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README.txt – Meine Geschichte
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eBook357 Seiten5 Stunden

README.txt – Meine Geschichte

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Über dieses E-Book

Die persönlichen, aufschlussreichen Erinnerungen einer der wichtigsten Aktivistinnen unserer Zeit

Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Am Tag nach ihrer Verurteilung erklärte Manning ihre Geschlechtsidentität als Frau und begann die Transition. Im Jahr 2017 verkürzte Präsident Barack Obama ihre Haftstrafe, und Chelsea Manning wurde aus dem Gefängnis entlassen.

In ihren Erinnerungen erzählt Manning von ihrem Einsatz für mehr institutionelle Transparenz und Rechenschaftspflichten der Regierung und von dem Kampf um ihre Rechte als Transfrau. Sie schildert ihre schwierige Kindheit, ihre Kämpfe als Heranwachsende, was sie dazu brachte, dem Militär beizutreten, und beschreibt den unbändigen Stolz, den sie auf ihre Arbeit hatte. Wir erfahren bisher unbekannte Details, wie und warum sie die Entscheidung traf, geheime Militärdokumente an WikiLeaks zu schicken, und welche Folgen dieses Handeln für sie hatte.

Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters.

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum22. Nov. 2022
ISBN9783749950898
README.txt – Meine Geschichte
Autor

Chelsea Manning

<p>Chelsea Manning ist eine amerikanische Transparenzaktivistin, Politikerin und ehemalige Geheimdienstanalystin der US-Armee. Sie lebt in Brooklyn und arbeitet als Sicherheitsberaterin und Expertin für Data Science und Machine Learning.</p>

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    Buchvorschau

    README.txt – Meine Geschichte - Chelsea Manning

    Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

    README.txt bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

    Hinweis des Verlags

    Die geschwärzten Stellen    Passagen sind von der US-Regierung aus dem eBook getilgte Textstellen, die vom Verlag als diese kenntlich gemacht wurden.

    Hierbei handelt es sich weder um Fehler noch um Mängel des eBooks.

    Der erste Teil der offiziellen Erklärung Hillary Clintons wird zitiert nach: Hillary Clinton, Entscheidungen,

    übers. von Gabriele Gockel u. a., München 2014, S. 824.

    © 2022 by Chelsea Manning

    Deutsche Erstausgabe

    © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

    by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Published by arrangement with

    Farrar, Straus and Giroux, New York.

    Covergestaltung von HarperCollins Deutschland

    nach einem Originalentwurf von Rodrigo Corral

    Coverabbildung von filo / Getty Images

    E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749950898

    www.harpercollins.de

    Hinweis

    Die in diesem Buch dargelegten Ansichten sind die der Autorin und spiegeln nicht zwangsläufig die offizielle Politik oder Einstellung des US-Verteidigungsministeriums oder der US-Regierung wider. Die Freigabe zur Veröffentlichung durch das US-Verteidigungsministerium beinhaltet keine Einvernehmlichkeit, was geäußerte Ansichten oder die sachliche Richtigkeit des Materials betrifft.

    Widmung

    Dieses Buch ist den tapferen trans Kids gewidmet, die darum kämpfen, in einer feindlichen Welt im Einklang mit sich selbst leben zu können. Ihr macht mich stolz.

    HINWEIS DER AUTORIN

    Ich gestehe: Ich bin auf extreme Weise mit dem Internet aufgewachsen. In der U.S. Army bin ich zu einem All-Source Intelligence Analyst ausgebildet worden. Ich bin es gewohnt, den gesamten Kontext auszuwerten und dafür möglichst viele Details zu erfassen – und sie weiterzugeben. Außerdem bin ich Aktivistin im Kampf für Transparenz. Dieses Buch hingegen beruht auf nur einer einzigen Quelle, die nur eine Perspektive wiedergibt. An manchen Stellen schreibe ich über bestimmte Ereignisse oder Gruppen bewusst vage. Einige Namen wurden geändert (mit entsprechendem Hinweis). Es gibt Dinge, die in den Medien über mich berichtet wurden, auf die ich hier weder eingehen noch sie bestätigen oder dementieren kann. Manches unterliegt nach wie vor der Geheimhaltung. Bis zu einem gewissen Grad darf ich mich nur eingeschränkt über bestimmte Dinge äußern.

