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Ich lebe noch: Thriller
Ich lebe noch: Thriller
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eBook359 Seiten4 Stunden

Ich lebe noch: Thriller

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Über dieses E-Book

An manchen Tagen scheint es, als wolle die Wildnis sie zerstören, aber Jess ist stärker als sie es sich je vorgestellt hat.

Nachdem ihre Mutter bei einem Autounfall gestorben ist, reist die 16-jährige Jess in die einsamen Wälder Kanadas, um für ein Jahr bei ihrem Vater, an den sie sich kaum erinnert, zu leben.
Eines Tages stürmen mehrere bewaffnete Männer die Holzhütte und nehmen ihren Vater gefangen. Jess beobachtet aus einem Versteck, wie ihr Vater verhört und ohne Mitleid erschossen wird. Dann verbrennen die Mörder die Hütte und fliegen mit einem kleinen Flugzeug davon.
Nun ist Jess der Wildnis schutzlos ausgeliefert. Und der eisige Winter naht. Sie und Bo, der Hund ihres Vaters, brauchen Nahrung, Wärme und eine Zuflucht. Jeder Fehler kann tödlich sein. Aber noch lebt Jess …

Nancy Werlin: »Eine echte Heldin (und ihr Hund) sorgen für eine originelle, spannende und überraschende Überlebensgeschichte.«

S. A. Bodeen: »Ich konnte dieses Buch nicht aus den Händen legen – es hat mir wirklich Gänsehaut verursacht. Es ist voller wilder, unerschrockener Frauenpower.«

Kirkus: »Ein erbarmungsloser, packender Pageturner mit einer starken weiblichen Heldin.«

BookPage: »Eine spannende, zutiefst bewegende Geschichte, in der es darum geht, seine innere Stärke zu finden.«


FESTA MUST READ: Große Erzähler ohne Tabus. Muss man gelesen haben.
SpracheDeutsch
HerausgeberFesta Verlag
Erscheinungsdatum3. Jan. 2020
ISBN9783865528087
Ich lebe noch: Thriller
Autor

Kate Alice Marshall

Kate Alice Marshall begann schon mit dem Schreiben, als sie gerade erst einen Stift halten konnte. Seither hat sie nie damit aufgehört. Kate lebt mit ihrem Mann, einem Baby, dem Hund Vonnegut und einer Katze im Nordwesten Amerikas. Im Sommer fährt sie gerne mit dem Kajak durch die Meeresbuchten und zeltet am Strand. I AM STILL ALIVE erschien 2018 und wurde sofort in mehrere Sprachen übersetzt. 2019 folgte der unheimliche Roman RULES OF VANISHING. Universal Pictures plant I AM STILL ALIVE mit Ben Affleck zu verfilmen.

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    Buchvorschau

    Ich lebe noch - Kate Alice Marshall

    Impressum

    Die amerikanische Originalausgabe I Am Still Alive

    erschien 2018 im Verlag Viking Books.

    Copyright © 2018 by Kathleen Marshall

    Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

    Lektorat: Anja Heidböhmer

    Titelbild: AdobeStock/Chad & AdobeStock/Volodymyr

    Alle Rechte vorbehalten

    eISBN 978-3-86552-808-7

    www.Festa-Verlag.de

    Für die Truppe auf dem Berg

    Ich bin allein. Ich habe nicht viel zu essen. Die Temperatur fällt.

    Niemand kommt mich holen.

    Bald wird es Winter und hier draußen kann man auf so viele Arten sterben. Wenn mich nicht die Kälte erledigt, dann der Hunger. Wenn mich nicht der Hunger erledigt, dann die Kälte. Oder irgendein wildes Tier. Oder diese Männer kommen zurück …

    Aber noch bin ich nicht tot und das sollte jemand erfahren. Irgendjemand sollte erfahren, was passiert ist. Deshalb schreibe ich es auf, so gut ich kann. In Bruchstücken, denn auch in meinem Kopf ist alles völlig verworren.

