Spracherwerb und Sprachenlernen
Von StudienVerlag
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Über dieses E-Book
Wissen über die unterschiedlichen Aneignungsprozesse sowie über die Entwicklung lingua-kultureller Kompetenzen von Lernenden in gesteuerten und ungesteuerten Kontexten kann Lehrpersonen in ihrem Unterrichtshandeln unterstützen. Dabei sollen auch Erkenntnisse aus Neurolinguistik, Kognitionswissenschaften, Soziolinguistik und Lernersprachenanalyse berücksichtigt sowie in einem weiteren Schritt die didaktischen und curricularen Folgerungen in der institutionellen Vermittlung dargestellt werden.
INHALT
EDITORIAL
Ursula Esterl, Annemarie Saxalber: Zum Zusammenhang von ungesteuertem und gesteuertem Spracherwerb im Unterricht
SERVICE
Anna Kriegl: Spracherwerb und Sprachenlernen heute. Bibliographische Notizen
MAGAZIN
Kommentar: Dagmar Unterköfler-Klatzer: Sommerschule 2020
ide empfiehlt: Peter Ernst: Rudolf de Cillia, Jutta Ransmayr (2019): Österreichisches Deutsch macht Schule
Neu im Regal
GESTEUERTER UND UNGESTEUERTER SPRACHERWERB IN ZWEIT- UND FREMDSPRACHE
Dietmar Rösler: Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen
Anja Wildemann: Spracherwerb und Sprachenlernen. Implizite Lerngelegenheiten und explizite Lernangebote
SPRACHERWERB UND SPRACHENLERNEN: DIDAKTISCHE IMPLIKATIONEN
Klaus-Börge Boeckmann, Stephan Schicker: Spracherwerb und Sprachenlernen in der Sekundarstufe I. Theoretische Zugänge, curriculare Vorgaben und didaktische Schlussfolgerungen
Tabea Becker, Tina Otten: Vorstellungen und Bewusstsein von sprachlichen Normen bei ein- und mehrsprachigen SekundarstufenschülerInnen
Kevin Rudolf Perner: Die "Abwendung von Missverständnissen" und das Dialekt-Standard-Kontinuum
VON DER SPRACHDIAGNOSE ZUR SPRACHFÖRDERUNG
Manuela Glaboniat: MIKA-D. Eine Betrachtung aus testtheoretischer Perspektive
Marion Döll, Sabine Guldenschuh: Nutzung sprachdiagnostischer Daten zum Deutschen als Zweitsprache in der Sprachbildungsplanung. Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie
Jana Gamper, Dorotheé Steinbock: Wer ist bereit für die Regelklasse? Diagnostische Potenziale und Grenzen des Deutschen Sprachdiploms (DSD I) am Übergang von der Vorbereitungs- in die Regelklasse
DAS ZUSAMMENSPIEL VON SPRACHERWERB UND SPRACHENLERNEN IM KLASSENZIMMER
Luca Melchior: Translanguaging-Zugänge für das sprachliche und kulturelle Lernen im Unterricht. Ein Vorschlag
Barbara Hoch: Mehrsprachigkeit, sprachliche Normen und die interaktive Verhandlung sozialer Positionierungen. Unterricht als sprachlicher Markt
Sabine Schmölzer-Eibinger, Muhammed Akbulut, Christopher Ebner: Sind wir allein im Universum? Förderung wissenschaftlicher Textkompetenz anhand von Kontroversenreferaten zu naturwissenschaftlichen Themen im fächerübergreifenden Unterricht in mehrsprachigen Klassen
Gabriele Ribis: Besser gemeinsam lesen lernen. Ein integratives Konzept der Sprachförderung
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Buchvorschau
Spracherwerb und Sprachenlernen - StudienVerlag
Dietmar Rösler
Das Verhältnis von gesteuertem und ungesteuertem Zweit- und Fremdsprachenlernen
In diesem Aufsatz werden die vielfältigen Varianten des Lernens des Deutschen als Zweit- und als Fremdsprache beschrieben, das gesteuert und ungesteuert sowie innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums stattfinden kann. Gezeigt wird, dass ein Fehlen differenzierter Beschreibungen zu unangemessenen Interventionen im Unterricht führen kann. Ausführlich behandelt wird dabei die Frage, ob und wie die Progression im Unterricht dem natürlichen Erwerb folgen kann oder soll. Diskutiert wird außerdem, ob und wie die durch die Digitalisierung vorangetriebene Tendenz zum Anwachsen des informellen Lernens im Bereich des Zweit- und Fremdsprachenlernens zu stärkeren Annäherungen und Vermischungen von gesteuertem und ungesteuertem Lernen führt und welche Auswirkungen das auf die Organisation von Unterricht und die Rolle von Lehrkräften haben könnte.