    Das mag unbefriedigend sein. Doch ich habe bereits schwerwiegende Konsequenzen zu tragen gehabt, weil ich Informationen weitergegeben habe, die meiner Überzeugung nach von öffentlichem Interesse sind. Dennoch ist dieses Buch eine aufrichtige Darstellung dessen, was ich erlebt, erfahren und geglaubt habe.

    1.

    BARNES & NOBLE, MARYLAND

    8. FEBRUAR 2010

    Das kostenlose Internet in der Filiale der Buchhandelskette Barnes & Noble ist … ziemlich langsam. Insbesondere wenn man ein verschlüsseltes Netzwerk nutzt, mit einem ständigen Wechsel zwischen Netzknoten auf der ganzen Welt, um den eigenen Standort zu verschleiern und seine Anonymität sicherzustellen. Aber damit musste ich klarkommen. Ich hatte mir vorgenommen, fast eine halbe Million Berichte zu Vorfällen sowie Protokolle zu bedeutenden Aktivitäten, sogenannte significant activity logs (SIGACTs) hochzuladen, die ich auf einer Speicherkarte aus Bagdad mitgebracht hatte. Es waren sämtliche Berichte, die die U.S. Army über Vorfälle im Irak und in Afghanistan archiviert hatte, zu jedem Ereignis, das ein Soldat für wichtig genug erachtet hatte, um es aufzuzeichnen und zu melden. Es waren Schilderungen zu Kampfhandlungen mit feindlichen Streitkräften oder zu Sprengstoffexplosionen. Sie enthielten Todeszahlen und Koordinaten sowie nüchterne Kurzdarstellungen zu unübersichtlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zusammen ergaben sie ein pointillistisches Bild von endlosen Kriegen.

    Der Balken der Anzeige fürs Hochladen wuchs nur langsam. Aber dies war meine einzige Möglichkeit, denn über den Mittelatlantikstaaten tobte ein Schneesturm, teilweise war der Strom ausgefallen, und ich hatte ein Ticket für einen Flug in zwölf Stunden.

    Die Dokumente hatte ich in meiner Kamera nach Amerika eingeschmuggelt, als Daten auf der SD-Karte. Bei der Zollabwicklung der Navy waren sie glatt durchgegangen. Um sie außer Landes zu bringen, hatte ich sie zunächst auf DVD-RWs gebrannt, beschriftet mit Titeln wie Taylor Swift, Katy Perry, Lady Gaga oder Manning’s Mix. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Nachdem ich ihren Inhalt auf die Speicherkarte überspielt hatte, zertrümmerte ich mit meinen Stiefeln die DVDs auf dem Kies vor den Wohncontainern und verbrannte die Bruchstücke mit dem übrigen Müll in unserer Feuertonne.

    Auf einem Stuhl im Café der Buchhandlung sitzend, trank ich einen dreifachen Espresso und kam allmählich runter, hörte elektronische Musik – Massive Attack und The Prodigy –, während ich das weitere Hochladen abwartete. Die sieben Datenblöcke brauchten jeweils zwischen dreißig Minuten und einer Stunde. Wegen einer Zeitüberschreitung aufgrund des langsamen Internets musste ich mehrfach von vorn beginnen. Ich machte mir Sorgen, ob ich das gesamte Datenvolumen bis 22:00 Uhr noch verschickt bekäme, bevor Barnes & Noble schließen würde. Falls nicht, dachte ich, dann eben nicht. Dann wäre es vorbei. Dann hätte es nicht sein sollen. Ich würde die Speicherkarte in die Mülltonne werfen und es kein zweites Mal versuchen.

    Aber am Ende erfüllte das WLAN seine Aufgabe. Um 21:30 Uhr war die letzte Datei hochgeladen. Es war kein Augenblick der Begeisterung. Ich war todmüde und musste am nächsten Tag um 4:30 Uhr zum Flughafen fahren, zum Antritt einer mehrtägigen Reise, die zurück in den Irak führte. Ich verließ die Buchhandlung. Weil mein Gepäck schon im Mietwagen auf dem Parkplatz verstaut war, legte ich mich einfach auf dem Rücksitz schlafen, trotz der Eiseskälte. Ich gab das Auto zurück und stieg in die Metro, die mich in den seltsam menschenleeren Stunden vor Morgengrauen zum Washingtoner Ronald Reagan Airport brachte.

