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Ein Kind unserer Zeit
Ein Kind unserer Zeit
Ein Kind unserer Zeit
eBook218 Seiten2 Stunden

Ein Kind unserer Zeit

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Über dieses E-Book

Der letzte Roman von Ödön von Horváth, die Lebensgeschichte eines Soldaten in Zeiten des Nationalismus. Nach dem Tod der Mutter und Meinungsverschiedenheiten mit dem Vater, zieht der Ich-Erzähler aus und muss sich fortan als Bettler durchschlagen. Neid und Missgunst zusammen mit seiner misslichen Lage bringen ihn nach und nach der nationalsozialistischen Ideologie näher. Im Krieg sieht er die Lösung seiner Probleme. Kurz bevor er an die Front zieht, verliebt er sich. Die Realität des Krieges und eine Verletzung bringen ihn schließlich zur inneren Umkehr und lassen Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns aufkommen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum23. Okt. 2019
ISBN9783750246102
Autor

Ödön von Horváth

Ödön von Horváth (1901 - 1938) war ein auf Deutsch schreibender österreichisch-ungarischer Schriftsteller. Bekannt wurde er unter anderem durch seine Stücke »Geschichten aus dem Wiener Wald«, »Glaube Liebe Hoffnung« und »Kasimir und Karoline« sowie durch seine zeitkritischen Romane »Der ewige Spießer«, »Jugend ohne Gott« und »Ein Kind unserer Zeit«.

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    Buchvorschau

    Ein Kind unserer Zeit - Ödön von Horváth

    Ein Kind unserer Zeit

    Ein Kind unserer Zeit

    Ödön von Horváth

    Ein Kind unserer Zeit

    © Ödön von Horváth 1938

    Umschlagfoto: Columbus Avenue at Northampton Street / City of Boston Archives

    © Lunata Berlin 2019

    Inhalt

    Ein Kind unserer Zeit

    Der Vater aller Dinge

    Das verwunschene Schloß

    Der Hauptmann

    Der Bettler

    Im Hause des Gehenkten

    Der Hund

    Der verlorene Sohn

    Das denkende Tier

    Im Reiche des Liliputaners

    Anna, die Soldatenbraut

    Der Schneemann

    Vorarbeiten und Varianten

    I

    Der Soldat

    Der Vater aller Dinge

    Hoch in der Luft

    Abends im Dorf

    Das verwunschene Schloß

    Die Ballade von der großen Liebe

    Am Rande der Zeit

    Die Ballade von der Soldatenbraut

    Anna, die Soldatenbraut

    Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksich

    Die Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung

    Variationen über ein bekanntes Thema

    Der Hauptmann

    [Im Hause des Gehenkten]

    Der Student

    Der Gedanke

    Der Bettler

    Der Schneemann

    Über den Autor

    Ein Kind unserer Zeit

    Roman

    Der Vater aller Dinge

    Ich bin Soldat.

    Und ich bin gerne Soldat.

    Wenn morgens der Reif auf den Wiesen liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, wenn das Korn wogt und die Sense blitzt, obs regnet, schneit, ob die Sonne lacht, Tag und Nacht – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen.

    Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungen Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft!

    Es ist noch kaum ein halbes Jahr her, da stand sie bei meiner Musterung neben dem Oberstabsarzt. »Tauglich!« sagte der Oberstabsarzt, und die Zukunft klopfte mir auf die Schulter. Ich spürs noch heut.

    Und drei Monat später erschien ein Stern auf meinem leeren Kragen, ein silberner Stern. Denn ich hatte hintereinander ins Schwarze getroffen, der beste Schütze der Kompanie. Ich wurde Gefreiter und das will schon etwas heißen.

    Besonders in meinem Alter.

    Denn ich bin fast unser Jüngster.

    Aber eigentlich sieht das nur so aus.

    Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. Und daran ist nur eines schuld, nämlich die jahrelange Arbeitslosigkeit.

    Als ich die Schule verließ, wurde ich arbeitslos.

    Buchdrucker wollte ich werden, denn ich liebte die großen Maschinen, die die Zeitungen drucken, das Morgen-, Mittag- und Abendblatt.

    Aber es war nichts zu machen.

    Alles umsonst!

    Nicht einmal zum Lehrling konnte ichs bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen!