    Diese Geschichte hat zwei Anfänge. Einer spielt auf einem Rollfeld in Alaska. Bei dem anderen stehe ich an einem Seeufer, wo der Regen wie Nebel auf mich fällt und das Gebälk der Hütte düster und rot vor sich hin schwelt. Ich erzähle euch beide Geschichten. Was passiert ist, bevor mein Vater starb, und was danach. Und wenn ich fertig bin oder zu müde, um weiterzuschreiben, lasse ich das Notizbuch da zurück, wo die Hütte gestanden hat. Wenn jemand kommt, um nach uns zu sehen, findet er es vielleicht.

    Wenn ihr das lest, bin ich wahrscheinlich schon tot. Aber eine Weile habe ich überlebt.

    Ich heiße Jess Cooper und noch bin ich am Leben.

    Sommer

    Davor

    Es gab keinen Direktflug in die Stadt in Alaska, wo Dad lebte – von der ich annahm, dass er dort lebte. Den zweiten Flug verbrachte ich damit, ein Bild von ihm zu betrachten. Mom hatte die Fotos weggeworfen, die sie beide gemeinsam zeigten, doch eins von ihm allein hatte sie behalten, nur für mich, und ich hielt es fest in der Hand. Ich hatte Angst, dass ich ihn vielleicht nicht wiedererkennen würde. Oder er mich nicht. Wir hätten direkt aneinander vorbeigehen können, ohne es zu merken.

    Auf dem Foto stand er in einem blauen Regenumhang im Wald. Nebel hing in der Luft und sein Atem erzeugte eine dicke Wolke vor den kratzigen Lippen. Er hatte einen Bart, der gestutzt werden musste, und strahlende Augen mit Fältchen an den Rändern, als hätte er kurz vor der Aufnahme gelacht. Bis ich auf das Rollfeld trat und die spärliche Menge der wartenden Menschen begutachtete, hatte ich mir alle Details seines Gesichts eingeprägt.

    Er war nicht da. Im Geiste färbte ich seinen Bart grau, entfernte den Bart, verlängerte ihn. Ich glättete die Lachfältchen und fügte die Art von Falten hinzu, die man vom Stirnrunzeln bekommt, weil ich annahm, dass er nicht besonders glücklich sein konnte, nachdem er Frau und Kind verlassen hatte. Was ich auch mit dem Bild in meinem Kopf anstellte, es passte zu keinem der Anwesenden, und bald war jeder, der auf das Flugzeug wartete, von einem meiner Mitreisenden in Beschlag genommen worden.

    Die einzige übrig gebliebene Person war ein riesiger Mann in einer bauschigen gelben Jacke, der mich mit zusammengekniffenen Augen direkt anstarrte, sich aber weder bewegte noch winkte oder sonst irgendwas tat. Seine buschigen rotbraunen Haare ragten unter einer Baseballkappe hervor, die früher vielleicht einmal gelb gewesen, mittlerweile aber – abgesehen vom Rand – zu einem grauen Braun verblasst war.

    Ich hängte mir die Tasche über die Schulter. Dad musste jemanden geschickt haben, um mich abzuholen, das war alles. Ich ging hinüber und zog dabei den rechten Fuß ein wenig nach. Ich konnte ihn immer noch nicht richtig heben, sodass mein Fußballen über den Boden schleifte. Der Mann beobachtete mein langsames Vorankommen, ohne sich zu rühren.

    »Hallo«, grüßte ich beim Näherkommen. Es klang schrill und verkrampft wie ein zwitschernder Vogel. »Ich bin Jess. Hat mein Vater Sie geschickt?«

    »Jess?«, wiederholte der Typ. Er kratzte sich am Bart. »Eigentlich sollte ich Sequoia treffen. Vielleicht bin ich aber auch am falschen Ort.« Er sah hinter mich, als könnte sich dort ein anderes Mädchen verstecken.

    »Nein, das bin ich«, erklärte ich. »Jess ist mein zweiter Vorname. Niemand nennt mich Sequoia.«

    »Ach so, toll.« Er grinste. Wenn er lächelte, sah er sehr viel weniger einschüchternd aus, trotzdem hätte er meinen ganzen Kopf mit einer Hand umfassen können. »Carl wartet.«

    Er drehte sich um und ging los, noch bevor ich mich wirklich daran erinnerte, dass dies der Name meines Vaters war. Carl Green. Nicht Cooper. Mom hatte ihren Namen nicht geändert.