    Ich überlegte mir nicht, welcher Gefahr ich mich aussetzte. Ich versuchte nur, jeden Tag zu überleben. Innerlich Distanz wahren konnte ich gut. Ich kämpfte mit meiner Geschlechtsidentität und arbeitete in einer Armee, in der es Leuten wie mir offiziell verboten war, sich im Dienst offen zu sich selbst zu bekennen.

    Als ich Ende Januar 2010 im nördlichen Virginia gelandet war, war ich körperlich und seelisch am Ende gewesen. Ich hatte mich auf den kurzen Urlaub gefreut, auf eine Auszeit vom Irak und der Arbeit – und auf Dylan (nicht sein richtiger Name), meinen damaligen Freund, der am College in Boston studierte. Als ich ihn besuchte, war ich keine vier Monate im Ausland gewesen. Aber er war durch das Sozialleben am College vereinnahmt und zeigte sich mir gegenüber in meinen wenigen Tagen bei ihm emotional distanziert. Er wollte über nichts sprechen, was eine gemeinsame Zukunft betraf. Ich befürchtete, dass unsere Beziehung zu Ende sein könnte, und kehrte nach Maryland zu meiner Tante zurück.

    Ich nahm die Washington Metro nach Virginia, zum Tysons Corner Center. Ich war schon zahlreiche Male dort gewesen – womit man eben seine Zeit totschlägt, wenn man in der Vorstadt wohnt, man fährt zur Mall. Diesmal machte ich in der Metro allerdings ein Selfie von mir mit blonder Perücke, eines, das später zu meinem Leidwesen auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden sollte. Ich trieb mich zum Shoppen im Einkaufszentrum herum: Bei Burlington Coat Factory besorgte ich mir einen rosa Mantel, bei Sephora Make-up. Weil ich nach legerer Business-Kleidung suchte, ging ich zu Nordstrom und zu Bloomingdale’s. Den Verkäuferinnen erzählte ich, die Klamotten seien für meine Freundin, sie habe ungefähr meine Größe. Nach einem Fast-Food-Lunch fuhr ich zurück nach Hause, zog meine neuen Kleider an und setzte mir die langhaarige blonde Perücke auf. Als Frau gekleidet, bummelte ich den Rest des Tages durch Cafés und Buchläden. Ich genoss die Freiheit, die Flucht und die Möglichkeit, die Kleidung zu tragen, die mir gefiel, und mich der Welt so zu präsentieren.

    Beim Transsein geht es – zumindest für mich – weniger darum, eine Frau zu sein, die in einem Männerkörper eingesperrt ist, als vielmehr darum, sich von Geburt an als eine Person zu fühlen, die mit dem im Widerspruch steht, was die Welt von ihr erwartet. In den Wochen vor meinem Urlaub hatte ich mir ausgemalt, wie es sein würde, mit langem Haar anstatt mit meinem Igelschnitt unter die Leute zu gehen, etwas Feminines anstelle meiner üblichen Uniform zu tragen. Ich schaute mir auf YouTube Videos von trans Frauen an, die ihre Verwandlung dokumentierten, neben meinen üblichen Streifzügen durchs Internet: Computerspiele, Alternativweltgeschichten und Wissenschaftsvideos.

    Aber ich wollte mich nicht nur von den Zwängen einer Welt befreien, die Bewertungen vornahm. Mich beschäftigte noch etwas Dringlicheres. Deswegen setzte ich mich mit meinem Laptop in die Filiale von Barnes & Noble. Die Dateien auf der Speicherkarte enthielten brisante Informationen über die Regierung und die Komplexität des Krieges.

    Sie im Internet hochzuladen war nicht meine erste Wahl gewesen. Ich hatte zunächst versucht, sie über die traditionelleren Medien veröffentlichen zu lassen. Die Erfahrung war frustrierend gewesen. Ich misstraute dem Telefon und wollte das Material auch nicht per E-Mail verschicken. Vielleicht würde ich überwacht. Nicht einmal Münzfernsprecher waren richtig sicher. Ich ging in Filialen von großen Ketten – hauptsächlich Starbucks – und bat darum, ihr Festnetz zu benutzen, weil ich angeblich mein Mobiltelefon verloren oder eine Autopanne hatte. Ich rief in den Zentralen der Washington Post und der New York Times an und bat um ein Gespräch mit einem Journalisten, der die Brisanz des von mir angebotenen Materials erkennen würde. Ich erreichte jemanden bei der Post und konnte mit ihm kurz reden. Bei der Times hinterließ ich eine Nachricht mit meiner Skype-Nummer, wurde aber nie zurückgerufen. Ich gab nur an, dass ich bei den Streitkräften arbeite. Ich versuchte, ihnen die Sprengkraft meines Materials deutlich zu machen. Was ich anzubieten habe, ist alles über zwei Kriege, sagte ich am Telefon. So sieht eine asymmetrische Kriegsführung aus, ohne Auslassungen; in vollem Umfang. Ich wollte, dass diese Informationen veröffentlicht würden, von einem auflagenstarken Blatt, das sich gegen Angriffe zu Wehr setzen konnte.

