Kinder der Sonne
Von Maxim Gorki
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Maxim Gorki
Maxim Gorki (1868-1936) war ein russischer Schriftsteller und Aktivist. Er wuchs in ärmsten Verhältnissen auf und rebellierte mit seinen Werken gegen das Zarensystem. Unermüdlich für die Revolution tätig, lernte er Lenin kennen. Als das poltische Klima strenger wurde, ging er ins Ausland. In einem Landhaus in den Adirondacks-Bergen schrieb Gorki den Roman „Die Mutter“, der in der Sowjetunion zum Klassiker wurde. Gorkis Skepsis gegenüber der Oktoberrevolution von 1917 war ein weiterer Grund für seine großen Auseinandersetzungen mit Lenin. Auch nach Lenins Tod im Januar 1924 kehrte Gorki nicht in die Sowjetunion zurück .In seinen letzten Lebensjahren bezeichnete Gorki selbst seine frühere Skepsis der Oktoberrevolution gegenüber als Irrtum, worauf ihn der Westen als »Stalins Vorzeigeschriftsteller« bezeichnete. Gorkis Werke wurden in Deutschland 1933 verbrannt und bis 1945 aus Bibliotheken ausgesondert.
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Buchvorschau
Kinder der Sonne - Maxim Gorki
Personen
Páwel Fjódorowitsch Protássow.
Lísa, dessen Schwester.
Jeléna Nikolájewna, Protássows Gattin
Dimítrij Sergéjewitsch Wágin.
Bóris Nikolájewitsch Tschepurnói.
Melánija, dessen Schwester
Nasár Awdéjewitsch.
Míscha, dessen Sohn.
Jegór, Schlosser.
Awdótja, dessen Frau.
Jákow Tróschin.
Antónowna, Protassows und Lisas frühere Kinderfrau.
Fíma | Dienstmädchen.
Lúscha |
Román, Portier.
Ein Arzt.
Erster Aufzug
Ein altes, herrschaftliches Haus; großes, halbdunkles Zimmer. Links in der Wand ein Fenster und eine Tür, die auf eine Veranda führt. In der Ecke zur linken Seite des Zimmers führt eine Treppe in das obere Stockwerk, wo Lisa wohnt. Im Hintergrunde sieht man durch einen Türbogen in das Speisezimmer. Aus der rechten Ecke des Zimmers mündet eine Tür in das Zimmer Jelenas. Bücherschränke, schwere, altertümliche Möbel, auf den Tischen Bücher in wertvollen Ausgaben. Auf einem der Bücherschränke eine weiße Büste. Am Fenster links ein großer runder Tisch, vor dem Protassow sitzt, in einer Broschüre blättert und dabei auf eine kleine Spirituslampe blickt, über der irgendeine Flüssigkeit kocht. Auf der Terrasse unter dem Fenster macht sich Roman zu schaffen, wobei er dumpf und eintönig ein Lied singt. Durch diesen Gesang fühlt sich Protassow belästigt.
Protassow: Hören Sie mal, Portier!
Roman durchs Fenster: Was soll's?
Protassow: Wie wäre es, wenn sie fortgingen … ja?
Roman: Wohin?
Protassow: Na, überhaupt … Sie stören mich …
Roman: Der Wirt hat's befohlen … Du mußt das ausbessern, hat er gesagt.
Antonowna tritt aus dem Speisezimmer heraus: Der Schmutzfink … hierher mußt du damit kommen?
Protassow: Schweig, Alte!
Antonowna: Hast wohl nicht Platz genug in deinen Zimmern?
Protassow: Bitte, geh nicht hinein; ich hab dort alles vollgedampft.
Antonowna: Und hier machst du alles voll Kohlendunst … Laß mich wenigstens die Tür öffnen.
Protassow eifrig: Nicht nötig, nicht nötig! Ach du … Alte! … Ich habe dich doch nicht darum gebeten … Sag du dem Portier, daß er fortgehen soll … er brummt immer so vor sich hin.
Antonowna zum Fenster hin: Was treibst du dich hier herum? Mach, daß du fortkommst!
Roman: Warum? … Der Wirt hat's befohlen …
Antonowna: Schon gut, kannst es auch später machen …
Roman: Na, meinetwegen … Entfernt sich brummend.
