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Kirchengeschichte
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eBook468 Seiten5 Stunden

Kirchengeschichte

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Über dieses E-Book

Diese Einführung vermittelt kompakt und verständlich Grundwissen zu 2000 Jahren Kirchengeschichte. Martin H. Jung skizziert die Grundzüge der Kirchengeschichte. Er blickt auf die christliche Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte und bezieht die Wechselbeziehungen zwischen dem Christentum und anderen Religionen ein. Sein Streifzug durch 2000 Jahre Kirchengeschichte führt den Leser/die Leserin zu Jesus und den Anfängen des Christentums, den Kirchenvätern, heiligen Orten, dem Mönchtum, den Kreuzzügen, einigen Ketzern, wichtigen Reformatoren, dem Anglikanismus, der Gegenreformation, dem Pietismus und Methodismus, Kirchenunionen und Kirchenspaltungen, charismatischen Bewegungen, der Ökumene, dem Nationalsozialismus, der Befreiungstheologie.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Dez. 2013
ISBN9783647995878
Kirchengeschichte
Autor

Martin H. Jung

Dr. theol. Martin H. Jung ist Professor für Historische Theologie, Kirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Osnabrück.

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    Buchvorschau

    Kirchengeschichte - Martin H. Jung

    Einleitung

    Die Menschheit zählt inzwischen annähernd sieben Milliarden. Das Christentum ist mit zwei Milliarden Angehörigen die derzeit größte Weltreligion und blickt auf eine beinahe zweitausendjährige Geschichte zurück. Judentum, Hinduismus und Buddhismus sind noch älter, zählen aber nur fünfzehn, 840 und 377 Millionen Anhänger. Mit 1,3 Milliarden Gläubigen ist der Islam inzwischen die bedeutendste Weltreligion neben dem Christentum. Er hat eine beinahe 1400-jährige Geschichte hinter sich. In den zwei Jahrtausenden seiner Geschichte ist das Christentum nicht immer gleich und ist sich nicht immer treu geblieben. Vielmehr zeigte es sich als eine wandlungs- und facettenreiche Religion, die unter dem Einfluss von Humanismus und Aufklärung zudem früher und deutlicher als andere Religionen lernte, sich selbst geschichtlich zu sehen und kritisch zu betrachten. Die geschichtliche und kritische Betrachtung einer Religion relativiert deren Wahrheitsansprüche und erzieht so zur Toleranz. Und dies macht es sowohl innerreligiös als auch interreligiös möglich, Pluralität so zu akzeptieren, wie es in einer multikulturellen und multireligiösen Weltgesellschaft erforderlich ist.

    Eine »Kirchengeschichte« stellt nicht nur die Geschichte der Kirchen dar, sondern auch die christliche Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte sowie die Wechselbeziehungen zwischen dem Christentum und anderen Religionen sowie zwischen Christentum und Kultur. 2000 Jahre auf diese Weise zu behandeln, müsste allerdings das Werk vieler Spezialisten sein und dürfte zahlreiche Bände füllen. Im Folgenden geht es darum, Grundwissen darzulegen und dabei Entwicklungsstränge aufzuzeigen und Verbindungslinien – auch in die Gegenwart – herzustellen, und das in einer Weise, die für jeden geschichtlich und theologisch Interessierten verständlich ist, nicht nur für akademisch gebildete Theologen und Historiker. Dabei soll heiklen, strittigen, auch öffentlich diskutierten Themen nicht ausgewichen werden und der Standpunkt nicht der einer bestimmten Konfession sein. Kurz gesagt: konsequent verständlich, konsequent aktuell, konsequent ökumenisch, konsequent kritisch – so muss Kirchengeschichte heute behandelt werden und so will sie dieses Buch präsentieren.

    Mitgeholfen, dass dieses Buch so wurde, haben die Theologiestudentinnen Jennifer Hoffmann und Ines Petersen, Wissenschaftliche Hilfskräfte im Hofprediger-Projekt des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Ich danke ihnen für die aufmerksame und kritische Lektüre des Manuskripts und wichtige Korrekturen sowie für die Mitarbeit an den Registern.

    LITERATUR (Überblickswerke zur Geschichte des Christentums): Atlas zur Kirchengeschichte. Freiburg i.Br. 2004. – Die Geschichte des Christentums. Bd. 1–14. Freiburg i.Br. 2007. – Eder, Manfred: Kirchengeschichte. Düsseldorf 2008. – Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 1–10. Stuttgart ²2004. – Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. 1–7. Freiburg i.Br. 1985. – Hauschild, Wolf-Dieter: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd. 1–2. Gütersloh ³2007, ³2005. – Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen ⁹2008. – Ökumenische Kirchengeschichte. Bd. 1–3. Darmstadt 2006–2008. – Pauly, Wolfgang (Hg.): Geschichte der christlichen Theologie. Darmstadt 2008.