    Aber ich trat auf der Stelle. Der Reporter, den ich erreichte, begriff nicht, wie sensibel das Material war, das ich veröffentlichen wollte, und ebenso wenig, dass ich die Informationen nur digital übermitteln konnte und keine Zeit hatte, einen vernünftig abgesicherten Informationskanal einzurichten. In der Redaktion verstanden sie auch nichts von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung: Signal, die übliche leicht zugängliche App für vollverschlüsselte Textnachrichten, wurde von den Nachrichtenmedien damals noch nicht benutzt. Und ebenso wenig verstanden sie, welchen gewaltigen Umfang das von mir angebotene Material hatte. (Dass ich mich sehr vage und unbestimmt ausdrückte, war wohl auch nicht hilfreich.)

    Nachdem ich bei der Times und der Post nichts erreicht hatte, kehrte ich ins Haus meiner Tante zurück. Allmählich sah es so aus, als würde ich nach all den eingegangenen Risiken keinen Reporter mehr an die Angel bekommen, bevor ich in den Irak zurückkehren würde. Aber ich wollte es noch bei einer letzten Tageszeitung, bei Politico, versuchen. Ich plante, zu deren Verlagssitz im Norden Virginias zu fahren, einfach hineinzuspazieren und die Daten persönlich zu übergeben.

    Dann brach der Schneesturm los: das »Snowmageddon«, wie Twitter und die Lokalnachrichten es nannten. Rasch verschwand das kaum gegen Winterwetter gewappnete Washington unter gut einem halben Meter Schnee. Bei meiner Tante fiel der Strom aus. Es sah so aus, als würde ich zwei weitere Tage meines Urlaubs verlieren. Ich war völlig eingeschneit. Die Internetverbindung brach zusammen. Bis sie wieder laufen würde, konnte ich nicht warten. Ich stand vor der Rückreise in den Irak. Und wenn ich mein Vorhaben bis zur Abreise nicht umgesetzt bekäme, würde ich es niemals umsetzen.

    Weil ich im Haus keine Schaufel fand, musste ich mich am Morgen meines letzten Urlaubstags mit bloßen Händen, wenn auch mit Handschuhen, durch die Schneemassen kämpfen. Zwei Stunden marschierte ich bis ins Zentrum von Rockville und mietete bei dem Carsharing-Anbieter Zipcar ein Auto, blieb damit aber in einer riesigen Schneewehe stecken. Ich brauchte zwei weitere Stunden, um es – erneut nur mit Händen – wieder flottzubekommen. Als ich es schließlich aus dem Schneeberg herausmanövriert hatte, suchte ich nach einem Geschäft, das trotz des Schneesturms geöffnet war – einem mit Internetzugang. Bis zu den Büros von Politico im nördlichen Virginia zu gelangen war praktisch unmöglich. Bei diesen Straßenverhältnissen waren schon kurze Fahrten schwierig. Also setzte ich auf diese letzte Option.

    Im Jahr 2008, während meiner nachrichtendienstlichen Ausbildung, hatte unser Ausbilder – ein Veteran des Marine Corps mit Privatvertrag – über WikiLeaks als eine Website geredet, die sich radikale Transparenz auf die Fahnen schrieb, und darauf hingewiesen, dass wir sie nicht besuchen sollten. (Später sollte er das ganze Vorkommnis abstreiten.)

