Angst am Abgrund: Amalfi-Krimi mit Rezepten
Von Ben Faridi
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Buchvorschau
Angst am Abgrund - Ben Faridi
Fromm
Sonntag, 26. August
Jefferson war kein Mensch, der Angst vor etwas hatte. Er war sehr, sehr reich und hatte in seinem Leben so viel erlebt, dass er glaubte, es gäbe kaum Situationen, in denen er Angst haben würde. Vor diesem Mann hatte er Angst. Es war nicht die große Narbe, die quer über sein Gesicht lief. Es waren seine Augen. Sie waren ohne Leben, nahmen nicht Anteil an dem, was um ihn herum geschah.
Jefferson war mit dem Mann alleine in einer Höhle. Es war sehr dunkel, nur eine Fackel verbreitete flackerndes Licht, das an der Höhlenwand Schattenspiele erzeugte. Jeffersons Hände waren auf seinem Rücken mit einem Kabelbinder eng zusammengeschnürt. Er spürte seine Finger schon eine Weile nicht mehr.
Die rauchige Stimme des Mannes war vollkommen monoton und verbreitete in der Höhle eine eisige Kälte.
»Hast du geglaubt, dass du mit dieser Geschichte alleine durchkommst, so nah bei Neapel. Wir werden das Land verändern und du wirst uns nicht im Weg stehen.«
»Eure Zeit ist vorbei«, antwortete Jefferson. »Lange schon. Von mir werdet ihr nichts bekommen.«
Eigentlich wusste Jefferson, dass seine eigene Zeit vorbei war. Dennoch wollte er zeigen, dass er zu keinerlei Kooperation bereit war. Der Mann griff in die Innentasche seines Mantels und zog einen Revolver hervor. Jefferson hoffte, dass es schnell gehen würde.
Der Mann stellte sich direkt vor Jefferson und hielt die Waffe an seine Stirn. Jefferson spürte die Metallkugel, die seinen Schädel durchschlug, nicht mehr. Und er bemerkte nicht mehr das Ausstechen seiner Augen, nicht das Abschneiden seiner Finger und auch nicht den tiefen Fall und harten Aufschlag, der ihm das Genick, seine Oberschenkel und den Brustkorb brach. Für ihn spielte es keine Rolle mehr. Seine Angst war vorbei.
Am Rande des steilen Felsabhangs stand der Mörder in einem dunklen Mantel und hörte regungslos, wie der Körper dumpf aufschlug. Der Mann unterschied sich kaum von der Dunkelheit des Abhangs, an dem er stand. Das hagere Gesicht war untypisch für diese Gegend, ebenso wie der schwarze Mantel. Die Perfektion passte nicht in das südliche Italien.
Es war das erste Mal, dass er sich bei einem Auftrag unsicher fühlte. Er musste dem Opfer in den Kopf schießen und seinen Körper malträtieren. Denn es ging hier um ein Ritual. Der Mensch, der vom Weg Gottes abkam und in die Tiefe stürzte. Dafür musste der Körper unbedingt auf diesen gut einsehbaren Weg gebracht werden.
Abschließend überprüfte er mit einem Nachtsichtgerät nochmals, ob ihn jemand beobachtet haben könnte. Dann ging er zu seinem Wagen zurück und verschwand in der Dunkelheit.
Montagnachmittag, 3. September
Schon nach der ersten Haarnadelkurve war ihm schlecht. Jao Baptista wurde von einem amalfitanischen Polizisten namens Gianluca Festevola am Flughafen in Neapel abgeholt. Festevola blickte mit seinen dunkelbraunen Augen, die durch eine riesige dünne Nase getrennt waren und bei der man das Gefühl hatte, sie könnte die Sonne verdecken, unruhig zum Ausgang des Terminals. Da Gianlucas Cousine in den Wehen lag, übersprang der Italiener das übliche Espressotrinken sowie andere Höflichkeiten und stieg mit seinen schlaksigen langen Beinen rasch in den Fiat Punto ein, noch während Baptista sein schweres Gepäck in den Kofferraum packte.
Sobald die Türen geschlossen waren, fuhr er zügig vom Flughafen in Richtung der Bergstraße, die über Agerola und Furore nach Amalfi führte. Baptista konnte recht gut Italienisch sprechen, da er als Kind und Jugendlicher mit seinen Eltern in Europa mehrfach umziehen musste und dabei einige Jahre in Italien verbracht hatte. Aber die Worte schienen ihm alle entfallen zu sein, als Festevola mit immer höherer Geschwindigkeit fuhr. Für einen Ortsunkundigen war die Straße durch das Gebirge unübersichtlich. Man konnte den entgegenkommenden Verkehr nur ahnen, nicht sehen. Darüber hinaus schien es in den Kurven so eng zu sein, dass selbst zwei Kleinwagen kaum aneinander vorbeikommen dürften. Doch Gianluca Festevola fuhr auf dieser Straße, als gäbe es solche Einschränkungen einfach nicht.
