Jenes hügelige Sein: Leben, Tun und Denken
Von Hans Haumer
()
Über dieses E-Book
Hans Haumer zieht zu seinem 80. Geburtstag Bilanz: Beruflich stets der Welt der Banken und der Wirtschaft verbunden, zieht sich eine große Faszination für das Wesen des Menschen, humanistisch geprägte Wissbegierde und die Liebe zur Kunst wie ein roter Faden durch alle seine Lebensstationen. Sein Buch ist eine "Lebenspoesie" des Erzählers, sein Tun und Denken als aktiver Zeitzeuge spannend und überraschend. Sein Streben nach wertvollem Leben und sinnvoller Leistung gründet dabei auf einer Philosophie der Hoffnung und des Vertrauens in das Leben: mentaler Impfstoff gegen die vielen Bedrohungen der menschlichen Gesellschaft und unseres Planeten. Ein sehr persönliches Buch mit geschichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Relevanz.
Ähnlich wie Jenes hügelige Sein
Ähnliche E-Books
Erinnerungen: Erlebt - Gelebt - Überlebt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie grüne Fee Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAhnensog 2: 200 Jahre nach Georg Kerner Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMeine Epoche Ost: Eine autobiografische Erzählung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenStefan Zweig: Die Welt von Gestern, Brasilien, Reise nach Rußland & Reisen in Europa Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch hätte dich gebraucht: Nachkriegsgeschichten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Schatten unserer Nachbarn: Mord, Vertreibung und andere Niedlichkeiten. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWir teilen den Himmel: Gewagter Sprung von West nach Ost – Liebe in Zeiten des Kalten Krieges Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenStufen: Aphorismen und Tagebuchnotizen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEinmal und nie wieder: Lebenserinnerungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTraum mancher Tage Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKein schöner Land ...: Biografische Skizzen, Notizen, Erinnerungen, Erzählungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenErinnerungen und Reisen: Die Welt von Gestern + Brasilien + Reise nach Rußland + Reisen in Europa Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers - Das goldene Zeitalter der Sicherheit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Krieg sitzt mit am Mittagstisch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch habe nichts mehr nachzutragen: Die christlichen Texte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLebe, lache, liebe ... und sag den Sorgen Gute Nacht! Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCredo?! Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMemoiren der Friedensaktivistin und Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBlühende Zeiten - 1989 etc.: Zeitreise-Roman Band 6 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLieben und geliebt werden: Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBertha von Suttner: Memoiren Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVon den Ufern der Memel ins Ungewisse: Eine Jugend im Schatten des Holocaust Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenStefan Zweig: Autobiographische Werke Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Liebe der Erika Ewald und andere Novellen: Verwirrung der Gefühle, Der Stern über dem Walde, Vergessene Träume, Geschichte in der Dämmerung… Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAls wir noch Götter waren im Mai: Ein deutsches Leben überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus meinem Jugendland Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Persönliche Memoiren für Sie
Unterm Rad Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Überrascht von Freude: Eine Autobiografie Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die verlorene Generation: Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenStefan Zweig: Die Welt von Gestern Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBriefe an einen jungen Dichter Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Die Welt von Gestern Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Leben zeichnen: StricheLinienKonturen – Das graphische Werk Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWir waren keine Menschen mehr: Erinnerungen eines Wehrmachtssoldaten an die Ostfront Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Seelenvernichter: Missbrauch im Klassenzimmer Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenJulia Pink im Beach Club St.Tropez Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenÜber Ludwig Börne Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLandsknecht oder idealistischer Trottel?: Als Gebirgsjäger