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Bauern, Bonzen, Bomben
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eBook768 Seiten9 Stunden

Bauern, Bonzen, Bomben

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Über dieses E-Book

Neuerscheinung | Für die eBook-Ausgabe völlig neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung ||
Im Jahre 1929 kommt es in Schleswig-Holstein zu einem Aufstand der Bauernschaft gegen die Regierungsmacht. Hintergrund sind die zunehmend schlechte wirtschaftliche Situation als Folge von Missernten und veralteter Maschinenausstattung. Obwohl die Ursachen zum Teil selbst verschuldet sind, macht das Landvolk die damals sozialdemokratische Regierung der Weimarer Republik verantwortlich. Das "verhasste republikanische System" verschärft seinerseits die Situation durch höhere Steuern. Es kommt zu Demonstrationen, Schlägereien mit Vertreten der Staatsmacht, bis hin zu Bombenattentaten. | Hans Fallada, der als junger Reporter für eine Lokalzeitung die realen Vorgänge miterlebt hatte, verlegte die Handlung nach Pommern in die fiktive Stadt Altholm. |
Kurt Tucholsky urteilte 1931 in einer Rezension: ... ein Meisterstück forensischer Schilderung ... ja, das ist ein Buch! | © Redaktion eClassica, 2018
SpracheDeutsch
HerausgeberEClassica
Erscheinungsdatum1. Jan. 2018
ISBN9783963610905
Bauern, Bonzen, Bomben
Autor

Hans Fallada

Hans Fallada (21. Juli 1893–5. Februar 1947), eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, war ein deutscher Schriftsteller. Sein nüchterner, objektiver Stil, in dem er seine fiktionalen Berichte über meist scheiternde Gestalten verfasste, macht ihn zu einem der wichtigsten Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“.

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    Buchvorschau

    Bauern, Bonzen, Bomben - Hans Fallada

    Klappentext

    Im Jahre 1929 kommt es in Schleswig-Holstein zu einem Aufstand der Bauernschaft gegen die Regierungsmacht. Hintergrund sind die zunehmend schlechte wirtschaftliche Situation als Folge von Missernten, veralteter Maschinenausstattung und Konkurrenz durch billige Importprodukte. Obwohl die Ursachen zum Teil selbst verschuldet sind, macht das Landvolk die damals sozialdemokratische Regierung der Weimarer Republik verantwortlich. Das – wie die Bauern sagen – ›verhasste republikanische System‹ verschärft seinerseits die Situation durch gängelnde Bürokratie und höhere Steuern. Es kommt zu Demonstrationen, Schlägereien mit Vertreten der Staatsmacht, bis hin zu Bombenattentaten. Hans Fallada, der als junger Reporter für eine Lokalzeitung die realen Vorgänge miterlebt hatte, verlegte die Handlung nach Pommern in die fiktive Stadt Altholm.

    Unter der Oberfläche zeichnet Fallada ein vielschichtiges Psychogramm der handelnden Personen. Egoistische persönliche Motive kommen zu Tage, ebenso wie düstere Vorboten des aufziehenden Nationalsozialismus, dessen Anhänger versuchten, die Nöte der Bauen zu instrumentalisieren – gegen die verhasste Weimarer Republik.

    Kurt Tucholsky urteilte 1931 in einer Rezension: »... ein Meisterstück forensischer Schilderung ... ja, das ist ein Buch!«

    © Redaktion eClassica, 2018

    Über den Autor: Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen) (1883–1947) war einer der produktivsten deutschen Schriftsteller der 30er Jahre. In der Zeit des Faschismus lebte er als »unerwünschter Autor« zurückgezogen auf einem Anwesen in Mecklenburg. Einige seiner Bücher waren von den Nazis aber auch geduldet, weil sie die Weimarer Republik kritisierten, wodurch er persönlicher Verfolgung entging.

    Lesen Sie mehr über den Autor im Anhang

    Dieses Buch ist ein Roman, also ein Werk der Phantasie. Wohl hat der Verfasser Ereignisse, die sich in einer bestimmten Gegend Deutschlands abspielten, benutzt, aber er hat sie, wie es der Gang der Handlung zu fordern schien, willkürlich verändert. Wie man aus den Steinen eines abgebrochenen Hauses ein neues bauen kann, das dem alten in nichts gleicht außer dem Material, so ist beim Bau dieses Werkes verfahren.

    Die Gestalten des Romans sind keine Photographien, sie sind Versuche, Menschengesichter unter Verzicht auf billige Ähnlichkeit sichtbar zu machen.

    Bei der Wiedergabe der Atmosphäre, des Parteihaders, des Kampfes aller gegen alle, ist höchste Naturtreue erstrebt. Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für jede große auch.

    H. F.

    Vorspiel: Ein kleiner Zirkus namens Monte

    1

    Ein junger Mann stürmt den Burstah entlang. Während des Laufens schießt er wütende, schiefe Blicke nach den Schaufenstern der Läden, die in dieser Hauptstraße von Altholm dicht an dicht liegen.

    Der junge Mann, um die fünfundzwanzig, verheiratet und nicht hässlich, trägt einen alten schwarzen Rockpaletot, blank gescheuert, einen breitkrempigen schwarzen Filz und schwarzumränderte Brille. Sein blasses Gesicht dazu – und er scheint ein Leichenbitter, würdig jeder »Pietät« und »Ruhe sanft«.