    Antike

    ca. 30 Kreuzigung Jesu

    ca. 33 Bekehrung des Paulus

    62 Hinrichtung des Jakobus (Bruder Jesu)

    64 Brand Roms

    66–73/74 Jüdischer Krieg

    132–135 Bar-Kochba-Aufstand

    144 Exkommunikation Marcions

    177 Christenverfolgung in Lyon

    249 Opferedikt des Decius

    258 Tod Cyprians

    304 Opferedikt Diokletians

    311 Toleranzedikt des Galerius

    312 Konstantin besiegt Maxentius

    324 Konstantin wird Alleinherrscher

    325 Synode von Nizäa

    337 Tod Konstantins

    380 Christentum wird Staatsreligion

    381 Synode von Konstantinopel

    386 Augustin wird Christ

    385 Hinrichtung Priscillians

    451 Synode von Chalcedon

    529 Schließung der platonischen Akademie

    LITERATUR (Überblickswerke zur Kirchengeschichte der Antike): Chadwick, Henry: Die Kirche in der antiken Welt. Berlin (West) 1972. – Frank, Karl Suso: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche. Paderborn ³2002. – Hausammann, Susanne. Alte Kirche. Bd. 1–5. Neukirchen-Vluyn 2001–2005. – Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Bd. 1: Alte Kirche. Neukirchen-Vluyn ⁹2007. – Markschies, Christoph: Das antike Christentum. München 2006. – Piepenbrink, Karen: Antike und Christentum. Darmstadt 2007.

    Jesus, der Christus, und die Anfänge des Christentums

    Das Christentum begann mit Jesus, aber er begründete nicht das Christentum. Jesus war kein Religionsstifter, sondern ein religiös bewegter Jude Palästinas, der in einer Zeit, als die Römer sein Land beherrschten, als Heiler und Exorzist hervortrat und den Menschen predigte: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) Wir wissen nur wenig Zuverlässiges von Jesus und haben nur wenig Authentisches von ihm. Außerhalb der biblischen Überlieferung ist sein Auftreten nur spärlich bezeugt. Unbekannt sind Jahr, Tag und Umstände seiner Geburt. Was das Neue Testament darüber und von seiner Jugend zu berichten weiß, sind später entstandene Legenden. Jesus stammte aus Nazareth in Galiläa und war der Sohn eines Zimmermanns. Vielleicht im Jahre 28 der später, sehr viel später nach ihm eingerichteten und nach ihm benannten christlichen Zeitrechnung, hatte er Kontakt mit dem Asketen und Bußprediger Johannes, einer historisch greifbaren, auch in außerchristlichen Quellen bezeugten Gestalt, und ließ sich von ihm taufen. Danach trat er zunächst in seiner Heimat, später in Jerusalem auf und scharte Anhänger und Anhängerinnen um sich. Möglicherweise erstreckte sich sein Wirken nur über ein einziges Jahr. Kurz vor einem Passahfest wurde er in Jerusalem verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Der römische Statthalter, Pontius Pilatus, eine ebenfalls historisch greifbare Gestalt, hatte die Fäden in der Hand und trug die Verantwortung. Die Hinrichtung war vermutlich im Jahre 30 und fand, das ist sicher, in der Form der Kreuzigung statt, einer besonders schmerz- und schmachvollen Hinrichtungsart. Die Römer richteten so Schwerverbrecher, insbesondere Aufrührer, und die Juden sahen diesen Tod als Fluchtod an, denn bei Mose war zu lesen: »Ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott« (Dtn 21,23).

    Mit Jesu Tod am Kreuz schien die von ihm ausgelöste Bewegung am Ende zu sein. Die Anhänger und Anhängerinnen zerstreuten sich. Doch nach kurzer Zeit bereits machte überraschend die Botschaft die Runde: Er lebt! Er ist nicht im Tode geblieben, sondern Gott hat ihn auferweckt! Das Geschehen lässt sich nicht rekonstruieren. Die ältesten Berichte sprechen von Erscheinungen Jesu, von visionären Begegnungen mit ihm, die einigen seiner Anhänger widerfuhren: zunächst sei er Kephas (Petrus) erschienen, danach allen zwölf Jüngern gemeinsam, ferner 500 Brüdern und Schwestern und schließlich Jakobus sowie den Aposteln (1 Kor 15). Später kamen Berichte vom leeren Grab hinzu, die aber nichts bewiesen, denn für das Verschwinden eines Leichnams konnte es verschiedene Ursachen geben.

    Die Erscheinungen und Visionen, wie auch immer man sie erklären mag, waren für die Anhänger Jesu ein Grund, sich erneut für ihn zu entscheiden und sich zu ihm zu bekennen. Gleichzeitig suchten diese Menschen nach Möglichkeiten, seinen Tod am Kreuz und sein Leben neu zu verstehen, und sie deuteten die Kreuzigung als notwendiges und Heil bringendes Ereignis. Jesus selbst wurde nun von immer mehr Zeitgenossen als Christus angesehen und bezeichnet. Pointiert könnte man sagen: Das Christentum entstand, indem Jesus als Christus angesehen und als Christus verehrt wurde.

