Heimweg
Von Ernst Geiger
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Über dieses E-Book
Ein fesselnder Krimi, basierend auf wahren Begebenheiten in den ausklingenden 1980er- und beginnenden 1990er-Jahren, raffiniert erzählt vom damaligen Chefermittler Ernst Geiger.
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Buchvorschau
Heimweg - Ernst Geiger
1988
Dienstag, 25. Oktober
Disco Azzurro, Wien-Favoriten
Das Erste, was ihm auffiel, war der bordeauxrote Rollkragenpullover. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig, aber so genau konnte er es im aggressiven Stroboskoplicht der Tanzfläche nicht erkennen. Sie bewegte sich zwischen zwei Mädchen, vermutlich ihren Freundinnen, langsam zu Always on my mind der Pet Shop Boys, die Hände immer eng am Körper, die Finger fuhren die Seiten des Pullovers hinauf und hinunter, als würde sie über die Saiten einer Violine streichen, sie glitten über den langen Hals, berührten die blonden Locken.
Maybe I didn’t treat you / Quite as good as I should have drang es aus den dröhnenden Boxen, die in den Ecken der Disco hingen und die Wände zum Vibrieren brachten. Es war eine ruhige Nummer, Musik für verliebte Pärchen, die einander bei langsamen Bewegungen tief in die Augen blickten. Sie tanzte umgeben von unzähligen Leuten, doch sie tanzte für sich allein. Sie hatte die Augen geschlossen und bemerkte ihn nicht. Niemand bemerkte ihn.
Er stand an den Tresen gelehnt, nippte vorsichtig an seinem Bier und lauschte aufmerksam der Musik. Leichtes Unwohlsein machte sich in seiner Magengegend breit. Die Situation war ungewöhnlich für ihn. Er ging nicht oft aus, die laute Musik tat ihm in den Ohren weh, und unter Menschen fühlte er sich einsamer als sonst, wenn er allein war.
Doch es war der 25. Oktober, und alle, die alt genug waren oder unaufmerksame Eltern hatten, trafen sich in einem der unzähligen Wiener Tanzlokale. Morgen würden sie ausschlafen, ihren Kater auskurieren, Aspirin schlucken und gar nicht bemerken, wie der Nationalfeiertag langsam an ihnen vorbeizog. Doch das alles war jetzt noch unendlich weit weg. Jetzt ging es um schwitzende Körper, um zuckende Arme und stampfende Beine, um lautes Gelächter und verunsicherten Blickkontakt und eine lange, unbeschwerte, sorgenfreie Nacht. Er versuchte, diese Empfindungen zu teilen. Und zum ersten Mal verstand er fast, was das bedeutete: dazugehören.
Schon oft hatte er die Kollegen in der Bank über diese für ihn so unbekannten Erlebnisse sprechen hören. Auch heute Vormittag, versteckt hinter dem Schalter, an dem er Sparbücher für kleine Kinder in Begleitung ihrer Mütter eröffnete oder älteren Damen erklärte, wie sie Geld aus einem Automaten bekommen konnten, der wie durch Zauberhand Geldscheine ausspuckte. Mit halbem Ohr hörte er Pläne von wilden Discobesuchen mit Freundinnen und von einer Männerrunde, die Wien unsicher machen würde.
Es war nicht die Absicht der Kollegen gewesen, ihn neidisch zu machen oder bloßzustellen. In Wirklichkeit sprachen sie gar nicht mit ihm. Er hörte nur zu. Das genügte.
Als er heute von der Bankfiliale im vierten Wiener Gemeindebezirk mit der Straßenbahnlinie 65 zu seiner kalten, dunklen Zweizimmerwohnung im zehnten Bezirk, Favoriten, unterwegs gewesen war, hatte er sich unweigerlich fragen müssen, wie das wohl war: Pläne zu haben, zu einer Gruppe zu gehören, neue Menschen und Dinge kennenzulernen.