    Ich teilte zwar das Anliegen von WikiLeaks, sich für Transparenz einzusetzen, war aber der Meinung, dass die Reichweite dieser Seite für die Zwecke, die ich verfolgen wollte, zu begrenzt war. Den meisten Menschen war die Plattform WikiLeaks damals noch kein Begriff. Ich befürchtete, die Informationen, die sie veröffentlichte, würden nicht ernst genommen. Da ich bei den traditionellen Printmedien aber gescheitert war, sah ich in WikiLeaks nun meine einzige Möglichkeit: Die Veröffentlichung dieser Informationen sollte ja einzig darauf abzielen, die Amerikaner auf das aufmerksam zu machen, was wir im Irak und in Afghanistan anrichteten. In einem Post an einen der Chatrooms, für den ich angemeldet war, teilte ich mit, dass ich Informationen über die wahren Kosten der Kriege im Irak und Afghanistan besäße und dass sie mit der Weltöffentlichkeit geteilt werden müssten. Als Antwort postete jemand einen Link zu WikiLeaks’ Uploadformular im Netz.

    Diese Website war meine letzte Chance, die Daten zu veröffentlichen. Aber mit nur noch einem halben Tag Urlaub hieß das jetzt oder nie. Ich fühlte mich völlig allein, war aber optimistisch, dass es zum Nutzen der Gesellschaft sei – sofern die Informationen nur die verdiente Aufmerksamkeit bekämen.

    Ich versuchte es bei einigen Starbucks-Cafés in der Gegend, hatte aber kein Glück. Am Ende – gegen 14:00 Uhr – fuhr ich bei Barnes & Noble vorbei, weil ich wusste, dass die Filialen kostenloses WLAN anboten. Ich setzte mich hin, zog meinen Laptop heraus und öffnete einen anonymen Browser.

    Aufgrund dessen, was mir passiert ist, weiß inzwischen jeder, dass die Regierung einen zu vernichten versucht, jeden erdenklichen Vorwurf für eine Anklage zusammenzimmert, wenn man die Wahrheit über ihre Handlungsweisen ans Licht bringt. (Als »nuts and sluts« werden Whistleblower*innen in den Kreisen der Mächtigen gerne dargestellt – als durchgedreht, besoffen und irgendwie abartig.)

    Doch was ich damals tat, hatte zuvor noch niemand getan, sodass auch niemand die Konsequenzen kannte. Daniel Ellsberg, der während des Vietnamkrieges die Pentagon Papers veröffentlich hatte, blieb eine Haftstrafe erspart, weil das Weiße Haus unter Nixon illegal Beweismittel gegen ihn beschafft hatte (mit einem angeordneten Einbruch in die Praxis seines Psychiaters, um nach diskreditierendem Material zu suchen). Ins Gefängnis war deswegen noch niemand gekommen. Ellsberg war mir damals noch kein Begriff, aber ich hatte von Thomas Drake gehört, einem Whistleblower bei der NSA, der unter Anklage nach dem Espionage Act stand. Ihm drohten 35 Jahre Haft, aber kurz vor Verfahrensbeginn schloss er einen Deal und kam mit einer Bewährungsstrafe und gemeinnütziger Arbeit davon.

    Natürlich machte ich mir Gedanken über mögliche Konsequenzen. Bei einer Entdeckung würde ich in Untersuchungshaft kommen, aber ich rechnete damit, dass ich höchstens aus dem Dienst entlassen oder meine Sicherheitsfreigabe verlieren würde. Meine Arbeit war mir wichtig. Meinen Job zu verlieren war eine erschreckende Aussicht – vor Eintritt in die Army war ich obdachlos gewesen –, aber ich dachte, wenn ich vor ein Kriegsgericht käme, würde damit nur die Glaubwürdigkeit der Regierung erschüttert. Zu keinem Zeitpunkt rechnete ich damit, mein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen, oder mit Schlimmerem.

    Die vier Monate, die ich im Irak verbrachte, hatten mein Verständnis von der Welt und von diesen Kriegen verändert. Ich stand jede Nacht um 22:00 Uhr in der Wüste auf. Ich ging von meinem kleinen Wohncontainer zum Büro, einer Basketballhalle aus der Zeit Saddam Husseins, die das Militär in ein nachrichtendienstliches Operationszentrum umgewandelt hatte. Ich nutzte drei verschiedene Computer, von denen zwei als geheim eingestufte Informationen enthielten, las aktuelle E-Mail-Benachrichtigungen und schaute mir Videoaufnahmen zu Ereignissen in Ostbagdad an.