    Wennschon der Burstah der Broadway von Altholm ist, lang ist er nicht. Nach drei Minuten ist der junge Mann am letzten Haus, direkt am Bahnhofsplatz. Er spuckt kräftig aus und verschwindet nach dieser neuen Äußerung seiner Stinkwut im Hause der »Pommerschen Chronik für Altholm und Umgebung, Heimatblatt für alle Stände«.

    Hinter der Barre der Expedition hockt eine gelangweilte Tippöse, die das Manuskript eines Zeitungsromans wegstecken will. Sie bremst diese Bewegung ab, als sie sieht, es ist nur der Annoncenwerber Tredup.

    Er schmeisst einen Papierfetzen auf den Tisch. »Da! Das ist alles. Geben Sie’s in die Setzerei. – Sind die andern drinnen?«

    »Wo sollen die denn sonst sein?« fragt die Schöne dagegen. »Wird das berechnet?«

    »Natürlich wird das nicht berechnet. Haben Sie schon mal gesehen, dass ein Affe uns Anzeigen bezahlt hat?! Neun Mark kostet sie. War der Chef schon unten?«

    »Der Chef erfindet schon wieder seit fünf.«

    »Gott soll schützen! Und die Chefin? Dun?«

    »Weiss nicht. Denke. Fritz hat ihr um acht eine Pulle Kognak holen müssen.«

    »Dann ist ja alles in schönster Ordnung. – O Gott, was mich dieser Stall ankotzt! – Sind die drinnen?«

    »Das haben Sie schon mal gefragt.«

    »Haben Sie sich nicht, Klara, Klärchen, Klarissa. Ich hab Sie heute nacht um halber eins aus der Grotte kommen sehen.

    »Wenn ich von meinem Gehalt leben sollte …«

    »Weiss ich, weiss ich. Ob der Chef Geld hat?«

    »Ausgeschlossen.«

    »Und der Wenk, hat der was in der Kasse?«

    »Ostseekino hat gestern Abend bezahlt.«

    »Also hole ich mir Vorschuss. Drinnen ist er doch?«

    »Ich glaube, Sie haben …«

    »Das schon einmal gefragt. Mehr als eine Walze, bitte, meine Holde. Vergessen Sie nicht das Inserat.«

    »Gott. Und wennschon.«

    2

    Tredup zieht die Schiebetür zum Redaktionszimmer mit einem Ruck auf, geht durch und drückt sie sachte wieder zu. Der lange Geschäftsführer Wenk hockt in einem Sessel und pult an den Nägeln. Redakteur Stuff schmiert irgendeinen Mist.

    Tredup feuert seine Mappe in ein Schrankfach, hängt Hut und Mantel beim Ofen auf und setzt sich an seinen Schreibtisch. Er zieht gleichgültig, als fühle er nicht die fragenden Blicke, einen Kartothekkasten hervor und beginnt Karten zu sortieren. Wenk hält mit Nägelschneiden inne, betrachtet sorgend die Klinge im Licht der Sonne, wischt sie an seinem Bürolüsterjackett ab, klappt das Messer zu und sieht Tredup an. Stuff schreibt weiter.

    Es erfolgt nichts. Wenk nimmt ein Bein von der Sessellehne und fragt wohlwollend: »Na, Tredup?«

    »Bitte, Herr Tredup!«

    »Na, Herr Tredup?«

    »Du kannst mir mal mit deinem ›Na‹!«

    Wenk wendet sich an Stuff. »Er hat nichts, Stuff, sage ich dir. Nichts hat er.«

    Stuff glupscht unter seinem Klemmer auf Tredup, zieht seinen grau melierten Walrossbart durch die Zähne und bestätigt: »Natürlich hat er nichts.«

    Tredup springt wütend auf. Der Kartothekkasten fliegt mit einem Knall auf die Erde. »Was heisst ›natürlich‹? Ich verbitte mir ›natürlich‹! In dreissig Geschäften bin ich gewesen! Kann ich die Leute notzüchtigen? Soll ich ihnen die Inserate aus der Nase ziehen? Wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht. Ich bettele schon … Und so ein Schreibknecht sagt ›natürlich‹. Lächerlich!«

    »Reg dich bloß nicht künstlich auf, Tredup. Was hat denn das für einen Sinn?«

    »Natürlich rege ich mich auf über dein ›Natürlich‹. Geh du doch selber einmal los Annoncen sammeln. Diese Affen! Diese Krämer! Diese drehstierige Bande! ›Ich inseriere vorläufig nicht.‹ – ›Ich habe keine Meinung für Ihr Blatt.‹–›Besteht die „Chronik" überhaupt noch? Ich dachte, sie wäre längst eingegangen.‹ – ›Kommen Sie morgen wieder.‹ – Es ist zum Kotzen!«

    Wenk murmelt aus seinem Sessel: »Ich traf heute früh den Maschinenmeister von den ›Nachrichten‹. Die kommen heute mit fünf Seiten Anzeigen raus.«

    Stuff spuckt verächtlich. »Das Mistblatt. Kunststück. Wenn man fünfzehntausend Auflage hat.«

    »Die haben ebenso gut fünfzehntausend, wie wir siebentausend haben wollen.«

    »Bitte, wir haben eine notarielle Bescheinigung über siebentausend.«

    »Du musst die Stelle mal radieren, wo das Datum steht. Die ist schon ganz schwarz vom Zuhalten mit deinem Daumen, all die drei Jahre, seit die Zahl mal richtig war.«

