Mit allen Wassern gewaschen
Von Gerd Friederich
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Über dieses E-Book
Herbst 1841: Mord im Städtchen. Die dörfliche Dreifaltigkeit aus Pfarrer, Schultheiß und Lehrer muss den Fall aufklären.
Frühjahr 1842: König Wilhelm I. von Württemberg hat angekündigt, das Städtchen zu besuchen. Man wartet und wartet ...
Gerd Friederich
Gerd Friederich, aufgewachsen im hohenlohischen Langenburg und schwäbischen Bietigheim an der Enz, studierte in Würzburg fürs Lehramt (Deutsch, Kunst, Geschichte, Geografie) und berufsbegleitend noch zweimal, zunächst in Tübingen (Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Landeskunde), wo er mit einer historischen Arbeit promovierte, und viele Jahre später in Nürnberg (Malerei). Er arbeitete als Lehrer, Heimerzieher, Personalreferent, Schulrat, Lehrerausbilder und veröffentlichte viel Fachliteratur. Jetzt lebt er im Taubertal, schreibt Romane und malt Porträts und Landschaften.
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Mit allen Wassern gewaschen - Gerd Friederich
Gerd Friederich, aufgewachsen im hohenlohischen Langenburg und schwäbischen Bietigheim an der Enz, studierte in Würzburg fürs Lehramt (Deutsch, Kunst, Geschichte, Geografie) und berufsbegleitend noch zweimal, zunächst in Tübingen (Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Landeskunde), wo er mit einer Arbeit zur Schulgeschichte promovierte, und viele Jahre später in Nürnberg (Malerei). Er arbeitete als Lehrer, Heimerzieher, Personalreferent, Schulrat, Lehrerausbilder und veröffentlichte viel Fachliteratur. Jetzt lebt er im Taubertal, schreibt Romane und malt Porträts und Landschaften.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Linnfurt um 1840
Ende August 1841
Sichelhenke
Der Läpple ohne Käpple
Immer Ärger über die Regierung
Leichenschmaus
Heiße Spur?
Jahrhundertfest
Neue Sparkasse, neue Gemeindeverordnung
Des Schultes Töchterlein bockt
Erntedankfest
Reformationstag
Martini
Februar 1842
Linnfurter Alltag
Der Nikolaus ist da
„Tod dem König!"
Schwer verwundet
Verpappte Hochzeit
Österreichisch-preußische Allianz
Nichts als Ärger
Schwerer Fehler
Der Bart ist ab
LITERATUR VON GERD FRIEDERICH
Vorwort
Schwäbisch ist zweifellos eine schöne und kreative Mundart. Damit das auch außerhalb Schwabens bekannt wird, habe ich sie in meiner Enzheim-Trilogie aus Kälberstrick, Sichelhenke und Tod dem König zumindest teilweise verwendet und für nichtschwäbische Leserinnen und Leser eine Wörterliste der Dialektwörter angehängt.
Natürlich deuteten meine schwäbischen Textpassagen die Mundart nur an, denn lautgetreu geschrieben sind sie auch für Schwaben schwer zu entziffern. Vor allem die fürs Schwabenland so charakteristischen Nasal- und Gutturallaute können mit den 26 Buchstaben unseres Alphabets nicht annähernd wiedergegeben werden.
Immer wieder haben mich des Schwäbischen unkundige Leserinnen und Leser darauf hingewiesen, dass ihre Freude an der Lektüre doch arg getrübt wird. Deshalb habe ich mich entschlossen, eine hochdeutsche Variante der drei Romane herauszugeben und dabei den Text zugleich zu kürzen und zu überarbeiten.
Das Städtchen Linnfurt (vormals Enzheim) ist frei erfunden. Auch die handelnden Personen habe ich mir ausgedacht. Aber die Kulisse des Romans entspricht dem, was die landesgeschichtliche Forschung besagt. Die folgenden fünf Seiten beschreiben den exakten historischen Hintergrund der Handlung.
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Linnfurt um 1840
Einwohner: 1051 insgesamt, davon 608 weibliche und 443 männliche, darunter 2 katholische und 9 jüdische Familien; der Rest ist evangelisch.
Bebauung: Auf der Gemarkung stehen über 150 Häuser, 1 evangelische Kirche, 1 Rathaus, 1 Schulhaus (neu) mit zwei Volksschulklassen, dazu 1 Lateinschule (mit einer Klasse), 1 Zehntscheuer, 3 Tortürme und Nachtwächterturm.
Wirtschaftliche Verhältnisse: 1800 Morgen Wald: Eichen, Buchen, Eschen, Aspen (Pappeln), Weiden, Birken, Föhren. 1400 Morgen Ackerland: Korn, Dinkel, Gerste, Hafer; Wicken, Erbsen, Linsen, Saubohnen; Kartoffeln, Rüben, Kohl; Flachs, Klee und Vieh-Mangold. Hauptfrucht ist Dinkel (45 %), gefolgt von Gerste (25 %) und Hafer (18 %). Roggen und Weizen spielen eine untergeordnete Rolle. 400 Morgen Wiesen. 500 Morgen Weinberg: 350 000 bis 600 000 Liter Wein jährlich (gerechnet in Fuder; 1 Fuder = 1 Wagenladung ≈ 1000 Liter), nahezu ausschließlich Weißwein. 30 Morgen Krautgarten und 40 Morgen Obstbäume. Entlang der Linn stehen Erlen und Weiden, die von sieben Korbmachern gewerblich genutzt werden. Auf der Gemarkung arbeiten drei Mahlmühlen, alle drei vom Wasser der Linn angetrieben.