    »Christus« ist nicht der Nachname von Jesus, obwohl das Wort heute wie ein Nachname gebraucht wird. »Christus« ist ein aus dem Griechischen (christos) stammendes Wort, das dem aus dem Hebräischen kommenden Wort »Messias« (maschiach) entspricht. Beide bedeuten, wörtlich übersetzt, »Gesalbter« und meinen einen jüdischen König, denn die Könige des Alten Testaments wurden bei ihrem Amtsantritt gesalbt. Allerdings sah man in Jesus keinen normalen König wie die Herrscher der Vorzeit oder der Gegenwart, sondern einen ganz besonderen, einen göttlichen, einen endzeitlichen König, der gekommen war, um die Menschen und die Welt zu verändern und das Reich Gottes zu errichten. Ob sich Jesus selbst als Messias und Christus gesehen hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise haben einige seiner Anhänger ihn aber schon zu seinen Lebzeiten so eingeschätzt, während andere in ihm einen Lehrer oder Propheten erblickten. Durchgesetzt hat sich die Messias-Perspektive erst nach Jesu Tod oder vielmehr als Folge des Auferstehungsglaubens. Die inhaltliche Füllung des Hoheitstitels wurde in Bezug gesetzt zum Tod am Kreuz. Warum musste der Messias sterben? Die Antwort wurde mit Jes 53, dem Lied vom leidenden Gottesknecht gegeben: »Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen … Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm.«

    Als Jesus für den Christus gehalten und als Christus verehrt wurde, entstand die Kirche, die Sozialform des Christentums, die Versammlung oder Organisation der an Jesus Glaubenden. Das Neue Testament verbindet dieses Ereignis mit Pfingsten, dem jüdischen Wochenfest (Schawuot), das fünfzig Tage (»Pfingsten« kommt vom griechischen Wort für »fünfzig« [pentekonta]) nach Jesu Tod und Auferstehung stattfand, wahrscheinlich im Jahre 30. Bis heute gilt Pfingsten in der Christenheit als das Fest der Kirche. Kirche und Christentum sind jedoch nicht identisch. Die Kirche ist die Sozialform des Christentums, ohne die es das Christentum nicht gäbe, aber Christentum gab und gibt es auch außerhalb der Kirche. Die Geschichte der Kirche bildet den Kern der Geschichte des Christentums, kann aber nur im größeren Kontext einer christlichen Religionsgeschichte betrachtet werden.

    LITERATUR: Crossan, John Dominic: Jesus. 1996. – Gnilka, Joachim: Jesus von Nazaret. Freiburg i. Br. ²2007. – Mühling, Markus (Hg.): Biblische Personen damals und heute. Göttingen 2008. – Ringleben, Joachim: Jesus. Tübingen 2008. – Roloff, Jürgen: Jesus. München ⁴2007. – Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Göttingen ³2001.

    Die ersten Gemeinden

    Jesus hatte Züge eines Einzelgängers, pflegte aber dennoch immer Gemeinschaft. Als Wanderprediger war er häufig mit Begleitern und Begleiterinnen unterwegs, und er suchte das Gespräch und liebte gemeinsame Mahlzeiten. Von Anfang an war Gemeinschaft ein fester Bestandteil des Christentums. Dies setzte sich auch nach Jesu Tod und dem Aufkommen des Auferstehungsglaubens fort. Die Anhänger und Anhängerinnen suchten das Zusammensein mit Gleichgesinnten und bildeten Gemeinden. Sie gab es schon in der allerersten Zeit in Jerusalem und vermutlich auch in Galiläa, ferner in Damaskus. Relativ viel wissen wir über die Gemeinde in Jerusalem, die manchmal als »Urgemeinde« bezeichnet wird.