    »Ich spucke auf die notarielle Bescheinigung. Aber den ›Nachrichten‹ wischt ich für mein Leben gern was aus.«

    »Geht nicht. Der Chef will es nicht haben.«

    »Natürlich, weil sich der Chef von den Fritzen Geld pumpt, müssen wir uns anstinken lassen.«

    Wenk setzt den Bohrer neu an. »Also gar nichts hast du, Tredup?«

    »Eine achtel Seite von Braun. Für neun Mark.«

    Stuff stöhnt. »Neun Mark? Tiefer geht es nicht mehr.«

    »Und sonst nichts?«

    »Die Ausverkaufsanzeige vom verkrachten Uhrenschlosser hätt ich kriegen können, aber wir sollen Ware dafür abnehmen.«

    »Bloß das nicht. Was mach ich mit Weckern? Ich steh doch nicht auf, wenn die Dinger klingeln.«

    »Und der Zirkus Monte?«

    Tredup bleibt im auf-und-ab-Rennen stehen. »Ich hab dir doch gesagt, es ist nichts, Wenk. Nun lass gefälligst auch das Meckern sein.«

    »Aber den Monte haben wir doch jedes Jahr gehabt! Bist du überhaupt da gewesen, Tredup?«

    »Ich will dir was sagen, Wenk. Ich will dir in aller Ruhe und Freundschaft mal was sagen, Wenk. Wenn du noch einmal so was sagst von ›überhaupt da gewesen‹, dann klebe ich dir eine …«

    »Aber wir haben ihn doch jedes Jahr gehabt, Tredup!«

    »So, haben wir …? Und ich will dir was sagen, dann werden wir ihn dieses Jahr eben mal nicht haben. Und du kannst es mir sagen, und der Chef kann es mir sagen, und Stuff kann mir’s sagen: Ich gehe nicht wieder in diesen Scheisszirkus vorfragen.«

    »Was war denn?«

    »Was war? Mist war. Frechheit war. Zigeunerfrechheit, semitisches, widerliches Gehabe war. Vorgestern war die Voranzeige in den ›Nachrichten‹. Ich töffele hin, ganz auf den Jugendspielplatz. Der Zirkus war überhaupt noch nicht da.«

    »Dann hat der Manager in den ›Nachrichten‹ die Anzeige aufgegeben.«

    »Und bei uns ist er vorbeigelaufen. Eben. Gestern früh wieder hin. Die sind beim Aufbau. Wo ist der Manager? Über Land. Plakate in die Kuhdörfer kleben. Als ob die Bauern jetzt in Stimmung wären! Soll um eins wiederkommen. Um eins isst der Manager. Gut, ich warte eine Stunde. Der Manager, so ein verfluchter gelber Zigeuner, will mit seinem Chef reden. Ich soll um sechs wiederkommen. Ich bin um sechs da. Hat den Chef noch nicht sprechen können, soll heute früh wiederkommen.«

    »Alle Achtung, immer nach dem Jugendspielplatz raus!«

    »Das denke ich auch. Heute früh lerne ich den großkotzigen Chef kennen, diesen Herrn über anderthalb Affen, eine spätkranke Kracke und ein vermottetes Kamel. Hut in der Hand, Diener bis auf die Erde.

    Und dieses Mistvieh, dieses Stinktier sagt, es lohnt sich ihm nicht, in der ›Chronik‹ zu inserieren! Kein Mensch lese unser Käseblättchen!«

    »Was hast du ihm gesagt?«

    »Am liebsten hätt ich ihm ein paar lackiert. Nun, ich dachte an meine Familie und habe Leine gezogen. Schließlich will meine Frau am Ersten auch ihr Wirtschaftsgeld haben.«

    Stuff nimmt den Klemmer ab und fragt: »Hat er ›Käseblättchen‹ gesagt? Hat er wirklich ›Käseblättchen‹ gesagt?«

    »So wahr ich hier stehe, Stuff!«

    Und Wenk hetzt: »Das sollte ihm nicht so hingehen. Das wäre doch etwas für dich, Stuff. Du solltest ihn anmisten, nach Noten.«

    »Tät ich. Tät ich. Aber der Chef will es doch nicht …«

    »Das wäre mal eine schöne Gelegenheit, den Inserenten Angst zu machen. Kriegt einer was auf den Deckel, inserieren die andern wieder ein Weilchen aus Angst.«

    »Aber der Chef …«

    »Ach was, der Chef! Wir gehen alle drei zu ihm hin und sagen, dass was geschehen muss.«

    »Anmisten tät ich ihn brennend gerne«, murmelt Stuff.

    »Halt!« schreit Tredup. »Ich weiss was. Du verlangst, dass du die Roten anmisten darfst, dann erlaubt er dir wenigstens den Monte.«

    »Nicht übel«, nickt Stuff. »Ich weiss da grade eine Geschichte mit dem Polizeimeister …«

    »Na also, gehen wir ins Labor …«

    »Jetzt gleich?«

    »Na, natürlich gleich. Du musst doch die Eröffnungsvorstellung von gestern Abend runterreissen.«

    »Also gehen wir zum Chef.«

    3

    In der Setzerei gab es einen Aufenthalt. Die beiden Linotypes waren verlassen, und die Maschinensetzer standen mit den Akzidenzsetzern und dem Metteur am Fenster. Sie starrten auf den Hof. Es war still im Raum, ein ungewohntes Atemanhalten.