Lange hatte er mit sich gerungen. Das Abendessen, lustlos zubereitete Spaghetti mit Bolognesesauce aus der Dose, war kalt geworden, während er nachdachte. Er schaltete den Fernseher ein und wieder aus. Schließlich zog er sich eine frische Jeans an, ein weites Kragenhemd mit Hawaii-Muster und sein einziges Sportsakko, braun, mit Schulterpolstern und Ellbogenflicken.
Mit dieser mutigen Kombination hatte er die nächste Disco angesteuert, das Azzurro. Und jetzt stand er hier, einen Arm an die Theke gelehnt, den anderen gegen die Wand. In einem Winkel eingeklemmt, in dem er unmöglich zu entdecken war. Von dort aus starrte er auf die Tanzfläche, die Augen angestrengt gegen das flackernde Licht geöffnet, und ließ seine Gedanken an Orte abschweifen, die sein Körper nie erreichen würde.
Girl, I’m sorry I was blind / but you were always on my mind.
Der Song ging langsam zu Ende. Sollte er sie ansprechen? Er sah sie mit den beiden Mädchen von der Tanzfläche gehen. Sie steuerten einen der Tische an, wo sie in einer Sitznische die Köpfe zusammensteckten und aufgeregt tuschelten. Er müsste einmal quer über die Tanzfläche, vorbei an den zuckenden und pulsierenden Körpern, vorbei am Geruch von Schweiß und Haarspray. Würde er es überhaupt so weit schaffen? Die Distanz schien ihm unüberwindbar. Doch hätte er sie erst einmal überwunden, dann stünde das Schwierigste noch bevor: das Gespräch. Darf ich mit dir tanzen? Willst du mit mir tanzen? Hättest du Lust zu tanzen? Was war die richtige Art, sie anzusprechen? Egal wie er es anstellen würde, es würde nicht gut genug sein.
Wie konnte er ihr begreiflich machen, dass er nicht einfach tanzen wollte, sondern dass er von allen Frauen hier nur mit ihr und mit ihr alleine tanzen wollte? Er hatte den ganzen Abend über die Tanzfläche beobachtet, doch nur von ihr hatte er den Blick nicht lassen können. Wenn eine Nummer zu Ende ging und er sie lachen sah, dann war er sich sicher, dass sie ein wunderbarer Mensch sein musste. Jetzt, wo er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er eigentlich gar nicht mit ihr tanzen wollte. Er wollte mit ihr reden, sie zum Lachen bringen, er wollte, dass sie sich in ihn verliebte. Er wollte ein ganzes Leben an einem Abend.
Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier, stellte es etwas zu kräftig am Tresen ab und stieß sich von der Wand ab, in Richtung des tumultartigen Gedränges. Er kämpfte sich durch Hände, Schultern, aneinandergepresste Münder. Die Tanzfläche war aus einem Meer aus wogenden Menschen zu einem Morast aus schwerfälligen Körpern geworden.
Endlich hatte er es geschafft. Orientierungslos torkelte er zu der Nische, in der sie sitzen musste. Er blieb vor dem Tisch stehen, an dem er sie vermutete. Doch als er den Blick hob, konnte er sie nicht sehen. Stattdessen lächelte ihm ein brünettes Mädchen mit haselnussbraunen Augen und zu viel Rouge entgegen.
»Na«, fragte sie, »möchtest du tanzen?«
»Deine Freundin«, brachte er heraus. »Kann ich … Kannst du mich vorstellen?«
Das Mädchen musterte ihn. »Welche Freundin meinst du denn?«
»Mit den blonden Locken und dem bordeauxroten Pullover.«
Kurz blickte ihn das Mädchen verdutzt an. Vermutlich war ihr selbst noch gar nicht aufgefallen, dass der Pullover bordeauxrot war. Wer achtete schon auf so ein Detail an einem Ort wie diesem?
