Kalk: Roman
Von Dirk Bernemann
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Über dieses E-Book
Eine bitterböse Gesellschaftsstudie und ein Psychogramm des in die Enge getriebenen alten weißen Mannes.
Dirk Bernemann
Dirk Bernemann, geboren 1975 im westlichen Münsterland ist Schriftsteller und Journalist. Er ist Autor zahlreicher Romane und Kurzgeschichtenbände, darunter der Bestseller "Ich hab die Unschuld kotzen sehen". Zuletzt erschien 2021 sein Roman "Schützenfest" bei Heyne Hardcore. Dirk Bernemann lebt in Berlin.
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Buchvorschau
Kalk - Dirk Bernemann
April
Ihm steht ein freies Wochenende bevor, das er füllen muss. Womit genau, ist unklar. Ein Lebensmitteleinkauf gibt zumindest eine Richtung vor. Nachdem er sein Auto am äußersten Rand des Parkplatzes geparkt hat, geht er auf das Einkaufswagenhäuschen zu. Es sind nur noch zehn Wagen da, immerhin ist es Freitagabend. Kalk zieht einen der Wagen aus der Bucht und steuert auf die Tür des Supermarktes zu. Seine Gedanken haben kein Muster.
Das Frühjahr macht ihn fertig. Der April wird unbeständig bleiben, so kündigen es die Meteorologen an. Vor zwei Wochen noch Frost, vorgestern 23 Grad und heute ein nebeliger Tagesbeginn. Mittlerweile sind es 15 Grad und unerwartete Schauer haben Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen. Das ganze Jahr fühlt sich an wie ein beständiger April. Monat der Ödnis. Kalk vermutet aber, auf das Gröbste vorbereitet zu sein, unklare Bilder von Zukunft flimmern vor seinen Augen. Aber die Definition des Gröbsten steckt ja als solche schon voller kleinteiliger Varianten der Grausamkeit.
Kalk bewegt sich langsam durch die Gänge des Supermarktes. Selbst der Blick auf die Zeitungsüberschriften, die er im Regal neben den Rätselheften sieht, sorgt nicht dafür, dass sich Kalks Stimmung verfinstert. Er ist das um ihn herum stattfindende Elend gewohnt. Er weiß auch nicht, ob es wirkliches Elend ist, was ihn umgibt, in seiner Vorstellung hat Elend heftigere emotionale Auswirkungen. Das richtige Elend ist ja auch immer woanders. Zumindest wird Kalk darin bestärkt, wenn er die Schlagzeilen sieht. Es beruhigt ihn, das Elend anderswo zu wähnen. Wäre das Elend bereits hier, er würde sich garantiert anders fühlen. Es ist sonst wo, dieses Elend, nicht hier, mitten in Deutschland, nicht in dieser Kleinstadt, nicht in diesem Supermarkt. Allerdings ist ihm auch klar, dass, nur weil er keine Schüsse hört, es nicht bedeutet, dass nicht geschossen wird.
Wenn man sich die Mühe machte, Kalk zu fragen, was er denn beruflich macht, so würde er versuchen, nichts zu beschönigen. Es passiert selten, dass Kalk danach gefragt wird, weil er Situationen meidet, in denen er danach gefragt werden könnte. Er ist seit vielen Jahren Verkäufer in einem Elektrogroß- und -einzelhandel. Die einzige Abwechslung in seinem Beruf besteht darin, dass er zeitweise durch ein Lager huscht und Großbestellungen für Installationsmaterial in einen großen Einkaufswagen legt und parallel dazu einen Lieferschein schreibt. Durchbrochen wird diese an sich meditative Tätigkeit von Kundinnen und Kunden, die in das Fachgeschäft kommen, um Lampen, Spülmaschinen und Elektroherde zu kaufen, und sich entsprechende fachliche Beratung wünschen. Kalk kennt sich aus mit diesen Dingen, aber auf dem Heimweg muss er trotzdem gelegentlich sein Autoradio lauter stellen, damit es die Gedanken an die Sinnlosigkeit seiner Tätigkeit übertönt. Bislang funktioniert das.