im Gebirgsjäger-Regiment 100 - Teil II Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSternstunden der Menschheit: Historische Miniaturen. Klassiker der Weltliteratur Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Schattenfamilien: Tief muss man graben, um das Licht hinter euren Schatten zu entdecken Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenScivias - Wisse die Wege: Die Visionen der Hildegard von Bingen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGedanken und Erinnerungen: Die Autobiografie von Otto von Bismarck Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWie ich ICH wurde: Der Weg meiner Traumaheilung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie wichtigsten Psychologen im Porträt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Geheimnisse der Liebesmagie: 10 x 13 lichtvolle Rituale Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie unendliche Geschichte des Christian Wink Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHenri Nouwen - Mit Leidenschaft für das Leben: Vorwort von Anselm Grün Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSumaya: Die Zeit der Frauen ist gekommen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen1000 Tage an der Ostfront: Das Das Kriegstagebuch meines Vaters 1940 - 45 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNur raus hier!: 18 Geschichten von der Flucht aus der DDR. 18 Geschichten gegen das Vergessen. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen(Un)Glückstadt - Hölle Heim: Das Schicksal von Gerd Meyer Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie wichtigsten Pädagogen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein (un)wertes Leben: Eine Biografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnter Palmen aus Stahl: Die Geschichte eines Straßenjungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKrebs sei dank: Wie ich durch den Krebs über mich hinaus wuchs Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Jenes hügelige Sein
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Jenes hügelige Sein - Hans Haumer
KRIEG UND FRIEDEN
WEIHNACHTEN 1943
Als wir im letzten Frühling durch den Wald wanderten, den frühen Abend und die Stille dankbar genießend, da hast du plötzlich zu mir gesagt: Möchtest du mir nicht aus deinem Leben erzählen? Ich habe gezögert und dir geantwortet: Nicht jetzt, Constanze, aber vielleicht später. Dann, wenn ich die Zeit dazu gekommen sehe. Nun fühle ich, sie ist reif, und ich will deinen Wunsch erfüllen. Aber du weißt ja, ich rede manchmal zu viel, ich streue zu viel Spreu ins lockere Gespräch und fabuliere gerne über Gott und die Welt, wie man so sagt. Ich weiß, hast du geantwortet, aber ich möchte doch und gerne erfahren, was du erlebt hast, was du getan und wie du gedacht hast, was für dich wirklich wichtig war? So sind wir damals schweigend zurück ins Haus gegangen. Jetzt, im späten Herbst, sind die langen Abende gerade recht, um, wie Rilke so schön dichtete, lange Briefe zu schreiben – oder eben Geschichten darüber zu erzählen, was war und was bleibt. Ich will versuchen, Constanze, Erlebnisse und Gedanken im milden Licht des Abends so darzustellen, dass du sagst: Jetzt habe ich dich erst wirklich kennengelernt.
Der Anfang ist ernst und traurig, aber er war ungeheuer wichtig für den Eintritt in die Wirklichkeit der Welt. Diese furchtbare Ur-Erinnerung im Alter von drei Jahren hat mein späteres Leben wohl mehr beeinflusst, als mir selbst heute klar ist. Es war der Weihnachtsabend 1943, als mein Vater endgültig in einen Krieg hineingestoßen wurde, den er ablehnte, ebenso wie den „Führer, der das neue an sich zweifelnde und politisch zerrissene Österreich erst kurz davor „heim ins Reich
geholt hatte. Er musste einrücken und sich von seiner kleinen, jungen Familie verabschieden, mit der er so glücklich war. Ich erinnere mich lebhaft, dass er nicht und nicht zum Tor hinauswollte, lieber desertieren, sich verstecken, in den Widerstand gehen wie manche Verwandte von uns. Aber meine desperate Mutter, mit zwei Kleinkindern an der Kittelfalte, brachte ihn mit einem schluchzenden Satz von seinem Vorhaben ab, den ich mein Leben lang nicht vergessen kann: Du musst gehen, sonst bringen sie uns alle um! Also ging er. Traurig, gottergeben schloss er das Haustor hinter sich. Und kam nie wieder.
Meine Mutter hatte als Dienstmädchen in einem jüdischen Haus wenige Jahre davor erleben müssen, dass sich ihr Arbeitgeber aus Verzweiflung über den „Anschluss am Türstock erhängte. Und am Heiligen Abend 1943, Constanze, wurde eine unschuldige Familie ins Mark getroffen wie so viele andere und wurde eingefügt in dieses reale Bild der Hölle, die dieser „größte Feldherr aller Zeiten
größenwahnsinnig als Höllenfürst befeuerte.