    »Also hat er Sie geschickt?«, fragte ich den Rücken des Mannes, während ich mich anstrengte mitzuhalten. Bei einem seiner Schritte brauchte ich drei, und daher konnte ich keine langsamen, behutsamen Schritte mit meinem kaputten Fuß machen, sondern musste mich mit taumelndem Hinken vorwärtswerfen. Was ich eigentlich nicht tun sollte. Will, mein Physiotherapeut, war da sehr deutlich gewesen. Langsam und gleichmäßig, dann würde ich irgendwann fast wieder normal laufen.

    »Hmm«, bestätigte der Mann. Als wir den Zaun erreichten, der das kleine Rollfeld vom Parkplatz trennte, schnaufte ich und er blieb stehen. Er drehte sich zu mir um und blinzelte hastig. »Tut mir leid. Ich kann dir die Tasche abnehmen, wenn du willst.«

    Ich schüttelte den Kopf, schob die Reisetasche nach vorne und verschränkte meine Arme über ihr. »Ist schon in Ordnung«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

    Er rieb sich den Nacken mit der Handfläche. »Ich habe vergessen, dass du behindert bist. Ist das das richtige Wort? Behindert? Oder nennt man das anders? Wahrscheinlich anders. Ich glaube, behindert ist falsch. Tut mir leid.«

    »Ist schon in Ordnung«, wiederholte ich. Ich wollte diese Unterhaltung nicht führen und war dankbar, als er nickte. Aber als er den Weg fortsetzte, ging er langsam und beobachtete mich aus dem Augenwinkel, sodass ich ziemlich gut mithalten konnte. Ich konzentrierte mich darauf, den Fuß ganz vom Boden zu heben. Wenn ich ihn schleifen ließ, würde ich irgendwann stolpern, und ein Sturz war das Schlimmste, was ich meinen heilenden Muskeln, Sehnen und Knochen antun konnte.

    Vor dem Autounfall war mir nicht klar gewesen, wie stark ein Körper zerstört werden kann, und erst in den Monaten danach hatte ich bemerkt, wie unvollkommen er wieder zusammengesetzt worden war. Teile von mir waren für immer geschädigt.

    »Ich bin Griff«, bemerkte der Mann unvermittelt auf unserem Weg und mir fiel nichts anderes ein als zu nicken.

    Folgendes muss man über Griff wissen:

    Er ist wahrscheinlich der netteste Typ, den ich je getroffen habe, auch wenn er etwas seltsam ist. Er sieht aus wie ein Bergschrat, behauptet aber, das wäre nur Tarnung: Bergschrate fressen dich nicht, wenn sie dich für einen der ihren halten, beteuert er. Er erzählt eine Menge solcher Witze, trägt sie aber völlig ausdruckslos vor, sodass man nie weiß, ob es sich dabei um einen Witz handelt oder um eines der seltsamen Dinge, an die er glaubt. Wenn du über das Falsche lachst, sieht er dich mit diesem traurigen Blick an. Er liebt die Farbe Gelb. Jesus ist sein persönlicher Erlöser. Und wenn mich überhaupt jemand holen kommt, dann er.

    Aber falls er kommt, dann erst in ein paar Monaten. Und vielleicht auch gar nicht.

    Zurzeit denke ich viel an ihn. Er steht auf einer Liste, die mir den ganzen Tag durch den Kopf geht. Mom, Scott, Will, Dad, Griff. Lily. George weniger, denn George ist ein Arschloch. Michelle, Ronnie und dann gehen mir die Leute aus, die ich wirklich gekannt habe, und ich fange an, mir alle möglichen Gesichter ins Gedächtnis zu rufen. Der Kerl, der mir am Tag vor dem Unfall ein Eis brachte. Die Frau an der Tankstelle mit den drei blonden Kindern, die vor ihrem Minivan stand und sich eine Hand auf die Stirn legte, als wäre sie nicht sicher, ob sie wieder einsteigen sollte. Der Pilot auf der ersten Etappe nach Alaska, der Mom kannte und mich ins Cockpit einlud. Da keiner von uns etwas sagte, saßen wir einfach nur da und waren ruhig und traurig, bis ich meinen Platz einnehmen musste.