Dann lachte sie auf. »Du meinst die Xandi. Na, ich weiß nicht. Warum stellst du dich nicht einfach selbst vor? Da kommt sie.«
Mit Entsetzen drehte er sich um und sah, wie sich das blonde Mädchen langsam auf sie zubewegte, in jeder Hand ein Glas Bier. Alle Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, waren verschwunden. Alle Informationen, die er jemals über die sozialen Gepflogenheiten der Konversation zusammengetragen hatte, waren innerhalb eines Atemzugs ausgelöscht worden.
Ohne sich zu verabschieden, wich er zurück. Er stolperte Richtung Tanzfläche, prallte gegen einen Rücken und kam ins Straucheln. Er stammelte Entschuldigungen, die im Lärm unmöglich zu hören waren. Er schaffte es zurück zu seiner Ecke, wo das Bier genauso auf dem Tresen stand, wie er es zurückgelassen hatte.
Jetzt erst bemerkte er, wie stark sein Herz pochte. Seine Hände zitterten. Hatte er seine Chance vertan? Vermutlich würde die Brünette ihrer blonden Freundin erzählen, wie seltsam er sich verhalten hatte. Er fühlte sich wie der größte Idiot. In einem schnellen Zug trank er das Bier aus und bestellte mit wenigen Handzeichen noch eines. Die kühle Flüssigkeit beruhigte seine Nerven. Vermutlich hatte das Mädchen ihn gar nicht gesehen. Und wahrscheinlich hatte ihre Freundin ihn ebenfalls schon vergessen. Mit jedem Schluck gewann er ein Stück Sicherheit zurück.
Er beschwor noch einmal das Bild herauf, wie sie sich lächelnd auf der Tanzfläche bewegte. Alleine müsste er sie treffen, dann würde sie ihn bestimmt nicht ablehnen. Wenn sie alleine wären und er ihr erklären könnte, wie schön sie war, dann würde sie verstehen.
Als er mit seinen Gedanken wieder in den muffigen Innenraum des Azzurro zurückkehrte, mittlerweile spielte es eine Nummer von Michael Jackson, und seine Augen dorthin richtete, wo sie gerade noch gesessen war, war sie verschwunden. Er konnte ihre beiden Freundinnen sehen, darunter die Brünette, doch nicht sie. Er blickte zur Tanzfläche. War sie dort? Er konnte sie unter den flackernden Silhouetten nicht ausmachen. Hatte sie die Diskothek vielleicht verlassen? War das seine Chance?
Ohne recht darüber nachzudenken, stolperte er vorwärts. Sein Bier, das sechste oder siebente, ließ er achtlos auf der Theke zurück. Bereits nach wenigen Schritten spürte er die Wirkung des Alkohols, der Raum wirkte seltsam eng und verschwommen, sein Gehirn sendete Signale, die auf dem Weg zu seinen Beinen verlorengingen. Es war ein Wunder, dass er ohne Zusammenprall den Weg zur Garderobe fand.
Als er vor den Eingang trat, legte sich die Kälte um ihn wie ein Mantel aus Dornen. Es kam ihm nicht wie Oktober, sondern wie Mitte Dezember vor. Er blickte auf die Uhr und benötigte einige Momente, um die Position der Zeiger unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne richtig zu deuten. Fast halb drei Uhr früh.
Die breite Himberger Straße war beinahe menschenleer. Ein paar betrunkene Gäste der Disco taumelten noch darauf herum, in der Ferne waren vereinzelt Motorengeräusche und Lachen zu hören. Er blickte sich um. Wo konnte sie sein?
Ziellos begann er, die Himberger Straße stadteinwärts, in Richtung Favoritner Zentrum, zu gehen. Nur wenige Meter von der Disco entfernt lag die Straße verlassen vor ihm. Wie eine Oase des Lichts ragte linker Hand eine Tankstelle aus der Dunkelheit. Das Licht zog ihn magnetisch an.
Er fokussierte seinen Blick, und dann sah er sie: Ein paar Meter neben der Tankstelle war eine Telefonzelle. Und in dieser Telefonzelle stand sie. Die junge Frau mit den blonden Locken und dem bordeauxroten Rollkragenpullover, mittlerweile unter einer Lederjacke versteckt. Xandi. Alexandra?
