Putins Reich
Von Hans Hansen
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Über dieses E-Book
Lebensnah werden die politischen, vor allem aber die ökonomischen Verhältnisse beleuchtet. Es wird der Frage nachgegangen, warum es trotz des unermesslichen Reichtums und einem durch die Sowjetunion hinterlassenen immensen Konsumloches nicht möglich ist, ein einigermaßen funktionierendes Wirtschaftsleben zu etablieren und ein Großteil der Bevölkerung in bitterer Armut unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben muss.
Korruption und Willkür sind in diesem Buch keine abstrakten Begriffe, sondern lebendige Erfahrung.
Hans Hansen
Der Autor möchte unerkannt bleiben, da er Repressalien von patriotischen russischen "Staatsbürgern" befürchtet. Insbesondere von seiner Frau.
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Buchvorschau
Putins Reich - Hans Hansen
Putins Reich
Vorwort
Russland heute, …gestern, vorgestern, morgen und übermorgen
Russland, die Deutschen und andere Vorurteile
West oder Ost oder was oder wo?
Die russische Seele
Russland, die westliche Presse und die Angst
Russisches Selbstverständnis in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft
Wohnen und andere Unerfreulichkeiten
Keine Rechtssicherheit. Verarschung an jeder Ecke
„...denn sie wissen nicht, was sie tun." Ausbildung und Wirtschaftsleben.
Erst bezahlen, dann beschissen werden
Arbeit, Löhne und andere Merkwürdigkeiten
Arbeitsleben und andere Unerfreulichkeiten
Essen, Preise und andere Unerfreulichkeiten
Einkaufen und andere Unerfreulichkeiten
Bürokratie und andere Unerfreulichkeiten
Überleben ist Glücksache I. Das Gesundheitssystem
Überleben ist Glücksache II. Das russische Avos.
Überleben ist Glücksache III. Verkehr in Russland.
Das freie Empfinden. Frauen, Liebe und andere Merkwürdigkeiten
Schönheit und Sprache
Schluss
Impressum
Vorwort
Als ich mich entschloss, meine Heimat zu verlassen, um in dieses fremde, unbekannte Russland überzusiedeln, war mein Bündel vollgepackt mit den verschiedensten Vorstellungen und Vorurteilen, Illusionen, Hoffnungen und Bildern einer „russischen Seele" und eines russischen Lebens voller Wärme, Herzlichkeit, Liebe und Emotionen, wie ich sie in Deutschland und anderen Ländern, in denen ich lebte, nicht gefunden hatte. Ein Leben endloser wodkadurchtränkter Diskussionen am dampfenden Samowar, traurige, melancholische Menschen, mit Kopftüchern verwachsene, zahnlose dicke Ömchens in geblümten Kitteln, die sich schwerfällig über den Bürgersteig rollen, so, wie ich es aus den Romanen Dostojewskis und anderer Schriftsteller kannte.
Die Wirklichkeit hat mich allerdings schnell eingeholt und eines Besseren belehrt. Da ich mich von Anfang an unter normalen russischen Menschen bewegen durfte und nicht, wie fast alle Ausländer in Kreisen privilegierter Geschäftsleute, Journalisten oder in Gesellschaft ihrer Landsleute und sich meine finanzielle Situation auch nicht besonders von der eines normalen russischen Staatsbürgers unterschied, war es mir vergönnt, mich direkt und unmittelbar mit dem russischen Leben auseinanderzusetzen und war im Grunde dem ausgesetzt, was jeder Russe Tag für Tag erlebt.
Ich möchte vom russischen Leben erzählen, wie ich es erlebt habe, von dem unfassbaren russischen Alltag, den kleinen und großen Ärgernissen und Schwierigkeiten, den permanenten Erniedrigungen durch den Staat, den Geldadels und auch der Menschen selbst im täglichen Miteinander, vor allem aber von den ewigen kleinen Nadelstichen des täglichen Seins. Ich möchte erzählen von der unlogischen und „mystischen russischen Seele", so wie sie sich mir eröffnet hat und von einem russischen Leben abseits jeglicher Fernsehromantik. Eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, Liebe und Hass, Wut und Entzückung, Logik und Chaos. Ich werde versuchen, das alltägliche Leben der Menschen schildern, die Lebensumstände der einfachen Leute; das permanente Gehetze von einer Unerfreulichkeit zur Nächsten, die allgegenwärtige Angst, betrogen zu werden oder zum Arzt zu müssen, das ewige Misstrauen, die Grobheit und Unehrlichkeit, die Machtlosigkeit gegenüber der Frechheit und Gewissenlosigkeit des russischen Geldes und die logischerweise daraus entstehenden Aggressionen, die das Leben in Russland alles andere als angenehm machen. Ich werde ein Bild, mein Bild einer russischen Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts zeichnen, die völlig unvorbereitet in die Wirren des modernen Kapitalismus geworfen wurde, so wie ich sie von innen heraus erlebt habe, als fast ganz normales Mitglied seiner Gemeinschaft.
