Ir sult sprechen willekomen
Ir sult sprechen willekomen ist eine strophische Dichtung Walthers von der Vogelweide. Thematisch gehört sie weder völlig dem Minnesang noch der Sangspruchdichtung an, sondern bringt eine ungewöhnliche Vermengung der beiden Register, die sonst in der Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts deutlich geschieden sind.
Das Dichter-Ich fingiert in der ersten Strophe den eigenen Auftritt als Sangspruchdichter, der mit dem prahlerischen Gestus des Spielmanns unerhörte Neuigkeiten (mære) bringe. Zugleich fordert er aber in dieser inszenierten Kommunikationssituation[1] seinen Lohn (in diesem Fall: gruoz ‚Gruß‘).
Hier geht der Dichter nun gänzlich in der Rolle des Minnesängers auf. Oder man versteht die frouwe der 6. Strophe als Metapher für den (Wiener) Hof, dem Walther treu bleiben will, obwohl er bei der Bitte um ein fixes Engagement immer wieder abblitzt. Die naiv-direkte Interpretation, dass die Dame der 6. Strophe eine Minnedame meinen soll, scheint unmöglich zu sein, denn der Sänger wird sich doch nicht so darstellen wollen, als sei er lange fort gewesen und erhebe nun Anspruch darauf, dass die Dame, die er vor seinen Abreise verehrte, ihm über die ganze Zeit hätte treu bleiben sollen.[2] Das Lied ohne Strophe 6 (so Handschrift A) könnte man sich auch als Begrüßungslied für den Hof König Philipps vorstellen.
Die Frage, ob Walthers Preislied „ein Politikum aus der Frühgeschichte der Nationalgefühle in Europa“ darstellt[3] oder die „Nationalgefühle“ der Zeit um 1200 nicht mit denen des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind, wird kontrovers diskutiert: gegen Vergleichbarkeit ist Reichert[4] mit dem Argument, der Nationalismus des 19. Jahrhunderts ziele auf Grenzen eines Territorialstaates („Von der Maas bis an die Memel“ im Lied der Deutschen von Heinrich Hoffmann von Fallersleben), während Walther Territorialismus fremd ist („von der Elbe bis an den Rhein“ ist an beiden Seiten innerhalb des deutschen Sprachraumes) und es ihm nur um die Ablehnung der französisierenden literarischen Mode geht, wie sie vor allem Reinmar von Hagenau pflegte.
Seit Kircher 1973 berücksichtigt man in dieser Diskussion stärker, dass Walther hier einen direkten Angriff des Provenzalen Peire Vidal zurückweist, der auf Grund schlechter Erfahrungen mit den Ministerialen Heinrichs VI. die Deutschen pauschal verunglimpfte (aus Peire Vidal, Lied 37: „Meiner Meinung nach sind die Deutschen ungebildet und grob; wenn einer von ihnen kommt und sich einbildet, er sei höfisch, fühlt man sich zu Tode bestraft und heftig bekümmert. Ihre Sprache klingt wie Hundegebell.“[5]) und die Provence als Land „Von der Rhone bis nach Vence und vom Meer bis zur Durance“ übermäßig pries.
Text
BearbeitenIn der hier gezeigten Form ist das Lied allerdings in keiner Handschrift überliefert, vielmehr ist neben dialektalen Unterschieden v. a. die Strophenreihenfolge und -anzahl variiert:
- HS A: I-V (d. h. ohne VI)
- HS C: I,II,V,III,IV,VI
- HS E: I,II,IV,V,III
- HS L[6]: I, Zeile 1–7
- HS Uxx[7]: I,II,IV,V(hier nur erste Zeile)
I. Ir sult sprechen willekomen: |
Ihr sollt „Willkommen“ sprechen: |
iu ‚euch‘; mære ‚Nachrichten‘; ein wint ‚ein Nichts‘ (‚Wind‘ in der Bedeutung ‚geringfügige Sache‘); miete ‚Lohn‘; wirt ‚wird‘ (zu mhd. wërden); wirt … guot Konditionalsätze stehen im Mhd. meist ohne Konjunktion: ‚Wenn mein Lohn gut wird‘; iht adverbial: ‚etwa‘; lîhte ‚leicht, vielleicht‘; daz hier: ‚etwas, das‘; sanfte ‚sanft, angenehm‘ (Adverb); waz êren ,was an Ehren‘ (Genetiv Plur.); biete 3. Sg. Konjunktiv Präs. zu bieten.
II. Ich wil tiuschen frouwen sagen |
Ich will / werde den deutschen Damen Neuigkeiten bringen, |
wil, Infinitiv wellen: im Mhd. mehr bloße Funktionsbedeutung ‚Zukunft‘ (‚werden‘) als ‚wollen‘; baz Adverb ‚besser‘; suln: im Mhd. mehr bloße Funktionsbedeutung ‚Zukunft‘ (‚werden‘) als ‚sollen‘; âne ‚ohne‘; tuon hier 1. Person Sing.; hêr ‚hehr, hoch‘; gefüege ‚gefügig‘; nihtes Genitiv zu niht; mêr ‚mehr‘; wan hier: ‚außer‘; schône Adverb zu schoene ‚schön‘.