    Ich habe geglaubt, meine Fantasievorstellungen würden sich um Essen drehen, aber bisher sind es Menschen.

    Damals hatte ich mehr als nur ein wenig Angst vor Griff. Was nur klug war – ein seltsamer Kerl, der mir sagte, ich solle in sein Auto steigen? Na klar, das war bestimmt ungefährlich! Allerdings habe ich keine andere Möglichkeit gesehen. Ich hatte eine Telefonnummer von meinem Dad, die ich aber bereits während meines Zwischenstopps ausprobiert und unter der ich nur eine Bandansage zu hören bekommen hatte mit der Mitteilung, dass kein Anschluss bestehe.

    Vielleicht hätte ich da nach Seattle zurückkehren und dem Sozialarbeiter erklären sollen, dass etwas nicht stimmt und ich nun doch nicht bei meinem Vater leben kann. Aber das habe ich nicht getan. Ich bin nicht umgekehrt, als der Anruf nicht durchgestellt wurde, und auch nicht, als Griff auf mich wartete.

    Griffs Auto war ein alter Kombi, wahrscheinlich älter als er. Auf der Rückbank lagen leere Fast-Food-Tüten und Getränkeflaschen, ein Schlafsack, drei Archivboxen, ein kompletter Satz Koffer und zwei Paar Schuhe. Auf dem Beifahrersitz stapelten sich Quittungen, die Griff beim Einsteigen auf den Boden wischte. Ich klemmte mir meine Tasche zwischen die Füße, brachte damit die Quittungen zum Rascheln und schloss die Tür.

    »Viel hast du nicht dabei«, stellte Griff fest.

    »Ich brauche nicht viel«, entgegnete ich. Der Anwalt, der sich um den Verkauf des Hauses und der Möbel kümmerte, hatte einen Lagerraum für die restlichen Sachen angemietet, über die ich zu jeder Zeit verfügen konnte. Meine Erinnerungen sind sicher verstaut, hatte er betont.

    Es klang so, als würde er mir die Erlaubnis erteilen, mich nicht zu erinnern. Ich wollte nicht über mein früheres Leben nachdenken, weil ich es zu sehr geliebt habe. Weil ich Mom zu sehr geliebt habe. So konnte ich alles wegsperren und vergessen, bis alles verheilt war, wie lange das auch dauern mochte. So lange, wie es dauerte, meinem Körper wieder das richtige Gehen beizubringen, dachte ich. Wenn ich einen Schritt machen konnte, ohne darüber nachzudenken, wie ich meinen Fuß heben sollte, würde ich vielleicht nach Seattle zurückkehren und mich erinnern.

    Griff redete danach nicht mehr viel. Schweigend fuhren wir eine geraume Zeit, bis mir bewusst wurde, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren.

    »Ich dachte, mein Vater wohnt in der Stadt«, bemerkte ich.

    »Er hat ein Haus in der Stadt«, bestätigte Griff. »Aber da wohnt er nicht. Du wirst schon sehen.«

    »Sollte ich nicht wissen, wohin du mich bringst?«, fragte ich.

    »Würde dir nichts sagen«, entgegnete er. »Ich bringe dich zu deinem Vater, nur darauf kommt es an.«

    »Na gut.« Ich sah aus dem Fenster. Wir hatten die Ausläufer der Stadt erreicht. Nun standen da nur noch ein paar graue Häuser, denen es unangenehm zu sein schien, die Wildnis zu stören. Die Straße war durchlöchert und rissig und meine Hand wanderte zu meinem Bein. Genau so sah die Haut an meinem rechten Bein aus, nur rot statt grau.

    Es hatte Stunden gedauert, alle Glassplitter aus meiner Haut zu entfernen. Weitere Narben hatte ich an der Schulter, am Hals und im Gesicht. Die im Gesicht waren tief und rot, wie Kratzer. Sie brachten die Leute dazu, mich anzustarren.

    Mir gefielen sie. Bei Leuten, die mir ins Gesicht starrten, konnte ich zurückstarren. Wenn Leute auf mein Hinkebein starrten, konnte ich nichts dagegen tun.