Antonowna mürrisch: Ersticken wirst du noch eines schönen Tages! … Und dabei heißt es, wir haben die Cholera hier … Du willst ein Generalssohn sein, und womit beschäftigst du dich! Nur unangenehme Gerüche verbreitest du!
Protassow: Warte nur, Alte! … Ich werde auch noch einmal General! ...
Antonowna: Du? – Du kommst noch mal auf die Landstraße. Das ganze Haus hast du mit deiner Chemie und deiner Physiognomik verstänkert.
Protassow: Nicht mit der Physiognomik, sondern mit der Physik … Im übrigen laß mich gefälligst in Ruhe …
Antonowna: Da … Jegor ist gekommen ...
Protassow: Ruf ihn her …
Antonowna: Väterchen, sprich du doch mit dem Lumpen und frage ihn, was er anstellt. Warum er gestern seine Frau bis aufs Blut geprügelt hat?
Protassow: Gut … ich werde mit ihm sprechen … Lisa steigt, ohne gehört zu werden, die Treppe herab, bleibt vor dem Schrank stehen und öffnet ihn geräuschlos.
Antonowna: Sag ihm: Du Jegor, du kriegst es mit mir zu tun, wenn …
Protassow: Ich werde ihm schon bange machen, da kannst du ganz unbesorgt sein, aber jetzt geh! …
Antonowna: Streng muß man sein. Du sprichst mit allen diesen Leuten, als wären sie Herrschaften …
Protassow: Genug, Alte! … Ist Jelena zu Hause?
Antonowna: Noch nicht. Sie ist nach dem Frühstück zu Wagin gegangen und hat sich nicht wieder sehen lassen … Paß mal auf, du wirst noch deine Frau verträumen …
Protassow: Laß diese dummen Redensarten, Alte, sonst werd ich böse.
Lisa: Alte, du störst Pawel bei der Arbeit …
Protassow: Ach, du bist hier; nun, was gibt's?
Lisa: Nichts …
Antonowna: Lisonjka, du mußt jetzt deine Milch trinken.
Lisa: Ich weiß es …
Antonowna: Was Jelena Nikolajewna betrifft, so muß ich doch sagen, ich an ihrer Stelle hätte längst mit einem anderen angebändelt … Die Frau wird von dir vernachlässigt, das ist ganz klar … Den Brei hast du gegessen, die Schale wirfst du nun fort … Kinder sind auch keine da, wie soll eine Frau noch Freude am Leben haben?! Nun, daß sie und …
Protassow: Alte! … Ich fange an, böse zu werden … Hinaus! So ein … Waschweib!
Antonowna: Nun, nun! Nur nicht gleich so wild … vergiß den Jegor nicht! Entfernt sich. Lisonjka, die Milch steht im Speisezimmer … Hast du deine Tropfen genommen?
Lisa: Ja, ja!
Antonowna: Nun gut … Geht ins Speisezimmer.
Protassow ihr nachblickend: Merkwürdige Alte! Unsterblich wie die Dummheit … und ebenso lästig … Wie steht's mit deiner Gesundheit, Lisa?
Lisa: Gut.
Protassow: Das ist ja herrlich! Trällernd. Das ist herrlich … das ist schön …
Lisa: Weißt du, recht hat die Alte doch.
Protassow: Das bezweifle ich. Die Alten haben selten recht … Die Wahrheit ist bei den Kindern … Sieh mal, Lisa: , hier habe ich gewöhnliche Hefe …
Lisa: Die Alte hat recht, wenn sie sagt, daß du dich zu wenig um Jelena kümmerst …
Protassow betrübt, milde: Wie ihr mich immer stört, du und die alte! Ist Jelena denn stumm? Sie könnte es mir doch selbst sagen … wenn ich irgendwie … wenn ich irgendwie … wenn irgendwas … nicht so ist, wie es sein sollte … und … überhaupt … aber sie schweigt ja! ...Um was handelt es sich? Was ist los? Aus dem Speisezimmer tritt Jegor ins Zimmer. Er ist ein wenig angetrunken. Ah, da ist ja Jegor. Guten Tag, Jegor!
Jegor: Wünsch Ihnen gute Gesundheit!
Protassow: Ich will Ihnen sagen, um was es sich handelt, Jegor. Es muß ein kleiner Tiegel angefertigt werden … mit einem starken, kegelförmigen Deckel. Oben muß eine kreisförmige Öffnung angebracht werden, aus der eine Röhre emporsteigt … verstehen Sie?