Für einen Moment schloss Baptista seine Augen und hoffte dadurch, keine weiteren Panikanfälle bei heranrasenden Reisebussen zu bekommen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Nach rund vierzig Minuten kamen sie am Stadtrand von Amalfi an, parkten vor einem der Palazzi und Festevola sprang eine Treppe in das erste Stockwerk hinauf. Baptista öffnete dagegen scheinbar in Zeitlupe die Beifahrertür, hievte seinen unbeweglichen und zu dicken Körper aus dem kleinen Wagen und musste sich sofort übergeben, weil ihm die Autofahrt auf den Magen geschlagen war. Schnaufend stand er einige Minuten da und atmete einfach nur. Dann säuberte er sich den Mund mit einem Taschentuch.
Eigentlich wollte er seinen Kollegen alles Mögliche gefragt haben, aber die Höllenfahrt hatte jedes Gespräch verhindert. Immerhin ging es um einen bestialischen Mord an einem reichen Engländer. Der Mord war so bestialisch und der Engländer so reich, dass Baptista überlegte, ob er der richtige Ermittler für diesen Fall war. Aber sein Chef war in diesem Punkt unmissverständlich deutlich gewesen.
Da die Spuren der Ermittlung quer durch Europa führten, wurde der Fall an die Sonderkommission der Europol weitergeleitet, für die Baptista arbeitete. Sofern sich in einem Kriminalfall die lokalen oder Landesbehörden nicht zuständig fühlten oder aus anderen Gründen nicht ermitteln konnten, wurde Baptistas Sonderkommission mit den Ermittlungen beauftragt. So kam es, dass Baptista sich im Spätsommer an der Amalfiküste wiederfand, die sich von Neapel nach Salerno zog und in deren Mitte sich das Städtchen Amalfi befand. Die kleine Stadt lag in einem engen Tal. An beiden Seiten strebten Berge steil in den Himmel. Die Stadt zog sich bis hinunter zum Meer und ergoss sich dort in einen Hafen, an dem viele Yachten Zwischenstation machten, wenn die Hautevolee der ganzen Welt von Positano oder Capri aus ihre Ausflüge startete.
In der Mitte des Tals verlief eine Straße, an deren beiden Seiten sich in unerträglicher Enge ein Wirrwarr an Häusern die Berge hochzog. Ohrenbetäubender Lärm hupender Autos und überlauter Reisegruppen, es war faszinierend und abstoßend zugleich. Nur wenige Meter davon entfernt stand Baptista über einem Abwasserkanal und versuchte sich an die Situation zu gewöhnen. Eigentlich badete er in Selbstmitleid. Ein herzzerreißender Schrei gellte durch die schmalen Gassen und weckte Baptista aus seinem Zustand. Kurz darauf folgte ein kleiner, nicht minder bewegender Schrei. Das Baby war geboren. Eine Hausgeburt, bemerkte Baptista überrascht mit nun etwas klarerem Kopf.
Er wusste nicht, ob er hinaufgehen und gratulieren sollte. Das Thema »Geburt« war ihm suspekt. Er hatte keine Kinder und war auch sonst Blut, Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten gegenüber sehr distanziert. Außerdem erinnerte es ihn daran, dass ihn zwei Frauen verlassen hatten, weil er keine Kinder wollte.
Da Festevola nicht herunterkam und Baptista nicht hinaufwollte, entschloss er sich, einen Kaffee zu trinken. Er lief wenige Schritte durch die enge Straße, wurde zweimal von Vespas zur Seite gehupt und setzte sich vor eine Bar. Er hatte sich in Erwartung des üblich heißen Wetters in Italien sehr sommerlich angezogen. Doch der kühle Wind in der Abenddämmerung zwischen den steilen Hängen von Amalfi ließ ihn frösteln. Trotzdem wollte er nicht in die Bar hineingehen, da Festevola ihn sonst nicht finden würde. Die Bedienung war ein schlanker, junger Mann mit schwarzen, gegelten Haaren. Er sah Baptista herablassend aus seinen hervorquellenden, übergroßen Augen an und zog lediglich die Augenbrauen fragend nach oben.
Als Baptista ebenfalls die Augenbrauen fragend nach oben zog, fragte der Kellner: »Expresso or Coffee?« Dabei entblößte er ein Gebiss, das nur vereinzelt Zähne enthielt. Baptista hatte eine leichte Gänsehaut, gleichzeitig ärgerte er sich. Obwohl sein Italienisch nicht besonders gut war, wusste er, dass mit dieser Formulierung nur Touristen belästigt wurden. Denn Italiener bezeichnen den Espresso immer als Caffè. Die Bedienung wartete noch, schien aber schon zu überlegen, ohne Bestellung wieder zu gehen.