Viehzählung: 164 Pferde, 726 Rindvieh, 327 Schafe, 128 Ziegen, 389 Schweine, 1 Zuchteber, 1 Zuchtstier, 72 Bienenstöcke (nach der Wirtschaftsordnung im Königreich Württemberg zählen die Bienen zum Vieh).
Ausgeübte Berufe nach dem Gewerbekataster: 45 Weinbauern, 54 Landwirte (8 große mit 20 und mehr Morgen Land, 15 mittlere mit 10 bis 20 Morgen und 31 kleine mit weniger als 10 Morgen Land; einige haben auch noch Weinberge), 57 Taglöhner, 7 Korbmacher, 3 Holzhändler, 3 Küfer, 3 Schneider, 3 Wagner, 3 Müller, 3 Gastwirte (darunter 1 Weinstube), 3 Schmiede (darunter 1 Nagelschmied), 2 Schuster, 2 Zimmerleute, 2 Viehhändler, 2 Maurer, 2 Schreiner, 2 Weber (Stückweber, auch als Lohnweber auf der Stöhr unterwegs), 2 Bäcker, 1 Glaser, 1 Sattler, 1 Metzger (viele Eigenschlachtungen und 1 Lohnmetzger im Nebenerwerb), 1 Krämer, 1 Fuhrmann, 1 Töpfer und Ziegelmacher.
Weinlagen: Am Schlossberg wächst der Linnfurter Grafenstolz, auf der Lug der Linnfurter Schiller.
Vereine: Männergesangverein Liederkranz, gegründet 1839, Vereinslokal: Linde; gesungen werden vor allem Friedrich Silchers Chorsätze. Turnverein Frischauf, gegründet 1840, Vereinslokal: Ochsen; Zweck des Vereins: „Reinheit der Sitten erstreben und bewahren, vaterländische Gesinnung verbreiten." Geturnt wird an Geräten wie Bock, Pferd, Leiter und Seil. Hinzu kommen Disziplinen wie Laufen, Springen und Werfen. Hauptanliegen ist die Bewahrung der Schuljugend vor Müßiggang. Die Vereinsfahne hat die Farben schwarzrot-gold mit vier, jeweils um 90 Grad gedrehten Buchstaben F (für frisch-fromm-fröhlich-frei).
Aufgaben der Gemeinde: Fizinalstraße (Landesstraße) durch den Ort sowie Gassen und Wege im Ort und auf der Gemarkung unterhalten, ebenso Stege und Brücken. Dazuhin Unterhalt der Stadtmauer und der Türme sowie der Zehntscheuer. Mit Gesetz vom Oktober 1836 kann jeder Bürger alle herrschaftlichen Fronen und Dienste mit dem 16-fachen Betrag endgültig ablösen: Jagdfron, Handdienste (Gegenwert für 1 Handdienst pro Tag: 8 Kreuzer), Fuhrfron = Mähne (Gegenwert: 36 Kreuzer), verschiedene Baufronen für Forsthaus, Waschhaus, Zehntscheuer, Tortürme, Stadtmauer. Nur wenige reichere Linnfurter haben bisher ihre Fronpflichten abgelöst. So ergibt sich für Schultes Frank die Möglichkeit, kommunale Frondienste einzufordern. 1840 lässt er zwischen Schulhaus und Kirche einen zweiten Brunnen graben, nachdem ihm der bekannte Brunnenmacher Wöppel aus Gerabronn ein preisgünstiges Angebot unterbreitete. Stadtrat und Kirchenkonvent beschließen, sich die Kosten zu teilen, halb Stadtsäckel, halb Heiligenpflege.
Märkte: jährlich 1 Rossmarkt (16. Januar), 2 Viehmärkte (Mai und August) und 1 Krämermarkt (3. Sonntag im Oktober).
Fleckendienste (kommunale Dienste): Wald- und Feldschütz, Nachtwächter, Wegknechte, Waldknechte, Farrenhalter, Hebamme, Gemeindeschäfer, Fronmeister, Obsthüter (nur im September und Oktober). Im Gegensatz zu den wenigen Ämtern wie Stadtrat oder Kirchenkonventsmitglied, die den Reichen im Ort zustehen, werden die Dienste nur an ärmere Einwohner vergeben, um so die örtliche Armenpflege zu entlasten. Alle Dienste werden in der Regel mit örtlichen Bewerbern besetzt und zusätzlich zum Haupterwerb ausgeübt. Die Besoldung besteht aus dem Grundgehalt (Wartgeld), das durch Taggelder und Anteile an Strafgeldern aufgebessert werden kann. So bekommt z.B. der Feldschütz ein Drittel der durch ihn veranlassten Strafgelder.
Ortsarme: Recht zur Holzlese und Ährenlese. Recht zum Haustürbetteln an Gründonnerstag.
Gemeindevermögen: Gebäude: Rathaus, Schule, Volksschule, Lateinschule, Zehntscheuer, 3 Tortürme, Nachtwächterturm, Stadtmauer. Grundbesitz: Wald, Ackerland, Schafweide, Allmende sowie Miete und Pacht aus diesen. Geldverleih: üblicherweise 5 % Zinsen jährlich. Holz für Rathaus, Schule und Lehrerwohnung kommt aus dem Gemeindewald, das die Waldknechte schlagen müssen. Haupteinnahmequelle sind der „Gemeindeschaden" (Gemeindesteuer), Bürger- und Wohnsteuer sowie Schulgeld. Im Rathaus werden der Dachboden (Kornspeicher) und ein paar Nebenräume verpachtet. Neubürger müssen ein Bürgergeld bezahlen.