    Irgendwann fing Griff an zu singen. Er klang so schief und nuschelte dabei so stark, dass ich nicht heraushören konnte, was er da sang, aber zu irgendwas wippte er mit dem Kopf und trommelte aufs Lenkrad. Er drückte einen Knopf und die Heizung sprang rasselnd und hustend an, die Reifen knirschten und rumpelten auf der unebenen Straße und auf dem Rücksitz klapperte etwas und hüpfte herum. Und hinter einer Kurve war ein Bär auf der Straße.

    Griff ging beiläufig auf die Bremse, fuhr nur ohne anzuhalten langsamer und der Bär verschwand im Wald. Wir schlitterten einfach weiter die Straße entlang.

    »Schau, wie er sich verdrüüückt«, freute sich Griff und zog die Silbe dabei mit einem näselnden Akzent so in die Länge, dass ich lachen musste. Er grinste mich an und lachte mit, und dann lachten wir beide, während der graublaue Himmel über unseren Köpfen vorbeiglitt und der Wald um uns dichter, tiefer und wilder wurde. Es war mein erstes Lachen seit dem Unfall und Mamas Tod und es hat sich so angefühlt, als würde ich Kletten aushusten. Es war auch ein gutes Gefühl, obwohl ich das erst später erkannt habe.

    »Verdrüüückt«, wiederholte er, und als wir die nächsten 100 Kilometer in Angriff nahmen, waren wir Freunde.

    Danach

    Ich kann nicht wirklich begreifen, was hier passiert ist. Ich weiß es zwar, aber ich fühle es nicht. Fühle es, aber verstehe nicht, was ich da fühle. Vielleicht hilft es, das genau so aufzuschreiben. Es fühlt sich nicht an wie eine Geschichte, nicht so wie bei dem Davor. Es fühlt sich an, als würde es noch immer passieren. Sodass ich auch jetzt noch am Ufer erwache und sich Rauch und Nebel vermischen, bis ich das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann.

    Es ist Morgen, aber das Sonnenlicht scheint schwach und dünn durch die dicke, graue Wolkenmasse, die so tief hängt, dass sie die gezackten Baumwipfel umhüllt. Nie zuvor sah der Wald so sehr nach Zähnen aus. Nie zuvor schien er sich so weit auszudehnen.

    Während die Hütte gebrannt hat, habe ich die ganze Nacht am Ufer geschlafen. Das Feuer ist jetzt aus, aber das Holz glüht noch und verströmt Rauch und Dampf. Ich setze mich auf und mache mich gleichzeitig so klein wie möglich im Regen. Er wird immer stärker, prasselt auf meine Schultern und fällt hinter mir zischend auf den See. Der Lärm ist wie ein Rauschen und übertönt jedes andere Geräusch – eine Art überfüllte Stille, die keinen Raum für Gedanken lässt. Jedes halbwegs vernünftige Lebewesen würde sich im Schutz der dunklen, endlosen Bäume auf den Boden kauern. Den Regen abwarten. Die Kälte abwarten. Noch immer kann ich mich nicht bewegen und nicht klar denken.

    Mein Verstand weigert sich, meinen Weg zurückzuverfolgen und weiter in die Vergangenheit zu gehen als bis zu dieser Nacht, bis zum Feuer. Ich weiß nur, dass ich allein bin, dass ich Hunger habe, dass sich die Zunge in meinem Mund wie Sandpapier anfühlt.

    Ich richte das Gesicht nach oben und schließe die Augen. Der Regen spritzt auf meine Wangen, meine Augenlider. Du bist am Leben, sage ich mir. Ich werde und kann nicht über die Geschehnisse nachdenken, aber ich weiß, dass es schon ein Wunder an sich ist, noch am Leben zu sein. Bleib es auch!

    Aber wie?

    Meine Gedanken bewegen sich widerstrebend. Es gibt zu viele Orte, die sie nicht aufsuchen können. Wie Nischen mit brennender Glut, die zu heiß sind, um sich ihnen zu nähern. Der Gedanke an Dad schmerzt mehr als alles andere, aber ich zwinge mich dazu, mich an die Vorstellung von ihm zu klammern, halte ihn in meinem Kopf fest, bis ich das Gefühl habe, dass meine Haut Blasen und Risse von den Qualen bekommt.