Jao Baptista entschied sich für den Caffè. Irgendwie schien ihm die Situation abwegig. Er war schließlich kein Tourist, konnte sehr gut Italienisch und war dienstlich hier. Aber weder seine äußere Erscheinung noch seine innere Haltung ließen Menschen besonderen Respekt vor ihm zeigen. Das war er gewohnt.
Ein eigenartiger Ort, dachte Baptista, während er auf seinen Caffè wartete. Was mochte Menschen wohl früher bewegt haben, hier sesshaft zu werden? Aber es gab auf dem rund 50 Kilometer langen Küstenabschnitt zwischen Neapel und Salerno nicht nur Amalfi, sondern eine Vielzahl an kleineren und größeren Siedlungen. Insbesondere die Städte Positano und Amalfi der Costiera Amalfitana waren berühmt für den internationalen Jetset und sorgten für abstruse Preise im ansonsten eher einfachen und günstigen Süden Italiens.
Ein eigenartiger Ort für einen Mord. Der Tote hieß Jefferson und wurde vor einer Woche fünfzig Meter tief auf einen Felsen geworfen. Doch er erlebte den schrecklichen Sturz nicht. Denn zuvor bekam er eine Kugel in den Kopf geschossen und wurde laut Aktenlage gefoltert.
Baptista wusste von Jefferson lediglich, dass er Partner in einer Private Equity Gesellschaft namens Powerstream war. Und dass Jefferson sehr, sehr reich war. Er besaß einen Privatjet, mehrere Anwesen auf unterschiedlichen Kontinenten und das im zarten Alter von fünfundvierzig Jahren. Immerhin diese Eigenschaft passte zur Costiera Amalfitana.
Während Baptista fröstelnd auf den Caffè wartete, wurde ihm bewusst, dass er sich zwar auf längere Ermittlungen eingestellt und seinen großen Reisekoffer vollgepackt hatte, allerdings nur mit Sommersachen. Eine Erkältung war vorprogrammiert.
Mit einem unglaublich ignoranten Blick brachte ihm der Kellner schließlich den Caffè. Es war nur ein winziger Schluck in der Tasse. Das kleine Tütchen Zucker, das er hineinschüttete, verdoppelte den Inhalt schlagartig. Dann kitzelte ein lakritzartiger Geschmack seinen Gaumen und sein leerer Magen begann, wild gegen den Koffeinschub zu rebellieren.
In diesem Augenblick trat Gianluca Festevola überglücklich aus der Haustür und rief Baptista quer über die Straße zu: »Ein Junge!«
Er klatschte in die Hände und sah verklärt in den Himmel. Dann setzte sich Festevola zu Baptista und bestellte sich mit einer kurzen Handbewegung einen Caffè, der ihm nur wenige Sekunden später von dem gleichen Kellner mit einer freundlichen Geste serviert wurde.
»Giovanna hat einen Sohn bekommen«, sagte er noch einmal beglückt.
»Wie soll er denn heißen?«, fragte Baptista, um überhaupt etwas zu sagen.
»Filippe Alessandro«, sagte Festevola begeistert, als wäre es sein eigener Sohn. »Du musst meine Cousine Giovanna unbedingt kennen lernen. Sie ist eine großartige Frau. Ich werde dann wohl Taufpate werden.«
Obwohl Italiener in Amtsdingen zu ausufernder Höflichkeit und überbordenden Titulierungen von allem und jedem neigen, duzte Gianluca ihn sofort. Vielleicht war es der amalfitanische Überschwang oder auch nur der stolze Moment eines Taufpaten.
»Hast du auch Kinder?«, fragte er Baptista.
Da war sie wieder, Baptistas Lieblingsfrage. Er schüttelte den Kopf energisch und wechselte das Thema.
»Ich würde mich gerne umziehen und etwas frisch machen«, sagte Baptista.
»Gerne, gehen wir.«
Festevola goss den winzigen, starken Caffè hinunter, legte einige Münzen auf den Tisch und verabschiedete sich überschwänglich von mindestens zehn Männern, die im Inneren der Bar an der Theke standen und denen er allen im Gehen noch lauthals von draußen über die erfolgreiche Geburt berichtete. Dann ging er mit Baptista zum Wagen.
Er hupte kurz, als er losfuhr, und wählte erneut eine Strecke, die Baptista kalten Angstschweiß auf die Stirn trieb. Sie fuhren mitten über die Hauptstraße. Es wimmelte rechts und links von Touristen, die sich in Busstärke durch den Ort quetschten, und Vespas, die – ohne die geringste Notiz von Kindern und Alten zu nehmen – verbotenerweise in der Gegenrichtung an ihnen vorbeifuhren.
Irgendwie bewältigte Festevola den Weg, ohne auch nur nervös zu werden, und bog dann mit zwei gezielten Rangierzügen in eine winzige Steilstraße ein. Schließlich hielt er auf einem Parkplatz, der genau für diesen Wagen in den Fels gehauen schien, und stieg beschwingt aus.
»Ich gehe vor«, sagte er und nahm das Gepäck von Baptista.
Im ersten Moment wollte