Mit diesem Buch will ich keine großartige politische Propaganda betreiben, weltbewegende Enthüllungen machen oder „tiefenpolitische" Analysen betreiben, aber in Zeiten wackelnder globaler Machtstrukturen, in Zeiten eines Xis und Putins, islamistischen Terrors, in Zeiten neu erstarkender nationalistischer Bewegungen und einer dahinsiechenden europäischen Union, die selbst nicht weiß, wohin ihr Weg eigentlich gehen soll, scheint es mir nicht unwichtig, einen Einblick in das alltägliche Leben einer nach neuer alter Stärke und Macht strebenden Nation zu bekommen. Oder besser gesagt zu zeigen, was unsere europäische Gesellschaft erwartet, sollte der russische Einfluss zu groß werden.
Ausdrücklich möchte ich hier betonen, dass es in diesem Buch nicht um grobe Menschenrechtsverletzungen, Morde o.ä geht, Es ist kein politisches Buch.
Sicherlich ist es nicht richtig, alles mit westlichen Augen zu sehen, mit westlichen Maßstäben zu messen, aber Russland selbst, und nicht nur die Politik, hat den Anspruch eine Weltmacht zu sein, ein Land, vor dem man Respekt und dessen Stimme in der Welt Gewicht hat. Und daran muss es sich messen lassen. Man möchte sich als ein demokratisches, zivilisiertes, modernes Land zeigen. Was allerdings im Inneren passiert, wie sich die Zustände und Lebensbedingungen wirklich gestalten, interessiert dabei wenig. Das gilt sowohl für die Politik als auch für die Menschen selbst.
10 Jahre habe ich in St. Petersburg gelebt - der Stadt meiner Jugendträume, der schönsten und mystischsten Stadt der Welt, der Stadt der Zaren, Dostojewskis und seiner traurigen Helden. Ich habe das kalte Deutschland verlassen und versucht, hier im „emotionalen" Osten eine neue Heimat zu finden. Ich bin geflohen vor der kalten Ordnung, der geregelten Langeweile und der steifen und starren Bewegungslosigkeit der westlichen Kultur. Ich glaube, ich habe eine andere Art Mensch 6 gesucht als den europäischen; warmherziger, intelligenter, interessanter. Vielleicht habe ich das Russland Dostojewskis gesucht, aber das spielt für dieses Buch keine Rolle, denn von mir soll hier nicht die Rede sein. Erlauben Sie mir aber zu Beginn ein paar persönliche Worte, warum ich aus dem sicheren Schoß der westlichen Gesellschaft in das verrückte, unsichere Leben der russischen Wirklichkeit übergesiedelt bin.
Der kommunistische Staat hatte ausgedient, die furchtbaren 90er Jahre waren überwunden. Russland schien den Weg eines zivilisierten, ökonomisch stabilen Staates zu gehen. Meine Lebenssituation hatte sich so ergeben, dass ich meinen damaligen Beruf aufgeben und mir ein neues Betätigungsfeld suchen musste. Da ich fließend Englisch und Norwegisch spreche, lag es nahe, etwas mit Sprachen anzufangen. Russisch hatte ich sowieso immer schon lernen wollen und fand eine Möglichkeit, hier in St. Petersburg eine Ausbildung zum Übersetzer zu machen. Warum aber ausgerechnet Russland? Diese Frage hat mir eigentlich jeder gestellt, dem ich begegnet bin, hüben wie drüben. Bei den Russen war das sowieso die erste Frage: „Wie kann man nur freiwillig in dieses allumfassende russische Chaos ziehen, in den Dreck, den Gestank, die Armut, die Ungerechtigkeit usw.? Der einzig vernünftige und verständliche Grund für einen Russen, warum ein Ausländer aus dem Westen in Russland lebt, ist, wie man es so schön auf Russisch nennt: „Business
. Verständnislose Blicke waren meistens die Reaktion auf die Antwort: „Ich liebe Russland, ich habe schon seit meiner Jugend in Russland leben wollen".
Es ist schwer zu sagen, was mich an diesem Land so fasziniert hat, mehr als 20 Jahre, bevor ich es zum ersten Mal besucht habe. Ich habe, anders kann ich es mir nicht erklären, eine Art Seelenverwandtschaft gefühlt, eine Geborgenheit im Geiste. Eine unbekannte, ja mystische Faszination ging von allem aus was russisch war. Kommunist bin ich übrigens in meinem ganzen Leben nie gewesen.