    Die Jerusalemer Christengemeinde wurde zunächst gemeinsam geleitet von den Jüngern Petrus und Johannes, dem Sohn des Zebedäus, sowie von Jakobus, dem Bruder Jesu (»Herrenbruder«). Dieser Jakobus, der nicht mit gleichnamigen Jüngern Jesu (Jakobus der Ältere, Sohn des Zebedäus; Jakobus der Jüngere, Sohn des Alphäus) verwechselt werden darf, hatte zu Lebzeiten Jesu nicht zu dessen Anhängern gehört. Die Jerusalemer Gemeinde bestand aus zwei Gruppen von Menschen, zum einen Juden wie Jakobus, die aus Palästina gebürtig waren und das mit dem Hebräischen verwandte Aramäische zur Muttersprache hatten, und zum andern Juden aus der so genannten Diaspora. Mit diesem griechischen Begriff, der wörtlich »Zerstreuung« bedeutet, wurden die außerhalb des Stammlandes Palästina gelegenen Wohngebiete der Juden bezeichnet. Juden aus der Diaspora sprachen Griechisch, und deshalb gab es in Jerusalem getrennte Zusammenkünfte von Diasporajuden und palästinischen Juden. Zwischen beiden Gruppen entstanden Spannungen, und zwar sicher nicht nur wegen des vom Neuen Testament berichteten Problems der Versorgung der Witwen (Apg 6), sondern auch wegen anderen wirtschaftlichen, organisatorischen oder theologischen Fragen. Gravierender als diese innerchristlichen Auseinandersetzungen waren Konflikte der als Hellenisten bezeichneten Jesusanhänger aus der Diaspora mit dem relativ konservativen Jerusalemer Judentum. Die Hellenisten übten nämlich Tempelkritik, und das ausgerechnet in der Stadt, die ihr Ansehen dem Tempel verdankte und deren wirtschaftliche Basis aufdem Tempelkult beruhte. Es kam zu öffentlichen Auseinandersetzungen, die in einer spontanen Lynchjustiz an Stephanus gipfelten, einem hellenistischen Jesusanhänger, der sich vermessen hatte zu behaupten, Gott wohne nicht in einem von Menschenhand gebauten Tempel (Apg 7). Stephanus wurde vor den Toren der Stadt gesteinigt. Anschließend bekamen es die hellenistischen Christen in Jerusalem mit der Angst zu tun und suchten das Weite. Die palästinischen Christen wurden von diesen Auseinandersetzungen jedoch kaum tangiert. Die Steinigung des Stephanus hat sich vermutlich um das Jahr 32 ereignet.

    Getötet wurde, Jahrzehnte später, auch der Herrenbruder Jakobus. Im Jahre 62 nützte der Hohepriester Ananus ben Ananus ein vorübergehendes Machtvakuum, das in Jerusalem wegen des Wechsels des römischen Prokurators entstanden war, um den Gemeindeleiter durch das Synhedrium, die oberste jüdische Behörde in Jerusalem, auch Hoher Rat genannt, als Gesetzesbrecher verurteilen zu lassen. Auch er wurde gesteinigt oder – nach anderen Überlieferungen – von der Tempelmauer hinabgeworfen. Einige Juden jedoch aus der Gruppe der besonders streng nach dem Gotteswillen fragenden Pharisäer widersetzten sich dieser Hinrichtung, wie der jüdische Geschichtsschreiber Josephus berichtet, und erreichten später die Absetzung des Ananus. Nach dem Tod des Jakobus übernahm Simon, ein Vetter Jesu, die Leitung der Gemeinde.

    Die nächste Katastrophe brach über die Jerusalemer Christen im Jahre 66 herein. Damals begann der als Jüdischer Krieg bezeichnete aussichtslose Aufstand jüdischer Kämpfer gegen die römische Weltmacht. Er führte im Jahre 70 zur Eroberung Jerusalems und zur Zerstörung des Tempels und endete im Jahre 73 oder 74 mit der Selbsttötung der letzten Widerständler auf der Festung Masada am Toten Meer. Die Jerusalemer Christen zogen sich in die Stadt Pella im Ostjordanland zurück. Nach Kriegsende kehrten sie zumindest teilweise wieder nach Jerusalem heim. Auf jeden Fall gab es wieder eine christliche Gemeinde in Jerusalem, deren Leiter namentlich bekannt sind. Doch die nächste Katastrophe brach in den Jahren 132–135 über die Jerusalemer Christen herein. Jüdische Aufständische, messianisch gestimmt und geführt von Simon ben Koseba, kurz Bar Kochba (Sternensohn) genannt, versuchten noch einmal, die Römer zu vertreiben. Natürlich behielten auch diesmal die Besatzer die Oberhand und rächten sich, indem sie Jerusalem in eine rein heidnische Stadt verwandelten und den Juden den Aufenthalt verboten. Davon betroffen war auch die christliche Gemeinde, also die an Jesus als den Christus glaubenden Juden Jerusalems.

    Neben Jerusalem gab es in Palästina kleine christliche Gemeinden in Joppe (heute: Jaffa) und Lydda (heute: Lod). Näheres ist jedoch, abgesehen von den im Neuen Testament aus diesen Orten berichteten Wundern (Apg 9), nicht bekannt. Relativ früh lebte auch im recht ferne gelegenen Damaskus eine christliche Gemeinde. Von ihr erfahren wir indirekt aus Paulusbriefen und der Paulusüberlieferung (Apg 9). Unklar ist, wann und von wem sie gegründet wurde.