________________
1. Klare Fälle?
Person A hat an einem Gymnasium in Asien vier Stunden pro Woche Deutschunterricht. Sie arbeiten dort mit einem Lehrwerk. Außerdem macht sie dazu zu Hause viele Übungen am Computer. Person A war noch nie in Deutschland und hat auch keinen Kontakt mit Deutschen. Person B kam ohne vorherige Deutschkenntnisse als Erwachsener nach Deutschland, arbeitete dort in der IT-Branche, hatte viel Kontakt mit Deutschen und lernte Deutsch aus dem Kontakt mit diesen. Inzwischen spricht sie sehr gut Deutsch, wenn auch mit einigen »Fehlern«.
Bei Person A redet man von einem Lerner bzw. einer Lernerin des Deutschen als Fremdsprache (DaF), sie lernt Deutsch gesteuert in einer Bildungsinstitution außerhalb des deutschsprachigen Raums. Person B würde man zumeist als Lerner des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) bezeichnen, sie lernt Deutsch ungesteuert und ohne Besuch einer Bildungsinstitution innerhalb des deutschsprachigen Raums.
Zwei prototypische Fälle, doch der Alltag des Lernens einer weiteren Sprache nach der ersten ist meist weniger eindeutig. Person B hatte vielleicht nach einer ersten Phase des schnellen Wortschatzerwerbs das Bedürfnis, mehr über die Grammatik des Deutschen zu erfahren und kaufte sich deshalb eine Grammatik oder ein Selbstlernwerk, besuchte einen Kurs an der Volkshochschule oder nervte ihre deutschsprachige Umgebung mit einer Vielfalt von Fragen zur deutschen Grammatik. Auch Menschen wie Person A werden nicht immer ohne Kontakt sein, sie treffen vielleicht Touristen aus dem deutschsprachigen Raum, halten bei Themen, die sie interessieren, über soziale Medien Kontakt mit Deutschen usw.
2. Deutsch als Zweit- und Fremdsprache
Gegensatzpaare wie »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« und »gesteuertes und ungesteuertes Lernen« werden häufig herangezogen, um DaF und DaZ zu unterscheiden. Beim Gegensatzpaar »Lernen innerhalb und außerhalb des zielsprachlichen Raums« würde es sich um DaZ handeln, wenn das Lernen innerhalb des zielsprachlichen Raums stattfindet, und um DaF dann, wenn dies außerhalb des zielsprachlichen Raums geschieht. Das wird häufig zutreffen, aber Person A aus dem obigen Beispiel wird nicht plötzlich zur Zweitsprachlerin, wenn sie ein Stipendium für einen vierwöchigen Kurs an einem Goethe-Institut in Deutschland erhält und dort zeitlich begrenzt in Kursen und Ausflügen ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur voranbringt. Sie lernt weiterhin Deutsch als Fremdsprache, und dieses Lernen findet zeitweilig im deutschsprachigen Raum statt.
Dass die Unterscheidung von gesteuertem und ungesteuertem Lernen ebenfalls herangezogen wurde, um das Lernen einer Fremd- und einer Zweitsprache zu unterscheiden, ist hingegen bedenklich: Ungesteuertes Lernen als Hauptmerkmal von DaZ mag für die erste Generation von Migrant_innen, die sogenannten Gastarbeiter_innen, in den ersten Jahren ihres Aufenthalts noch eine angemessene Beschreibung gewesen sein – Personen kommen für einige Jahre in ein Land, dessen Sprache sie nicht kennen, und erwerben diese nur durch die Interaktion am Arbeitsplatz. Aber spätestens ab dem Zeitpunkt, wo diese Migrant_innen im Land blieben, Kinder bekamen, die in Kindergärten, Schulen usw. gingen, war diese Zuordnung nicht mehr sinnvoll: Die Herausforderung für das Fach DaZ besteht ja gerade darin, den ungesteuerten Spracherwerb, der in der deutschsprachigen Umgebung per Interaktion möglich ist und der, wie jede Lehrkraft aus leidvoller Erfahrung weiß, höchst unterschiedlich verlaufen kann, mit Interventionsmaßnahmen in Kindergärten und Schulen zu verbinden, damit beide zusammen zu einem Spracherwerb führen, der es erlaubt, dass diese Personen uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben und ihre Bildungschancen nutzen können.