Zeitung: Seit Herbst 1829 erscheint das „Intelligenz-Blatt für Linnfurt". Verlegt wird die Zeitung vom Bäcker Andreas Schmidlin, der sich mit dem Verkauf der Zeitung auch eine Belebung beim Verkauf seiner Backwaren erhofft, was auch eintritt. Anfangs hilft ihm der Lateinlehrer als Redakteur. Aber weil der viel lateinisches Gefasel aufschreibt, kündigt ihm der Bäcker schon bald. Seitdem ist Schmidlin sein eigener Redakteur. Mit dem neuen Provisor hofft er auf einen redaktionellen Mitarbeiter. Die Zeitung erscheint zweimal wöchentlich, jeweils mittwochs und samstags. Jede Ausgabe muss vom Schultheißen vorab geprüft und freigegeben werden. Es herrscht also Zensur. Der Inhalt der Zeitung gliedert sich in zwei Teile: Bekanntmachungen, Privatnachrichten und Anzeigen sowie kurze Erzählungen und Berichte aus aller Welt (zumeist aus anderen Zeitungen abgeschrieben).
Ende August 1841
„Was stinkt denn da so gottserbärmlich?" Der Schultheiß und Lindenwirt Fritz Frank, den man dienstlich den Schultes und privat den Aberjetza nennt, steht auf, marschiert in seiner leeren Schankstube auf und ab, schnüffelt wie ein Bär auf Honigsuche in alle Ecken und beschnuppert sich. Witternd zieht er die Luft ein.
„Ich riech nix", bekennt der Scharwächter arglos.
Der Schultes schließt die Fenster. Vielleicht hat draußen jemand geodelt. Er setzt sich und atmet tief durch. „Sapperlott, jetzt stinkt’s noch mehr! Schimpfend steht er wieder auf, geht kreuz und quer durch den Saal und folgt mit geblähten Nüstern der irritierenden Duftspur. Neben dem Hilfspolizisten bleibt er stehen und hechelt. „Du bist der Stinker!
Entsetzt weicht er zurück.
„Kann nicht sein, kann nicht sein!", braust der Scharwächter auf. Er habe sich heute schon gewaschen. Gottlob Vorderlader, so sein amtlicher Name, war einst Soldat, bis er nach den napoleonischen Kriegen beim Militär ausgemustert wurde. Seitdem ist er Feld- und Wengertschütz sowie Hilfspolizist in einem.
Der Schultes reißt alle Fenster auf und schreit einer Magd.
Obermagd Paula kommt aus der Küche gerannt. „Wo brennt’s?"
„Aberjetza riech mal."
Paula hält sich sofort die Nase zu. „Gülle und Schnaps", näselt sie mit erstickender Stimme, torkelt ein paar Schritte, schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und klemmt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase wieder zu. Wortlos deutet sie auf den Scharwächter, rollt die Augen, als falle sie in Ohnmacht, und flüchtet in die Küche.
„Steh auf!", brüllt der Schultes den verdatterten Scharwächter an.
Der Hilfspolizist gehorcht aufs Wort, aber der Stuhl ist trocken, der Hosenboden auch.
Nach ausgiebigem Gezerf und Gezänk gesteht der Mann im blauen Amtskittel mit den roten Litzen, dass er, weil heute doch Sichelhenke ist, von Scheune zu Scheune gehen musste, um nach dem Rechten zu sehen. Das sei schließlich seine Pflicht als Sicherheitsorgan der Stadt Linnfurt an der Linn.
„Und da haben sie dich mit Schnaps, Wein und Most abgefüllt." Der Schultes fragt nicht, er stellt es amtlich fest. Er kennt seine Linnfurter in- und auswendig. Darum kann er bei diesem reichlich geübten Säufer in Uniform den nüchternen vom betrunkenen Zustand unterscheiden.
Den mündlichen Bescheid weist der Scharwächter mit aller Bestimmtheit als böswillige Unterstellung zurück. Er habe bloß elf Schnäpse und fünf Gläser Wein gekriegt. Ja, und dreimal habe er aus einem Mostkrug trinken dürfen. Die Leute würden immer geiziger.
„Hast Gülle gesoffen in deinem Rausch?"
„Nein!" Der Hilfspolizist fuchtelt mit den Armen und ringt um Worte, weil seine Zunge so schwer im Gaumen hängt. Mit letzter Kraft bringt er endlich hervor, dass ihn der Geselle vom Küferschorsch absichtlich stolpern ließ. Und dabei sei er versehentlich in die Jauchegrube gefallen. Aber sofort habe er sich am Laufbrunnen auf dem Marktplatz Gesicht und Hände gewaschen, er sei doch ein reinlicher Mensch.
Der Schultes flucht sein ganzes Repertoire an Verwünschungen und Beleidigungen alphabetisch rauf und runter. Aus moralischen Gründen können sie nur auszugsweise wiedergegeben werden: „Allmachtsdackel! Hosenscheißer! Katzenmelker!! Ober-dubbeler!!! Rauschkugel!!!".
Wütend stößt er die Tür zur Küche auf und erteilt Paula die Weisung, das gesamte Dienstpersonal, das in der Scheune beisammensitzt und Sichelhenke feiert, müsse sofort zum Appell in der Linde antreten. Der Scharwächter werde ausgemistet! Und zwar jetzt! Von den Schweißfüßen bis hinter die dreckigen Ohren. Gefahr im Verzug! Sonst könnte morgen schon in ganz Linnfurt die Seuche ausbrechen.
Die dienstbaren Geister treten vollzählig in der Linde zum Befehlsempfang an, die Gesichter leuchtend rot vom Alkohol und von der immensen Schufterei der letzten fünf Wochen an der frischen Luft. Grinsend halten sich die Mägde und Knechte die Nasen zu und schnappen mit offenem Mund nach Luft, wie ein taubstummer Gesangverein bei der Generalprobe.
„Aberjetza, der Schultes baut sich vor seiner Mannschaft auf, „machen wir das so.