    Wenk fragte: »Ist jetzt Frühstück? Was gibt es?«

    Ein wenig zögernd tat sich der Haufe am Fenster auseinander. Der Metteur, ehrliche Kümmernis im faltigen Gesicht, sagte: »Jetzt liegt sie draußen.«

    Die drei gingen durch die Gasse Pausierender vor die Scheibe, taten einen Blick, auch ihnen verschlug es die Rede.

    Es ist nur ein kleiner Hof, rings von Häusern umstanden, mit Fliesen belegt, einem spärlichen Grünfleck in der Mitte. Um sein schütteres Gras läuft ein Gitter, eines jener niedrigen gusseisernen Gitter, die nichts schützen. Fußfallen im Dunkel.

    Aber jetzt war heller Tag, und sie war doch darüber gefallen. Sie lag dort auf dem Gras, wie sie hingestürzt, die schwarzen halb langen Röcke hatten sich verschoben, man sah unordentlich angezogene Strümpfe, schwarz gestrickt, weisse Wäsche.

    »Sie wird über den Hof hinten zum Krüger gegangen sein, sich neuen Schnaps holen.«

    »Der Fritz hat ihr um acht schon eine Pulle gebracht.«

    »Sie ist ohne Besinnung.«

    »Nein, sie weiss schon, sie will so liegen vor all den Fenstern.«

    »Es ist, seit sich der Junge tot getrunken hat.«

    Plötzlich sprechen alle auf einmal. Alle stehen sie und starren auf den schwarzen, hingestürzten Schatten.

    Stuff schiebt die Schultern vor, drückt den Klemmer fest. »Das geht nicht. Komm, Tredup, wir holen sie.«

    Wenk blickt den Fortgehenden nach. Er fragt besorgt: »Ob das richtig ist? Der Chef sieht das auch vom Labor.«

    Der alte Metteur sagt giftig: »Seien Sie man sicher, Herr Wenk, wenn der seine Frau so sieht, dann sieht er sie nicht.«

    Wenk geht den beiden nach. Er merkt auf dem Hof an allen Fenstern zurückfahrende Köpfe, die bei ihrer Neugierde nicht erwischt werden wollen.

    Morgen ist es durch die ganze Stadt. Die Frau hat so viel Geld und sielt sich im Dreck. Ich sollte ihr Geld haben …

    So ist das Leben, denkt der Annoncenjäger. Na ja, der übliche Salat … Nicht der Sohn, der sich tot soff, hat ihr den Rest gegeben, aber dass es alle Leute wissen, dass er so umkam … So ’ne kleine Stadt.

    »Kommen Sie, gnädige Frau. Setzen Sie sich auf.«

    Es ist ein verwüstetes Gesicht – blutleer, graugelb, mit hängenden Falten –, das verdrossen zur Sonne blinzelt. »Macht das Licht aus«, murrt sie. »Stuff, mach es aus. Noch ist Nacht.«

    »Kommen Sie man, Frau Schabbelt. Wir trinken auf der Redaktion einen Grog, und ich erzähle Ihnen Witze.«

    »O du Schwein«, sagt die Betrunkene, »glauben Sie, es ist mir um Witze?« Und plötzlich lebhaft: »Ja, erzähle Witze. Er hört sie immer gern. Ich darf an seinem Bett sitzen, er ist mir nicht mehr bös.«

    Und plötzlich, im Aufstehen, im Gehen zwischen den beiden (Wenk folgt, schlenkert die Kognakflasche verächtlich zwischen den Fingern), plötzlich scheint sie in die Ferne zu horchen. »Keine Witze mehr, Herr Stuff. Ich weiss schon, Herbert ist tot. Aber auf Ihrem Sofa will ich liegen, wenn das Telefon geht und der Radiobericht kommt und die Zeitung läuft durch die Maschine. Es ist dann wie richtiges Leben.«

    In der Setzerei ist ein hastiger, verlegener Arbeitsanfang. Niemand blickt hoch.

    »Vergesst den Kognak nicht!« ruft plötzlich die Frau.

    Auf dem Sofa bekommt sie noch ein Glas voll, und schon schläft sie mit offenem Munde, schlaffem Kiefer, besinnungslos.

    »Wer bleibt bei ihr?« fragt Stuff. »Einer muss bleiben.«

    »Wollt ihr jetzt noch zum Chef?«

    »Wer so fragt, bleibt. Komm, Tredup.«

    Sie gehen. Wenk sieht ihnen nach. Sieht auf die schlafende Frau, horcht nach der Expedition, fasst die Kognakflasche und gießt sich kräftig einen hinter die Binde.

    4

    Das Laboratorium ist kein modernes Labor aus Glas, mit Sauberkeit, Helle und Luft, es ist der Spelunkenwinkel eines tüterigen Erfinders, der in einem Wust von Geräten, Ideen, Schutt und Schmutz ertrinkt.