Kalk legt verschiedene frische Gemüsesorten in seinen Einkaufswagen, allein, um sich selbst das Gefühl zu geben, die Dinge im Griff zu haben. Dabei setzt er bewusst einen Expertenblick auf, der suggeriert, er könne gutes von schlechtem Gemüse unterscheiden. Kalk berührt einen Brokkoli wie eine in Plastik verpackte Geliebte, legt ihn zurück, nimmt den nächsten Brokkoli, begutachtet seine prallen Röschen und lässt ihn in einer Mischung aus Sanftmut und Gnade in den Einkaufswagen sinken. Die Fachleute sagen, durch Ernährung und Bewegung habe man viel in der Hand, von dem man vermuten könne, es nicht in der Hand zu haben. Kalk vertraut auf diese Experten. Tomaten starren ihn an, er nimmt sie mit. Er legt eine Zucchini dazu, obwohl er nicht genau weiß, was man damit macht. Man würzt sie und packt sie in den Ofen, nachdem man milden Käse darübergestreut hat. Kalk kauft milden Käse, damit auch die Zucchini denkt, dieser Einkauf wäre zielgerichtet.
Schokolade, zwei Tafeln Zartbitter, das wirkt wie eine Belohnung, die er sich selbst gestattet. Er muss bei dieser Art von Schokolade an die alte Frau denken, die beim Versuch, eine Straße zu überqueren, vor seinen Augen gestürzt war und der er daraufhin aufgeholfen hatte. Das ist nun vielleicht zehn Jahre her, aber er erinnert sich noch genau an die Kreuzung und den verzweifelten Blick der Frau. Aber der damals jüngere Kalk nahm sich ihrer an, half ihr auf die wackeligen Beine und geleitete sie an die andere Straßenseite. Zum Dank für Kalks Rettungstat zog sie eine Tafel Zartbitterschokolade aus ihrer Handtasche. Außerdem überreichte sie ihm mit feierlichem Blick einen schmutzigen Fünf-Euro-Schein. Kalk schämte sich ein wenig und wollte diese kindgerechte Belohnung nicht annehmen. Aber die Frau beharrte darauf und so gab Kalk nach. Fünf Euro und eine Tafel Schokolade als Gegenwert für ungefähr 80 Jahre beständiger Todesverweigerung? Kalk bedankte sich, steckte Geld und Schokolade ein und war sich sicher, dass der Mensch grundsätzlich gut ist. Wenn auch nicht immer, wenn auch nicht überall, aber da, wo es keine negativen Konsequenzen oder größere Mühen oder Gefahren kostet, da kann man gut sein.
Life is short, eat dessert first steht über dem Puddingregal, aber das Angebot überzeugt Kalk nicht. Langsam läuft er weiter. Er denkt an die alte Frau und ihre Dankbarkeit. Wann erlebt man so was noch, echte Dankbarkeit? Allerdings hat er damals noch ein paar weitere Tafeln Schokolade in den Untiefen ihrer Handtasche erkennen können. Irgendwann wird man nicht mehr gerettet, irgendwann hat man seine letzte Tafel abgegeben. Davor, so denkt Kalk, kann man sich noch ein paar Mal ausgiebig mit Schokolade bedanken.
Weiter zu den Grundnahrungsmitteln: Nudeln, Brot, Reis, Olivenöl. An Freitagabenden erkennt man die Krise deutlicher als an Montagvormittagen. Es gibt wieder erhebliche Lücken im Bestand. Gründe hierfür gibt es tausende. Bestehende Inflation, kommende Kriege, drohende Pandemien und immer wieder aufkeimende Klimakatastrophen, in Regionen, in denen das ansonsten selten oder nie passiert ist.
Die Menschen: überrascht.
Die Politik: seit Jahren einen Mittelweg suchend.