Zaghaft ging er auf die Telefonzelle zu. Sein Kopf fühlte sich taub an. Er dachte nicht daran, wie das Bild auf sie wirken würde: ein nach Alkohol riechender Fremder, der mitten in der Nacht an eine Telefonzelle klopfte. In seinen Gedanken überwog die Gewissheit, dass sie ihn verstehen würde, dass sie ihn erkennen würde. Er war völlig fasziniert von ihr. Wie konnte ihr das nicht gefallen?
Er war nur noch wenige Meter von der Telefonzelle entfernt, sie hatte ihren Blick auf das schwarze Telefon gerichtet und bemerkte ihn nicht. Er war nun so nah, dass er sie hören konnte.
»Es ist so lieb von dir, dass du mich so spät noch abholen kommst. Sicher, dass es keine Umstände macht?«, sagte sie, und ihre Stimme war so, wie er sie sich vorgestellt hatte: weich, warm, verständnisvoll. »Du bist der Beste. Ich freu mich auch schon sehr, dich zu sehen. Ja, die Tankstelle beim Azzurro. Bis gleich«, sagte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ja, ich dich auch. Bussi, Georg.«
Sie hängte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Instinktiv sprang er zur Seite, hinter eine Plakatwand. Er hörte, wie ihre Absätze über den Asphalt klapperten und ihre Schritte sich langsam entfernten.
Er fühlte sich mit einem Mal ausgenüchtert. Als hätte ihm jemand einen Faustschlag versetzt und seinen Kopf danach in Eiswasser getaucht. Wer war dieser Georg? War das etwa ihr Freund? Doch wenn er ihr Freund war, wenn er sie liebte, wieso ließ er sie dann allein in eine Diskothek gehen? Wo doch jeder wusste, dass junge Frauen, besonders so schöne wie sie, unzähligen Gefahren ausgesetzt waren. Sie konnten angegriffen, ausgeraubt, verletzt oder, am schlimmsten, verführt werden. Hätte er so eine wunderschöne Freundin – wäre sie seine Freundin – er würde sie sicherlich nicht alleine ausgehen lassen. Er würde sie vor anderen Männern beschützen. Diesem Kerl war offenbar völlig egal, was sein Mädel spätnachts trieb. Das war für ihn Beweis genug, dass sie ihm nicht wichtig sein konnte. Sie hatte etwas Besseres verdient. Jemanden, der ständig auf sie aufpasste, der nicht von ihrer Seite wich, der sie keine Sekunde vergessen ließ, wie schön und schützenswert sie war. Jemanden wie ihn. Jemand, der sie nicht ausnützte, dem sie nicht egal war.
Langsam trat er hinter der Plakatwand hervor und in den Halbschatten, den die Tankstelle auf den Asphalt warf. Sie war etwa zwanzig Meter vor ihm. Sollte er sie vor diesem Typen warnen, der es offensichtlich nicht gut mit ihr meinte? Sollte er ihr beweisen, dass er viel mehr für sie tun würde? Dass er sie nicht so ungeschützt mitten in der Nacht eine leere Straße hinabspazieren lassen würde? Dass sie die Frau seiner Träume war?
Er musste sich schnell entscheiden. Nur noch wenige Augenblicke, und die Dunkelheit, die hinter den Kastanienbäumen begann und die Straße genauso wie die parkenden Autos in ein Reich jenseits seiner Kontrolle zog, würde sie verschlucken. Schon jetzt waren ihre blonden Locken, ihr wippender Gang, fast nicht mehr als ein flüchtiger Traum.
Er musste sich schnell entscheiden, sonst würde sie für immer fort sein.