Es war im Alter von 17 Jahren, als ich das erste Mal ein Buch von Dostojewski in die Hände bekam. Es waren „Die Erniedrigten und Beleidigungen". Ich kann nicht beschreiben, was ich dabei empfand. Die erste kleine Szene des Alten mit seinem Hund ist das Rührendste, was ich je gelesen habe. Ich habe geheult wie ein Schoßhund und noch jetzt, wenn ich diese Zeilen lese bekomme ich feuchte Augen. Von den ersten Worten an fand ich bei ihm etwas Vertrautes, etwas, das ich unbewusst immer gesucht hatte und dem ich nie vorher begegnet war. Es war, als 7 öffnete sich meine Seele. Ich begann mich für Literatur und Philosophie zu interessieren und bewusst zu empfinden. Bis dahin hatte ich mich weder für Literatur interessiert noch irgendwelchen anderen geistigen, intellektuellen Betätigungen oder Interessen hingegeben. Aber es war um mich geschehen. Ich habe sein Werk buchstäblich gefressen. Schon nach den ersten Zeilen empfand ich eine Seelenverwandtschaft mit all seinen Helden und mit der russischen Seele. Nie wieder habe ich Derartiges gelesen oder empfunden wie bei der Lektüre Dostojewskis. Die Bücher Dostojewskis und anderer russischer Schriftsteller, die russische Musik, vor allem die Rachmaninows, schenkten mir Stunden unglaublichen Gefühlserlebens. Sobald ich die russische Sprache hörte, klopfte mir das Herz, und mehr als einmal bin ich Menschen auf der Straße gefolgt, die sich auf Russisch unterhielten, nur um den Klang dieser Sprache zu hören. Ich habe mich neben sie auf die Bank gesetzt, die Augen geschlossen und einfach nur die Melodie und die Schönheit dieser Sprache genossen. Alles Russische wirkte auf mich, … emotional. Dieses Gefühl trug ich, bewusst und unbewusst, viele Jahre mit mir herum. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich nach Petersburg ging. Die russische Seele war meine, oder zumindest verwandt mit meiner.
Als mir die Idee zu diesem Buch kam, ging es mir in erster Linie darum, einen, wie man so schön sagt, „Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten, befürchte aber, das Gegenteil wird der Fall sein. Ich habe mir hier eine zu blutige Nase geholt, und die Enttäuschung über den geplatzten Traum und die Wut über die Ungerechtigkeit und das unausrottbare Chaos in diesem Land sitzen so tief und schmerzen so sehr, dass ich große Zweifel habe, ob ich es fertig bringe, ein „prorussisches Buch
zu schreiben. Ich habe gelernt Russland zu hassen. Russland als Staat, als abstrakten, undurchschaubaren Organismus, als Käfig mit Gitterstäben aus Gleichgültigkeit, unermesslicher Geldgier, organisiertem Chaos und grenzenloser Machtlosigkeit und Hilflosigkeit gegenüber den staatlichen Organisationen und dem Geldadel; einem Geflecht aus Willkür, Ungerechtigkeit und ständiger, alltäglicher Erniedrigung.
Aber die Menschen hassen, nein, das vermag ich nicht. Ich habe nirgendwo so reine und verehrungswürdige Menschen getroffen, nirgends so viele Emotionen, Intelligenz und Wissen, wie in Russland, aber leider auch ebenso viel Bosheit und Gleichgültigkeit, Grobheit, Lüge und 8 Ignoranz. Aber ist das ein Wunder? Nicht die Menschen sind die Schuldigen - das Leben in Russland hat sie zu dem gemacht, was sie sind. Auch mich hat der russische Alltag verändert. Als ich kam, war ich ein freundlicher, fröhlicher, melancholischer und naiver „Jüngling von fast 40 Jahren, und gehe als wütender, harter, verbitterter alter Sack. Ja, ich habe mich ergeben. Ein altes russisches Sprichwort sagt nicht zu Unrecht: „Was des Russen Brot ist des Deutschen Tod.
Das russische Leben hat mich geschafft. Ich habe verloren. Reumütig kehre ich in meine Heimat zurück, die ich lange zu Unrecht verurteilt und nicht zu schätzen gewusst habe.
Das ist nun alles schon 10 Jahre her. Doch trotz des zeitlichen Abstands hat dieser Text nichts von seiner Aktualität verloren. Die inneren Zustände haben sich nicht verändert. Die Prinzipien, wie russische Politik und Wirtschaft funktioniert sind seit Urzeiten die selben und es wird sich wohl auch niemals ändern.
Das was sich geändert hat, ist leider die Sicht der einfachen Bevölkerung auf die außenpolitische Situation. Die damals noch zumindest in kleinen Teilen vorhandene freie Presse hat so gut wie aufgehört zu existieren und die politische Propaganda Putins zeigt immer mehr Wirkung. An allem schlimmen Zuständen in Russland ist nur der Westen, insbesondere die Amerikaner, Schuld. Man empfindet den gesamten Westen als massive reale Bedrohung und man ist sich sicher, das die Amerikaner jeden Moment Russland überfallen und vernichten wollen. Wobei man ja als Russe eigentlich froh sein müsste, wenn so etwas passiert. Das normale Leben in Russland ist im Gegensatz zum westlichen so erbärmlich, dass es logisch unbegreiflich ist, wie man solch ein Land lieben kann. Das wird mir immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht verstehen Sie es, liebe Leser, nach der Lektüre dieses Buches, ich tue es jedenfalls nicht.
Russland heute, …gestern, vorgestern, morgen und übermorgen
Bevor wir uns aber in das blühende russische Leben stürzen, muss ich noch ein paar Anmerkungen zum besseren Verständnis machen.