Die Probleme: mehren sich und bauen aufeinander auf.
Die Auswirkungen: bemerkt man leicht verzögert im Supermarkt.
Kalk hält kurz inne und schaut auf sein Handy, weiß aber nicht, was er sich davon erhofft. Es ist eher ein hilfloses Starren und meditatives Scrollen durch eine immer undurchsichtiger werdende Welt, von einem, der am Puddingregal verharrt und so tut, als hätte er eine Einkaufsliste erstellt. Kalks Einkäufe sind ausschließlich impulsiv. Er muss nur sich allein versorgen, das ist alles, das scheint zu schaffen zu sein. Bei der kurzen Handynutzung fällt ihm das Datum auf. Kalk überlegt, ob heute irgendjemand Geburtstag hat, den er kennt, und stellt fest, dass niemand auf der Welt wirklich auf ihn wartet. Schlimm fühlt es sich nicht an.
Aus den Lautsprechern tönen fröhliche Melodien, während Kalk einen Blick auf die Non-Food-Ware wirft. Blumentöpfe, Tabletts für das Frühstück im Bett, diese Holzbretter, die sich Leute quer über ihre Badewannenränder legen, um dort ein Buch abzulegen oder eine Tasse abzustellen und dem Leben noch mehr Gemütlichkeit abzuringen. Alles Dinge, die gekauft werden, um zumindest theoretisch Harmonie herzustellen.
Neben den Gefriertruhen fühlt Kalk sich wohl. Alles runtergekühlt. Er schaut sich die gefrosteten Leichenteile, die Blätterteigkreationen und die Torten an und erblickt einen Fisch, dessen vergleichsweise ausdrucksstarker Blick die Lebendigkeit der meisten anderen Einkaufenden zutiefst infrage stellt. Die eingeschweißte Forelle schweigt zurückhaltend und Kalk wünscht ihr viel Glück, bei jemandem zu landen, der kulinarisch mit ihr umgehen kann, damit ihre Existenz nicht als verwirkt gelten wird. Aber zumindest sollte es jemand sein, der diesem schockgefrosteten Blick standhalten kann. Kalk geht weiter, doch die Forelle beißt sich mit ihrem offen stehenden Mund und den aufgerissenen Augen in seinem Bewusstsein fest. Er nimmt stattdessen Fischstäbchen mit, greift dann zum Gefrierspinat. Gedankenverloren schiebt er seinen Einkaufswagen bis zum Ende der Kühltheke. Er kann den Blick des Fisches auf dem Stapel der anderen Forellen nicht vergessen. Spontan geht er zurück und greift sich den frostigen Fisch. Das Tier ist unterarmlang. Die Fischaugen starr, der Körper komplett erhalten, außer am Bauch, da ist er aufgeschnitten und alle Innereien wurden entnommen. Einem nicht näher zu erklärenden Impuls folgend legt Kalk ihn zu den anderen Sachen in den Einkaufswagen und immer, wenn er auf die Waren herunterschaut, fängt ihn der kalte Blick des Fisches ein. Selbst auf dem Kassenband und in der Hand der Kassiererin fokussiert ihn der Fisch durch die transparente Folie, in die er eingeschweißt ist. Auf dem Namensschild der Kassiererin steht Linda van Blerk. Professionell lässt Frau van Blerk den Fisch über den Scanner gleiten und Kalk fragt sich, was in ihrem Kopf vorgeht. Denkt sie über seine Essgewohnheiten nach?
Vermutlich macht sie sich überhaupt keine Gedanken, der Kassiervorgang scheint ihre ganze Konzentration zu fordern. Für tiefer gehenden menschlichen Kontakt ist das hier ohnehin nicht der richtige Ort, weiß Kalk.