    An einem Tisch mit säurezerfressenem Linoleum sitzt eine Art Gnom mit weissem Strubbelbart, ein fettes, kugeliges Geschöpf, eine Art rotlackierter Zwerg. Er hat die sehr gewölbten, hellblauen schwachen Augen gegen die Eintretenden gehoben. »Bin nicht zu sprechen. Macht euern Mist alleine.«

    Stuff sagt: »Grade anmisten möcht ich jemand, Herr Schabbelt. – Wenn Sie erlauben.«

    Der Zwerg hebt eine Zinkplatte gegen das Licht, prüft sie sorgenvoll. »Die Autotypie kommt nicht.«

    »Vielleicht ist der Raster zu fein, Herr Schabbelt?«

    »Was verstehen Sie davon? Hinaus, habe ich gesagt! Was stinkt der Tredup hier herum? Raus! – Sieh da, zu fein. Dumm bist du nicht, Stuff. Das mag angehen. – Wen willst du anmisten?«

    »Die Roten.«

    »Nein. Fünfundfünfzig Prozent unserer Leser sind Arbeiter und kleine Beamte. Die Roten? Nie! Wenn wir auch rechts sind.«

    »Es ist eine sehr gute Geschichte, Herr Schabbelt.«

    »Erzähle sie, Stuff. Sieh, wo du Platz findest. Aber der Tredup muss raus. Er stinkt nach Akquisition.«

    »Ich möchte schon gerne was andres tun«, murrt Tredup.

    »Quatsch! Du tust es gern. Raus mit dir!«

    »Wir brauchen ihn noch. Nachher zu der Geschichte.«

    »Also stellen Sie sich dort ins Dunkel. Erzähle los, Stuff.«

    »Sie kennen Kallene, den Polizeimeister? Natürlich. Nach der Revolution war er rot. SPD oder USPD, jedenfalls wurde er belohnt. Der dümmste aller Polizeidiener wurde Polizeimeister.«

    »Weiss ich.«

    »Und als er’s war, trat er aus der Partei aus, gab das Parteibuch zurück, wurde streng deutschnational, wie er vorher gewesen.«

    »Und …?«

    »Na, der macht abends auf dem Rathaus Aufsicht über die Reinemachefrauen. Wenn die Büros leer sind, Herr Schabbelt!«

    »Und …?«

    »Da sind so ein paar junge Weiber dabei, einfach Klasse. Man kann es sich ja denken, wenn sie so rutschen über den Boden, man bekommt da Einblicke …«

    »Du kannst es dir jedenfalls denken, Stuff.«

    »Na natürlich, nicht nur der Kallene kommt bei so was auf andere Ideen.«

    »Mach’s kurz, Stuff. Wer hat ihn erwischt?«

    »Der rote Bürgermeister!« schreit Stuff. »Der dicke Gareis. Auf seinem Schreibtisch haben sie’s gemacht.«

    »Und?«

    »Na, Herr Schabbelt! So eine Frage! Jetzt hat der Kallene wieder das Parteibuch.«

    »Es ließe sich etwas daraus machen«, meint Schabbelt. »Aber nicht für uns. Etwa für die KPD. Tredup kann es weiter quatschen.«

    »Herr Schabbelt!«

    »Ich kann Ihnen nicht helfen, Stuff. Sehen Sie, wie Sie sonst Ihre Spalten vollkriegen mit Lokalem.«

    »Aber wenn wir nie stänkern dürfen! Das Blatt wird so doof. Man nennt uns schon ›Käseblättchen‹.«

    »Wer?«

    »Ist es nicht wahr, Tredup?«

    Tredup tritt aus dem Schatten, ganz gallig: »Schmierblättchen. Stinkmakulatur. Hakenkreuzruh. Scheisshausklappe. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit.«

    Stuff hebt seine Stimme: »Tante vom Kuhdorf. Der Langeweiler über alle Wände. Der Treppenfurz. Die Gakelei. Der Blinddarm. Der Maulwurf. Lies und schlaf.«

    Tredup wieder: »Ich beeide es, Herr Schabbelt. Heute morgen erst hat mir ein Inserent gesagt …«

    Der Chef ist zu seinen Zinkplatten zurückgekehrt. »Wen wollt ihr also anstänkern?«

    Beide: »Den Zirkus Monte.«

    Und Schabbelt: »Meinetwegen. Dass die Nicht-Inserenten wieder einmal Angst kriegen. Und zur Belohnung wegen des zu feinen Rasters.«

    »Schönen Dank, Herr Schabbelt.«

    »Schon gut. Aber diese Woche lasst ihr mich nun gefälligst in Frieden. Ich habe keine Zeit.«

    »Wir kommen schon nicht her. Guten Morgen.«

    5

    Stuff sitzt am Schreibtisch und sieht auf die immer noch schlafende Frau. Ihr Gesicht hat sich etwas gerötet, ihre eisgrauen Haarzotteln liegen um den Kopf, hängen in ihr Gesicht. Er denkt: Die Kognakflasche ist beinahe leer. Als ich den Wenk rausschickte, stank er nach Schnaps. Jetzt säuft er sogar der besoffenen Chefin den Schnaps weg. Ich werde es ihm stecken.

    Wieder nach der Frau hin: Ich werde ihr einen Kaffee machen lassen, einen heissen Mokka, dass sie ihn trinkt, wenn sie aufwacht. Ich werde nach der Grete klingeln.

    Er sieht auf den Klingelknopf neben der Tür, dann auf das weisse Papier vor sich auf dem Pult. Schließlich, was hilft ihr ein Mokka? Gar nichts.

    Er dreht an den Knöpfen des Radios. Eine Stimme ertönt: »Achtung! Achtung! Achtung! Hier ist der sozialdemokratische Pressedienst! Achtung!«

    Äh, scheiss! Werde ich meinen Riemen schreiben.

