Ästhetisch anspruchsvolle Fotos in der Wikipedia rufen zuweilen Stirnrunzeln hervor, weil sie manipulativ seien oder die Wirklichkeit geschönt darstellen. Das würde ich unterschreiben, wenn der Gegenstand völlig anders dargestellt wird, als er bei einem Besuch anzutreffen ist, wenn dem Motiv künstlich Aspekte hinzugefügt werden oder wenn wesentliche Aspekte des Motivs durch Retusche entfernt wurden.

Manchmal zeigen Fotograf:innen Bilder mit dem Hinweis vor, sie seien „unbearbeitet“. So etwas gibt es jedoch nicht, denn grundsätzlich ist jedes Bild „bearbeitet“, ja sogar „manipuliert“. Angefangen von der Beschaffenheit des menschlichen Auges, mit einer ungefähren Brennweite von f=20mm, wo Kameras bei kleineren oder deutlich größeren Brennweiten schon vor der Digitalisierung eines Bildes Bildinhalte verzerren oder Tiefen subjektiv zusammenziehen können und so Ausschnitte schaffen, die nicht der Ansicht entsprechen die ein Mensch vor Ort hat. Das menschliiche Gehirn korrigiert diverse Perspektivfehler beim Sehen (zum Beispiel "stürzende Linien" an Gebäuden) automatisch, die eine Kamera ohne Korrektur erstmal abbildet - mit Korrektur aber (künstlich?) entfernen kann.

Es geht weiter bei der Digitalisierung: Der Sensor Kamera bildet die Wirklichkeit nicht objektiv ab, und in der Kamera findet unmittelbar nach dem Auslösen ein Prozess statt, der aus den aufgenommenen Roh-Bilddaten ein darstellbares Foto macht. Dabei werden Helligkeit, Kontrast, Farben, Schärfe und Dynamik nach vom Hersteller festgelegten Abläufen und Parametern fix oder dynamisch angepasst. So ein Ablauf kann mehr oder weniger ausgefeilt sein. Teils sind die Prozessoren der Kamera sogar in der Lage, die Art des Motivs zu erkennen und die spätere Abbildung anhand gesammelter „Erfahrungen“ auf die ästhetischen Erwartungen des Betrachters hin zu einzustellen.

Nichts anderes macht ein Fotograf, wenn er die Entstehung eines Bildes von der Belichtung bis zur Entwicklung selbst kontrolliert und in die Hand nimmt. Aber legen wir mal los, manipulieren wir ein Bild:

Hier ein Foto des "Alversteens", einer Megalithennanlage auf der Insel Fehmarn (nicht von mir). Der Stein ist umgeben von belaubtem Gehölz, daher gab es in den Abendstunden im Sommer nicht so viel direktes Licht. Der Fotograf hat sich vor das Motiv gestellt und mit seiner Kompaktkamera im Automatikmodus (Reduzierung roter Augen war zugeschaltet) in Augenhöhe draufgehalten. Die Kamera hat von sich aus den eingebauten Blitz zugeschaltet.

Das Ergebnis ist kein wirklich schlechtes Bild - es ist scharf, das Motiv ist erkennbar und hebt sich ausreichend vom Hintergrund ab. Manche würden es das als "unmanipuliert" bezeichnen, weil keine menschliche Nachbearbeitung und keine besondere Technik eingesetzt wurde. Allerdings wirkt der Stein durch das Blitzlicht deutlich grüner, als ich ihn aus dem Augenschein in Erinnerung habe. Auch wirkt seine Struktur flach und das Licht wirkt unnatürlich. Der Hintergrund ist sehr dunkel, obwohl es um die Uhrzeit durchaus noch hell war.


Was nun folgt, ist bewusste Manipulation:

Ich bin eine Weile um die Steine herumgelaufen, habe mit dem vorhandenen Licht experimentiert und mit verschiedenen Perspektiven. Es war ein sonniger Sommertag am frühen Nachmittag. Insgesamt habe ich rund 30 Aufnahmen aus verschiedenen Richtungen gemacht. Die Aufnahmen sind im RAW-Format gemacht worden, kommen also nicht mit der Dateiendung "jpg" aus der Kamera, wie man das von der Knipse oder dem Handy gewohnt ist, sondern in einem digitalen Rohformat. Man umgeht damit die digitalen, automatischen Entwicklungsprozesse der Kamera, die zwar sofort zu vorzeigbaren Ergebnissen führen, aber manuelle Einstellungen im Nachhinein nur eingeschränkt und verlustbehaftet ermöglichen. Nachteil: Die Fotos brauchen viel mehr Speicherplatz und müssen (!) mit einer speziellen Software digital entwickelt werden, bevor man sie weiterverwenden kann.

Das Foto hier ist mit einem Stativ gemacht worden, wobei die Kamera über Kopf ca. 20cm über dem Boden hing, weil ich diese Perspektive deutlich reizvoller fand, als die normale Augenhöhe. Das ist bereits eine erhebliche Beeinflussung, denn kein Durchschnittstourist krabbelt vor so einem Steinzeitgrab auf dem Boden herum - in Folge bekommt er den Alvensteen auch nicht aus dieser Perspektive zu sehen. Das Stativ war nötig, weil ich eine kleine Blendenöffnung einsetzen wollte, um viel Tiefenschärfe zu erhalten (der Stein sollte im Vordergrund, aber auch etwas in der Tiefe scharf sein). Die kleine Öffnung lässt wenig Licht auf den Sensor, das kann man nur durch eine hohe Lichtempfindlichkeit ausgleichen (ergibt unschönes Rauschen im Bild) oder durch eine lange Belichtungszeit (verwackelt aus der Hand). Daher also das Stativ. Weil ich so knapp über dem Boden nicht mehr gut durch den Sucher schauen konnte, habe ich die Kamera noch mit dem Smartphone gekoppelt und sie von oben "ferngesteuert".