Mein Vater schrieb jeden Tag Feldpostbriefe voll Hoffnung und Flucht ins Alltägliche, aber mit dem Orgelpunkt einer tiefen Verzweiflung über den Wahnsinn des Krieges. Sein letzter Brief aus Odessa kam Ende August 1944 und enthielt ein kurzes Gedicht über den Soldatentod. Er, der Soldat wider Willen, kam als Kriegsgefangener auf einem Vernichtungsmarsch nach Sibirien um. Wir konnten nie herausfinden, wo und wie er starb, ob er begraben wurde, wo er Ruhe fand. Noch Jahre danach ging meine Mutter, immer wenn Züge mit Heimkehrern angekündigt wurden, zum damaligen Ostbahnhof in Wien, voll des Glaubens, ihren Mann und unseren Vater wieder in die Arme schließen zu können. Sie wartete vergeblich, opferte sich für meine jüngere Schwester Maria und mich auf und war ein Vorbild der selbstlosen Nächstenliebe.
Ich habe auch noch andere Erinnerungen an diesen Krieg. Je näher sein Ende kam, desto öfter kamen die Bomben. Wir waren immer wieder gezwungen, nach dem Alarm der Sirenen in den großen Luftschutzkeller des Wiener Rathauses zu rennen; meine Mutter mit dem Kinderwagen und meiner kleinen Schwester, ich verschreckt daneben her. Wirklich Angst hatte ich nur, als wir es einmal nicht mehr schaffen konnten und im Keller unseres Nachbarhauses eng aneinander gedrängt die Bomben ganz nahe pfeifen hörten. Und deren eine explodierte mit einem Riesenkrach. Das Gewölbe des Kellers bebte und schien einzubrechen; aber es war nur der Mörtel, der uns alle bedeckte, Gott sei Dank. Diese Bombe machte ein großes Wohnhaus ein paar Dutzend Meter von uns entfernt dem Erdboden gleich. Nach Kriegsende, auch daran erinnere ich mich noch, haben wir Kinder in diesem Trümmerhaufen gespielt. So war der Tod, so war das Leben, ganz nahe beisammen.
Wir verstehen heute, dass dieser Krieg gewissermaßen die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges war, dessen Friedensverträge viele ungelöste Probleme, größte Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Ordnungen und fundamentale Fehler in der Friedenspolitik zu einem explosiven Cocktail mischten. Lord Keynes, der berühmte englische Ökonom, warnte schon damals vor den Economic Consequences of the Peace, den untragbar großen wirtschaftlichen Lasten, welche die Sieger den Besiegten als Kriegsschuld aufluden. Philipp Blom hat Die zerrissenen Jahre. 1918–1938 einen instabilen, temporären Waffenstillstand genannt. Ich bin kein Historiker und kann dir keine Einzelheiten schildern, Constanze. Aber erinnert wurde ich an die weltweite Aufmerksamkeit, die das Jahr 1918 fand, nicht nur wegen der Feiern zum 100. Geburtstag der Republik Österreich am 12. November (1918 offiziell noch Deutsch- Österreich), sondern auch durch die würdige Begehung des Armistice Day in Neuseeland, wo wir uns damals gerade aufhielten. Neuseeland war die englische Kolonie, welche relativ zur Gesamtbevölkerung die meisten Gefallenen unter den Kriegsparteien zu beklagen hatte. Bis heute gedenkt dieses Land von fünf Millionen Einwohnern am ANZAC Day der Landung australischer und neuseeländischer Corps in Gallipoli, dessen Heldenlegenden sich tief ins nationale Gedächtnis eingegraben haben.