PULLOVER
2000
Donnerstag, 14. September
Berggasse, Wien-Alsergrund
Das Hemd klebte an meiner Brust. Ich warf einen Blick zum Fenster, um sicherzugehen, dass es auch wirklich geöffnet war. Was kurzfristig Erleichterung versprochen hatte, war mittlerweile der Grund, dass sich mein Büro in einen spätsommerlichen Hochofen verwandelte.
Es war Donnerstagnachmittag, und ich war den ganzen Tag mit dem Lesen, Korrigieren und Genehmigen von Akten beschäftigt gewesen. Nicht gerade die spannendste Arbeit für einen Polizisten. Und dennoch sah meine Hauptbeschäftigung genau so aus.
Als stellvertretender Vorstand des Sicherheitsbüros, der Zentralstelle der Wiener Kriminalpolizei, zuständig für schwere Straftaten, wurde ich von allen Referaten über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten und überwachte, ob auch keine Ermittlungsfehler begangen wurden. Seit fast zehn Jahren hatte ich diesen Posten jetzt schon inne, und mit jedem Jahr hatte ich mich etwas weiter von der Ermittlungsarbeit des Kriminalbeamten entfernt und zur Verwaltungsarbeit bewegt. Eine ausgesprochen wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, doch wie gut ich sie auch ausführte, sie war niemals mit dem Gefühl zu vergleichen, sich durch undurchsichtige Motive und scheinbar wasserdichte Alibis zu kämpfen.
Ich schloss den letzten Akt für heute. Es handelte sich um ein Drogendelikt. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten wir mit der großangelegten Operation Spring einen Drogenring aus Nigeria hochgehen lassen. Es war das Ende eines langen und langwierigen Kampfes gegen den Handel mit Rauschgift, der in den neunziger Jahren aufgekommen war. Noch immer mussten wir uns mit den Nachwehen herumschlagen. Es war eine zermürbende Arbeit, denn Kokain und Heroin waren Waffen, die sehr viel langsamer wirkten als Messer oder Pistolen. Sie brachten einen schleichenden Tod, der ein Leben nicht auf einen Schlag auslöschte, sondern langsam zerrieb. Vor allem junge Menschen waren betroffen, nicht selten wurde vor Schulen oder Spielplätzen gedealt. So wichtig die Bekämpfung von Drogenkriminalität war, so wenig lag sie mir.
In dieser Hinsicht war das vergangene Jahrzehnt besser gewesen. Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt der Banküberfälle gewesen. Bankräuber waren vielschichtig, vom hochverschuldeten Amateur, der aus Verzweiflung eine Bank ausraubte, bis zum Berufskriminellen war alles dabei. Kein Raubüberfall glich dem anderen, jedes Mal sah man sich neuen Herausforderungen ausgesetzt, und während die Überfälle immer verwegener wurden, mussten auch wir immer schneller handeln. Die Achtziger waren also das Jahrzehnt der Bankräuber gewesen, die Neunziger das der Drogen.
Was stand uns wohl im nächsten Jahrzehnt bevor?
Ich stand auf und trat zum Fenster. Als ich es schließen wollte, hielt ich inne und blickte aus dem ersten Stock auf den Donaukanal hinab, der hinter der Rossauer Lände vorbeizog. Das leise Brummen von Motoren und Gesprächsfetzen wurden von Hitzewellen heraufgetragen. Eine Trägheit schwappte mir entgegen, die man nur zu leicht mit Ruhe verwechseln konnte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich eine Gruppe junger Leute gehen, sie lachten und trugen Schilder, zwei von ihnen schleppten sogar ein zusammengerolltes Banner. Ich konnte lesen, was auf den Schildern stand. »Gegen ein rechtsextremes Österreich«, war auf einem zu lesen, auf dem anderen: »Nieder mit Schwarz-Blau.«
Die Plakate erinnerten mich daran, wie turbulent dieses Jahr gewesen war. Von Ruhe konnte da keine Rede sein. Seit Februar gab es nach langen, schwierigen Koalitionsverhandlungen eine Regierung aus der konservativen ÖVP und der rechten FPÖ. Das hatte nicht nur in der Gesellschaft für ein kleines Erdbeben gesorgt, sondern auch bei der Polizei.