    Sich ein Bild anhand der eingehenden Berichte zu verschaffen war, wie aus einem Feuerwehrschlauch zu trinken: Das Militär nutzte mindestens ein Dutzend verschiedener Agenten zur Aufklärung, Überwachung und Ausspähung, die dem Auswerter alle eine unterschiedliche Sicht von der Stadt, ihren Bewohnern und den überwachten Plätzen vermittelten. Meine Aufgabe bestand darin, distanziert und emotionslos zu analysieren, wie sich militärische Entscheidungen und Veränderungen in der personellen Besetzung auf diesen gigantischen blutigen »Krieg gegen den Terror« auswirkten. Aber meine tägliche Realität ähnelte mehr der Arbeit auf einer Unfallstation.

    Ich verbrachte Stunden damit, jeden Aspekt des Lebens der Iraker, die um uns herum starben, kennenzulernen: wann sie morgens aufstanden, ihr Beziehungsstatus, ihre Vorlieben beim Essen, bei Alkohol und Sex und ob sie sich an politischen Aktivitäten beteiligten. Ich überprüfte jede einzelne Person, mit der sie elektronisch kommunizierten. Ich sezierte jedes Detail ihres Lebens. Manchmal wusste ich über sie wahrscheinlich mehr als sie selbst. Wie ich feststellte, waren sie uns – der militärischen Besatzungsmacht – als Menschen scheißegal. Außerhalb meiner Abteilung konnte ich mit niemandem über meine Arbeit reden. Auch nicht über diesen Krieg, der sich vor Ort ganz anders gestaltete als das, was ich zu Hause, vor meinem Eintritt in die Army, über ihn gelesen oder in den Fernsehnachrichten gesehen hatte.

    Der Gedanke, dass die Informationen, zu denen ich Zugang hatte, mit realer Macht verbunden waren, kam mir immer häufiger in den Sinn. Ich versuchte ihn ständig zu verdrängen, aber er kehrte jedes Mal wieder zurück. Inzwischen wurde behauptet, die sieben Jahre des Krieges, all diese toten Amerikaner und die noch immer ungezählten Todesopfer unter den Irakern und Afghanen hätten sich gelohnt. Der Fokus des Establishments hatte sich verschoben: Es gab eine Rezession zu bewältigen. Menschen im eigenen Land verloren alles, was sie hatten. Die Debatte um die Gesundheitsversorgung war jeden Abend Thema in den Nachrichten.

    Und trotzdem saßen wir immer noch im verdammten Dreck. In jedem Szenario, das ich durchspielte, würden wir noch viele Jahre im Irak bleiben. Selbst wenn wir versuchten, die Truppen zu reduzieren, würde jedes neue Aufflammen der Gewalt – und das war zu erwarten – eine Rückkehr zu einer starken Truppenpräsenz erfordern und weitere Menschenleben kosten. Das ganze System war so ausgelegt, dass die Öffentlichkeit diese Zwangslage niemals richtig verstehen würde.

    Ich war ständig mit zwei Realitäten konfrontiert: die eine, die ich beobachtete, und die andere, an die die Amerikaner zu Hause glaubten. Die Informationen, die sie erhielten, bestanden in weiten Teilen aus verzerrten oder unvollständigen Darstellungen – ein unversöhnlicher Gegensatz, der mir ständig auf frustrierende Weise zu schaffen machte.

    Für einen Nachrichtendienst zu arbeiten, ohne sich dabei vorzustellen, die vielen Geheimnisse offenzulegen, in die man Einblick hat, ist eigentlich unmöglich. Ich weiß nicht mehr genau, wann mir die Idee zum ersten Mal durch den Kopf ging. Vielleicht gleich nach meiner Grundausbildung 2008, als ich erste Erfahrungen als Nachrichtendienstanalytiker sammelte und mit geheimem Material in Berührung kam. Es ist, als habe man eine Linie überschritten, eine Trennwand durchstoßen, mit diesem Wissen, das sich nicht einfach in ein Nichtwissen verwandeln lässt und einem Macht über die Regierung gibt – aber auch der Regierung Macht über einen selbst. Man wird ausgebildet, absolviert Tests und bekommt als Tabu eingeimpft, niemandem etwas darüber zu verraten, womit man sich beschäftigt, niemals. Dieses Verbot gewinnt allmählich die Kontrolle darüber, wie man über alle Dinge denkt, wie man in der Welt handelt. Aber die Macht des Verbots ist fragil, insbesondere sobald Linien als willkürlich gezogen erscheinen.