Wenn man versucht, DaF und DaZ mit Gegensatzpaaren wie »gesteuert und ungesteuert« und »innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums« voneinander abzugrenzen, dann nicht dadurch, dass man eine Seite dieser Gegensatzpaare Deutsch als Zweit- und die andere Deutsch als Fremdsprache zuordnet, sondern dadurch, dass man sie kombiniert: DaF findet überwiegend außerhalb des deutschsprachigen Raums und gesteuert in Bildungsinstitutionen statt, die deutsche Sprache ist für die Lernenden meist nicht alltagsrelevant. DaZ findet überwiegend innerhalb des deutschsprachigen Raums statt, sowohl gesteuert als auch ungesteuert, und ist alltagsrelevant. Das bedeutet weder, dass es nicht Deutsch als Fremdsprache innerhalb des deutschsprachigen Raums gibt, wie das Beispiel des Stipendiums für einen Kurs am Goethe-Institut zeigt, noch, dass es DaZ nicht auch außerhalb des deutschsprachigen Raums geben kann, wenn zum Beispiel eine in Deutschland als Zweitsprachlernerin Aufgewachsene mit ihrer binationalen Familie in das Land ihrer Großeltern remigriert, die Familiensprache aber Deutsch bleibt.
3. Grenzfälle
Wie schwierig in konkreten Fällen Abgrenzungen sind, sei an zwei ganz unterschiedlichen Lernergruppen gezeigt, an den im Ausland Germanistik Studierenden, die ihr sog. Auslandsjahr im deutschsprachigen Raum verbringen, und an den geflüchteten Jugendlichen, die ab 2015 plötzlich in das Schulsystem integriert werden mussten.1 Wenn eine irische Germanistikstudentin ein Jahr im deutschsprachigen Raum verbringt, dort ihre Zeit zusammen mit Germanistik Studierenden aus Australien, den USA und Großbritannien verbringt, die deutsche Kneipenund Theaterkultur erkundet, viel im Land herumreist, aber durchgehend in einem englischsprachigen Umfeld lebt, ist sie dann während ihres Auslandsjahres von einer Fremdsprachlerin zu einer Zweitsprachlerin geworden? Oder ist sie das nur, wenn sie das Jahr viel mit deutschen Kommiliton_innen verbringt, sich in der Kirchengemeinde, in einer Theatergruppe, im Sportverein usw. engagiert und sich vielleicht auch noch in eine deutschsprachige Person verliebt?
Als nach 2015 geflüchtete Jugendliche ins deutsche Schulsystem integriert werden mussten, stellte sich die Frage, was die richtige Unterstützung für ihren Deutscherwerb ist. Sie waren im deutschsprachigen Raum, sollten sie also so unterstützt werden wie die Kinder mit Migrationshintergrund, die im deutschsprachigen Raum aufgewachsen sind? Oder sollten sie, da sie zunächst kaum Kontakt mit dem sie umgebenden deutschsprachigen Raum und als Jugendliche auch keinen ungesteuerten kindlichen Spracherwerb durchlaufen hatten, nicht eher wie Fremdsprachenlerner_innen unterstützt werden, allerdings mit dem Ziel, aus diesen Fremdsprachenlerner_innen durch die Intensivierung von Kontakten mit der deutschsprachigen Umgebung so schnell wie möglich Zweitsprachler_innen zu machen?
Derartige Versuche, DaF und DaZ begrifflich voneinander zu trennen und gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten auszuloten, sind keine akademische Haarspalterei. Sie signalisieren, wie wichtig es ist, dass man für jede Gruppe von Lernenden sehr genau überlegen muss, bei welchen Merkmalen wann welche Art von Unterstützung des Lernens durch Bildungsinstitutionen sinnvoll ist, damit es nicht zu Vorgehensweisen und Lehrmaterialien kommt, die für die konkreten, sehr unterschiedlichen2 Lernergruppen nicht angemessen sind.