Jegor: Ich verstehe. Das kann man schon machen.
Protassow: Ich habe hier eine Zeichnung … wo ist sie gleich? Kommen Sie, bitte, mal her … Geht mit Jegor ins Speisezimmer. An der Verandatür klopft Tschepurnoi. Lisa öffnet die Tür.
Tschepurnoi: Ah, zu Hause? Guten Tag!
Lisa: Guten Tag …
Tschepurnoi rümpft die Nase: Auch der Kollege ist zu Hause, wie ich an diesem Geruch merke …
Lisa: Woher kommen sie?
Tschepurnoi: Ich komme von der Praxis. Dem Hündchen der Frau des Kameralhofdirektors hat das Dienstmädchen das Schwänzchen zwischen die Tür geklemmt, und so habe ich denn den Hundeschwanz verbinden müssen, Dafür habe ich drei Goldfüchse erhalten, hier sind sie! Ich wollte Ihnen schon Bonbons kaufen, aber es fiel mir ein: vielleicht ist es nicht ganz schicklich, Ihnen Süßigkeiten für Hundegeld zu kaufen, und – da ließ ich's bleiben.
Lisa: Und Sie haben recht daran getan … Nehmen Sie Platz …
Tschepurnoi: Übrigens herrscht hier ein Geruch – von sehr zweifelhafter Annehmlichkeit. Es kocht schon, Kollege!
Protassow im Hereintreten: Es braucht ja gar nicht zu kochen! Was ist denn das?! Warum habt ihr mir's nicht gesagt, meine Herrschaften?
Tschepurnoi: Ich habe ja gesagt, daß es kocht …
Protassow betrübt: Aber verstehen Sie mich doch: es liegt mir durchaus nichts daran, daß es kocht! Jegor kommt heraus.
Lisa: Wer hat denn das gewußt, Pawel? …
Protassow brummend: Ach … Teufel noch mal … Jetzt muß ich von vorne anfangen.
Jegor: Pawel Fjodorowitsch, geben Sie ein Rubelchen …
Protassow: Einen Rubel? Aber gleich! Sucht in allen Taschen. Lisa: , hast du nichts bei dir?
Lisa: Nein, Antonowna hat Geld ...
Tschepurnoi: Ich habe auch welches … Hier sind drei!
Protassow: Drei Rubel? Bitte, geben Sie her … Hier, Jegor, sind drei – na, stimmt's?
Jegor: Gut … Wir werden schon abrechnen … Danke … Empfehle mich …
Lisa: Pawel, die Alte hat dich gebeten … ihm zu sagen … Hast du vergessen?
Protassow: Was – zu sagen? Ach … ja! Hm … ja! Jegor … Bitte, nehmen Sie Platz! Sehen Sie … vielleicht sagst du es, Lisa: ? … Lisa schüttelt den Kopf. Sehen Sie, Jegor … ich muß Ihnen sagen … das heißt, Antonowna bat mich … es zu tun. Es handelt sich darum, daß Sie … angeblich Ihre Frau prügeln. Entschuldigen Sie, Jegor …
Jegor steht auf: Ich prügle sie –
Protassow: So? Aber, sehen sie, das ist doch nicht gut … Ich versichere Sie!
Jegor drohend: Soll auch nicht gut sein.
Protassow: Verstehen sie mich? Warum prügeln sie Ihre Frau? Das ist bestialisch, Jegor … Das müssen sie lassen … Sie sind ein Mensch, Sie sind ein mit Vernunft begabtes Wesen. Sie sind das herrlichste, das erhabenste Wesen auf Erden ...
Jegor: Ich?
Protassow: Nun, ja!
Jegor: Herr! Haben Sie sie auch gefragt, warum ich sie geprügelt habe?
Protassow: Nun – begreifen Sie doch: man darf nicht prügeln! Ein Mensch darf den andern nicht schlagen … das ist doch ganz klar, Jegor!
Jegor lachend: Ich bin geprügelt worden … und nicht zu knapp … Und wenn ich von meiner Frau sprechen soll … ja, die ist überhaupt kein Mensch, das ist ein Teufel …
Protassow: Was für ein Unsinn! Was heißt das »Teufel«?
Jegor nachdrücklich: Empfehle mich! Und meine Frau, die prügle ich weiter … bis