Dein Ur-Urgroßvater hieß Thompson, seine Familie war Mitte des 19. Jahrhunderts aus Irland nach Neuseeland gekommen, und er war – zumindest bevor er mich kennenlernte – den Deutschen und Österreichern gegenüber skeptisch eingestellt. Deine Großmutter hat ja Geschichte studiert, aber auch sie lernte die feinen Haarwurzeln des Ersten Weltkriegs erst im Lauf unserer Ehe richtig einschätzen. Das muss ich dir noch einmal sagen, obschon du es oft genug gehört hast – wie gekonnt und souverän sie ihre Rolle an meiner Seite gemeistert hat! Ihre Kenntnisse der europäischen politischen Geschichte sind sehr ausgewogen zwischen der Erziehung in ihrer angestammten und der Erfahrung in ihrer eingelebten Heimat. Wenn du mehr darüber wissen willst, wie diese Wurzeln des Krieges zu bewerten sind, so kannst du im Buch The Sleepwalkers von Christopher Clark eine großartige und spannende Analyse finden.
Meinen Vater kenne ich nur als eine schwankende Gestalt meiner Gefühle aus frühester Kindheit. Aber von all den Erlebnissen als kleiner Knabe mit ihm, die ich aus Erzählungen meiner Mutter kenne, möchte ich dir eines schildern: Meine Mutter hatte den zweijährigen Hansi zum Spaziergang mit dem Vati schön sauber herausgeputzt. Als wir wieder nach Hause kamen, war sie entsetzt. „Wie schaut denn der Bub aus?! Voll bespritzt mit Schlamm! Mein Vater antwortete ruhig: „Er wollte in der Pfütze im Park spielen und hat sich so gefreut, ich konnte ihm das nicht verbieten …
Das sagt über den Charakter meines Vaters sehr viel aus, denke ich. Und ich stellte mir immer wieder vor, was geworden wäre, wenn ihn der Krieg verschont hätte. Aber ich denke auch an die Abermillionen Familien, denen es so oder noch schlimmer ergangen ist als uns. Und wenn ich dann den Sprung in die Gegenwart mache und bedenke, wie viel Krieg und Gewalt seither und bis heute in der Welt passiert ist und gerade passiert, dann – ja, es klingt krass – schäme ich mich fremd für die Menschheit. Sind die Menschen so schlecht, so dumm, so egoistisch, so gedankenlos, ich könnte mit dieser Suada an Schuldzuweisungen an unsere Art fortfahren, dass es ohne Krieg nicht geht!? Dass gar der Krieg als Mutter des Fortschritts oder kalte Dusche gegen die Hybris, wenn nicht geliebt, so im Prinzip doch geduldet werden kann? Oder gar als Mittel der Natur, ein Ungleichgewicht in der Welt zu beheben und einen Neuanfang zu erzwingen? Das sind krause Gedanken eines vorbehaltlosen Pazifisten, der ich durch den erlebten und erlittenen Krieg geworden bin. Glücklich und dankbar bin ich dafür, mehr als siebzig Jahre Frieden in Europa genossen zu haben. Aber deiner Generation muss man in Erinnerung rufen, Constanze, was ein Krieg hautnah bedeutet, damit auch ihr den Frieden schätzen lernt und bereit seid, ihn zu schützen und um ihn zu ringen um jeden Preis!
Was ich dir über den Krieg erzählt habe, hat mich für das ganze Leben eingestimmt. Dieses frühe Erlebnis des Krieges und sein gesamtes Umfeld kann man vielleicht den Kammerton nennen, nach dem sich die orchestrierte Stimmung meines Lebens richtete. Ich war ab da ein Gegner von Krieg und Gewalt; ich sah, was dieser Krieg meiner Mutter abverlangte, die viele Jahre lang hoffte und betete, dass unser geliebter Vater doch noch am Leben wäre. Ich glaube auch, dass ich damals eine Art innere Rüstung anlegte, um mich selbst zu schützen, aber auch, um andere besser zu verteidigen. Vielleicht habe ich auch geahnt, dass ein solches Trauma der Kindheit einen abwehrenden Panzer braucht, will man nicht lebenslang verletzt und verletzbar bleiben. Mit dieser harten Schale ist auch die Abscheu vor der großen Ungerechtigkeit dieses Krieges mitgewachsen. Und damit wohl auch das Empfinden für Gerechtigkeit entstanden, das für mich ein wichtiger Wegweiser geworden ist. Die Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung, der gerechten Gesinnung hat mich durch jenes hügelige Sein des Lebens geleitet. Die lebenslange Suche nach dem Wesentlichen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit wurde mein charakterlicher Leitstern.