    Er setzt an, denkt nach und schreibt dieses:

    »Ein kleiner Zirkus namens Monte hat auf dem Jugendspielplatz sein Domizil aufgeschlagen und gab gestern Abend seine Eröffnungsvorstellung. Die Leistungen sind in keinem Punkte überragend, und sie kommen nirgends über ein Mittelmaß hinaus. Nach den Darbietungen, die unsere Vaterstadt vor noch nicht langer Zeit im Zirkus Kreno und im Zirkus Stern bewundern durfte, sind die Nummern des Monte-Programms klägliches Surrogat, das allenfalls für Kindervorstellungen ausreicht.«

    Er überliest noch einmal das Geschriebene. Das wird es tun, denke ich. Er klingelt. Der Lehrling Fritz kommt. »Das soll gleich gesetzt werden. Und sag dem Metteur, er soll es als lokale Spitze bringen. Ich geh jetzt erst auf die Kriminalpolizei und dann aufs Schöffengericht. Wenn noch was ist, rufe ich an. Gut. – Halt, sage der Grete, sie soll der Frau Schabbelt einen Mokka machen.«

    Der Junge geht ab. Stuff sieht auf die schlafende Frau, dann nach der Kognakbuddel. Er hebt die Buddel und trinkt den Rest aus. Er schüttelt sich.

    Heute Abend werde ich mich besaufen. Heute Abend werde ich Amok laufen, denkt er. Mich betäuben, weg sein, vergessen. Das schweinischste Handwerk auf der Welt: Lokalredakteur sein in der Provinz.

    Er sieht betrübt durch seine Klemmergläser und schiebt ab, zur Krimpo und zu den Schöffen.

    Erstes Buch: Die Bauern

    ERSTES KAPITEL – Eine Pfändung auf dem Lande

    1

    Auf der Station Haselhorst steigen zwei Männer aus dem Personenzug, der von Altholm nach Stolpe fährt. Beide sind städtisch gekleidet, tragen aber über dem Arm Regenmäntel, in der Hand derbe Knotenstöcke. Der eine ist ein Vierziger und sieht verdrossen aus, der junge dürre Zwanziger blickt sich lebhaft nach allen Seiten um. Alles interessiert ihn.

    Sie durchqueren Haselhorst auf der Dorfstraße. Überall schauen aus dem Grün die Dächer der Bauernhäuser, bald mit Stroh, bald mit Reet, bald mit Ziegeln, bald mit Zink gedeckt. Jeder Hof liegt für sich, wendet, meistens von Bäumen umstanden, nur die Schmalseite seines Wohnhauses der Landstraße zu.

    Sie haben Haselhorst hinter sich und gehen nun unter Ebereschen auf der Chaussee nach Gramzow. In den Koppeln steht Vieh, schwarzbunt und rotbunt, sieht sich auch einmal, langsam weiter käuend, nach den Wanderern um.

    »Es ist schön, einmal aus dem Büro herauszukommen«, sagt der Junge.

    »Das habe ich auch einmal gedacht«, widersetzt der Alte.

    »Immer und ewig nur Zahlen, es ist nicht auszuhalten.«

    »Zahlen sind bequemer als Menschen. Man weiss, was man von ihnen zu erwarten hat.«

    »Meinen Sie denn wirklich, Herr Kalübbe, dass etwas passieren kann?«

    »Reden Sie keinen Quatsch. Selbstverständlich passiert nichts.«

    Der Junge fühlt nach der Gesäßtasche. »Jedenfalls habe ich meine Pistole parat.«

    Der Ältere bleibt mit einem Ruck stehen, schüttelt wütend die Arme, sein Gesicht läuft blaurot an. »Sie Idiot, Sie! Sie gottgeschlagener Querkopf!«

    Seine Wut steigert sich noch. Er wirft Mantel und Stock auf die Chaussee, seine Aktentasche, die er unterm Mantel trug, dazu.

    »Da! Da haben Sie es! Machen Sie den Dreck alleine! So eine Hirnverbranntheit! Und solch ein Bulle …« Er kann nicht weiterreden.

    Der Jüngere ist weiss geworden, aus Kränkung, Ärger, Schreck. Aber er kann sich beherrschen. »Ich bitte Sie, Herr Kalübbe, was habe ich gesagt, dass Sie derart erregt sind!«

    »Wenn ich schon so etwas höre! Die Pistole parat! Wollen Sie unter die Bauern mit einer Pistole gehen? Ich habe Frau und drei Kinder.«

    »Aber ich bin heute früh noch einmal vom Finanzrat über den Gebrauch der Waffe belehrt worden.«

    Kalübbe ist ganz Verachtung. »Der! Sitzt hinter seinem Schreibtisch. Kennt nur Papier. Einen Tag sollte er hier draußen mit mir pfänden gehen, nach Poseritz oder Dülmen oder auch heute nach Gramzow … Er würde keine Belehrungen mehr erteilen!!«

    Kalübbe grinst schadenfroh schon bei dem Gedanken, dass der Herr Finanzrat ihn bei seinen Pfändungsgängen begleiten könnte.

    Plötzlich lacht er. »Da, ich werde Ihnen was zeigen.« Er holt aus der Gesäßtasche seine Pistole, richtet sie auf den Kollegen.

    »Machen Sie keine Geschichten«, ruft der und springt zur Seite.