Dass der russische Bürger, sowie die russische Politik in seinem Wesen weit davon entfernt sind, eine demokratische Gesinnung oder ein kritisches staatsbürgerliches Selbstverständnis zu haben, ist wohl hinlänglich bekannt und dass Putin das Monster ist, als den ihn die westlichen Medien hinstellen, halte ich auch für richtig.
Es gibt auch eine Verfassung, relativ freie Wahlen, sogar ohne großartigen Betrug, …hatte ich zumindest gedacht, bis meine Schwiegermutter bei der Wahl zur Duma im Dezember 2011 in einem Wahllokal arbeitete. Die Direktorin dieses Wahllokals, eine Schulfreundin, kam einige Tage vor der Wahl heulend zu ihr und erzählte, man sei auf sie zugetreten und habe erklärt, dass sie in der Nacht nach der Wahl die Stimmzettel umzuschreiben hätte. Man werde ihr dann schon sagen für wen und in welchem Umfang. Man habe ihr auch eine Menge Geld geboten. Dieses Angebot habe sie ausgeschlagen, aber die Arbeit abzulehnen, traute sie sich dann doch nicht. So saßen also meine Schwiegermutter und ihre Freundin nach Schließung der Wahllokale bis in die Morgenstunden in einem Hinterzimmer und schrieben die Stimmzettel um. Dass diese Stimmen an Putin gingen, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.
Das Erstaunliche aber ist nicht die bloße Tatsache der Fälschung, sondern die, das meine Schwiegermutter, wie die meisten Russen, Putin völlig ergeben ist. Man glaubt ihm aufs Wort und ist seiner Ehrlichkeit vollkommen sicher. Diese Ignoranz der Tatsachen und die Fähigkeit die Wirklichkeit zu ignorieren und sich die Wirklichkeit so zurechtzulegen, dass sie ins Schema passt, ist eine typische Eigenart des russischen Charakters.
Diese „relativ freie Wahlen haben auch noch seine typisch russischen Nuancen. Meine Frau Marina erzählte z.B., dass im Wahlkampf des Öfteren urplötzlich bei einer Elternversammlung in der Schule ein Kandidat der „Edinaya Rocciya
auftaucht, das Blaue vom Himmel verspricht und die Klassenlehrerin hinterher die Eltern darauf hinweist, dass dieser Abgeordnete im Falle seiner Wahl der Schule eine gewisse Spende versprochen habe und man besser diesen Herren wählen solle. Krankenschwestern und Ärzte agitieren für Abgeordnete, die dem Krankenhaus teure Apparate versprochen haben oder sammeln gleich von den Kranken die Stimmzettel ein, weil die ja sowieso nicht zur Wahl gehen können. Ähnlich geht es auf Marinas damaliger Arbeitsstelle in einem staatlichen Kindergarten vor sich. Nur macht sich dort niemand die Mühe selbst zu erscheinen. Da sagt die Leiterin, dass ein Abgeordneter dem Kindergarten gewisse Hilfen versprochen habe und man ihn doch zu wählen hätte. Zwar wird in solchem Fall nicht offen gedroht, und kontrollieren kann das auch niemand, aber es gibt immer noch genug Leute, die dann tun, was von ihnen erwartet wird. Auf meine Frage, warum und wieso, wenn man euch nicht belangen kann, bekam ich oft zu hören: „Ja, ich weiß auch nicht, man hat´s uns gesagt, … und man macht´s dann eben so."
Merkwürdigerweise hat all das weniger mit einer realen Angst vor Repressalien zu tun als mit der Tatsache, dass das Wort der „Obrigkeit einen ganz anderen Einfluss hat als wir es kennen. Ich habe das oft im täglichen Leben bemerkt, in vielen Alltagssituationen, dass, sobald der Vorgesetzte, „Höherstehende
einen Wunsch oder Befehl äußert, man zuallererst geneigt ist, dem Folge zu leisten. Es ist, als wenn augenblicklich ein innerer Schalter umklappt, eine Art Automatismus in Gang gesetzt wird, welcher sich nicht, wie bei uns, automatisch-kritisch mit dem Gesagten auseinandersetzt und, wenn nicht Wehrhaftigkeit, so doch zumindest ein Gefühl der Auflehnung, Ärger oder Wut hinterlässt, sondern, im Gegenteil, ein absolutes, tief verwurzeltes, dumpfes Gefühl der Machtlosigkeit auslöst.
In der Provinz sieht das schon ganz anders aus. Dort hat man noch ganz andere Möglichkeiten zum Schummeln. Da werden schon mal Wahlzettel ganzer Großbetriebe sozusagen pauschal ausgefüllt, ohne dass die „Wähler diese zu Gesicht bekommen, oder man wird bestimmt und entschieden darauf hingewiesen, dass man seinen Arbeitsplatz verliert oder gleich der ganze Betrieb dichtgemacht wird, wenn man nicht eine bestimmte Partei wählt, bzw. es wird einem bei der „Bekreuzigung
des Wahlzettels streng über die Schulter geschaut.