    Die großen Maschinen sagten: »Wir haben eh schon mehr Menschen, als wir brauchen. Lächerlich, schlag dir uns aus dem Kopf!«

    Und ich verjagte sie aus meinem Kopf und auch aus meinem Herzen, denn jeder Mensch hat seinen Stolz. Auch ein arbeitsloser Hund.

    Raus mit euch, ihr niederträchtigen Räder, Pressen, Kolben, Transmissionen! Raus!

    Und ich wurde der Wohltätigkeit überwiesen, zuerst der staatlichen, dann der privaten –

    Da stand ich in einer langen Schlange und wartete auf einen Teller Suppe. Vor einem Klostertor.

    Auf dem Kirchendach standen sechs steinerne Figuren. Sechs Heilige. Fünf Männer und ein Weib.

    Ich löffelte die Suppe.

    Der Schnee fiel und die Heiligen hatten hohe weiße Hüte.

    Ich hatte keinen Hut und wartete auf den Tau.

    Die Sonne wurde länger und die Stürme wärmer –

    Ich löffelte die Suppe.

    Gestern sah ichs wieder, das erste Grün.

    Die Bäume blühen und die Frauen werden durchsichtig.

    Auch ich bin durchsichtig geworden.

    Denn mein Rock ist hin und meiner Hose gings ebenso –

    Man weicht mir fast schon aus.

    Viele Ideen gehen durch meinen Kopf, kreuz und quer.

    Mit jedem Löffel Suppe werden sie ekelhafter.

    Plötzlich hör ich auf.

    Ich stell das Blech auf den steinernen Boden, es ist noch halb voll und mein Magen knurrt, aber ich mag nicht mehr.

    Ich mag nicht mehr!

    Die sechs Heiligen auf dem Dache blicken in die blaue Luft.

    Nein, ich mag sie nicht mehr, meine Suppe! Tag für Tag dasselbe Wasser! Mir wirds schon übel, wenn ichs nur seh, diese Bettelbrüh!

    Schütt sie aus, deine Suppe!

    Weg! In den Dreck damit! –

    Die Heiligen auf dem Dache schauen mich vorwurfsvoll an.

    Glotzt nicht dort droben, helft mir lieber da drunten!

    Ich brauch einen neuen Rock, eine ganze Hose – eine andere Suppe!

    Abwechslung, Herrschaften! Abwechslung!

    Lieber stehlen als betteln!

    Und so dachten auch viele andere von unserer Schlange, ältere und jüngere – es waren nicht die schlechtesten.

    Ja, wir haben viel gestohlen, meist warens dringende Lebensmittel. Aber auch Tabak und Zigaretten, Bier und Wein.

    Meist besuchten wir die Schrebergärten. Wenn der Winter nahte und die glücklichen Besitzer daheim in der warmen Küche saßen.

    Zweimal wurde ich fast erwischt, einmal bei einer Badehütte.

    Aber ich entkam unerkannt.

    Über das Eis, im letzten Moment.

    Wenn mich der Kriminaler erreicht hätt, dann war ich jetzt vorbestraft. Aber das Eis war mir gut, er flog der Länge nach hin.

    Und meine Papiere blieben lilienweiß.

    Kein Schatten der Vergangenheit fällt auf meine Dokumente.

    Ich bin doch auch ein anständiger Mensch und es war ja nur die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, daß ich so schwankte wie das Schilf im Winde – sechs trübe Jahre lang. Die Ebene wurde immer schiefer und das Herz immer trauriger. Ja, ich war schon sehr verbittert.

    Aber heut bin ich wieder froh!

    Denn heute weiß ichs, wo ich hingehör.

    Heut kenn ich keine Angst mehr, ob ich morgen fressen werde. Und wenn die Stiefel hin sind, werden sie geflickt, und wenn der Anzug hin ist, krieg ich einen neuen, und wenn der Winter kommt, werden wir Mäntel bekommen.

    Große warme Mäntel. Ich hab sie schon gesehen.

    Das Eis braucht mir nicht mehr gut zu sein!

    Jetzt ist alles fest.

    Endlich in Ordnung.

    Adieu, ihr täglichen Sorgen!

    Jetzt ist immer einer neben dir.

    Rechts und links, Tag und Nacht.

    »Angetreten!« tönt das Kommando.

    Wir treten an, in Reih und Glied.

    Mitten auf dem Kasernenhof.

    Und die Kaserne ist so groß wie eine ganze Stadt, man kann sie auf einmal gar nicht sehen. Wir sind Infanterie mit leichten und schweren Maschinengewehren und nur zum Teil erst motorisiert. Ich bin noch unmotorisiert.