Er packt seine Einkäufe in zwei mitgebrachte Jutebeutel, schließt seinen Kofferraum auf, verstaut dort alles und fährt los. Den Fisch hat er so positioniert, dass er aus dem Beutel herausschauen kann. Irgendwie verrückt, dass er in dieser kurzen Zeit eine engere Beziehung zu dem Fisch aufgebaut hat, als zu irgendwem sonst in letzter Zeit.
Im Radio wird von einem Krieg berichtet, der nicht weit entfernt ist. Anschließend sagt eine zarte Stimme, dass der Frühling durchbrechen wird. Dieses Mal aber so richtig. Zum Wochenbeginn werden 25 Grad erwartet. Ein fließender Übergang in den Sommer stünde bevor. Es folgt ein Rod Stewart-Song und Kalk erkennt rechts von sich das kleine Naherholungsgebiet, an dessen Rand sich ein freier Parkplatz befindet. Dort stellt er sein Auto ab. Nichts und niemand wartet zu Hause, die Zeit verlangt nach Todschlag. Also nimmt sich Kalk die Zeit.
Er bleibt noch eine Weile im Auto sitzen. Nach Rod Stewart folgen R.E.M. und Kalk sucht in diesem Lied nach Antworten auf ungestellte Fragen. Er versteht irgendetwas mit corner und spotlight und religion und ist so schlau wie zuvor. Mitten in der zweiten Strophe zieht Kalk den Zündschlüssel. Er steigt aus und geht ein paar Schritte, immer noch diese melancholische Melodie im Ohr.
Aushalten ist die Devise. Still vor sich hinleben. Überhaupt: still sein, die Ruhe ertragen. Die Kleinstadt bietet, was man zum Überleben braucht, darüber hinaus aber weiter nichts an. Die Straßen eng, ein paar Autos parken am Straßenrand, hier und da laufen Fußgänger mit unklaren Zielen.
Der kleine Park bietet neben Eschen, Büschen, Birken und Eichhörnchen auch Bänke und in der Mitte einen öffentlichen Grillplatz. Eschen und Birken sind sogenannte Frühblüher, die jährlich den Pollenallergikern zu schaffen machen. Sobald der Frühling sich meldet, leichter Wind geht und an den Pollen zehrt, gibt es Leute, die mit hochroten Augen durch die Welt rennen, ganz so, als hätten sie entweder seit Tagen durchgeweint oder durchgefeiert. Allergien versuchen die Menschen ja zaghaft daran zu erinnern, dass ihre Tage auf dem Planeten nahezu gezählt sind. Die Natur ist dabei ein grausamer Vermittler, sie sortiert zunächst die Schwachen aus, fällt die Anfälligen an und vergällt ihnen das Leben, obwohl es Frühling ist. Kalk ist froh, keine Allergien zu haben. Direkt umrandet ist der Park von Mehrfamilienhäusern, in deren Küchen und Wohnzimmer man blicken kann, wenn man daran Interesse hat. Man kann sich auf Bänke setzen und in die Stuben sehen. Dabei ist man immer optimal von Büschen und dem tief hängenden Astwerk der umstehenden Bäume geschützt. Kalk hat schon einige Male in die Leben der anderen hineingeblickt, seit er hier wohnt, aber schnell haben sie ihn gelangweilt, die Menschen und ihre öden Verrichtungen. Da bügeln sie, staubsaugen, putzen ihre Schrankwände, stauben ihre Deckenleuchten ab, decken Tische, kochen ganze Menüs oder einfach nur Kaffee, streicheln ihre Kinder oder Haustiere, lachen miteinander, leben alleine oder in Familien und reißen einfach so die Zeit von den Kalendern herunter, als wäre genug davon da. Einsamkeit ist das meist gemiedene Wort, Angst ohnehin, denn wer Angst hat, verliert. Kalk erhebt sich von der Bank, um ein paar Schritte zu gehen. Ganz so, als ob es einen Plan gäbe, wie vorhin im Supermarkt.