Eigentlich aber ist das gar nicht nötig. Es gibt nicht mal am Horizont irgendeine ernstzunehmende politische Opposition, geschweige denn eine „außerparlamentarische Bürgerbewegung". Das ist reine Erfindung der westlichen Medien.
Es gibt niemanden, der das politische Format oder die politische Erfahrung hat, eine konstruktive Opposition zu führen. Egal, welcher Name aktuell in den westlichen Medien auftaucht, er ist auswechselbar und hat in Deutschland einen höheren Bekanntheitsgrad, als in Russland. Schaut man sich die Fernsehbilder einmal genauer an, wird man feststellen, dass in der Regel auf Demonstrationen mehr Journalisten als Demonstranten zu sehen sind und deren Anzahl nur noch von den Polizeikräften übertroffen wird.
Also wird, wie auch nach der erneuten Wiederwahl Putins zum Präsidenten, alles seinen gewohnten Gang gehen. Alle sind zufrieden, …außer die Bevölkerung, aber die fragt ja sowieso niemand. Und vielleicht ist das auch gut so.
Als Demokrat fällt es mir natürlich schwer, solch eine Aussage zu machen, aber wer die russische Mentalität kennt weiß, dass eine starke Opposition auf der momentanen Evolutionsstufe der russischen Politik eher eine verheerende Wirkung haben würde. Sollte nämlich eine politische Partei wirklich die Macht bekommen, gewisse Entscheidungen der Regierung zu beeinflussen, würde es über ein reines Blockieren und Behindern der Regierungsarbeit nicht hinausgehen. Da es aber weit und breit keine Oppositionspolitiker gibt, die auch nur annähernd seriöse Ideen oder den ehrlichen Willen für die Lösung der realen Probleme haben, geschweige denn in der Lage wären einen Staat zu lenken, würde dieses instabile Gebilde Russland, diese wackelige Bohnenranke, die sich verzweifelt mit ihren dünnen Stängeln an jeden Ast und jedes Schnürchen klammert, das man ihr gespannt hat, ganz schnell in sich zusammenfallen.
Da ist man schon in einer Zwickmühle, ich meine als demokratisch erzogener deutscher Staatsbürger. Auf der einen Seite kann es nicht sein, dass eine einzelne Partei, bzw. ein einziger Mann, fast nach sowjetischem Vorbild, keiner Opposition die Möglichkeit lässt, sich zu entfalten und zu entwickeln. Das bedeutet Stagnation, und Russland würde wie bisher eine Pseudodemokratie bleiben. Wie soll jemand politische Erfahrung sammeln, wenn man ihn nicht lässt? Wie soll man Freiheit lernen, wenn man sie nicht bekommt? Auf der anderen Seite würde dieses „Sammeln von Erfahrungen", das Erlernen einer konstruktiven Opposition unweigerlich zu einem weitaus schlimmeren Chaos führen als jetzt, und, da bin ich sicher, es würde zwangsläufig mit einer Gestalt wie Stalin enden.
Ich kann das als einfacher Bürger natürlich nicht ernsthaft beurteilen und vielleicht tue ich dem Herrn auch unrecht, aber ich habe schon das beklemmende Gefühl, dass Vladimir Putin die Fähigkeit besitzt, solch eine Person zu verkörpern, …mit modernen Nuancen und ohne so viele Opfer, selbstverständlich. Das gilt allerdings nur für die inneren Verhältnisse in Russland. Dabei hat er viele Russen auf seiner Seite und nicht nur die ältere Generation. Es ist vielleicht nicht die Mehrheit, aber bevor die sich zu Wort meldet, müssten schon wichtigere Dinge passieren.
Außenpolitisch haben wir jetzt den Salat. Der erste (Annexion der Krim) und zweite Krieg gegen die Ukraine nach dem 2. Weltkrieg auf europäischem Boden zeigt nicht nur den Geist der russischen Politik, sondern auch die Einstellung der russischen Bevölkerung zu uns. Aber wie gesagt, in diesem Buch geht es ja nur um die inneren Zustände. In Russland und im Kopf der Russen. Doch dazu später mehr. Trotzdem, dieser Mann ist der gefährlichste seit Hitler. Ihm ist alles zuzutrauen.
In gleichem Maße wie die Politik hat sich die Bevölkerung noch lange nicht zu einer demokratischen Gesinnung evolutioniert. Der Russe selbst ist, wie gesagt, noch Lichtjahre davon entfernt ein Demokrat zu sein. Zu stark und zu mächtig waren die Unterdrückungen des Staates in seiner ganzen langen Geschichte, und die eigene Zivilcourage reicht höchstens, um dem Nachbarn auf der Datscha heimlich die Birke abzusägen, die seinen Gurken die Sonne nimmt. Außerdem, und das ist ein ganz wichtiger Beitrag für das Verständnis der russischen Lebensweise, hat man in der Vergangenheit immer wieder lernen müssen: „Es könnte alles noch schlimmer sein." Deswegen lässt man lieber alles, wie es ist, …weil man sich doch noch irgendwie durchwurschteln kann, …wie man es immer getan hat.