    Der Hauptmann schreitet unsere Front ab, wir folgen ihm mit den Blicken, und wenn er beim dritten vorbei ist, schauen wir wieder vor uns hin. Stramm und starr. So haben wirs gelernt.

    Ordnung muß sein!

    Wir lieben die Disziplin.

    Sie ist für uns ein Paradies nach all der Unsicherheit unserer arbeitslosen Jugend –

    Wir lieben auch den Hauptmann.

    Er ist ein feiner Mann, gerecht und streng, ein idealer Vater.

    Langsam schreitet er uns ab, jeden Tag, und schaut nach, ob alles stimmt. Nicht nur, ob die Knöpfe geputzt sind nein, er schaut durch die Ausrüstung hindurch in unsere Seelen. Das fühlen wir alle.

    Er lächelt selten und lachen hat ihn noch keiner gesehen. Manchmal tut er uns fast leid, aber man kann ihm nichts vormachen. Wie er möchten wir gerne sein. Wir alle.

    Da ist unser Oberleutnant ein ganz anderes Kaliber. Er ist zwar auch gerecht, aber oft wird er schon furchtbar jähzornig und brüllt einen an wegen der geringsten Kleinigkeit oder wegen nichts und wieder nichts. Aber wir sind ihm nicht bös, er ist halt sehr nervös, weil er vollständig überarbeitet ist. Er möcht nämlich in den Generalstab hinein und da lernt er Tag und Nacht. Immer steht er mit einem Buch in der Hand und liest sein Zeug.

    Neben ihm ist unser Leutnant nur ein junger Hund. Er ist kaum älter als wir, also auch so zirka zweiundzwanzig. Er möcht zwar oft auch gern brüllen, aber er traut sich nicht recht. Trotzdem haben wir ihn gern, denn er ist ein fabelhafter Sportsmann, unser bester Sprinter. Er läuft einen prächtigen Stil.

    Überhaupt hat das Militär eine starke Ähnlichkeit mit dem Sport.

    Man möcht fast sagen: es ist der schönste Sport, denn hier gehts nicht nur um den Rekord. Hier gehts um mehr. Um das Vaterland.

    Es war eine Zeit, da liebte ich mein Vaterland nicht. Es wurde von vaterlandslosen Gesellen regiert und von finsteren überstaatlichen Mächten beherrscht. Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich noch lebe.

    Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich jetzt marschieren darf. In Reih und Glied.

    Es ist nicht ihr Verdienst, daß ich heut wieder ein Vaterland hab. Ein starkes und mächtiges Reich, ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt!

    Und es soll auch einst die Welt beherrschen, die ganze Welt!

    Ich liebe mein Vaterland, seit es seine Ehre wieder hat! Denn nun hab auch ich sie wieder, meine Ehre!

    Ich muß nicht mehr betteln, ich brauch nicht mehr zu stehlen.

    Heute ist alles anders.

    Und es wird noch ganz anders werden!

    Den nächsten Krieg gewinnen wir. Garantiert!

    Alle unsere Führer schwärmen zwar immer vom Frieden, aber ich und meine Kameraden, wir zwinkern uns nur zu. Unsere Führer sind schlau und klug, sie werden die anderen schon hineinlegen, denn sie beherrschen die Kunst der Lüge wie keine zweiten.

    Ohne Lüge gibts kein Leben. Wir bereiten uns immer nur vor.

    Jeden Tag treten wir an und dann gehts zum Tor hinaus, im gleichen Schritt und Tritt.

    Wir marschieren durch die Stadt.

    Die Zivilisten sehen uns glücklich an, nur einige Ausnahmen würdigen uns keines Blickes, als wären sie böse auf uns. Das sind aber immer nur alte Männer, die eh nichts mehr zählen. Aber es ärgert uns doch, wenn sie wegschauen oder plötzlich sinnlos vor einer Auslage halten, nur um uns nicht sehen zu müssen. Bis sie uns dann doch erblicken, bis sie es nämlich merken, daß wir uns im Glas der Auslage spiegeln. Dann ärgern sie sich gelb und grün. Jawohl, ihr Herrschaften, ihr Ewig-Gestrigen, Ausrangierten, mit eurem faden pazifistischen Gesäusel, ihr werdet uns nicht entrinnen! Betrachtet nur die Delikatessen, die Spielwaren, Bücher und Büstenhalter – ihr werdet uns überall sehen!