Die Nachbearbeitung bestand nur darin, das Bild zu drehen, den Rand etwas zu beschneiden und in der Nachbearbeitung / Entwicklung auf "Automatik" zu drücken. Das löst bereits eine Reihe von Einstellungsänderugen aus, was aber weitgehend dem Prozess entspricht, der in der Kamera selbst stattfindet, wenn sie aus einer Aufnahme ein jpg-Bild erstellt, etwa im kameraeigenen Automatikmodus.
Gegenüber dem ersten Blitzbild sieht man realistischere Farben, Tiefe und Struktur. Und natürlich eine interessante, neue Perspektive.

Das Bild hat jedoch Schwächen:

Der Hintergrund sowie die Sonnenflecken am Boden und auf den Steinen sind überbelichtet. Das ist unvermeidlich, da hier die Sonneneinstrahlung viel mehr Licht produziert, als auf den teils schattigen Steinen. Die Schärfeneinstellung ist nicht überall optimal. Die Struktur der Steine könnte besser dargestellt sein. Im oberen Bereich des Hintergrundes hat das Objektiv Farbsäume (Chromatische Aberrationen) verursacht, die in vergrößerten Ansichten gut sichtbar sind. Deutlich teurere Objektive als meins neigen dazu weniger, aber mein damaliges Weitwinkelobjektiv wies bei starken Lichtkontrasten diese verbreitete Schwäche auf. Und dann haben die Leute hinter dem Stein noch ein hässliches Flatterband gespannt (rechts) und ein laminiertes Schild aufgehangen, damit niemand dorthin pinkelt.



Nun also die Manipulationsstufe 2: Statt nur auf Automatik" zu drücken habe ich die Tonwert (Lichter, Schatten, Weiß- und Schwarzwert, Kontrast) von Hand optimiert, ein kräftigeres Farbprofil gewählt, die Struktur des Gesamtbildes etwas herausgestellt und die Gesamtschärfe manuell eingestellt. Verändert wurden dabei die gleichen Faktoren, die auch die Automatik angepasst hat - diesmal aber von mir. Dann habe ich in Bereichen des Bildes die Belichtung reduziert (oben in den Bäumen und bei den hellen Flecken unten) und auf den Steinen die hellen und dunklen Zonen etwas differenzierter belichtet. Die Farbsäume habe ich stark reduziert.

Im Ergebnis wirkt das Motiv noch strukturierter als beim ersten Foto. Die Überbelichtungen / weiß ausgefressenen Stellen sind reduziert, wobei sie sich angesichts des starken Licht/Schatten-Kontrastes oben im Geäst nicht ganz verhindern lassen.



Und hier nun die dritte Variante:

Im Grunde habe ich in der Nachbearbeitung nichts anderes gemacht, als bei der vorigen, die Ausgangsbasis war aber eine andere. Statt einer habe ich drei Belichtungen gehabt, eine "richtige", eine stärker belichtete ("hellere") und eine schwächer belichtete ("dunklere"). Daraus hat meine Entwicklungssoftware ein neues Bild errechnet, bei dem der erhebliche Kontrastumfang des Motivs, das unser Gehirn in natura mühelos verarbeiten kann während ein Kamerasensor damit überfordert ist, aus drei Einzelbelichtungen zusammengesetzt wird. Diese Technik nennt man HDR, und sie kann sehr exzessiv eingesetzt werden, was zu irrwitzigen Ergebnissen führt. Hier habe ich sie recht behutsam verwendet, was man an der Ähnlichkeit zum konventionellen Bild darüber sehen kann.

Das Ergebnis sind noch feiner gezeichnete Licht- und Kontrasrverhältnisse - wo etwa zuvor im Stein oder an der Baumrinde "dunkel" zu sehen war, sind jetzt feinere Schattierungsverläufe sichtbar. Auch die Überbelichtung oben im Geäst ist weiter reduziert. Sie ganz rauszunehmen hätte das Bild m.E. aber zu stark verfälscht, denn es war dort oben wirklich sehr hell.
Zuletzt habe ich mir noch erlaubt, das Pinkelschild und das Flatterband zu entfernen. Das ist nun eindeutig eine Manipulation, aber da beides nicht zum historischen Bestand des Denkmals gehört, finde ich das vertretbar (es sollte aber in der Bildbeschreibung gekennzeichnet sein). Ein anderer Fotograf hätte vielleicht eine reale Schere angesetzt und eine Sachbeschädigiung begangen :-)
Zum Schluss habe ich noch eine andere Software eingesetzt, mit der sich feinste Veränderungen in Struktur und Farbe vornehmen lassen. Hierdurch ist der Baum rechts im Hintergrund etwas strukturierter erkennbar, wo vorher nur eine dunkle Fläche sichtbar war. Außerdem ist die rauhe Felsstruktur betont und das Sonnenlicht im Inneren der Steine etwas goldener gefärbt.

Nun müsst Ihr selbst entscheiden, welches Bild "schöner", "enzyklopädischer" oder "unverfälschter" ist. Wo würdet Ihr eine Grenze ziehen? Bei der Optimierung des Lichts oder schon bei der bodennahen Perspektive, die normalerweise nur Kaninchen zu sehen bekommen? Oder alles gut, so lange man das Flatterband drin gelassen hätte?