaubensausübung entstehen.

Regionale Einflüsse, Einflüsse aus anderen Religionen (Synkretismus) und Riten sowie der Zeitgeist erweitern Feste und Bräuche. Damit bieten sie einen wertvollen Beitrag für das Verständnis einer regionalen Kultur. Die Anzahl „fremdreligiöser“ Elemente in der Volksfrömmigkeit ist regional sehr unterschiedlich (auch innerhalb eines Volkes) und hängt von ethnischen Vermischungen und historisch-synkretistischen Einflüssen durch verdrängte oder verbotene Religionen ab.[9]

Christentum

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Katholizismus

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Im Katholizismus hat sich eine Vielfalt volkstümlicher Frömmigkeitsformen entwickelt, vor allem im Bereich der Marien-, Engel- und Heiligenverehrung. Sie steht in einer Wechselbeziehung zur wesensmäßig höher stehenden Liturgie, die „ihre wichtigste Quelle und ihr Nährboden“ ist, so Andreas Heinz. Seit der Inkulturation der herben stadtrömischen Liturgie im fränkischen Raum in Form der gallikanischen Liturgie zu Beginn des Mittelalters bildeten sich volksnahe, sinnenhaftere Feierelemente wie Prozessionen, liturgische Spiele und Heiligenverehrung, die die offizielle Liturgie ergänzten und teilweise in diese aufgenommen wurden. In Einzelfällen können sich Frömmigkeitsformen auch liturgiezerstörerisch auswirken.[10] Einseitigkeiten und Auswüchse werden jedoch vom Lehramt kritisiert und teilweise als Häresie verurteilt. Im 16. Jahrhundert kam es (in Westfalen)[11] zu einem Wandel in der Volksfrömmigkeit, der sich in einem Rückgang der Bedeutung der Jungfrau Maria als Heilige[12] zeigt, wie anhand der Auswertung von Kommendationsformeln in Testamenten festgestellt wurde.

Es bestehen eine Reihe von Ambivalenzen zwischen der kirchenamtlich geregelten Theologie und Liturgie und den Tendenzen der Volksfrömmigkeit, die der Pastoraltheologe Ernest Henau auf folgenden Gebieten sieht:[13]

  • Trennung zwischen Profanem und Sakralem mit einem Hang zu heiligen Stätten und sakralen Objekten
  • Betonung des persönlichen Heils zu Lasten der „politischen“ Dimension des Glaubens
  • der Versuch, durch Beschwörungen, Symbole und Riten Gott zu beeinflussen
  • Spannung zwischen Gewohnheit als Kennzeichen für Volksfrömmigkeit und persönliche Glaubensüberzeugung
  • Vorherrschaft des Gefühls.

Ziel der Pastoral sollte es nach Henau sein, die Elemente des Vertrauens und des Mitlebens in einer wertvollen Tradition zu stärken, die Identität und Geborgenheit bieten; so könne der inkarnatorische, leibhaftige Charakter des christlichen Glaubens erfahrbar gemacht und eine Sicherheit vermittelt werden, dass das Heil den ganzen Menschen umfasst und eine Kultur der Gefühle einschließt.

Das Zweite Vatikanische Konzil prägte für die Elemente der liturgischen Volksfrömmigkeit, sofern sie den Vorschriften und Regeln der Kirche entsprechen, den Begriff „fromme Übungen“ oder „Andachtsübungen des christlichen Volkes“ (Pia populi christiani exercitia).[14] Es empfahl diese Andachtsübungen und sah sie hingeordnet auf die liturgische Feier des Pascha-Mysteriums in der heiligen Messe und dem Stundengebet, aus der sie abgeleitet werden und zu der sie „das Volk hinführen, da sie ihrer Natur nach ja weit über diesen steht“ (SC 13). Fromme Übungen sind gewissermaßen ein „Echo dessen, was in den liturgischen Vollzügen gefeiert wird“.[15]

Zu den häufigen und im mitteleuropäischen Katholizismus verbreiteten „frommen Übungen“ gehören Prozessionen, insbesondere die Fronleichnamsprozession und Flurprozessionen, Wallfahrten, das Rosenkranzgebet, das Gebet des Kreuzwegs und des Engel des Herrn, Ewige Anbetung und Novenen. An kirchliche Feste im Jahreskreis schließen sich lokale Bräuche an wie das Schneiden von Barbarazweigen, Sternsinger, Herz-Jesu-Feuer, Heiltumsweisungen oder Heiligtumsfahrten, Erntedankfest und Martinssingen. Elemente der Volksfrömmigkeit sind Weihwasser und Opferkerzen.