    LITERATUR: Hengel, Martin: Zur urchristlichen Geschichtsschreibung. Stuttgart ²1984. – Schenke, Ludger: Die Urgemeinde. Stuttgart 1990. – Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Gütersloh ⁴2008. – Vouga, François: Geschichte des frühen Christentums. Tübingen 1994.

    Die Sendung der Jünger und die Mission der Apostel

    Das Neue Testament berichtet, Jesus habe schon zu Lebzeiten seine Anhänger beauftragt, in seinem Namen in die Ferne zu ziehen und dort in seinem Sinne zu wirken. Dem Auferstandenen wird im Matthäusevangelium in den Mund gelegt: »Geht zu allen Völkern und mach alle Menschen zu meinen Jüngern!« (Mt 28,19) Dieses Wort bezeichnet das Christentum als den Missionsbefehl Jesu. Mission ist ein lateinisches Wort (missio) und bedeutet »Sendung«. Die Christen, die in der Ferne im Sinne Jesu und für ihn wirkten, sahen sich als von Jesus Ausgesandte und Beauftragte. Mit dem griechischen Begriff Apostel (apostolos), der wörtlich »Gesandter« bedeutet, wurden ehemalige Gefährten Jesu bezeichnet, die nach seinem Tod als Missionare aktiv waren.

    Nach Jesu Tod kam es zunächst nicht zu groß angelegten missionarischen Aktivitäten. Die Mission unter Nichtchristen begann eher zufällig im Zusammenhang mit der geschilderten Vertreibung der Hellenisten aus Jerusalem. Auf ihren Wegen zurück in ihre Heimat begegneten sie Menschen, denen sie von Jesus erzählten und die sie auf diese Weise für den christlichen Glauben gewannen. Philippus traf auf dem Weg von Jerusalem nach Gaza den Kämmerer der Königin von Äthiopien und bewegte ihn dazu, sich taufen zu lassen (Apg 8). Durch eine Begegnung mit Petrus lies sich ein römischer Hauptmann in Cäsarea mit dem Namen Kornelius samt einigen Freunden und Verwandten für den christlichen Glauben gewinnen (Apg 10).

    Einige der aus Jerusalem Vertriebenen gelangten in die Großstadt Antiochien. Auch hier entschieden sich rasch Nichtjuden für den Glauben an Jesus und es entstand die erste richtige heidenchristliche Gemeinde. Erstmals wurden die Jesus-Gläubigen in Antiochien als Christen (»Christianer«, griech.: christianoi) bezeichnet (Apg 11). Aus einem Jesus beigelegten Titel war nun die Bezeichnung einer neuen Religion geworden.

    LITERATUR: Hengel, Martin: Der unterschätzte Petrus. Tübingen ²2007. – Klein, Günter: Die zwölf Apostel. Göttingen 1961. – Lindemann, Andreas: Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Tübingen 1999. – Lohse, Eduard: Paulus. München ²2009. – Wick, Peter: Paulus. Göttingen 2006.

    Judenchristen und Heidenchristen

    Der Kämmerer aus Äthiopien, Kornelius von Cäsarea und die Antiochener waren Nichtjuden oder – mit dem üblichen, aber leicht negativ konnotierten Begriff – Heiden, die sich, ohne zuvor Juden zu werden, dem Christentum anschlossen. Der Begriff Heide ist wahrscheinlich eine von Christen veranlasste Lehnübersetzung des lateinischen »paganus« (Dorfbewohner), denn als die Christen noch überwiegend in Städten lebten, waren die Nichtchristen Menschen vom unkultivierten Lande (mittelhochdeutsch: Heide), auf die christliche Städter herabblickten.

    Um Christen aus dem Judentum und Christen aus dem Heidentum zu unterscheiden, spricht man von Judenchristen und von Heidenchristen. Am Anfang gab es nur Judenchristen, doch schon nach wenigen Jahren kamen Heidenchristen hinzu, und sie wurden rasch immer zahlreicher. Das Christentum war für Heiden attraktiv.

    Die ersten Heidenchristen kamen aus dem Umfeld des Judentums. Sie waren Sympathisanten des Judentums, die vielleicht schon seit Jahren erwogen, Juden zu werden, es aber nicht konnten oder durften. Der Kämmerer aus Äthiopien zum Beispiel war an einem förmlichen Übertritt gehindert, weil er – aus beruflichen Gründen – entmannt war. Andere, und zu ihnen zählte vielleicht Kornelius aus Cäsarea, scheuten sich vor dem förmlichen Übertritt, weil er mit der Notwendigkeit verbunden gewesen wäre, sich beschneiden zu lassen. Die bei jüdischen Knaben am achten Lebenstag vollzogene Beschneidung war für einen erwachsenen Mann ein schmerzhafter, gefährlicher und peinlicher Eingriff. Das Judentum forderte von den Heiden die Beschneidung, das Christentum jedoch nicht. Das Christentum war für viele Heiden somit ein einfacheres, bequemeres Judentum. Das galt im Übrigen nicht nur für die Männer, die sich vor der Beschneidung fürchteten, sondern auch für die Frauen, die sich als Jüdinnen rituellen Vorschriften fügen mussten, die das Sexualleben und die Körperhygiene ebenso tangierten wie die Haushaltung und das Kochen.