Seit Monaten waren unsere Leute im Dauereinsatz, um die wöchentlich stattfindenden Donnerstagsdemonstrationen gegen die Regierung zu begleiten. Mittlerweile war die Teilnehmerzahl zurückgegangen, aber wir mussten ständig mit neuen, kreativen Aktionen der Demonstranten rechnen.
Dabei waren die Zeiten innerhalb der Polizei nicht weniger stürmisch als auf den Straßen der Republik. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es eine politische Gewichtung innerhalb der Polizei, die so unumstößlich wie inoffiziell war. Die Gendarmerie auf dem Land war schwarz, also ÖVP-nah, die Polizei in Wien war rot, hatte also eine Nähe zur Sozialdemokratischen Partei. Diese Verteilung war so normal geworden, dass wir fast schon vergessen hatten, dass es sie überhaupt gab.
Doch mit einem Schlag war alles anders geworden. Der neue Innenminister Ernst Strasser hatte einiges vor: Er wollte Gendarmerie und Polizei zusammenlegen, das Polizeiwesen modernisieren, ein Bundeskriminalamt und ein Bundesamt für Verfassungsschutz einrichten. Jeder, egal wie ranghoch, musste sich um seinen Posten neu bewerben. Angst hatte sich in unseren Gängen breit gemacht. Wer würde nächstes Jahr noch dort sein, wo er heute war?
Selbst beim Chef war Anspannung zu spüren. Max Edelbacher, von allen außer Hörweite nur Edelmax genannt, sonst ein angenehmer Vorgesetzter, der einen stets mit einem Lächeln begrüßte, eilte dieser Tage mit sorgenvoller Miene von einer Besprechung zur nächsten. Andere Zeiten zogen auf. Immer wieder waren die Worte »Abbau« und »Zusammenlegung« zu hören. Der Polizeiapparat sollte »effizienter« gestaltet werden. Dass dabei auch gleich ein paar Führungspositionen verändert werden würden, konnte man sich denken. Und Edelbacher als alter Sozialdemokrat, der mit Kritik an politischem Vorgehen nicht hinterm Berg hielt, passte nicht in die Pläne der neuen Regierung.
Dabei war er eine Institution im Haus, er leitete »die Berggasse«, wie die Zentrale des Sicherheitsbüros in der Berggasse genannt wurde, schon eine gefühlte Ewigkeit. Er brachte unglaubliche Kompetenzen mit und war bereits vor vielen Jahren in den USA gewesen, um sich bei der Chicago Police etwas für die österreichische Polizeiarbeit abzuschauen. Mit seinem buschigen Schnauzer und der fliehenden Stirn war er nicht nur eine auffällige Erscheinung, sondern auch ein angenehmer Chef, vernünftig und interessiert an neuen Entwicklungen, doch ihm fehlte das diplomatische Fingerspitzengefühl, das man in solchen Zeiten brauchte. Wenn selbst sein Sessel wackelte, wer war dann noch sicher?
Ich zwang meine Gedanken in die trockene Luft meines Büros zurück. Vielleicht sollte ich mich um ein paar Pflanzen bemühen. In meinem großen Büro dominierte ein schwerer, alter Eichenholzschreibtisch den Raum, ein Computer thronte darauf. Vor wenigen Jahren hatte er die elektrische Schreibmaschine abgelöst, und ich hatte mich immer noch nicht ganz an diese neue Technologie gewöhnt.
Graue Büromöbel, der klassische Beamtenstil, und ein paar Aktenschränke vervollständigten den Raum. Nicht besonders imposant, aber alles, was ein guter Polizist brauchte. Dieser Tage wurde viel zu viel Energie auf politische Scharmützel verwendet und viel zu wenig für ehrliche Polizeiarbeit.