Die Mägde erhalten die Order, im Sutrai [Keller, Untergeschoss] sofort einen Zuber mit lauwarmem Wasser sowie Bürsten und Striegel bereitzustellen. Auf unterdrücktes Murren fügt der Schultes an, dass bis morgen Abend um acht, wenn die Linde wieder öffnet, noch genügend Zeit zum Feiern in der Scheune und auf der Linnwiese bleibt.
Zuerst müsse der Rossknecht den Saufkopf dreimal in der Viehtränke untertauchen, damit der Dreck eingeweicht wird.
„Vorwäsche, lacht der Knecht, „kapiert.
Dann soll er ihn splitterfasernackt ausziehen und im Zuber mit der Wurzelbürste abschrubben.
„Soll ich Seife nehmen?"
„Nein, die ist zu teuer. Aberjetza hat meine Frau einen alten Essig, der schon hinüber ist." Sie solle ihm ein starkes Essigwasser herrichten, damit es dem ganzen Lumpenzeug, das auf dem Scharwächter herumkrabbelt, schwindelig wird. Mit diesem scharfen Essig müsse man den Stinkstiefel abbürsten und seine Haare spülen. Es könnte nämlich leicht sein, dass der Herr Hilfspolizist bereits von Flöhen, Läusen und der Krätze befallen ist. Notfalls solle sich der Knecht nicht scheuen, schwarze und braune Krusten mit Scheuersand zu bearbeiten und den Kopf des Scharwächters mit dem Pferdestriegel zu filzen. Und zum Schluss solle er ihn nochmal kräftig in der Viehtränke wässern.
„Soll ich dann die saubere Wäsch zum Trocknen aufhängen und bügeln?", lacht der Knecht.
Der Scharwächter, der bisher nicht wusste, wie ihm geschieht, legt Widerspruch ein. So dürfe man nicht mit ihm umspringen, denn er sei eine Amtsperson.
„Amtsperson?, höhnt das Stadtoberhaupt, „Quadratsdackel, Saufloddel, Hosenbrunzer!
Verächtlich winkt er ab. „Wenn‘s Dummsein weh tät, dann müsstest du Tag und Nacht schreien."
„Paula, weist der Schultes seine Obermagd an, „du gehst zum Wengerttor.
Sie solle, wenn der Knecht den Scharwächter entblößt hat, der leidgeprüften Ehefrau die stinkenden und dreckstarrenden Kleider ihres Göttergatten bringen und dafür saubere Wäsche holen.
Der Scharwächter will opponieren, aber der Schultes droht, ihm sein Amt noch heute Abend abzuerkennen, wenn er sich widersetzen sollte.
Linnfurt liegt an der Linn, einem Nebenfluss des Neckars. Es ist ein altes Residenzstädtchen in der ehemaligen Grafschaft Linnfurt-Habsburg-Burgund und das geografische, geschichtliche, politische und kulturelle Zentrum des Königreichs Württemberg.
Unter Friedrich Barbarossa dienten die Herren von Linnfurt als hohe Beamte den mächtigen Staufern. Die Nachfahren Barbarossas balgten sich um diese kleine, aber feine Herrschaft an der Linn, doch den Sieg trugen die Linnfurter davon. Sie jagten ihre Adligen durch die Spieße und kürten selbstherrlich einen Edelmann vom Zürichsee zum Grafen von Linnfurt. Im frühen 16. Jahrhundert schlossen sie einen Vertrag mit den Habsburgern, die Linnfurt dafür zur Stadt und zur Residenz der Grafschaft Linnfurt-Habsburg erhoben. Fünfzig Jahre später erwarb Graf Gottfried VI. von Linnfurt durch Heirat mit Sieglinde von Burgund die Grafschaft Burgund-Bessoin. So kam französische Lebensart an die Linn. 1805 fielen die rechtsrheinischen Teile der Grafschaft im Zuge der napoleonischen Flurbereinigung an Württemberg, die linksrheinischen an Frankreich.
Entstanden ist das Königreich Württemberg am 1. Januar 1806 aus dem Herzogtum Württemberg und zahlreichen Neuerwerbungen. 1840 ist es noch ein reiner Agrarstaat. Achtzig von hundert Württembergern sind Bauern, Weingärtner, Knechte und Mägde. Zwanzig von hundert verdienen als Handwerker, Händler, Soldaten und Dienstboten ihr tägliches Brot. Es ist eines der ärmsten Länder Europas, es hat keine Bodenschätze, und die napoleonischen Kriege haben das Land verwüstet. Zwar fanden die meisten Schlachten nicht auf württembergischem Gebiet statt, aber die ständigen Truppendurchzüge mit Einquartierungen, Beschlagnahmen von Lebensmitteln und Futter bis hin zu Plünderungen und Brandschatzungen raubten das Land und die Bevölkerung aus. Etliche Missernten und die Eruption des Vulkans Tambora gaben den gebeutelten Württembergern den Rest. Im April 1815 war der Vulkan explodiert. Asche- und Schwefelgaswolken verdunkelten zwei Sommer lang den Himmel und verursachten hierzulande eine schreckliche Hungersnot und eine riesige Auswanderungswelle.
König Wilhelm I. von Württemberg bringt das verarmte Land allmählich in Schwung. Er hat das Cannstatter Volksfest als alljährliche Leistungsschau eingeführt, in Hohenheim die erste landwirtschaftliche Hochschule der Welt sowie ein Ackerbauschule, eine Weinbauschule, eine Forschungsanstalt für Saatzucht und Obstbau und eine Pflugfabrik gegründet. Seit Fritz Frank Schultheiß von Linnfurt ist, pflanzen die Linnfurter neue Rebsorten und setzen viele Obstbäume innerorts und außerorts an den Feldrainen. Jetzt wächst in ihren Weinbergen ein vorzüglicher Rotwein. Jetzt haben sie frisches Obst im Herbst und das ganze Jahr Dörrobst in Hülle und Fülle. Und ihr famoser Apfel-Birnen-Most ist weit und breit konkurrenzlos.