    Kalübbe drückt los. »Sehen Sie: nichts! Gar nicht geladen. Das halte ich von dieser Art Schutz.«

    Er steckt seine Pistole wieder ein. »Und nun geben Sie mir Ihre.« Er zieht den Lauf kräftig zurück, wirft Patrone auf Patrone aus. Der Junge sammelt sie schweigend auf. »Stecken Sie die Dinger in die Westentasche und geben Sie sie heute Abend dem Finanzrat zurück. Das ist meine Belehrung über den Waffengebrauch, Thiel.«

    Thiel hat auch Stock und Mantel und Tasche schweigend aufgehoben und reicht alles dem Kollegen. Sie gehen weiter. Kalübbe sieht über die Wiesen, die von Hahnenfuß gelb, von Schaumkraut weissrosa sind. »Sehen Sie, Thiel, Sie müssen mir das nicht übelnehmen. Kommen Sie, geben Sie mir Ihre Hand. – Das ist recht. Alle, die ihr dort drinnen sitzt auf dem Finanzamt, ihr habt ja keine Ahnung, was das heisst, hier draußen Dienst tun.

    Habe mich auch gefreut, als ich Vollstreckungsbeamter wurde. Nicht nur die Diäten und die Bewegungsgelder. Ich kann sie wahrhaftig brauchen mit der Frau und den drei Kindern. Sondern draußen sein, hier, an einem Frühlingstag, und alles ist frisch und lebendig. Nicht so bloß Steine. Und man geht durch.

    Und jetzt – jetzt ist man der schändlichste, schmählichste Dreck am Stecken des Staates.«

    »Herr Kalübbe, Sie, der so gelobt werden!«

    »Ja, die drinnen! Wenn ein Bauer zu euch kommt und wenn zehn Bauern zu euch kommen, so sind es Bauern in der Stadt. Und wenn sie wirklich einmal frech werden, wie ihr es nennt, so seid ihr viele. Und hinter der Barre. Und der Fernsprecher zur Polizei an der Wand.

    Hier aber, wo wir jetzt gehen, da hat der Bauer gesessen vor hundert Jahren und vor tausend Jahren. Hier sind wir die Fremden. Und ich gehe mit meiner Aktentasche und mit meinen blauen Piepmatzmarken ganz allein zwischen ihnen herum. Und ich bin der Staat, und wenn es gut geht, nehme ich ihnen eine Ecke von ihrem Stolz und die Kuh aus dem Stall, und geht es schlimm an, dann mache ich sie heimatlos, wo sie seit tausend Jahren saßen.«

    »Können sie denn wirklich nicht zahlen?«

    »Manchmal können sie nicht, und manchmal wollen sie nicht. Und in letzter Zeit wollen sie überhaupt nicht. – Sehen Sie, Thiel, es sind immer reiche Bauern gewesen, sie haben immer aus dem vollen gelebt, und nun will es ihnen nicht eingehen, dass sie Fastenbrot essen müssen. Und dann sollen sie ja auch nicht richtig rationell wirtschaften …

    Aber was verstehen wir davon? Es geht uns nichts an. Was gehen uns die Bauern an! Sie essen ihr Brot, und wir essen unseres. Aber was mich angeht, das ist, dass ich zwischen ihnen umhergehe wie ein unehrlicher Mensch, wie ein Scharfrichter aus dem Mittelalter, der geächtet war, wie ein Hurenmädchen mit dem Rädchen auf dem Arm, vor dem sie alle ausspucken, mit dem keiner an einem Tisch sitzen mag.«

    »Halt! Einen Augenblick!« ruft Thiel und hält den Kollegen am Arm. Im Staub sitzt ein Schmetterling, ein braunbuntes Pfauenauge, mit zitternden Flügeln. Seine Fühler bewegen sich tastend in der Sonne, im Licht, in der Wärme.

    Und Kalübbe zieht den Fuß zurück, der schon über dem Tier schwebte. Zieht ihn zurück und bleibt stehen, sieht hinab auf den beseelten farbigen Staub.

    »Ja, auch das gibt es, Thiel«, sagt er erleichtert. »Weiss Gott, Sie haben recht. Auch das gibt es. Und manchmal wird der Fuß zurückgezogen. – Und nun bitte ich Sie nur um eines.«

    »Ja?« fragt Thiel.

    »Sie sind eben der Beherrschte gewesen und ich der Schreier. Mag angehen, dass sich heute noch einmal unsere Rolle ändert. Dann denken Sie daran, dass Sie jede Schmähung, jede Beleidigung ohne Widerspruch ertragen müssen, hören Sie, müssen. Dass ein guter Vollstreckungsbeamter keine Strafanträge wegen Beleidigung stellt, sondern vollstreckt. Dass Sie nie die Hand heben dürfen, selbst wenn ein anderer die Hand hebt. Es gibt immer zuviel Zeugen gegen Sie. Es gibt nur Zeugen gegen Sie. Wollen Sie daran denken? Wollen Sie mir das versprechen?«

    Thiel hebt die Hand.

    »Können Sie es auch halten?«

    »Ja«, sagt Thiel.

    »Dann also: Gehen wir dem Päplow in Gramzow seine beiden Ochsen versteigern.«

    2

    Die Uhr geht auf elf. Es ist immer noch Vormittag, und die beiden Finanzbeamten haben sich eben die Hand gegeben auf der Chaussee nach Gramzow.