4. Gesteuertes und ungesteuertes Lernen des Deutschen als Zweitsprache
Frühe DaZ-Aktivitäten bezogen sich auf außerschulische Lernorte wie Wohnort oder Arbeitsplatz. Die Anfänge der Arbeit im Bereich DaZ liegen also zunächst in politisch engagierten Aktivitäten von Gewerkschaftlern und Frauengruppen und befassen sich mit Vermittlungsfragen (vgl. Barkowski/Harnisch/Kumm 1980). In der Forschung entwickelte sich hingegen ein Fokus auf den ungesteuerten, den natürlichen, Erwerb. In den 1970er Jahren liefen zwei Entwicklungen parallel, die Deutsch als Zweit- und Fremdsprache häufig weniger mit- und stärker nebeneinander agieren und sogar Hierarchiekämpfe austragen3 ließen. Die Fremdsprachenforschung emanzipierte sich von der Idee, Entwicklungen im Fremdsprachenunterricht seien durch Entwicklungen in Linguistik und Psychologie angeleitet und die Fremdsprachendidaktik sei lediglich »angewandte Linguistik«.4
Parallel dazu beflügelte eine Umorientierung innerhalb der Linguistik die Spracherwerbsforschung: 1965 postulierte Chomsky in seiner Begründung der generativen Transformationsgrammatik einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus, der eine Vielzahl von psycholinguistischen Forschungen anstieß. In der frühen Diskussion um den natürlichen Spracherwerb spielte die sogenannte kritische Periode eine dominante Rolle, insbesondere die Frage, ob mit Anbruch der Pubertät natürlicher Spracherwerb noch möglich sei. In ihrer starken Variante, die besagt, dass der Spracherwerbsmechanismus mit der Pubertät tatsächlich endet, ist diese Hypothese obsolet, interessant ist die schwache Variante, die besagt, dass der Spracherwerbsmechanismus mit Beginn der Pubertät an Einfluss verliert.
Doppelter Erstspracherwerb und früher Zweitspracherwerb erfolgt innerhalb einer reichen sprachlichen Umgebung durch Interaktion. Die Titelfrage ihres Buches Wie Kinder Sprachen lernen beantwortete Rosemarie Tracy mit: »systematisch, treffsicher und beharrlich – wenn man sie denn lässt und ihnen die Bedingungen bietet, unter denen sich ihr Spracherwerbstalent entfalten und immer wieder herausgefordert fühlen kann« (Tracy 2007, S. 153). Und die Frage, wie die kindlichen Lernenden dabei unterstützt werden können, erhält die Antwort: Man muss »für ein anregungsreiches, ›unordentliches‹, sprich: variations- und kontrastreiches, Sprachangebot in natürlichen Situationen – den Input –, den Kinder dann nach Herzenslust ›aufräumen‹ und in ein komplexes vielschichtiges System sprachlichen Wissens verwandeln können,« (ebd.) sorgen.
Die sprachlich reiche Umgebung mit vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten führt wie beim einfachen Erstspracherwerb auch beim doppelten Erstspracherwerb und frühen Zweitspracherwerb zu erfolgreichem Spracherwerb; Belege für erfolgreichen Bilingualismus, unabhängig davon, ob es sich bei den Umgebungen um Bezugspersonen aus zwei Sprachen oder die Variante »Bezugspersonen eine Sprache, außerfamiliäre Welt die andere Sprache« handelt, gibt es in großer Menge.5 Die Geschichte des Spracherwerbs in Migrationskontexten im deutschsprachigen Raum zeigt aber auch, dass Misserfolge vorhanden sind: Bildungsinstitutionen müssen sich vor ihren Interventionen durch diagnostische Maßnahmen deshalb zuerst mit der Frage befassen, ob sie einen erfolgreichen natürlichen Spracherwerb, einen Spracherwerb, der nur wenig, oder einen, der vielleicht fast gar nicht ungesteuert stattfindet, begleiten. Das institutionelle Begleiten von Zweitspracherwerb trifft also auf Personen, die gleichen Alters und gleicher Herkunftssprache sein können und einen gleichen Zeitraum im deutschsprachigen Raum verbracht haben und die dennoch mit höchst unterschiedlichen Sprachständen den Klassenraum betreten. Die Bedeutung des deutschsprachigen Raums für den Spracherwerb liegt darin, dass alltägliche Interaktion möglich ist, sie liegt nicht in seiner Geographie: Wenn keine Interaktion mit Personen, die Deutsch sprechen, erfolgt, kann man auch nichts aus Interaktionen lernen, dann nützt die physische Präsenz im deutschsprachigen Raum nichts.