    Dad würde wissen, was zu tun ist. Irgendwo in meiner vom Rauch vernebelten, zu schmerzhaften Erinnerung muss vergraben sein, was er mir beigebracht hat.

    Er hat mir erklärt, die Kälte bringe einen am schnellsten um – also müsse man einen Unterstand bauen. Der Durst bringe einen binnen einem oder zwei Tagen um – also Wasser suchen. Der Hunger brauche einige Zeit, um einen umzubringen, schwäche einen aber – also Nahrung suchen. Um das Feuer solle man sich zuletzt kümmern. Feuer bedeute Wärme, Nahrung und sauberes Wasser, sei aber schwierig und zeitaufwendig, und Menschen würden sterben, weil sie ihre ganze Zeit mit dem Feuermachen verplemperten und dann keine Zeit hätten, Wasser zu suchen oder einen Unterstand zu bauen.

    Also zuerst einen Unterstand. Aber die Hütte ist weg. Alles ist weg. Ich habe nichts, ich …

    Nein. Moment. Ich habe nicht nichts. Ich habe den Regen. Den Regen, der das Feuer davon abgehalten hat, auf die Bäume überzugreifen, den ich auffangen und trinken kann, ohne ihn abzukochen. (Das Seewasser abkochen geht nicht. Noch nicht, nicht ohne Feuer.)

    Ich habe das, was ich anhabe: feste Stiefel, warme Kleidung, einen Regenumhang.

    Ich habe all das, was ich vor dem Feuer aus der Hütte geholt habe. Nicht viel – meine Reisetasche und den Rucksack, das Beil, eine Dose Pfirsiche, ein Glas Lachs.

    Ich habe das Gewehr und den Bogen mit allen Pfeilen und eine Kiste mit Munition.

    Und ich habe Bo. Er ist unten am See, läuft herum und schnüffelt. Manchmal schaut er wartend und beobachtend auf. Wartet er auf Dad? Ich bin mir nicht sicher. Aber ich bin nicht allein, nicht ganz. Bo ist hier.

    Niemand kommt mich holen. Uns holen. Wenn ich überleben will, muss ich mich bewegen.

    Leichter gesagt als getan.

    Mein Körper ist immer noch ein Sammelsurium aus Schmerzen, von den Fußsohlen bis zu meinem pochenden Kopf. Aber besser, als hier mit nichts als verbrannter Vergangenheit zu sitzen und auf den Tod zu warten.

    Eins nach dem anderen.

    Ich schnappe mir die Reisetasche und krame darin herum, bis ich finde, was ich suche: ein Pillenfläschchen. Ich schüttle es. Fünf Pillen. Ein starkes Schmerzmittel, das von meinem Rezept übrig ist. Ich habe es seit Wochen nicht mehr genommen, aber jetzt schüttle ich eine Tablette heraus und schlucke sie ohne Wasser. Nur eine, obwohl ich mich nach zweien sehne, nach der alles überdeckenden Taubheit, die dafür sorgt, dass mir der Schmerz egal ist, selbst wenn sie den Schmerz nicht dämpft.

    Aber es sind nur noch vier übrig und ich muss einen klaren Kopf behalten, deshalb verschließe ich die Flasche und verstaue sie wieder sicher in der Tasche.

    Eins nach dem anderen. Und das Nächste ist die Ernährung. Ich schraube den Deckel vom Lachsglas und stecke mir ein fettiges Stück in den Mund. Bo muss es wohl riechen, denn Sekunden später kommt er angesprungen. Die rosa Zunge hängt zwischen seinen Zähnen und sein Atem vernebelt die Luft. Einen halben Meter entfernt bleibt er stehen und leckt sich die Schnauze. Wartet auf die Erlaubnis.

    »Mm-mm«, lehne ich ab. »Das brauche ich selbst.« Der Lachs und die Pfirsiche werden nicht lange reichen. Ein paar Tage, wenn ich sparsam bin. Kürzer, wenn ich sie mit einem 45 Kilo schweren Hund teile.

    Bo winselt und neigt den Kopf. Und dann erinnere ich mich an die Dörrfleischhappen. Als wir heute Morgen losgefahren sind, habe ich sie mitgenommen und sie stecken immer noch in meiner Tasche. Ich wühle darin, nehme eine Handvoll Happen heraus und werfe sie Bo zu. Er fängt einen aus der Luft, dann schnüffelt er auf dem Boden herum und sammelt den Rest ein.