    Vielleicht keimte die Idee in mir auch in Fort Drum, im Norden des Bundesstaates New York, auf. Dort war ich stationiert, bevor ich erstmals irakischen Boden betrat. In der Sommerhitze transportierte ich eine große Box mit Festplatten, deren Daten als geheim eingestuft waren. Besorgt fragte ich mich, was wohl geschähe, wenn ich meinen Auftrag vermasseln und die Kiste nicht richtig im Auge behalten würde. Wenn sich jemand so eine Festplatte schnappen und die Daten einsetzen würde, was würde passieren? Ich wusste natürlich, dass dies für mich selbst Konsequenzen haben würde: eine strenge Untersuchung, Vorwürfe wegen Pflichtverletzung, vielleicht eine Degradierung oder sogar die Entlassung.

    Aber welche Wirkung hätte es, wenn die aktuellen Informationen nach draußen dringen würden? Würde es tatsächlich etwas verändern, wenn diese ominösen Mitteilungen und weitschweifigen Berichte an die Öffentlichkeit kämen? Ich kannte die offizielle Version, warum sie unter Verschluss bleiben mussten – wir wurden dazu ausgebildet, Geheimhaltung als eine Frage von Leben und Tod zu betrachten –, aber ich konnte mir schwerlich die realen Folgen in der Welt vorstellen, ob wirklich Schlimmes geschehen würde. Ich hinterfragte immer öfter die Begründung dafür, warum eine solche Menge an Informationen unter der Decke gehalten werden musste. Warum hüteten wir so viele Geheimnisse? Die Entscheidungen zur Geheimhaltung folgten offenbar keiner schlüssigen inneren Logik.

    Wie willkürlich die Linien gezogen waren, wurde mir allerdings erst sechs Wochen nach meiner Ankunft im Irak richtig bewusst. Unser Pressebüro hatte mich gebeten, einen Ereignisbericht zu erstellen, eine umfassende Einschätzung: eine Analyse mit detaillierten Beispielen zu sämtlichen bedeutenden Aktionen, die im Irak in den letzten beiden Monaten stattgefunden hatten.

    Sieben Stunden später händigte ich den Bericht einem Major und einem Lieutenant Colonel in einer Kurierbox mit einem Geheimhaltungsvermerk aus. Die Offiziere, die Verantwortlichen für die Öffentlichkeitsarbeit, gingen ihn rasch durch und reagierten erfreut. Sie entfernten kurzerhand die Marken für die Klassifizierung. Ich fragte sie, was sie mit dem Bericht jetzt anstellen würden.

    Sie gaben ihn an die irakische Presse weiter. Ich war schockiert. Der nachrichtendienstliche Report, den ich ausschließlich für den internen Gebrauch erstellt hatte, wurde jetzt zu einer öffentlichen Angelegenheit. Todeszahlen, Zwischenfälle, alles.

    Gemessen am Status quo waren wir bei der Aufstandsbekämpfung einige Monate lang erfolgreich gewesen, und das wollte das Büro für Öffentlichkeitsarbeit auch bekannt machen. Der Bericht ließ das Militär in einem positiven Licht erscheinen. Er enthielt keine sensiblen Informationen, so der Befund, nichts, was globale Folgen haben konnte. Aber warum war er dann überhaupt erst als Geheimsache etikettiert worden?

    Ich fragte einen Offizier von der Pressestelle, warum er die Marken für die Geheimhaltung entfernt habe und warum dies so schnell möglich gewesen sei. Seine Antwort – ehrlich, kurz und bündig – hat sich mir ins Gedächtnis eingeprägt: Das System der Geheimhaltung diene ausschließlich der US-amerikanischen Regierung. Wenn Material der Öffentlichkeitsarbeit diene, dann werde es auch freigegeben. Mit anderen Worten, so schien er sagen zu wollen, existierte das Klassifikationssystem für Verschlusssachen nicht, um Geheimnisse zu schützen, sondern um die Medien zu kontrollieren. Nicht nur ich war also davon überzeugt, dass dieses Material auch veröffentlicht werden konnte. Die Oberen sahen es ebenso, zumindest wenn es ihnen passte. Ab diesem Augenblick fragte ich mich, ob die Öffentlichkeit nicht ein Recht darauf hätte, über die gleichen Informationen zu verfügen wie ich. Wenn wir Journalisten vollständig ins Bild setzen konnten, wenn es genehm war, wieso dann nicht grundsätzlich? Immerhin handelte es sich um Dokumente von historischem Wert.