5. Kann/Soll/Muss Unterricht dem ungesteuerten Erwerb folgen?
Diese große Breite von Sprachständen hat weitreichende Konsequenzen für die Organisation von Unterricht. So ist es kaum möglich, für eine größere Gruppe von Lernenden ein für alle passendes gemeinsames Lehrwerk zu finden. Weitreichende Konsequenzen hat auch die Antwort auf die Frage, inwieweit die Interventionen in Bildungsinstitutionen dem natürlichen Spracherwerb folgen müssen. Selbstverständlich wird jeder gute Unterricht auf dem aufbauen, was die Lernenden schon an Kenntnissen mitbringen, also den bisherigen Erwerb von Wortschatz, Grammatik, pragmatischen und landeskundlichen Kenntnissen usw. berücksichtigen. Die durch die Entwicklung der Spracherwerbsforschung an die Organisation von Unterricht herangetragene Frage geht jedoch weiter: Pienemanns (1989 und 1998) Processability- und Teachability-Hypothese6 wirft die Frage auf, inwieweit Stadien des natürlichen Erwerbs, die die Spracherwerbsforschung festgestellt hat, die Basis für die Organisation von Unterricht sein können, sollen oder gar müssen.
Aus der Erstspracherwerbsforschung ist seit langem bekannt: Es nützt nichts, Kinder beim Erwerb bestimmter Phänomene zu »coachen«, wenn sie für diese Phänomene noch nicht bereit sind. Auch Pienemann geht davon aus, dass erfolgreicher Unterricht die nächste Entwicklungsstufe anvisieren muss und nicht zu weit über dem Entwicklungsstand der Lernenden liegen darf, um einen positiven Effekt zu haben. Das ist als allgemeine Aussage sehr nachvollziehbar und wird wohl auch das unterrichtliche Handeln vieler Lehrkräfte leiten. Interessant wird diese Frage erst, wenn es konkret wird. Ist es tatsächlich sinnlos, bestimmte Phänomene zu einem bestimmten Zeitpunkt unterrichten zu wollen? Diese Frage kann man natürlich eindeutig positiv beantworten, indem man zum Beispiel sagt, dass man im Anfängerunterricht weder Konjunktiv II noch erweiterte Partizipialattribute behandeln sollte. Aber das tut ja auch keiner. Relevant wird diese Frage erst dort, wo Progressionen im Unterricht für bestimmte Lernergruppen und Lernziele nicht mehr im Hinblick auf deren Funktionalität für den Lernprozess dieser Lernergruppe für ihre Lernziele diskutiert werden, sondern wo mit Berufung auf natürliche Erwerbsprozesse bestimmte Abfolgen als absolut gesetzt werden.
Übertragbar ist diese Hypothese also auf den frühen Zweitspracherwerb und den doppelten Erstspracherwerb, kritisch zu diskutieren ist sie im Hinblick auf ihre Relevanz für jugendliche und erwachsene Lernergruppen, die mit 15 Jahren oder später in den Erstkontakt mit der deutschen Sprache kommen, auf Personen also, die kognitiv und durch ihre Sprachbewusstheit in der Lage sind, über Sprache und Spracherwerb zu reflektieren, metakognitive Strategien anzuwenden und Kategorien aus bereits gelernten Sprachen zur Auseinandersetzung mit den neuen unbekannten Schallwellen und Graphemketten heranzuziehen.
Dass das gesteuerte Lernen den Erwerbssequenzen des ungesteuerten Lernens folgen muss, um erfolgreich zu sein, ist als allgemeine Hypothese für jede Art des gesteuerten Lernens sicher nicht haltbar: Der im nächsten Abschnitt skizzierte Spezialfall eines Lesekurses für Geisteswissenschaftler_innen darf ihr nicht folgen, wenn er erfolgreich sein will. Und jeder schulische Fremdsprachenunterricht außerhalb des deutschsprachigen Raums leitet Lernende dazu an, beim Wortschatzerwerb für jedes deutsche Substantiv sowohl die Pluralendung als auch das Genus gleich mitzulernen. Im natürlichen Erwerb ist die Herausbildung der Beherrschung der deutschen Pluralformen eine komplexe Angelegenheit, und eine erwachsene Migrantin, die das Deutsche aus der Interaktion mit ihren Arbeitskolleginnen lernt, ist vollauf damit beschäftigt, zunächst lexikalische Elemente »aufzuschnappen«, die ihr helfen, Bedeutung zu transportieren: Adjektive, Substantive, Verben. Dass vor den Substantiven dabei noch irgendwelche Geräusche zu hören sind, die man später als Artikel kennenlernt, spielt zunächst keine Rolle; aus ungesteuerter mündlicher Interaktion wird der Erwerb von Artikeln später erfolgen als im Klassenzimmer. Aber auch wenn Unterricht nicht den Sequenzen des Spracherwerbs folgen muss, tut er doch sehr gut daran, sehr genau zu verfolgen, was die Spracherwerbsforschung über Erwerbssequenzen zutage fördert. Gerade für den Unterricht im Bereich DaZ, der soweit möglich versuchen muss, außerschulischen Erwerb aufzunehmen und zu unterstützen, ist dies von besonderer Bedeutung.