III. Ich hân lande vil gesehen |
Ich habe viele Länder gesehen |
hân ‚habe‘; von vil ist ein Genitiv Plur. abhängig: vil lande ‚viel der Länder‘; nam war Präteritum zu war nehmen ‚wahrnehmen‘ (mit Genitiv: der besten); müeze Konjunktiv Präsens zu müezen ‚müssen‘; ie ‚je, jemals‘; dar ‚dorthin‘; wol Adverb zu guot; wolde Präteritum zu wellen ‚wollen‘; site ‚Sitte, Brauch‘ ist mhd. maskulin; hulfe Konjunktiv Prät. zu helfen, mhd. mit Akkusativ; ob ‚wenn‘; rehte ‚richtig‘; strite Konjunktiv Prät. zu strîten ‚streiten‘; zuht ‚Zucht, Erziehung, Sitten, Ausbildung, gutes Benehmen‘; gât ‚geht‘; vor gân ‚vorgehen, besser sein als‘; in hier: ‚ihnen‘, ‚geht vor ihnen allen‘ = ‚ist besser als sie alle‘.
IV. Von der Elbe unz an den Rîn |
Von der Elbe bis an den Rhein |
unz ‚bis‘; mugen ‚können, zu etwas imstande/fähig sein, vermögen‘ mugen wol sîn ‚können wohl sein‘ = ‚sind vielleicht‘; kan ‚kann‘ zu kunnen ‚geistig können, wissen, verstehen‘; gelâz ‚Benehmen‘ zu lâzen ‚lassen‘; lîp ‚Leib‘, hier ‚Äußeres‘; sem ‚ebenso wie‘; ‚wie mir Gott‘ = ‚bei Gott!‘; swüere Konj. Prät. zu swern ‚schwören‘; hie ‚hier‘; wîp ‚Frau‘, nicht ‚Weib‘; frouwe ‚Herrin, Dame‘; diu wîp Plur. zu daz wîp; danne beim Komparativ ‚als‘; ander hier Genitiv Plur. ‚anderer‘; ‚die Damen anderer‘ = ‚die von den anderen (fremden, z. B. provenzalischen) Dichtern besungenen Damen‘.
V. Tiusche man sint wol gezogen, |
Deutsche Männer sind wohlerzogen, |
getân hier: ‚beschaffen‘; s-wer ‚wer auch immer, jeder der‘; derst = der ist; en- Verneinungspartikel, zusammen mit dem folgenden niht doppelte Verneinung; sîn hier pronominaler Genitiv; verstân ‚verstehen‘ hier mit dem Genitiv; dar inne ‚drinnen‘ (in unserem Land).
VI. Der ich vil gedienet hân |
Die, der ich lange gedient habe |
diust = diu ist; un-er-lân wörtlich ‚unerlassen‘; ‚sie ist von mir unerlassen = ich lasse sie nicht sein‘; sêren ‚Schmerz bereiten‘; vergebez = vergebe ez; dazs = daz si; sichs = sich des.
Übersetzung und sprachliche Kommentare nach Reichert 2009.
Neuinterpretationen
BearbeitenDas Stück „Willkommen“ der deutschen Folkgruppe Ougenweide (1976) basiert auf diesem Lied.
Literatur
Bearbeiten- Alois Kircher: Dichter und Konvention. Zum gesellschaftlichen Realitätsproblem der deutschen Lyrik um 1200 (Literatur in der Gesellschaft 18). Düsseldorf 1973.
- Wolfgang Mohr: Die ‚vrouwe‘ Walthers von der Vogelweide. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 86 (1967).
- Hermann Reichert: Walther von der Vogelweide für Anfänger 3., überarbeitete Auflage. facultas.wuv, Wien 2009, ISBN 978-3-7089-0548-8
Weblinks
BearbeitenAnmerkungen
Bearbeiten- ↑ Strohschneider, Peter (1993): Aufführungssituation : zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Janota, Johannes (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen: Niemeyer. Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik, Bd. 3 (Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis), S. 56–71.
- ↑ so Mohr 1967.
- ↑ so Hugo Kuhn: Walther von der Vogelweide und seine ‚deutsche‘ Rezeption. In: Hugo Kuhn: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 342.
- ↑ Reichert 2009 S. 19ff.
- ↑ Übersetzung: Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter Bd. 1, München 1972, S. 701.
- ↑ München, Staatsbibl.,| Cgm 44.
- ↑ Wolfenbüttel, Landeskirchl. Archiv, Depositum Predigerseminar H 1a, nur noch teilweise lesbar.