Russland, die Deutschen und andere Vorurteile
Über Deutschland und die Deutschen hat man in Russland im Allgemeinen eine sehr gute Meinung. Es wäre zwar vermessen zu behaupten, dass man uns liebt, aber man achtet uns. Wir seien sauber, fleißig, ehrlich, sparsam…na ja, Sie kennen ja die ganzen schönen Ausdrücke aus vergangenen Zeiten, die schon lange nicht mehr wahr sind. Wir seien spießig, geizig und ohne Emotionen, zielstrebig, ehrgeizig und kämpferisch. Die „deutsche Maschine ist kein Mercedes, sondern wird häufig in Sportübertragungen verwand, wenn z.B. die deutsche Fußballnationalmannschaft trotz spielerisch-technischer Unterlegenheit durch Kraft, Ausdauer und Siegeswillen den Gegner wieder einmal kaltblütig niedergerungen hat. Das deutsche Wort „Ordnung
kennt jeder Russe.
Man steht solchen Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Zielstrebigkeit Sparsamkeit usw. etwas verwundert gegenüber, aber nicht ohne eine gewisse Bewunderung. Das gilt allerdings weniger für russische Gäste in deutschen Haushalten, die schief angeguckt werden, wenn sie sich nicht nur ein paar Tropfen Marmelade aufs Brot schmieren, sondern wie in der Heimat, diese gleich mit Löffeln in sich hineinschaufeln. Ein Russe in Deutschland schüttelt innerlich nur mit dem Kopf, wenn er sich diese hauchdünnen Wurstscheibchen auf seine Schnitte legen muss. „Da sollen diese sparsamen Deutschen mal zu uns kommen. Wir sind zwar ärmer, aber dafür wird bei uns die Wurst dicker geschnitten als das Brot und wer sich seine Wurst nicht mit Brot belegen will, braucht das auch nicht zu tun, da sind wir schon etwas gastfreundlicher."
Zudem beschränkt man sich auch in Russland auf das Lederhosenprinzip. Komischerweise hat man, wie überall im ferneren Ausland, die Vorstellung, dass Deutschland nur aus Bayern besteht. Biertrinkende, fette Grimassen, in kurzen, ledernen Doppelbeuteln, mit Pinsel auf dem Dach; dazu stämmige Madams mit großen Auslagen, um die Bierkrüge darauf abzustellen. Aber das nur nebenbei.
Man wundert sich, dass im Westen Fußgänger nur bei grün über die Ampel gehen, dass Politiker und wichtige Geschäftsleute mit ihren Staatskarossen an roten Ampeln anhalten. Man steht völlig verständnislos vor der Tatsache, dass sich nicht alle Frauen die Beine und unter den Achseln rasieren und dass eine Frau ohne Model-Figur halbnackt am Strand liegen mag. Mit Grauen erzählt man sich, dass es gemischte Saunen gibt und sogar Männlein und Weiblein gemeinsam unter der Dusche stehen. Als absolut unmöglich empfindet man, dass einige Männer es zulassen, dass Frauen im Restaurant selbst ihre Rechnung bezahlen und dass man als galanter deutscher Mann eher den Rucksack um die Ohren bekommt, wenn man einer jungen Frau die Hand reicht, um ihr aus dem Bus zu helfen. Mit Sicherheit ist Emanzipation keine russische Erfindung. Kaum eine russische Frau kann es verstehen, dass es noch einen anderen Lebenszweck geben kann, als schön zu sein. Völlig unverständlich für die russische Seele ist, dass im Westen Schwule und Lesben als Menschen angesehen werden. Homosexualität ist in Russland übrigens strafbar und selbst eine Volksabstimmung würde daran nichts ändern.
Ein ganz eigenartiges, unerwartetes Vorurteil lief mir seit meiner Ankunft immer wieder über den Weg. Man ist der Meinung, und das sagten mir auch kluge und gebildete Leute, sogar welche, die eine geraume Zeit in Deutschland verbracht haben, dass es in Deutschland weder anstößig noch sittenwidrig ist, bei Tisch zu Rülpsen und zu Furzen. Ob das von dem berühmten „warum rülpset und furzet ihr nicht, …" kommt, weiß ich nicht. Aber das ist doch einigermaßen erstaunlich.
Trotz des Wütens deutscher Soldaten auf russischer Erde im 2. Weltkrieg und der 900tägigen Blockade Petersburgs habe ich nie irgendeinen Hass oder Ressentiments gegen Deutschland oder die Deutschen erlebt. Man spricht in diesem Zusammenhang in der Regel von „den Faschisten und nicht von „den Deutschen
. Man weiß das wohl zu unterscheiden.
Diese Blockade, für die, die es wirklich nicht wissen, war wohl das schlimmste Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht. Die mehr als 100 000 auf Leningrad abgeworfenen Bomben, vor allem aber der Hunger forderten mehr als eine Million Opfer. Meine inzwischen verstorbene, darf ich sie so nennen, Freundin Lydia ist 1937 als 14 jähriges Mädchen mit ihrer Mutter vor den Nazis nach Leningrad geflohen und hat als Deutsche diese Blockade überlebt. Oft erzählte sie von dieser Zeit. „Keine Taube flog mehr am Himmel, sagte sie, „keine Ratte lief mehr auf den Straßen, alle waren sie schon gegessen worden.