    Ich weiß nicht, zu welcher Hunderasse Bo gehört. Dad weiß es auch nicht. Dad wusste es auch nicht. Bo ist größtenteils schwarz, übersät mit grauen Flecken und heller um die Schnauze. Er sieht aus, als hätte er etwas von einem Husky, einem Malamute und mit ziemlicher Sicherheit auch etwas von einem Wolf. Er hat diese Wildheit an sich. Dad hat gesagt, man kann einen Wolf nicht zähmen, man kann ihn nur zu einem Verbündeten machen. Bo war in seinem ganzen Leben noch nie an der Leine.

    Ich kaue langsam. Obwohl ich am Verhungern bin, fühle ich mich unwohl und spüre ein seltsames Rumoren in meinem Magen. Es dauert eine Minute, bis ich es wiedererkenne. Das gleiche Gefühl hatte ich nach dem Unfall, als man mir sagte, dass Mom tot sei. Zwei, drei Tage lang schwankte alles zwischen einer entsetzlichen, stechenden Trauer, die schmerzlicher war als meine Verletzungen, und einer beklemmenden Taubheit. Die Beklemmung war schrecklich, bedeutete aber, dass ich nicht an Mom dachte. Ihr Tod fühlte sich für mich nicht real an, und das für eine lange Zeit.

    So fühle ich mich jetzt. Taub. Taub ist gut. Taub bedeutet, dass ich denken kann, mir über alles klar werden kann, bevor die Trauer kommt.

    Unterstand, denke ich und würge einen weiteren Bissen Lachs hinunter.

    In der fünften oder sechsten Nacht, die ich hier verbracht habe, rief mich mein Vater zum Feuer. Wenn du jemals nachts fernab der Hütte festsitzt, musst du über ein paar Dinge Bescheid wissen, erklärte er. Dann erzählte er mir von der Kälte, dem Wasser, der Nahrung, dem Feuer. Ich habe nur halb zugehört. Ich glaubte nicht, dass ich etwas davon wissen müsste. Ich wollte nichts davon wissen.

    Hat er mir etwas über den Bau eines Unterschlupfes beigebracht? Ich kann mich nicht erinnern, beziehungsweise es schmerzt zu sehr, mich zu erinnern. Ich gehe weiter zurück und finde eine ungefährliche Erinnerung. Eine, die nicht brennt. Eine ›Exkursion‹ in der vierten Klasse. Ein Ausflug bis zu den Bäumen hinter unserer Schule. ›Tag der Wildnis‹. Sie haben uns beigebracht, an der Stelle zu bleiben, wo man gerade ist, wenn man sich verirrt hat, und weiße Kleidung als Signal zu benutzen, weil sie leicht zu erkennen ist, und dergleichen mehr.

    Sie haben uns das Bauen von Unterständen beigebracht, das war der spaßige Teil. Ein großer Ast wurde wie ein Rückgrat gegen einen Baumstamm oder einen Felsen gestützt, dann legten wir kleinere Äste und immergrüne Zweige wie Rippen darüber. Die Äste und Nadeln wurden übereinandergeschichtet, um den Regen abzuhalten, und dann füllten wir die Unterkünfte mit abgestorbenen Blättern und Dingen vom Waldboden, von denen es hieß, sie würden uns warm halten.

    Ich gebe ein ersticktes Lachen von mir, zur Hälfte ein Schluchzen. Wochenlang habe ich mich bei meinem Dad aufgehalten, dem König der Wildnis, und war so damit beschäftigt, wütend zu sein, dass ich ihm nie zugehört habe. Stattdessen erinnere ich mich an einen dämlichen Ausflugstag mit einem Haufen Vorstadtkinder, die in ihrem Leben noch nie eine Nacht im Freien verbracht hatten.

    Fast findet mich die Trauer und legt ihre Zähne und Krallen an meine Kehle.

    Ich stoße ein ersticktes Geräusch aus, als ich mich daran erinnere – an das Entsetzliche, an seinen Klang, die Art und Weise, wie sich diese eine Sekunde immer weiter ausgedehnt hat und dann in einem Moment zurückgeschnellt ist, zu kurz und zu schnell, um etwas dagegen zu unternehmen.