Während der Scharwächter Zeter und Mordio schreit, weil der Knecht ihn samt Kleidern mit harter Hand in der Viehtränke eingeweicht und im Sutrai entkleidet hat, eilt die Obermagd durch die menschenleeren Gassen zum Wengerttor. Sie atmet durch den Mund und streckt mit sichtlichem Ekel einen Ferkelkorb weit von sich. Darin liegen Stiefel, Hose, Kittel und Hemd des Badegastes.
Der Weg ist steil und beschwerlich. Aus allen Gehöften dringt das Geschrei der Dienstboten, die unter den aufgehängten Sicheln und Sensen hocken, bechern und das in Linnfurt übliche Schmalzgebäck verputzen. Paula mault vor sich hin: „Aberjetza, aberjetza! Gerade dann, wenn auch sie einmal die Hände in den Schoß legen könnte, bruddelt sie, müsse sie in die Oberstadt. Sie stapft wütend die Hauptstraße hinauf, ärgert sich über die gute Laune der Feiernden, streckt am Rathaus dem in der Linde weilenden Schultes die Zunge raus, knurrt ein saftiges „Leck mich …
und schnauft die Habsburger Straße hinüber bis zum Wengerttor. Es ist zweigeschossig und hat ein kleines Türmchen mit aufgesetzten Zinnen. Dort oben, wo früher die Musketen abgefeuert wurden, wenn sich der Feind von Norden her näherte, flattert Wäsche im Wind.
Außer Atem klopft sie so lange an die Tür, bis die Scharwächterin aufmacht. Sie ist eine verhärmte Frau im mehrfach geflickten Schaffschurz, barfuß, mit einem Kopftuch, das sie im Nacken verknotet hat. An ihrem Schürzenzipfel hängt ein kleiner Bub, eine Rotzglocke über der Lippe.
„O jegesle, die Hausfrau schlägt vor Entsetzen fast die Füße über dem Kopf zusammen, „ich seh schon.
Sie rümpft die Nase. „Ist das alles, was von dem Drecksack übrig ist?"
Bevor sie die Magd hereinbittet, ruft sie ihrer Wilhelmine zu, die auf dem Misthaufen vor dem Nachbarhaus spielt: „Helmle, gleich gehst runter von dem Misthaufen, du Drecksau!"
Paula überkommt Mitleid. Die treue Seele tröstet und berichtet. Sie lässt nichts aus, beschreibt den Suff, das Güllebad, den Gestank, die Vorwäsche, die Hauptwäsche und die Desinfektion.
Die Scharwächterin schüttet der Magd ihr Herz aus. Die ewige Geldnot, die Armut im Haus, die Angst vor der Zukunft bringe sie um den Verstand. Jedes Mal, wenn ihr Gottlob nicht rechtzeitig heimkommt, packe sie das Grausen. Dann sitze sie bibbernd in der Küche und male sich aus, wie sie ihre sieben Sachen packen undmit ihren neun Wuserle [Kindern] als Bettlerin von Haus zu Haus ziehen müsse. Eigentlich sei ihr Mann bloß ein Dubbel. Wenn er nüchtern sei, kümmere er sich rührend um die Kinder. Wäre da nicht der regelmäßige Suff, könnte sie gut mit ihm zusammenleben. Habe er jedoch ein paar Schnäpse intus, verwandle er sich in einen Hanswurst und versaubeutele noch den letzten Notgroschen. Wenn der Schultes ihrem Gottlob einmal ein Licht aufstecken würde, wäre sie dem Herrn Stadtvorsteher auf ewig dankbar.
Die Stiefel ihres Mannes werde sie gleich schrubben, trocknen und einfetten, verspricht sie. Er habe aber nur das eine Paar, also müsse er solange barfuß laufen. Dann holt sie geflickte Strümpfe, genäht aus braunem Leintuch, ein langes Nachthemd und einen Stuckblätz [Flicklappen]. Auch für die Hose und den Kittel gebe es leider keinen Ersatz. Deshalb solle sich ihr Mann nach dem Bad den Stuckplätz um sein Gemächt wickeln. Für den kurzen Heimweg werde das im Dämmerlicht genügen. Gleich mache sie sich daran, Hose und Amtskittel zu waschen. Denn morgen früh müsse ihr Mann auf den Läpplehof. Die Läpple sei schon zweimal dagewesen. Aus Sorge um ihren Johann, den man seit geschlagenen drei Stunden nirgendwo mehr gesehen habe.
Paula verspricht der Scharwächterin, beim Schultes ein gutes Wort einzulegen und macht sich auf den Rückweg. Als sie in die Hauptstraße einbiegt, sieht sie ihn von weitem vor der Linde stehen und mit sich selber schwätzen.