    Die theologische Begründung für die den Heiden zugestandenen Erleichterungen lieferte der Apostel Paulus. Sie wurzelte in seiner eigenen religiösen Erfahrung. Paulus war ein hellenistischer Jude aus Tarsus, an der Südküste Kleinasiens gelegen. Von Beruf war er Zeltmacher, besaß jedoch eine relativ hohe Bildung und kannte sich in den Traditionen seiner Religion gut aus. Paulus schloss sich um das Jahr 33 dem Christentum an. Die Ermordung des Stephanus hatte er, noch auf der anderen Seite stehend, miterlebt. Damals bekämpfte er noch selbst das Christentum, indem er jüdische Gemeinden, in denen es Christen gab, aufsuchte und Maßnahmen gegen die Neuerer einleitete. Auf dem Weg nach Damaskus, wo er in diesem Sinne wirken wollte, widerfuhr ihm – als Folge einer visionären Begegnung mit dem auferstandenen Jesus – eine Bekehrung, die er als Berufung interpretierte.

    Nach seiner Bekehrung wirkte Paulus als Apostel. Unter den Aposteln war Paulus allerdings eine Ausnahme, weil er als Einziger Jesus nie zu Lebzeiten begegnet war. Aus der visionären Begegnung mit dem Auferstandenen leitete er jedoch die Berechtigung her, den Ehrentitel eines Apostels zu tragen.

    Paulus wirkte erfolgreicher als alle anderen Apostel für die Ausbreitung des Christentums und für dessen theologische Fundierung. Vom Jahr 46 an unternahm er Missionsreisen nach Kleinasien und Griechenland und wandte sich dabei gezielt den Nichtjuden zu. Auch Petrus, der Jerusalem um das Jahr 43 verlassen hatte, war missionarisch aktiv, konzentrierte sich dabei jedoch auf Juden. Biografisch wissen wir weit weniger von ihm als von Paulus. Noch weniger wissen wir allerdings von den anderen Aposteln, zum Beispiel von Thomas. Folgt man der Legende, soll er bis nach Indien gelangt sein und dort erfolgreich missioniert haben. Noch heute tragen Christen in Indien seinen Namen und bezeichnen sich als Thomaschristen. Neben den Aposteln wirkten auch Apostelinnen. Namentlich bekannt ist allerdings nur Junia (Röm 16,7).

    Paulus war nicht nur der erfolgreichste unter den Aposteln, sondern er war auch der erste große Theologe der Christenheit. Für die von ihm formulierte theologische Begründung der Heidenmission und für den dabei praktizierten Verzicht auf das jüdische Religionsgesetz war wesentlich, dass er die von ihm geglaubte Auferweckung Jesu von den Toten als ein endzeitliches Ereignis ansah, das die universalisierung des Heils einleitete und den Nichtjuden einen neuen, eigenen Weg zu Gott wies. Nicht mehr die – wie sich erwiesen habe ohnehin nicht vollkommen mögliche – Beachtung des Gesetzes, sondern der Glaube an Christus sei der den Heiden eröffnete Weg zu Gott. Der Gedanke einer umfassenden Mission und einer Universalisierung der eigenen Religion war im Judentum bereits angelegt. In Jes 49,6 wurde der »Knecht Gottes«, der die Zerstreuten Israels sammeln sollte, zugleich zum »Licht der Heiden« erklärt.

    Paulus trat nachhaltig für das Miteinander von Christen aus dem Judentum und Christen aus dem Heidentum ein und verlangte die gegenseitige Achtung, ja die Hochschätzung der Judenchristen als Erstlinge und Stammväter, doch die Theologie des Paulus trug auch dazu bei, dass sich das Christentum vom Judentum entfernte und dass aus einer Tochterreligion des Judentums letztlich eine eigenständige Religion wurde, die sogar in einen scharfen Gegensatz zum Judentum trat. Die als Folge dieser Entwicklung an den Rand gedrängten Judenchristen zogen sich zurück, und ihre letzten Reste gingen im 7. und 8. Jahrhundert im Islam auf. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Judenchristentum als Teil des Christentums neu belebt. Heute gibt es Judenchristen, die sich selbst »messianische Juden« nennen, in der gesamten westlichen Welt und im Staat Israel.

    LITERATUR: Lohse, Eduard: Das Urchristentum. Göttingen 2008. – Meeks, Wayne A./Wilken, Robert Louis: Jews and Christians in Antioch in the first four Centuries of the Common Era. Missoula, Mont. 1978. – Sandmel, Samuel: Judaism and Christian Beginnings. New York, N.Y. 1978.