Das einzig Negative, was ich des Öfteren gehört habe und bei vielen, vor allem bei der älteren Generation, deutlich spüre, ist ein gewisser Neid. Man hat die Deutschen besiegt und trotzdem geht und ging es den Menschen hier, vor allem eben der älteren Generation, um so vieles schlechter.
Der 2. Weltkrieg wird hier übrigens „großer vaterländischer Krieg genannt und spielt im gesamten gesellschaftlichen Leben immer noch eine große Rolle. Man fühlt sich als der alleinige Sieger und wird nicht müde, dies in Szene zu setzen. Der 9. Mai, in Russland der Tag des Sieges, wird jedes Jahr mit allergrößtem Brimborium gefeiert. Wochen vorher sieht man nur noch Kriegsfilme im Fernsehen; mit fetten Orden behängte Veteranen, die als Jugendliche in der Armee gedient haben, werden aus ihren armseligen Löchern geholt, und der Staat interessiert sich plötzlich für ihr Wohlergehen. Alles ist in heller Aufregung und stolz auf sich und sein großes Land. Überall man läuft mit russischen Fahnen herum, Jung und Alt kreischen „Rossiya, Rossiya
. Vor allem der Staat tut alles, um die Erinnerung an diese Zeit wach zu halten und die Aufmerksamkeit von den täglichen Problemen im Lande auf die glorreiche Vergangenheit zu lenken. Man hat ja auch sonst nichts mit dem man sich brüsten kann in diesem „großartigen" Land.
Die deutsche Wirtschaftskraft beeindruckt. Wie kann so ein kleines Land, ohne großartige Bodenschätze, so viel produzieren, „...und alles so gute Waren, …deutsche Wertarbeit
und all die anderen Klischees. „Aufgepasst, aufgepasst, hergestellt in Deutschland singt eine kräftige Männerstimme stündlich in der Fernsehwerbung über deutsches Werkzeug. „Deutsche Qualität
oder „Hergestellt mit deutscher Technologie" sind beliebte Slogans, mit denen man sich gerne brüstet. Allerdings hat das eher mit der schlechten Qualität der einheimischen Waren zu tun als mit der Herrlichkeit der deutschen. Aber darüber wird noch zu reden sein.
Als kleines Beispiel vorweg: Ich habe, bevor ich nach Russland ging, einige Jahre in Norwegen gelebt und in den Wintermonaten in einer Fabrik gearbeitet, die Motorteile herstellt. Wenn bei der Produktion eine Partie oder auch einzelne Teile nicht ganz in Ordnung waren, zwar noch brauchbar, aber für den westlichen Markt nicht geeignet, wurden diese in eine Kiste geschmissen, auf der in großen Lettern geschrieben stand: „Nach Russland". Das ist, die Erfahrung habe ich gemacht, kein Einzelfall, sondern die Regel. Für den russischen Markt ist dieser Ausschuss immer noch gut genug. Denn das produzierende Gewerbe in Russland, soweit es vorhanden ist, wehrt sich verzweifelt, selber Qualität zu produzieren.
Dostojewski schrieb in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers" über die Deutschen, wir seien ein stolzes, selbstzufriedenes Volk und diese Eigenschaften nähmen proportional mit der Menge des getrunkenen Bieres zu. Der russische Trinker hingegen trinkt gewöhnlich aus Kummer, weint und wenn er auch großspurig tut, ist das kein Triumphieren, sondern nur ein Randalieren.
Ich kenne weder den deutschen noch den russischen Volkscharakter des 19. Jahrhunderts, aber dass wir heute ein selbstzufriedenes, stolzes Volk seien, den Zahn hat man uns, besser gesagt, haben wir uns glücklicherweise selber gezogen.