    In diesem Monat fing ich damit an, systematisch Berichte über sämtliche bedeutenden Aktivitäten (SIGACTs) aus dem Irak und Afghanistan herunterzuladen – als eine erweiterte Version der Bereitschaft, mit der unsere Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit Material freigegeben hatten. Zusammen enthielten sie etwas, das der Wahrheit über diese beiden Kriege näher kam.

    2.

    MITTLERES OKLAHOMA

    1987

    Die Bilder, die ich vom mittleren Oklahoma im Gedächtnis behalten habe, muten wie schöne, vergilbte Schnappschüsse an: Ein endlos goldener Glanz liegt über der Landschaft, über dem braunen, von der Sonne versengten Gras, über dem Boden aus rostroter Tonerde und sogar über dem bescheidenen Haus, in dem ich aufgewachsen bin – mit seiner schwarz-weißen Fassade und der kleinen Hobbyfarm dahinter: Schweine, Pferde, eine Kuh, Hühner und Grünzeug.

    Wir lebten auf gut zwei Hektar Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74. Die Gegend bestand hauptsächlich aus Gesträuch und Löss, aber mit einem kleinen Teich und Bäumen am Rand von Crescent, einer einst aufstrebenden Stadt, die inzwischen schrumpft. Um in der Stadt Geld zu verdienen, aber auf dem Land zu leben, fuhr mein Vater in seinem rotbraunen Nissan-Pick-up täglich 45 Minuten nach Oklahoma City und wieder zurück. Crescent war während der ersten Siedlungswelle in Oklahoma gegründet worden, auf geraubtem Land der Ureinwohner, die entlang des Cimarron River lebten. Jahrzehnte vor meiner Geburt hatte die Eisenbahngesellschaft in der Nähe unseres Hauses einen langen Damm für Schienen gebaut. Er durchbrach als Einziges die Ebene. Wenn man sich auf ihn stellte, sah man die Mais- und die Weizenfelder, die verstreuten Ölbohrtürme und die blanken Gleise, die direkt in die Stadt führten. In Crescent lebten rund tausend Einwohner. Jeder wusste alles über jeden – Segen oder Fluch, je nachdem, wer man war.

    Meine Familie stammte ursprünglich nicht aus der Prärie. Sie war in den Achtzigern, einige Jahre vor meiner Geburt hergezogen, weil mein Vater Brian Edward Manning eine Anstellung in der elektronischen Datenverarbeitung bei der Hertz Corporation gefunden hatte. Er war in einer aus Irland eingewanderten Arbeiterfamilie in den westlichen Vororten Chicagos aufgewachsen und in seiner späten Jugendzeit unstet herumgezogen. Mit siebzehn Jahren verließ er das Elternhaus, probierte im sogenannten »Pfannenstiel Floridas« kurzzeitig ein College aus und brach das Studium ab. Lernen war nichts für ihn, Party machen dagegen schon. Zurück in Chicago, wartete er nicht darauf, nach Ende des Vietnamkrieges zum Militär eingezogen zu werden. Stattdessen beschlossen er und mein Onkel Michael, in die Navy einzutreten – nach einem besonders feierfreudigen Wochenende, wie er erzählt. Der Navy schrieb er immer das Verdienst zu, ihm im Leben eine Struktur, einen Weg gegeben zu haben.

    Bei ihm klang das Wort »Militär« glamourös. Die U.S. Navy stationierte ihn als Analytiker im Vereinigten Königreich, in einer Militärbasis der Royal Air Force in Wales, die einige Minuten Fahrt östlich von St. Davies in Pembrokeshire lag. Er stieg zum Petty Officer auf und arbeitete mit abgehörtem Geheimmaterial bei der Überwachung eines Netzwerks aus Unterwassermikrofonen, die zwischen Island und Großbritannien sowjetische (und manchmal zur NATO gehörige) Atom-U-Boote ausspähten. Er erzählte mir, er habe mit Geheimdokumenten gearbeitet und eine Uniform der Royal Navy getragen, zur Anpassung und um Spione zu verwirren – für mich, der ich in Oklahomas ziemlich ruhiger und öder Prärie aufwuchs, klang das wie aus einem Agentenfilm oder einem Roman von Tom Clancy.

    In Wales lernte er auch meine Mutter Susan Mary Fox kennen. Sie stammte aus einer Arbeiterfamilie aus Haverfordwest, einer Stadt, errichtet um eine Normannenburg, inmitten einer Region, die mit ihren steilen und grünen Hügeln

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