Ich nahm mein Sakko, das ich heute nicht länger als nötig angehabt hatte, und legte es mir über den linken Unterarm. In der rechten Hand trug ich meinen Aktenkoffer. Als ich in den Vorraum trat, blickte Trudi, meine Sekretärin, auf. Seit meiner Beförderung zum stellvertretenden Leiter war sie zu meiner fleißigsten Mitarbeiterin geworden. Sie verfluchte die moderne Technik mindestens genauso oft wie ich, doch im Gegensatz zu mir schaffte sie es mit Hartnäckigkeit und Geduld, sich jeden Computer untertan zu machen.
»Sie machen Schluss für heute?«, fragte sie.
»Ja, sieht so aus«, antwortete ich. Ich wollte schon durch die Tür auf den Gang treten, da rief sie mich noch einmal zurück.
»Ich soll Sie daran erinnern, noch eine Flasche Wein zu besorgen«, sagte sie pflichtbewusst. »Blaufränkisch, wenn möglich. Fürs Abendessen heute. Ihre Frau hat angerufen.«
Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Danke, Trudi«, sagte ich. Ich nickte ihr zu und schloss leise die Tür hinter mir.
Die langen Nächte, in denen ich mit Kollegen über mögliche Tathergänge und Verdächtige nachgedacht hatte, und aus denen wir mit dem unwiderstehlichen Körperduft aus Kaffee und Zigaretten am nächsten Morgen durch die Bürokorridore streiften, waren in den letzten Jahren ruhigen und entspannten Abenden mit meiner Frau Eva gewichen. Die meiste Zeit genoss ich diese Insel der Ruhe, die völlig frei von den Schrecken und menschlichen Abgründen war, die mich in meiner Arbeit ständig begleiteten. Es war heilsamer als irgendeine andere bekannte Verarbeitungsstrategie, sei es Psychotherapie oder Alkohol.
Aber an manchen Tagen packte mich eine Schwermut, und ich dachte an die Tage im Mordreferat zurück. Wir waren zu oft überspannt gewesen, ständig mussten wir gegen die Zeit arbeiten, doch die Aufregung wirkte wie ein Rausch. Nach meiner Beförderung zum stellvertretenden Vorstand des Sicherheitsbüros war es mir zumindest gelungen, meinen Posten als Leiter der Mordkommission zu behalten. Wenigstens blieb ich so immer auf dem neuesten Stand und konnte meine Überlegungen bei Ermittlungen einbringen, aber die Laufarbeit blieb mir meistens erspart.
Ich trat durch das schwere Tor der Berggasse ins Freie. Ein leichter Windstoß empfing mich und befreite mich von den letzten Resten Melancholie. Ich nahm mir vor, durch den Votivpark und die Alser Straße hinaufzuspazieren. In der Lange Gasse gab es eine kleine Vinothek, in der sich bestimmt ein guter Blaufränkischer würde finden lassen.
Langsam durchquerte ich den Park, in dem Studenten auf der Wiese lagen und die sich langsam zurückziehenden Sonnenstrahlen genossen.
Für eine Weile ließ ich meinen Blick auf den neugotischen Türmen der Votivkirche ruhen. Sie erinnerte mit ihrem kargen Sandstein und den spitz zulaufenden Streben an ein Skelett. Und tatsächlich wurde ihr Bau gewissermaßen mit einer Leiche bezahlt. 1853 versuchte ein ungarischer Schneider, Kaiser Franz Joseph bei einem seiner Spaziergänge zu erstechen, nachdem der Kaiser Aufstände in Ungarn brutal niedergeschlagen hatte. Das Attentat scheiterte und aus Dank für des Kaisers unversehrte Gesundheit wurde die Votivkirche erbaut.
Der Schneider, János Libényi, wurde natürlich kurz darauf gehängt. Die Exekutive arbeitete damals eben noch mit anderen Mitteln.
Ein Klingeln ließ mich innehalten. Kurz blickte ich desorientiert durch die Gegend, bis ich bemerkte, dass das Geräusch aus meiner Hosentasche kam.