    Die Trennung vom Judentum

    Während für das Judentum, vor allem als Folge des Verlusts des Tempels im Jahre 70, das Religionsgesetz zum Kern der Frömmigkeit wurde, löste sich das Christentum von diesem bei Jesus und den ersten Christen noch zu findenden Identitätsmerkmal.

    Die Position des Paulus setzte sich durch, von den bekehrten Heiden nicht die Einhaltung des jüdischen Gesetzes, insbesondere keine Beschneidung, zu verlangen. Damit beschritt das Christentum in einem den meisten Juden wichtigen Punkt einen eigenen Weg, und auch die praktische Konsequenz dieses Zugeständnisses beschleunigte den Trennungsprozess. Die Zugangserleichterung für die Heiden steigerte die Attraktivität des Christentums unter den Heiden. Mit dem Zulauf aus der nichtjüdischen Bevölkerung vermehrte sich innerhalb des Christentums das quantitative Übergewicht der Heiden- über die Judenchristen. Das Christentum wurde bald dominiert von ehemaligen Heiden, die – obwohl sie als Christen eigentlich einer Sonderform des Judentums angehörten – nicht wie die überwiegende Mehrzahl der Juden nach dem jüdischen Gesetz lebten. Die vormaligen Heiden sahen bald schon ihre Religion nicht mehr als Sonderform des Judentums, sondern als eine neue und eigenständige, welche die jüdische Religion ablöste und überbot. Die Expansion der heidenchristlichen Gemeinden brachte ferner mit sich, dass sich auch Menschen diesen Gemeinden anschlossen und Christen wurden, die zuvor keinen Kontakt zum Judentum gehabt hatten und dem Judentum distanziert oder sogar feindselig gegenüberstanden.

    Die Abgrenzung der Christen vom Judentum mündete in Antijudaismus. Verwandte wurden zu Fremden und dann zu Feinden. Das erste eindeutig und in grober Weise antijüdische Werk der frühen Christenheit ist der um 130 in Alexandrien entstandene Barnabasbrief. Der anonyme Verfasser – sicher nicht Barnabas, der Apostel-Kollege des Paulus (Gal 2,12) – behauptete, Israel sei niemals Volk Gottes gewesen. Ein theologisch begründeter Antijudaismus begleitete das Christentum von nun an durch seine ganze Geschichte und hatte für die Juden verheerende Konsequenzen. Judenfeindschaft wurde zum Signum der christlichen Kultur. Das änderte sich nachhaltig erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Holocaust – die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung – führte bei den Christen zu einem Umdenken und zu einer tiefgründigen Erneuerung der christlich-jüdischen Beziehungen.

    Das Christentum distanzierte sich vom Judentum, und das Judentum distanzierte sich vom Christentum. Die an Jesus als den Christus glaubenden Juden waren schon früh Repressalien anders denkender Juden ausgesetzt. Paulus selbst hatte sich als Verfolger betätigt. Nach seinem Seitenwechsel widerfuhren ihm Geißelungen, Stockhiebe und eine Steinigung. Mehrere Apostel wurden teilweise mehrfach inhaftiert, darunter Petrus, Johannes und Paulus. Auseinandersetzungen mit Gewaltandrohung und -anwendung scheinen vorgekommen zu sein. Trotzdem verfolgten nicht alle Juden alle Christen, sondern einige nicht an Jesus glaubende Juden verfolgten einige an ihn glaubende Juden. Für die Heidenchristen interessierten sich die Juden dagegen nicht.

    Mit der Behauptung, Jesus sei der Messias gewesen, war ein Exklusivitätsanspruch verbunden, der die Jesusbewegung in Konflikt mit anderen religiösen Bewegungen brachte. Anstößig in der jüdischen Umwelt der frühen Christen war aber weniger die Tatsache, dass sie glaubten, der Messias sei gekommen, als vielmehr die Behauptung, ein Gekreuzigter und damit offenkundig Gescheiterter, als Verbrecher Hingerichteter sei der Messias gewesen. Und noch anstößiger waren die gesetzes- und tempelkritischen Konsequenzen, die einige Christen aus ihrem Glauben zogen.

    Die römische Oberhoheit setzte den Möglichkeiten von Juden, gegen Christusgläubige vorzugehen, allerdings Grenzen. Das römische Imperium hatte ein geordnetes Rechtswesen. Die Todesstrafe wurde nicht willkürlich verhängt, sondern nur nach einem ordentlichen Verfahren, und jüdisch-religiöse Instanzen durften keine Todesurteile vollstrecken. Fälle spontaner Lynchjustiz waren damit allerdings nicht ausgeschlossen.