Der Herr Stadtpräsident sinniert: Heute ist die Linde zu, weil sowieso niemand kommt. Und morgen Abend macht sie wieder auf, aber da läuft vermutlich auch nicht viel. Denn aus allen vier Himmelsrichtungen hört er seine Linnfurter bechern und frohlocken. Diese Feste in den Gassen und Höfen ärgern ihn seit Jahren, weil dann keiner mehr ins Wirtshaus geht. Bevor der Mond scheint, sind am Sichelhenkensamstag viele schon abgefüllt. Leider, leider. Das sei Brauch, sagen sie, gehöre zur Tradition. Kaum ist der letzte Halm gesichelt, rennen sie vom Feld direkt in die Scheunen und saufen im Dreck und Speck, bis es am Himmel und in ihren Köpfen Nacht wird. Sogar die Vögel sind besoffen. Spatzen und Meisen picken an Birnen und Äpfeln, die überall herumliegen und zu gären beginnen. In Schlangenlinien fliegen sie von Baum zu Baum, torkeln von Ast zu Ast und zirpen ihre Sauflieder. Und am Sichelhenkensonntag muss man nach dem Festgottesdienst, so will es der Brauch, den Dienstboten ein festliches Mahl servieren. Erst am Sonntagabend vertragen die ersten wieder ein Bier oder einen Wein in der Linde. Zum Glück ist die Weizen- und Roggenernte noch einigermaßen zufriedenstellend ausgefallen. Auch Äpfel und Birnen gibt es heuer genug. Dafür wird die Weinernte miserabel. Eigentlich sollte man am Montag … . Sein Ärger schlägt in Wehmut und Demut um.
Und wie er so die Lage bedenkt, steht auf einmal die Paula vor ihm, zeigt auf die geringe Ausbeute in ihrem Korb und berichtet.
„Dann kriegt er halt eine alte Hose von mir", verkündet der Schultes milde. Ein paar aussortierte Schuhe seien vielleicht auch noch da. Keiner in Linnfurt soll sagen können, das Stadtoberhaupt lasse seine Bürger verkommen.
„Minna! Er schreit und schreit, aber nichts rührt sich. „Wo scharwenzelt die schon wieder rum?
Paula zuckt die Achseln. „Vielleicht hockt sie mit dem Frieder bei den Dienstboten in der Scheuer und feiert mit." Frieder ist der älteste Sohn des Lindenwirts und für die Landwirtschaft zuständig. Sie verschwindet im Sutrai und liefert die Wäsche ab.
Derweil geht der Schultes in die Scheune, wo sich, außer der Obermagd und dem Rossknecht, alle versammelt haben, die auf sein Kommando hören. Der Scharwächter habe bloß eine Hose und ein Paar Schuhe, sagt der Schultes zu seiner Frau. „Sei so gut und such dem armen Kerl was raus. Vom Großvater sind noch ein paar Sachen da."
„Armer Kerl? Minna Frank giftet. Wenn einer in der Gülle badet und sich auf dem Misthaufen wälzt, sei das eine Drecksau. „Kein einziges Stückle sollte man der Drecksau geben.
Dennoch steht sie mühsam auf und wackelt auf ihren krummen Beinen zum Scheunentor hinaus.
Kaum ist sie draußen, stößt Paula lachend zur Lindenschar, schnappt sich ein Glas Wein und berichtet, dass der Scharwächter mit seinem langen Nachthemd und dem Stuckplätz zwischen den Beinen wie ein Hosenscheißer aussieht.
„Stuckplätz?", fragt Hansli Wägeli, den man im Städtle nur den Schweizer nennt, weil er fürs Milchvieh zuständig ist. Dieses Wort sei ihm nicht geläufig.
„Ja", sagt Paula und erzählt, was sie im Wengerttor gehört und im Sutrai gesehen hat.
„Na und? Der Schweizer zuckt die Achseln und bekennt in kehligem Schwyzerdütsch: „Ich habe auch keine Unterhose.
Ein kurzes, verlegenes Lachen, dann sind sich alle in der Runde schnell einig: Auch in Schwaben brauchen Männer keine Beinlinge unter der Hose. Frauen erst recht nicht, weil sie drei bis fünf bodenlange Röcke übereinander ziehen. Wenn’s mal pressiert, sei eine Unterhose nur hinderlich. Nicht alles, was vornehme Franzosen und hochnäsige Offiziere voräffen, müsse man nachmachen. Es genüge vollauf, wenn sich die Männer die Hemdenzipfel zwischen die Beine schieben. Und die Frauen könnten ihr Geschäft nicht mehr im Stehen verrichten, wenn sie eine Unterhose tragen müssten. Auf dieses neumodische Zeug könne man hierzulande also gut verzichten.
In dem Augenblick betritt der Scharwächter die Scheune, flankiert von der Lindenwirtin und dem Rossknecht.
Großes Gelächter. Sogar die Lindenwirtin verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen, als wolle sie sagen: Schaut her, welch rarer Vogel uns da zugeflogen ist.
Im weißen, mehrfach geflickten Hemd steht der geschniegelte und gebügelte Hilfsgendarm mit blank gebürstetem Gesicht und hängenden Schultern vor ihnen. Abwärts eine stockfleckige Tuchhose, knöchellang, enganliegend, quietschgelb mit besticktem Hosenlatz, zu Napoleons Zeiten durchaus salonwürdig. Aus den Hosentaschen hängen die Strümpfe. Die bloßen, vom Schrubben geröteten Füße stecken in schwarzen, flachen Schuhen mit Zierschleifchen. Salonschleicher sagt man in Linnfurt dazu. In solchen Tretern sind einst die vornehmen Herren übers Parkett geschlichen, gepuderte Perücken voller Maden auf dem Kopf und Rüschen an den Manschetten. Um die nassen Haare hat er den Stuckplätz wie einen Turban gewickelt.
Der Badegast will gerade nach dem Wein greifen und sich in die lachende Runde setzen, da kläfft ihn der Schultes an, er solle sich schleunigst vom Acker machen und auf direktem Weg heimgehen. So sei es mit seiner Frau ausgemacht. Und wenn er heute irgendwo nochmal hängen bleibe und ein Maulvoll trinke, außer Wasser natürlich, dann werde er ihm zeigen, wo der Bartel den Most holt.