Bei der Gelegenheit möchte ich bemerken, dass die Deutschen das einzige Volk sind, das sich wirklich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und daraus auch die notwendigen Schlüsse gezogen hat. Das erkennt man auch in Russland an. Nach meiner Beobachtung, welche übrigens nicht richtig sein muss, ist Deutschland die einzige Nation, die in irgendeiner Form die Sünden ihrer Vergangenheit aufrichtig bereut und einen, wie soll ich sagen, nationalen Minderwertigkeitskomplex entwickelt hat. Zwar darf man sich inzwischen wieder ehrlich und ohne Scham über die Erfolge der deutschen Fußballnationalmannschaft freuen, aber es hat doch einen kleinen bitteren Beigeschmack. Ich will hier, weiß Gott, keine Nationalpropaganda betreiben, aber wenn jemand schon auf Deutschland stolz sein möchte, dann darauf, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben. Denn Dreck am Stecken haben sie alle, die großen Völker. Nicht zuletzt die Russen. Stalin mit seinen Säuberungsaktionen stand Hitler in nichts nach. Die Gelehrten streiten immer noch darüber, wie viele Opfer es waren. Aber ob es 2, 5 oder 8 Millionen Menschen waren, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass es unter seiner Führung genau dieselben menschenverachtenden Richter, Polizisten, Gefängniswärter, Henker, Jasager, Mitläufer usw., d.h. dieselbe riesige Infrastruktur der Vernichtung menschlichen Lebens gegeben hat wie unter Hitler auch. Und doch, Stalin ist heute noch für viele ein Held. Aber auch für die anderen, ich meine die große Masse, ist er keineswegs das Monster, welches er in Wirklichkeit war. Er hat zwar ein paar Millionen Landsleute umgebracht, aber irgendwie interessiert das niemanden so richtig. Schließlich hat er den Krieg gewonnen. An eine Aufarbeitung dieser Zeit, Bestrafung der Täter von damals oder gar eine Entschädigung der Opfer denkt niemand. Selbst die kommunistische Partei weigert sich entschieden, sich auch nur zu entschuldigen. Man wollte sogar zum 65. Jahrestags des Kriegsendes die Straßen Moskaus mit Stalins Portrait pflastern, doch das hat man sich kurzfristig anders überlegt. Aber da bin vom Thema abgekommen.
Es ist richtig, dass in Russland mehr und anders getrunken wird. Aber das gilt vor allem für die Dörfer. Einmal bin ich mit Freunden in den ersten Januartagen in ein 300 km entferntes Dorf gefahren, wo sich ein paar junge Künstler, des Stadtlebens müde, einige alte verfallene Häuser gekauft hatten.
Sie werden vielleicht wissen, dass das wichtigste Fest in Russland am Silvesterabend begangen wird. Da kommt der Weihnachtsmann und es gibt die Geschenke. Es gibt selbstverständlich auch Weihnachten, aber das hat im Augenblick noch einen eher unterordneten Charakter, weil in der Sowjetunion, Sie werden verstehen, dieses Fest nicht besonders gern gesehen war. Weihnachten wird am 7. und 8. Januar begangen, da man in der alten, vorpetrinischen Zeit einen anderen Kalender hatte. Inzwischen beginnt man allerdings zusätzlich Weihnachten nach dem westlichen Kalender zu begehen.
Man nutzt also die Zeit zwischen Weihnachten, Neujahr und Weihnachten und lässt seinem Alkoholpegel erst gar keine Chance, sich zu senken. Die staatlichen Organe, sich des Problems bewusst, haben diese Zeit kurzerhand zu staatlichen Betriebsferien erklärt. Das heißt, dass die meisten staatlichen Angestellten und Fabrikarbeiter, selbst viele in der Privatwirtschaft, 2 Wochen arbeitsfrei haben. Denn permanent betrunkene Angestellte, die sowieso nicht arbeiten, bringen der Volkswirtschaft mehr Schaden als Nutzen. Dem feierwütigen Russen, und das ist endlich mal ein Vorurteil, was zutrifft, ist das aber noch nicht genug. Ab Mitte Dezember und bis Mitte Januar herrscht in Russland eine Art gesellschaftliches Time-out, ein Ausnahmezustand mit der Vorbereitung und Vorfreude, bzw. Nachbereitung und dem Ausklang dieser Feste. Man beginnt also am 24.12., dann Silvester und Neujahr am 31.12 und 01.01., am 7. und 8. Januar die russische Weihnacht. Am 14.01. wird dann noch das „alte neue Jahr begangen, das heißt Neujahr nach dem alten Kalender und die ganz Hartgesottenen feiern dann noch das chinesische Neujahrsfest am 3. Februar. Das muss man erst mal durchhalten. Aber diese Eigenschaft habe ich schon immer bei den Russen bewundert. Man kann saufen bis zum Umfallen, aber wenn es dann sein muss, steht man „Gewehr bei Fuß
, als sei nichts gewesen.
Mein Freund Dima z.B., ein in den 90er Jahren sehr bekannter Rockmusiker, mit dem ich einige Zeit zusammenlebte, war auch dem Alkohol nicht abgeneigt. Er war zwar wieder auf dem Pfad der Tugend angelangt und arbeitete in einer Abteilung der belgischen Botschaft. Manchmal aber überkam es ihn, und er begann zu trinken. An einem Montag meldete er sich krank und trank die ganze Woche, von Morgens bis Abends und fast ohne Schlaf. Bis, ja, bis Montagmorgen um 4 Uhr. Ich saß ihm gegenüber am Tisch, sein Kopf baumelte willenlos zwischen seinen Schultern und schlackerte dort hin und her, wie der eines Wackeldackels. Ganz plötzlich erhob er sich, schaute mir fest in die Augen und sagte: „So, jetzt ist es genug, ich muss zur Arbeit." Dann ging er ins Bett und nach genau 3 Stunden stand er auf, schlich an mir vorbei in die Dusche, bügelte dann noch Hemd und Schlips, zog seinen Anzug an und verabschiedete sich gut gelaunt mit einem Lächeln, klaren Augen und fester Stimme, als