    Als sich im Jahre 66 jüdische Aufständische gegen die Römer erhoben, beteiligten sich die Christen nicht an diesem von nationalen, vereinzelt auch messianischen Motiven geprägten Krieg, sondern enthielten sich gemäß der Bergpredigt Jesu jeder Gewalt. Diese Zurückhaltung der Christen in der Stunde der Entscheidung verstärkte die antichristliche Stimmung unter den Juden Palästinas. Zu tätlichen Angriffen auf Judenchristen kam es in Palästina auch während des Bar-Kochba-Aufstandes 132–135, vermutlich weil die Christen in dem Anführer Simon verständlicherweise nicht wie die Aufständischen den Messias sahen. Die Christusgläubigen, zahlenmäßig unterlegen und ohne Disziplinierungsinstitutionen, hatten wenig Möglichkeiten, sich zu wehren. Gewaltmaßnahmen von christusgläubigen Juden gegen andere Juden sind dagegen nicht bezeugt. Im Grunde konnten sie sich nur mit Worten verteidigen. Sie verarbeiteten das ihnen zugefügte Leid religiös, indem sie auf das Leiden Jesu blickten, sich mit ihm identifizierten und das aktuell erfahrene Leid als von Jesus vorausgesagt zurückprojizierten in die Lebenszeit Jesu.

    Das Scheitern der beiden Aufstände gegen Rom und der Verlust des Tempels waren für die Juden einschneidende Ereignisse und hatten eine religiöse Neudefinition des Judentums zur Folge. Der religionsinterne Pluralismus wurde reduziert, die Pharisäer wurden zur dominierenden, die Zukunft bestimmenden Kraft, und auf ihrer Basis entwickelte sich das rabbinische Judentum. In einem langen Konzentrations-, Normierungs- und Verdrängungsprozess wurde das rabbinische Judentum im 3. Jahrhundert schließlich zur allein bestimmenden Kraft.

    Die Gründergestalt des rabbinischen Judentums war Jochanan ben Zakkai, der nach 70 in Jabne (Jamnia), südlich des heutigen Tel Aviv gelegen, führende Pharisäer und Schriftgelehrte um sich scharte, um das jüdische Leben neu zu organisieren. Sein Lehrhaus übernahm nach und nach die Funktionen des alten Synhedriums und passte das jüdische Religionsgesetz den neuen Verhältnissen an. Als Antwort auf die Tempelzerstörung und den definitiven Verlust jeder auch nur begrenzten Eigenstaatlichkeit erfolgte im Judentum eine Neudefinition des eigenen Selbstverständnisses beruhend auf den Säulen Thora, Monotheismus und Erwählung, verbunden mit der Betonung der persönlichen Frömmigkeit im Alltag. Die Pharisäer brachen mit der griechischen Kultur und akzeptierten und rezipierten nur noch Religions- und Bildungstraditionen in hebräischer und aramäischer Sprache. Den Tempelkult hatten sie allerdings weiter im Blick, da sie die Wiedererrichtung des Heiligtums erhofften. Messianischen Regungen waren sie jedoch abhold, und damit auch dem Christentum.

    Das rabbinische Judentum besaß seine institutionelle Basis in den Synagogen, das waren örtliche Versammlungen jüdischer Gruppen, in denen Gottesdienste gefeiert sowie gelehrt und gelernt wurde. Die Versammlungen fanden zunächst in Privathäusern statt, später in eigens dafür errichteten Gebäuden, die dann ebenfalls als Synagogen bezeichnet wurden. Synagogengemeinden hatten, analog den hellenistischen Kultvereinen, einen Vorsteher, der mit Leitungskompetenzen und Machtbefugnissen ausgestattet war. Gemeindemitglieder, die Anstoß erregten, konnten gemaßregelt und ausgeschlossen werden.

    Um der jüdischen Religion die von ihnen gewünschte Form zu geben, griffen die Pharisäer nach dem Jahre 70 vermehrt zum Mittel des Synagogenausschlusses und wehrten damit dem missionarischen Auftreten anders Denkender in Gottesdiensten. Die Ausgeschlossenen waren gezwungen, eigene gottesdienstliche Versammlungen zu bilden, sich also institutionell vom Mehrheitsjudentum zu lösen.

    Neben dem direkten Ausschluss gab es einen indirekten. Vermutlich kurz vor dem Jahre 100 wurde in ein Hauptgebet des Synagogengottesdienstes, in das Achtzehnbitten- oder kurz Achtzehngebet (hebr.: schmone esre), der »Ketzersegen« (hebr.: birkat ha-minim) eingefügt, in Wirklichkeit eine Verwünschung der Ketzer, die für jeden, der sich betroffen fühlte und dieses Gebet sprach oder bewusst und freiwillig mit anhörte, einer Selbstverfluchung gleichkam. Diese Maßnahme ist unter Gamliel II., einem bedeutenden Gelehrten nach Jochanan, erfolgt und richtete sich nicht nur gegen Christen, sondern

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