Müde Fassaden glotzen ihn an, halbwegs interessiert schaut er zurück. Wie sie alle denken, sie verwirklichen sich innerhalb dieser Fassaden, wie sie so tun, als würde es stimmen, was sie behaupten. Er neidet denen, die wirklich wissen, was sie zu tun haben, genau dieses Wissen. Es gibt ja immerhin auch die, die sich wirklich verwirklichen. Die eine konkrete Vorstellung von sich selbst als Freizeitpersönlichkeit haben. Nur die meisten eben nicht. Die nehmen dann wie Kalk, was kommt. Und in diesen ganzen Wohnungen leben sie ihre Existenzen runter. Architektur ist auch nur der Ausdruck einer Sehnsucht nach Sicherheit. Nach Beständigkeit und Schutz. Er läuft noch eine Runde auf dem Kiesweg, dann geht er zurück zu seinem Auto. Es dämmert bereits. Kalk lässt das Radio aus. Kein Gedanke da, der jetzt unbedingt wegmüsste. Zufrieden lenkt Kalk seinen Wagen durch die Kleinstadt. Fährt ein paar Umwege wie eine Polizeistreife, die nach dem Rechten sieht. Die Idylle ist dünn, aber vorhanden. Das reicht ihm völlig aus.
Zu Hause hört Kalk dann doch wieder eine Radiosendung, während er seine Einkäufe verstaut. Den gefrorenen Fisch legt er ganz hinten ins Gefrierfach. Kalk ist kürzlich 55 geworden, es hat ihm nichts ausgemacht, Zeit vergeht eben. Aber er fühlt sich nach der Ansprache der Radiomoderatorin, als säße er zwangseingewiesen in einem Heim mit allen anderen Zuhörerinnen und Zuhörern. Laut Programmhinweis ist diese Sendung das perfekte Programm für seine Altersklasse. Es fühlt sich jedoch an, als sei alles abgesprochen, als sei alles geklärt. Das hier ist das Ende, die letzte Station. Ab jetzt nur noch Medikamente, die einem beim Durchschlafen und schmerzfreien Urinlassen helfen. Graubrotscheiben, auf denen sich der mittelalte Gouda wellt. Dünner Tee dazu. Und jeder weiß, dass die Zeiten furchtbar sind und noch furchtbarer werden und die Radiomoderatorin macht trotzdem allen gute Laune. Sie sagt so oft ihren Namen, dass Kalk annimmt, sie habe Angst, dass dieser vergessen werden könnte. Kalk googelt auf dem Smartphone ihr Gesicht und es ist wie erwartet: Eine mittelalte Frau, mit verzweifelt notgeil gefärbten Haaren. Unter ihrer dicken Schminkschicht bricht sich ein Lächeln hervor, das bei genauer Betrachtung eindeutig als gelogen zu erkennen ist.
Die Moderatorin sagt: »Hier nun das Beste der 70er-, 80er- und 90er-Jahre sowie das Beliebteste von heute.« Dann spielen sie Phil Collins. Kalk sitzt am Tisch, hat sich ein Glas Wasser eingegossen. Er schaut aus dem Fenster, Phil Collins schmachtet Rührseliges in seine Küche hinein. Zufrieden ist er trotzdem, das Wochenende hat begonnen. Die Musik weht durch seine Küche wie ein lauwarmer Wind.
Mai, Juni
Nach Feierabend ist Kalk zur Sporthalle gefahren. Eine Stunde Tischtennis mit Förster. Es gibt Arbeitstage, die imstande sind, einen zu vernichten, dieser war fast so einer. Stundenlange Kundengespräche über Elektroherde und Halogenleuchten, die das maßgeschneiderte Leben der Kunden und Kundinnen beleuchten sollen. Der Gedanke an eine Stunde voller Vorhandspins, Rückhandtopspins, Blocker, Schmetterbälle und Unter- und Seitenschnitte ließ ihn trotzdem hoffnungsvoll durch die Lagerhalle und den Verkaufsraum stromern. Wenn am Ende des Tages noch etwas am Horizont auftaucht, was ein bisschen