    Mein Dad ist tot.

    Dieser Erkenntnis kann ich nicht entkommen, sosehr sie auch schmerzt.

    Ich habe ihn nicht gekannt. Ich habe ihn nicht gemocht. Aber er war mein Dad, und ich habe ihn geliebt.

    Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn überleben soll. Buchstäblich nicht. Als Mom starb, schien es, als hätte die Trauer alles aus mir herausgequetscht, Atem, Blut und Gefühl. Ich hatte damals keine Ahnung, wie ich weiterleben sollte, aber ich wusste, dass ich am Leben bleiben würde.

    Die Trauer ist jetzt anders. Vielleicht nicht so schlimm. Aber die Frage des Weiterlebens stellt sich umso drängender. Ich weiß nicht, wie ich hier draußen überleben soll. Ich weiß nicht, ob ich es kann.

    »Es reicht«, blaffe ich. »Es reicht. Damit fangen wir nicht noch einmal an.«

    Nach dem Unfall habe ich mich zwei Wochen lang geweigert, eine Physiotherapie zu machen. Mit jemandem zu reden. Das Bett zu verlassen, außer um mich weinend und fluchend ins Badezimmer zu schleppen.

    Wenn ich das jetzt tue, werde ich sterben. Ich habe zu lange dort gelebt, wo es schwer ist zu sterben. Noch weiß ich nicht, wie man richtig Angst hat. Ich weiß nicht, wie man eine Art von Angst von einer anderen unterscheidet. Die Angst, die einen schnell macht. Die Angst, die einen wachsam macht, die dich einen knackenden Zweig wie einen Schuss wahrnehmen lässt. Die Angst, die einen erstarren lässt. Die Angst, die einen lähmt, und die Angst, die einen am Leben hält.

    Ich werde sterben, zwinge ich mich zu denken, und dann spreche ich es aus, schreie es hinaus, weil ich es tief im Innern glauben muss, sonst werde ich nie wieder in der Lage sein, mich zu bewegen.

    »ICH WERDE STERBEN!«, schreie ich über den See. Die Worte reißen sich von mir los und lassen meine Kehle rau zurück.

    Bo bellt, entzieht sich mir und dreht sich dann, um sich der Bedrohung zu stellen, die ich gerade anbrülle. Meine Hände zittern. Ich drücke die Handflächen auf meine Augen und zittere dabei.

    Bo beruhigt sich und kommt mit geneigtem Kopf und zaghaft wedelndem Schwanz zu mir gekrochen. Ich umfasse seinen Hals und ziehe ihn zu mir heran. Sein Fell ist nass und er riecht intensiv und moschusartig, aber das ist mir egal. Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Fellkrause. Er schnaubt gegen meine Schulter. Der Regen wird stärker und trommelt auf die Kapuze meines Regenumhangs, bis ich ihn von mir reißen und nass werden will, nur um etwas Ruhe zu bekommen. Ich schließe die Augen.

    »Ich werde sterben«, flüstere ich. »Ich werde sterben.« Daran bleibe ich hängen. Es sei denn, zwinge ich mich hinzuzufügen. Es gibt hundert, tausend Dinge, die auf diese Worte folgen, aber ich konzentriere mich auf eines davon.

    »Ich werde sterben, es sei denn, ich finde einen Unterschlupf«, erkläre ich Bo. »Zuerst der Unterschlupf.« Etwas, um den Regen und die Kälte abzuhalten. Etwas, wo Bo und ich hineinpassen, und dazu noch ein Feuer, was bedeutet, dass es größer sein muss als die kleinen Hütten, die wir in der Schule gebaut haben. Ich kann einen Anbau machen, glaube ich, wenn ich nur etwas habe, woran ich anbauen kann.

    Ich habe Wochen damit verbracht, mit meinem Dad durch den Wald zu streifen. Jetzt verschwimmt alles in einer Mischung aus Braun und Grün. Im Dickicht konnte ich nicht einmal mehr die Übersicht behalten, in welcher Richtung der See lag. Aber ich erinnere mich an einen Felsbrocken. Von einem längst verschwundenen

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