Das Fach DaZ muss sich also intensiv mit Steuerungsprozessen in Bildungsinstitutionen befassen, aber zum Teil anders als die Fremdsprachendidaktik. Es muss damit umgehen, dass Lernende zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens in den zielsprachlichen Raum eingewandert sind, dass sie dort unterschiedlich erfolgreich die deutsche Sprache ungesteuert erworben haben und dass »Lernen innerhalb des deutschsprachigen Raums« kein klarer Faktor für die Vorhersage von erfolgreichem Spracherwerb ist: Lernende wie Person B im Beispiel zu Beginn dieses Artikels können durch ihre Interaktion mit Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen große Fortschritte beim Deutscherwerb machen, Lernen innerhalb des deutschsprachigen Raums kann aber auch bedeuten, dass Personen zwar physisch im zielsprachlichen Raum anwesend sind, ihre ganze Kommunikation, medial ebenso wie interpersonell, aber fast ohne Bezug zur deutschen Sprache und Kultur stattfindet.
6. Gesteuertes Lernen des Deutschen als Fremdsprache außerhalb des deutschsprachigen Raums
Weltweit lernen ca. 15,4 Millionen Menschen DaF (Auswärtiges Amt 2020). Der überwiegende Teil der Lernenden – 11,2 Millionen – befindet sich in Europa und der Russischen Föderation. Beim Blick auf einzelne Länder lassen sich sowohl starke Zuwächse7 als auch Rückgänge8 feststellen. In der überwiegenden Zahl der Länder ist Deutsch nicht die erste Fremdsprache, was für das Fach DaF bedeutet, dass es sich mit der Frage beschäftigen muss, wie man das zumeist als erste Fremdsprache gelernte Englisch für das Deutschlernen nutzen kann, sowohl im Hinblick auf sprachliche Lerngegenstände als auch auf die Frage, inwieweit bereits vorhandene Fremdsprachenlernerfahrungen genutzt werden können (vgl. z. B. Chaudhuri 2009 und Hufeisen/Marx 2007).
Wer DaF in einer Bildungsinstitution lernt, tut dies eventuell unfreiwillig, wenn er zum Beispiel in eine Schule geht, in der die Fremdsprache Deutsch ein Pflichtfach ist. Oder er tut dies aus einer Reihe sehr unterschiedlicher Gründe freiwillig. So gibt es zum Beispiel Besonderheiten wie ein nur auf die Fertigkeit Lesen spezialisiertes Angebot für Wissenschaftler_innen, die die deutsche Sprache nicht für Interaktionen mit anderen Menschen lernen, sondern weil sie bestimmte Texte lesen möchten. So ein Kurs unterscheidet sich sehr stark vom Aufbau eines allgemeinsprachlichen Kurses.9 Das Lernen in Bildungsinstitutionen kann sich sehr stark im Hinblick auf den als Lernziel festgesetzten Grad von Korrektheit unterscheiden. Ein Kurs, der Deutsch für einen touristischen oder sozialen Aufenthalt im deutschsprachigen Raum überwiegend als mündliche Sprache vermittelt, wird sich weitaus weniger mit den Fallstricken der deutschen Nominalphrase befassen als ein Kurs, der schriftsprachliche Normen vermitteln muss, weil es ein Ziel der Lernenden ist, später an einer Universität in einem deutschsprachigen Land zu studieren.
Im letzten Jahrzehnt hat besonders die Diskussion um berufsbezogenen Unterricht zugenommen, im Gegensatz zu frühen Diskussionen zum Fachsprachenunterricht, bei denen man meinte, Lernende müssten zuerst einen allgemeinsprachlichen Kurs absolvieren und sollten dann den jeweiligen Fachwortschatz erlernen, versucht man heute, die berufsbezogenen Inhalte und speziellen Kommunikationsweisen so schnell wie möglich in den Unterricht zu integrieren. Ein starker Fokus ist in letzter Zeit im Hinblick auf den Bereich Pflegekräfte zu erkennen, aber