Sichelhenke
Im Sonntagsstaat sitzen sie um den Küchentisch. Der Schultes und seine Frau. Ihr ältester Sohn Frieder. Magda, die noch ledige Tochter. Wilhelm, Minnas Nestkegele, dem sie viel durchgehen lässt und das demnächst eine Mechanikerlehre beginnt. Dann der Ober- und Rossknecht Karl, die Obermagd Paula, der Schweizer und elf weitere Dienstboten für diverse Haus-, Feld- und Weinbergarbeiten. Die Eltern beider Wirtsleute, die früher mit am Tisch saßen, sind schon vor Jahren gestorben. Der Schultes hat ihrer, wie’s Brauch ist in Linnfurt, gerade beim Tischgebet gedacht.
Die Stimmung ist gedämpft. Die Restsüße gärt noch in den Gedärmen und wattiert die Gedanken. Außerdem lässt man vor dem Frühstück das Erntejahr Revue passieren. Und dabei kommt kaum Freude auf.
Spätestens seit der ersten Heuernte, der Heuete, erinnert der Schultes in seiner kurzen Ansprache, habe jeder gewusst, dass ein schwieriges Jahr bevorsteht. Wegen des langen, harten Winters und der strengen Fröste im Frühjahr sei die Saat zwei bis drei Wochen später aufgegangen als sonst. Das Gras habe sogar erst Mitte Juli zu blühen begonnen. Und weil man für den ersten Grasschnitt warten müsse, bis die Wiesen in voller Blüte stehen, es dann aber oft geregnet hat, sei die Heuete und die Zeit danach eine einzige Flickschusterei gewesen. Statt acht bis neun Wochen, wie in den Vorjahren, seien nur fünf für die Getreideernte übriggeblieben. Denn erst nach Jacobi habe man das erste Gerstenfeld sensen und sicheln können.
„Ja", sagt der Schweizer, der die Sense wie kein anderer schwingen kann, darum seien die Mäher an den trockenen Julitagen schon nachts um drei losmarschiert. Die Sense auf dem Rücken, den Wetzstein am Gürtel, habe man etwa eine Stunde bis zu den weit entfernten Wiesen gehen müssen, etwas später gefolgt von den Mägden und Knechten, die vorher das Vieh versorgten. Während eine Gruppe Nachzügler die frische Mahd zusammenrechte, wendete die andere das am Vortag gemähte und schon welke Gras und setzte es auf Häufen.
Schließlich, ergänzt der Oberknecht, habe man den Wagen umgerüstet, mit Leitern vergrößert, mit Dielen verlängert, damit mehr Heu geladen werden konnte und weniger Fuhren nötig waren. Dafür mussten die Männer nun das Heu hoch hinaufgabeln, über die aufragenden Wagenseiten wuchten, wo es die fleißigen Frauen gleichmäßig luden. Eine staubige und stickige Arbeit. Bei der Heimfahrt gingen die langen Kerle neben dem hochbeladenen Heuwagen und stützten mit Gabeln die schwankende Fracht während der Fahrt. Die kleineren griffen in die Radspeichen, weil die Feldwege löcherig und gefährlich waren.
Der Lindenwirt erhebt sich. „Und das war noch nicht einmal die Hälfte der Schufterei." Während der letzte Heuwagen entladen worden sei, habe der Schweizer die Sicheln und die Kornsensen mit Rechenaufsatz gedengelt. Am nächsten Morgen um drei sei die Schufterei für alle weitergegangen. Wochenlang, bis gestern Nachmittag der letzte Getreidehalm geschnitten, die letzte Garbe in die Scheue gebracht war. Und die Lindenbäuerin, er sieht seine Frau an, während sie verschämt zu Boden schaut, habe seit Mitte August zusammen mit der Justina, die schon das fünfte Jahr am Hof sei, Hanf gerauft, gebündelt, getrocknet, geriffelt und auch noch das erste Leinöl gepresst. Sogar Kirsch- und Träublesaft hätten sie gemacht, Beeren zu Mus und Gelee verarbeitet, Obst-essig hergestellt, Schneidbohnen eingedünstet und Gurken, Perlzwiebeln und Champignons eingelegt.
Er dankt allen für die gute Arbeit, fünf Wochen lang werktäglich sechzehn Stunden. Die Ernte sei heuer zwar nicht besonders gut, aber niemand sei zu Schaden gekommen. Deshalb seien der gestrige Umtrunk in der Scheune, das heutige Festessen nach der Kirche und der Tanz am Nachmittag der verdiente Lohn.
Umständlich nestelt er seine Geldkatz auf. Er weiß, was sich gehört. Dem Oberknecht, dem Schweizer und der Obermagd drückt er einen Extragulden in die schwieligen Hände und sagt ein aufrichtiges Dankschön. Oft erst bei Anbruch der Nacht habe er seine Leute in den Lindenhof torkeln sehen, von der schweren Arbeit und vom langen Weg gezeichnet, kaum noch fähig zu stehen, geschweige denn zu gehen. Dennoch mussten der Oberknecht und der Schweizer im Schein der Petroleumlampen die stumpfen Sensen für den nächsten Tag dengeln und Paula die Mägde zum Füttern, Melken und Misten in den Stall treiben.
Ruhig und voller Hochachtung würdigt der Schultes das Geleistete.
Dann schüttelt er den übrigen Knechten und Mägden die Hand und gibt jedem und jeder einen halben Gulden als Zehrgeld für den Hahnentanz.
Schultes Fritz Frank setzt sich gerührt und wünscht allen einen guten Appetit.
Zunächst gibt es Brotsuppe und Habermark [gedünstete Haferwurzeln]. Das füllt den Magen und kann auch von den Älteren, die kaum noch Zähne im Mund haben, unzerkaut geschluckt werden.