In anderen Kulturen, etwa in Mittel- und Südamerika, Afrika oder Asien, fließen in der Bevölkerung verbreitete Formen wie Sakraler Tanz, Ahnenkult, Verehrung der Mutter Erde und Formen kosmischer Religiosität in gottesdienstliche und gemeindliche Vollzüge ein. Dabei verbinden sie sich synkretistisch mit der Marienverehrung oder beeinflussen, wie im Falle des Kultes um den „schwarzen Nazarener“ auf den Philippinen, die Christusfrömmigkeit als Praktiken zur Beförderung von Genesung und sozialem Aufstieg. Der Religionswissenschaftler Diego Irarrázaval weist auf die kulturverbindende Bedeutung dieser Synkretismen hin, auch wenn die Formen einer kritischen Unterscheidung bedürften. Die Religion zeige mit dem Akzeptieren von Traditionen der Volksfrömmigkeit, dass sie auf die Nöte des Menschen eingehe, mit denen das Böse und Dämonische zurückgedrängt werden sollen, und die heilende Wirkung des gemeinschaftlichen Glaubens bekräftige.[16]

Orthodoxie

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Während in der Lateinischen Kirche des Westens die herbe stadtrömische Liturgie als volksfern empfunden wurde und die Entwicklung sinnenhafterer Feierformen neben der öffiziellen Liturgie provozierte, gelang den orientalischen Liturgien eine Synthese solcher Formen, so dass sich außerliturgische Andachtsübungen kaum entwickelten.[17]

Protestantismus

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Der Protestantismus, der eine Rückbesinnung auf die Schrift forderte, stand der Volksfrömmigkeit von Anfang an skeptisch gegenüber. In geringerem Maß haben aber auch in seinem Bereich bildliche und rituelle Ausdrucksformen Raum gefunden und sich regionale Besonderheiten entwickelt.

In zahlreichen islamischen Ländern stehen orthodoxer Islam und Volksislam einander gegenüber, wobei nach der klassischen islamischen Rechtsprechung die Volksreligion teilweise scharf als synkretistisch kritisiert wird. Auf dem afrikanischen Kontinent sind volksreligiöse Strömungen weit verbreitet.

Im Islam sind die Heiligen meist Sufis (islamische Mystiker), deren Gräber aber nicht nur von den Anhängern des Sufismus, sondern auch von der breiten Bevölkerung besucht werden. Meist sind die islamischen Heiligen spirituelle Führer (Walis) oder Gründer (Scheich, Pir) eines Derwisch-Ordens (Tariqa).

Siehe auch

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Peter-Matthias Gaede (Hrsg.): GEO Themenlexikon: Religionen – Glauben, Riten, Heilige. Bd. 16, Gruner + Jahr, Bibliographisches Institut, Mannheim 2007, ISBN 978-3-7653-9436-2, S. 802, Stichworte „Volksfrömmigkeit“ und „Volksglaube“.
  2. Karl R. Wernhart: Ethnische Religionen – Universale Elemente des Religiösen. Topos, Kevelaer 2004, ISBN 3-7867-8545-7, S. 140.
  3. a b c Berthold Budde, Christine Laue-Bothen: Harenberg Lexikon der Religionen. Die Religionen und Glaubensgemeinschaften der Welt. Ihre Bedeutung in Geschichte, Alltag und Gesellschaft. Harenberg, Dortmund 2002, ISBN 3-611-01060-X, S. 259.
  4. Paul Hugger: Volksfrömmigkeit. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 27. Dezember 2014, abgerufen am 29. April 2016.
  5. Andreas Heinz: Volksfrömmigkeit. II. Liturgisch. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 859.
  6. Diego Irarrázaval: Volksfrömmigkeit. IV. Junge Kirchen. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 860–862.
  7. Wolfgang Brückner: Volksfrömmigkeit. I. Begriffsgeschichtlich. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 858 f.
  8. Wolfgang Brückner: Volksfrömmigkeit. I. Begriffsgeschichtlich. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 858.
  9. Der große Brockhaus. 21., völlig neu bearbeitete Auflage, F. A. Brockhaus, Leipzig/Mannheim 2006, ISBN 3-7653-4145-2, Bd. 29, S. 203 – Stichwort „Volksfrömmigkeit“, S. 204 – Stichwort „Volksglaube“.
  10. Andreas Heinz: Volksfrömmigkeit. II. Liturgisch. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 859.
  11. Ronnie Po-Chia Hsia: Gesellschaft und Religion in Münster 1535–1618. [Überarbeitete Fassung der amerikanischen Originalausgabe. New Haven / London 1984] Bearbeitet und herausgegeben von Franz-Josef Jakobi (= Quellen und Forschungen zu Geschichte der Stadt Münster. Neue Folge, Band 13). Münster 1989, S. 188 ff.
  12. Barbara Krug-Richter: Alltag und Fest. Nahrungsgewohnheiten im Magdalenenhospital in Münster 1558–1635. In: Trude Ehlert (Hrsg.): Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions vom 6.–9. Juni 1990 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Mit einem Register von Ralf Nelles. Thorbecke, Sigmaringen 1991, ISBN 3-7995-4156-X, S. 71–90, hier: S. 89–90.
  13. Ernest Henau: Volksfrömmigkeit. III. Praktisch-theologisch. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 860.
  14. Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, 13; vgl. auch Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 67.
  15. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung: Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie, 2001, Nr. 13.
  16. Diego Irarrázaval: Volksfrömmigkeit. IV. Junge Kirchen. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. 10y860ff. Herder, Freiburg im Breisgau.
  17. Andreas Heinz: Volksfrömmigkeit. II. Liturgisch. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 10. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, Sp. 859.