CHOR DER ENGEL
Mein erstes Weihnachtsgeschenk im Jahr 1945 war ein Bauernhof, von meinem Onkel Martin aus einer kleinen Holzkiste gebaut, mit ein paar grob geschnitzten Tieren drinnen. Mit denen habe ich stundenlang spielen und reden können. Onkel Martin war der Lieblingsbruder meiner Mutter, die ihm von ihrem kargen Lohn erspartes Geld geliehen hatte, damit er seine erste Maschine kaufen konnte. Er war gelernter Wagner, also Wagenbauer. Er und seine Frau Kathi, meine Taufpatin, waren auch meine Ferieneltern. Mit den vier Hillingerbuben gab es in den heißen Sommern von Jois, dem Heimatort meiner Mutter, manche wilde Wasserschlacht und riskante Spiele. Im Sommer 1946 fiel ich bei einer solchen Mutprobe von einem Flachdach mehrere Meter auf den harten Boden und war stundenlang bewusstlos. Meine Mutter muss ausgeflippt sein, und mein Onkel hatte Mühe, sie zu beruhigen. Erst der Vater, dann der kleine Sohn … nicht auszudenken!
Dieses Erleben hat sich mir plastisch eingeprägt. Ich hätte damals sterben können, wäre ich nicht mit dem Kopf in meine linke Hand gefallen, die mir wahrscheinlich das Leben rettete und dabei zu Bruch ging. Von der mühsamen holprigen Fahrt in einem offenen Dreiradauto ins Wiener Allgemeine Krankenhaus weiß ich nur noch wenig. Aber die schwache Narkose und der Holzhammer des Arztes zum Einrichten der Knochen sind mir noch in Erinnerung. Manchmal kann doch die Hand wichtiger sein als der Kopf, der sie hätte lenken sollen! Alle sprachen vom Schutzengel, der mich bewacht haben musste. Ich selbst dachte das wohl auch, und mir war dieser Unfall eine Lehre fürs Leben.
Dann kam ich in die Volksschule der Piaristen in der Josefstadt und hatte die ersten zwei Jahre eine wunderbare Lehrerin. Du kannst in meiner Stimme hören, Constanze, wie ich das heute noch spüre. Sie verdrängte die Kälte des Winters ohne Heizmaterial mit ihrer Herzenswärme und brachte uns auch das Lesen und Schreiben so bei, dass es keine Qual, sondern Freude am Lernen war. Nach diesem furchtbaren Krieg, in den ersten Nachkriegsjahren, mangelte es an allem. Aber die Menschen machten damals durch Zusammenstehen und Hilfsbereitschaft die materielle Not wett, soweit es möglich war. Und ich habe auch das Gefühl, dass gerade die Kinder diese große Zuwendung voll Zukunftshoffnung dankbar spürten.
Bald danach wurde ich Ministrant bei den Patres Piaristen in der Pfarre Maria Treu, worauf ich sehr stolz war und die Togen der Fakulanten (Fackelträger) ganz besonders schick fand. Ich hatte eine schöne Altstimme und sang als Josef mit einem anderen Buben als Maria die vorweihnachtliche Herbergsuche im Duett: „Wer klopfet an? Oh zwei gar arme Leut’! Was wollt ihr dann? So gebt uns Herberg heut’ … Geht fort von hier!" Bis heute mahnt die Ablehnung der Wirte mein Gewissen, Constanze. Dann sangen wir die schönen alten Kirchenlieder zur Adventzeit, die mächtig klangvollen der Auferstehung in der Osternacht, die ergreifenden Marienlieder zur Maiandacht. Und immer wieder Gregorianischen Choral, der wegen seiner mystischen Charismatik heute eine Renaissance erlebt.