    Wir marschieren auch durch die Auslagen!

    Es ist uns bekannt, wir gefallen euch nicht.

    Ich kenne euch schon – durch und durch!

    Mein Vater ist auch so ein ähnlicher.

    Auch er schaut weg, wenn er mich marschieren sieht.

    Er kann uns Soldaten nicht ausstehen, weil er die Rüstungsindustrie haßt. Als wärs das Hauptproblem der Welt, ob ein Rüstungsindustrieller verdienen darf oder nicht!

    Soll er verdienen, wenn er nur treu liefert!

    Prima Kanonen, Munition und den ganzen Behelf –

    Das ist für uns Heutige kein Problem mehr.

    Denn wir haben erkannt, daß das Höchste im Leben des Menschen das Vaterland ist. Es gibt nichts, was darüber steht an Wichtigkeit. Alles andere ist Unsinn. Oder im besten Fall nur so nebenbei.

    Wenn es dem Vaterland gut geht, geht es jedem seiner Kinder gut. Gehts ihm schlecht, geht es zwar nicht allen seinen Kindern schlecht, aber auf die paar Ausnahmen kommts auch nicht an im Angesicht des lebendigen Volkskörpers.

    Und gut gehts dem Vaterland nur, wenn es gefürchtet wird, wenn es nämlich eine scharfe Waffe sein eigen nennt –

    Und diese Waffe sind wir.

    Auch ich gehör dazu.

    Aber so gibt eben noch immer verrannte Leute, die sehen diese selbstverständlichen Zusammenhänge nicht, sie wollen sie auch nicht sehen, denn sie sind noch immer in ihren plumpen Ideologien befangen, die im neunzehnten Jahrhundert wurzeln. Auch mein Vater ist solch einer von dieser Garde.

    Es ist eine traurige Garde.

    Eine geschlagene Armee.

    Mein Vater ist ein verlogener Mensch.

    Er war drei Jahre in Kriegsgefangenschaft, ab 1917. Erst Ende 1919 ist er wieder heimgekehrt. Ich selbst bin 1917 geboren, bin also ein sogenanntes Kriegskind, aber ich kann mich natürlich an diesen ganzen Weltkrieg nicht mehr erinnern. Und auch nicht an die Zeit hinterher, an die sogenannten Nachkriegsjahre. Nur manchmal so ganz verschwommen. Meine richtige Erinnerung setzt erst ein zirka 1923.

    Mein Vater ist von Beruf Kellner, ein Trinkgeldkuli. Er behauptet, daß er durch den Weltkrieg sozial gesunken war, weil er vor 1914 nur in lauter vornehmen Etablissements arbeitete, während er jetzt draußen in der Vorstadt in einem sehr mittelmäßigen Betrieb steckt. Er hinkt nämlich etwas seit seiner Gefangenschaft, und ein hinkender Kellner, das kann halt in einem Luxuslokal nicht sein.

    Aber trotz seiner Privattragödie hat er kein Recht, auf den Krieg zu schimpfen, denn Krieg ist ein Naturgesetz.

    Überhaupt ist mein Vater ein Nörgler. Als ich noch bei ihm in seinem Zimmer wohnte, krachten wir uns jeden Tag. Immer schimpft er über die Leut, die das Geld haben, und derweil sehnt er sich nach ihnen – wie gern würde er sich wieder vor ihnen verbeugen, denn er denkt ja nur an sein Trinkgeld! Ja, er ist ein durch und durch verlogener Mensch, und ich mag ihn nicht.

    Wenn er nicht zufällig mein Vater war, würde ich mich fragen: wer ist denn dieser widerliche Patron?

    Einmal sagte ich zu ihm: »Hab nur keine Angst vor dem kommenden Krieg, du kommst eh nimmer dran mit deinem Alter!« Er blieb vorerst ganz ruhig und sah mich an, als würde er sich an etwas erinnern wollen. »Ja«, fuhr ich fort, »du zählst nicht mehr mit.« Er blieb noch immer ruhig, aber plötzlich traf mich ein furchtbar gehässiger Blick, wie aus einem Hinterhalt. Und dann begann er zu schreien. »So geh nur in deinen Krieg!« brüllte er. »Geh und lern ihn kennen! Einen schönen Gruß an den Krieg! Fall, wenn du magst! Fall!«

    Ich ging fort.

    Das war

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