Für ein Weilchen hört man nur das Klappern der Löffel, das leise Kauen und Schmatzen der Hungrigen. Dann ein Wispern, ein verhaltenes Kichern, ein erstes Lachen, die eine oder andere nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung.
Horch! Es klopft zaghaft an der Küchentür. Alle Köpfe schnellen hoch, die Augen richten sich wie auf Kommando aus. Die Tür öffnet sich sacht. Im Rahmen steht der Scharwächter in weißem Hemd und gelber Hose, die Salonschleicher an den Füßen, die Haare sauber gekämmt.
Großes Gelächter.
„Napoleon ist auferstanden", spottet der Oberknecht.
„Schwätz keinen Bäbb [Leim]!, wehrt sich der Scharwächter. „Mein Kittel und meine Hos sind noch nicht trocken.
„O verreck, staunt der Schultes, „du bist ja nüchtern.
Der aufgeräumte Hilfspolizist entschuldigt sich. Die Läpple sei schon wieder dagewesen. Sie vermisse ihren Mann.
Die Knechte und Mägde lachen, kichern, grinsen bis hinter beide Ohren.
„Dann such ihn halt." Der Schultes bleibt ernst.
Mehrfache Zurufe: „Unter alle Heuschober gucken! – „Fehlt auch eine von seinen Mägden?
– „Keine Sorge, der ist nicht fortgelaufen."
Schon öfter sei der Läpple auf Nachtstreife gewesen, meint der Schultes sachlich. Also bestehe noch lange kein Grund zur Sorge. Nach der Kirche werde er dessen Frau selber befragen.
Der Scharwächter ist von dem Gekichere und Gelächter ganz schalu [verwirrt]. Er zieht das Genick ein und tritt den geordneten Rückzug an, begleitet von munteren Sprüchen.
Dann wendet man sich vergnügt wieder dem Frühstück zu. Jetzt gibt es Milch, Kaffee und Most. Dazu Brot, Marmelade, Luckeleskäs [Quark] und selbstgemachte Wurst.
Pfarrer Abel ist heute gut in Fahrt. Er predigt seine Linnfurter in Grund und Boden, denn er ist ein erfahrener Hirte. Er weiß, dass seine Schäfchen müde sind von der harten Arbeit und voll des süßen Weines. Also trägt er dick auf, damit sie nicht einduseln.
Der dürre Heinrich, Amtsbote der Stadt Linnfurt und zugleich Schläferschreck mit der pfarramtlichen Dienstbezeichnung Kirchendusler, hinkt in der Kirche umher. Der fadenscheinige schwarze Anzug, den ihm sein Onkel vor zwanzig Jahren vererbt hat, glänzt am Hintern und an den Aufschlägen. Eine lange, dünne Stange mit beiden Händen fest gepackt, Empore und Kirchenschiff im Visier, hinkt er die Bankreihen auf und ab. Mit Adleraugen sieht er, wenn jemand vom Schlaf übermannt wird. Kaum klappt einer die Augenlider zu, schon schnellt der Heinrich vor und rammt dem Hammel die Stangenspitze in die Rippen. Ein triumphierender Blick, ein zufriedenes Lächeln: wieder drei Kreuzer verdient. Das ist der Tarif für einmaliges Duseln [Schlafen], zu zahlen gleich nach dem Gottesdienst, direkt an den Stangenheinrich. Aber bei bestimmten Kunden, er kennt sie alle aus Erfahrung, wartet er ein bisschen, ein hämisches Grinsen im Gesicht, bis der Schläfer zu ruseln [schnarchen] beginnt. Dann sind sechs Kreuzer fällig. Außerdem gilt an Sichelhenke ein Sondertarif. Wer nochmals duselt, muss weitere sechs Kreuzer blechen, wer zum zweiten Mal ruselt, sogar zwölf Kreuzer. So wird Sichelhenke für den Hinkenden, der nur einen kleinen Garten und keine Wiesen und Felder hat, auch zum Erntefest. Mit zwanzig wurde er Soldat und drei Jahre später am Knie verwundet. Seitdem dient er dem Schultes als Büttel, Bote und Berichterstatter. Er schellt die Bekanntmachungen aus, besorgt die Amtspost, bestellt Säumige und Schuldner aufs Rathaus, treibt Abgaben und Gebühren ein, erledigt alle anfallenden Botengänge und ermittelt auf Weisung von Schultes und Stadtrat alles, was die Verwaltung wissen will.
Mit Hilfe der gewaltigen Worte des Pfarrers und der kräftigen Stupfer des Kirchenduslers ist die Herde zur Predigt wach. Keine lauten Schnarcher lenken ab. Erwartungsvoll schauen alle zur Kanzel hinauf. Dort steht Abel im schwarzen Talar und spricht seinen Bauern aus dem Herzen, aber nicht nur ihnen.
„Sauwetter heuer", beginnt er. Ein Jahr der Naturextreme sei das bisher gewesen. Zum Jahreswechsel enorm viel Schnee, vier Fuß hoch auf dem Schlossberg. Hochwasser am 18. Jänner. An der Flößerlände der höchste Wasserstand der Linn seit den Franzosenkriegen. Die fortgerissenen Stämme verursachten große Schäden und lösten schwere Überschwemmungen aus, weil sich das Holz verkeilt hatte. Wieder Frost und Schnee bis Anfang Mai, verderblich vor allem für die Winterfrüchte und die Reben. Leinsamen und Sonnenblumenkerne gingen nicht auf, die Wintergerste nur wenig. Dann, Anfang Juli, ein schwerer Orkan. Auf der Lug zerstörte der Sturm die tausend Jahre alte Eiche. Dennoch brachten Weizen und Roggen eine mittelmäßige Ernte. Beeren gab es reichlich.