Den Gregorianischen Choral hat mir auch nahegebracht, was wir als kleine Ministranten im Stift Heiligenkreuz erlebt haben. Dorthin durften wir als Belohnung zwischen Weihnachten und Neujahr fahren und das Klosterleben, aber auch das Balgen und Spielen in der winterlichen Natur genießen. Ich erinnere mich, wie wir um 6 Uhr morgens in der kalten Kirche den Mönchen beim Singen zuhörten. Sie begannen schon damals – ich glaube, der Abt hieß Albrecht – wieder mit dieser Tradition, die Heiligenkreuz Jahrzehnte später weltberühmt machte. Wir taten das unter dem aufmerksamen Ohr unseres Präfekten Hans Smejkal, der uns als geprüfter Organist einige musikalische Details der Kirchentonarten und der Geschichte der mehr als tausend Jahre alten römischen schola cantorum erzählte. Ich war als neunjähriger Bub damals vielleicht der Meinung, einer dieser Knaben zu sein, die den Chor der Engel auf Erden bildeten.
Eines Tages hat mich ein älterer Bub in eine Chorprobe mitgenommen, die Hans Gillesberger mit der Wiener Kantorei hielt. Ich sollte dem schon damals bekannten Chorleiter etwas vorsingen und tat das auch mit einem Lied, das ich in der Schule gelernt hatte: „Ich ging durch einen grasgrünen Wald und hörte die Vögelein singen …" So nahm mich Gillesberger als Altstimme in den damals berühmten gemischten Chor auf. Wir probten die Matthäuspassion von J. S. Bach, heute Weltkulturerbe der UNESCO. Die ergreifende Aufführung und das Singen dieser zeitlosen Choräle in einer großen Kirche hat mir die Liebe zur Musik eingepflanzt.
Um die gleiche Zeit hat mir Hans Smejkal den ersten Klavierunterricht gegeben. Ihm verdanke ich sehr viel an Vaterersatz und Zuwendung in dieser Phase der Kindheit, die den Erwachsenen prägt. Er war überaus musikalisch, hatte eine herrliche Baritonstimme und war ein fantastischer Improvisator auf der „Brucknerorgel" der Kirche. Die barocke Orgel hat diesen Spitznamen deshalb, weil der große Anton Bruckner hier seine Meisterprüfung im Orgelspiel ablegte. Einer der Prüfer sagte nach dieser offenbar fantastischen Meisterleistung Bruckners: „Nicht wir hätten ihn, er hätte uns prüfen sollen!" Diese Orgel habe ich dann oft mit meinem Musiklehrer stimmen (und auch ein wenig spielen) dürfen.
Als universale Sprache des Gefühls wirkt die Musik wie gute Medizin, Constanze, sie hat keine negativen Nebenwirkungen, reinigt und beflügelt, verzaubert und erschüttert, zerstört das Böse und hilft dem Guten. Im Musikzimmer meines Gymnasiums hing an der Wand der alte Spruch: Wer nicht Musik hat in ihm selbst, taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken. Nun, das ist nur zum Teil richtig, denke ich. Der Umkehrschluss stimmt nicht unbedingt. Denn auch im Konzentrationslager mussten todgeweihte Häftlinge, die Musiker waren, musikliebende Aufseher unterhalten, aber abhalten von ihren Verbrechen konnten sie sie nicht. Viele auf der Welt können bis heute nicht verstehen, wie Musik von Engeln mit Mord der Teufel zusammengeht!
Ja, Constanze, ich war ein Träumer (so nannte mich manchmal meine Mutter als Kind liebevoll-kritisch) mit künstlerischen Neigungen, aber auch wach genug für das praktische Leben. Von der Musik wusstest du ja längst. Manche meinten, auch ich selbst eine kurze Weile lang, mich eines