    Im Krug von Gramzow ist es drangvoll. Alle Tische sind besetzt. Die Bauern sitzen vor Bier und Grog, auch die Schnapsgläser fehlen nicht. Aber es ist fast still im Gastzimmer, kaum ein Wort wird laut. Es ist, als horchten alle nach hinten.

    Hinten in der Wirtsstube sitzen auch Bauern, um den Tisch mit der Häkeldecke, unter dem Nussbaumregulator. Sieben Bauern sitzen dort, einer steht an der Tür, der achte. Im Sofa sitzt hinter seinem Grog ein Langer mit scharfgeschnittenem Gesicht voll unzähliger Falten, mit kalten Augen und schmalen Lippen. »Also«, spricht er und bleibt sitzen, »ihr, eingesessene Bauern von Gramzow, habt gehört, was der Bauer Päplow vorzubringen hat gegen den Entscheid des Finanzamtes in Altholm. Wer für ihn ist, hebe die Hand. Wer gegen den Bauern ist, lasse sie ungekränkt unten. Jeder tue, wie ihm dünkt, aber nur, wie ihm dünkt. – Stimmt ab.«

    Sieben Hände erheben sich.

    Der lange Bartlose steht aus dem Sofa auf. »Stoß die Tür auf, Päplow, zum Gastzimmer, dass alle hören. Ich verkünde den Beschluss der Bauern von Gramzow.«

    Die Tür geht auf, und im gleichen Augenblick erheben sich die Bauern draußen. Der Lange fragt durchs Lokal zu einem weissbärtigen Bauern an der Außentür: »Sind die Wachen besetzt?«

    »Sie sind besetzt, Vorsteher.«

    Der Lange fragt nach der Tonbank mit dem kleinen wieselartigen Wirt: »Ist kein Weibervolk in der Nähe, Krüger?«

    »Kein Weibervolk, Vorsteher.«

    »So verkünde ich, der Gemeindevorsteher Reimers von Gramzow, den Beschluss der Bauernschaft, gefasst von ihren erwählten Vertretern:

    Es liegt ein Entscheid des Finanzamts Altholm vom zweiten März vor gegen den Bauern Päplow, dass er zu zahlen hat an rückständiger Einkommensteuer aus dem Jahre 1928 vierhundertdreiundsechzig Mark.

    Wir haben zu diesem Entscheid den Bauern Päplow gehört. Er hat geltend gemacht, dass dem Entscheid die Durchschnittsertragsberechnung für Höfe dieser Gegend zugrunde liegt. Dass dieser Durchschnittsertrag auf sein Anwesen aber keine Anwendung finden könne, weil er im Jahre 1928 außerordentliche Schädigungen erlitten hat. Zwei Pferde sind ihm eingegangen an Kolik. Eine Sterke ist beim Kalben verreckt. Seinen Vater, den Altenteiler, hat er ins Krankenhaus nach Altholm schaffen müssen und dort über ein Jahr erhalten.

    Diese Gründe zum Steuernachlass sind dem Finanzamt bekanntgemacht, sowohl direkt, durch den Bauern Päplow, wie durch mich, den Gemeindevorsteher. Das Finanzamt hat die Veranlagung aufrechterhalten.

    Wir Bauern von Gramzow erklären den Beschluss des Finanzamtes Altholm für null und nichtig, weil er einen Eingriff in die Substanz des Hofes bedeutet. Wir verweigern dem Finanzamt und seinem Auftraggeber, dem Staat, jede Mithilfe in dieser Sache, es geschehe uns Liebes oder Leides.

    Die vor fünfzehn Tagen vorgenommene Pfändung zweier gut angegraster Ochsen des Bauern Päplow ist nichtig. Wer bei der heute angesetzten Versteigerung dieser Ochsen ein Gebot auf sie abgibt, soll von Stund an nicht mehr Glied der Bauernschaft sein. Geächtet soll er sein, niemand darf ihm Hilfe leisten, sei es in Nöten der Wirtschaft, des Leibes oder der Seele. In Acht soll er sein, in Gramzow, im Kreise Lohstedt, im Lande Pommern, im Staate Preußen, im ganzen Deutschen Reiche. Niemand darf zu ihm sprechen, niemand darf ihm die Tageszeit bieten. Unsere Kinder sollen nicht mit seinen Kindern sprechen, und unsere Frauen sollen nicht mit seiner Frau reden. Er lebe allein, er sterbe allein. Wer gegen einen von uns handelt, hat gegen uns alle gehandelt. Der ist heute schon tot.

    Habt ihr alle gehört, Bauern von Gramzow?«

    »Wir haben gehört, Vorsteher.«

    »So handelt danach. Ich schließe die Bauernversammlung. Die Wachen sind zurückzuziehen.«

    Die Tür zwischen Gast- und Wirtsstube geht wieder zu. Der Gemeindevorsteher Reimers setzt sich, wischt sich die Stirn ab und tut einen Zug vom kalt gewordenen Grog. Dann sieht er auf die Uhr. »Fünf Minuten bis elf. Es wird Zeit, dass du verschwindest, Päplow, sonst kann dir der Knecht vom Finanzamt das Protokoll vorlesen.«

    »Ja, Reimers. Aber wie wird es, wenn sie die Ochsen forttreiben?«

    »Sie werden die Ochsen nicht forttreiben, Päplow.«

    »Wie willst du es hindern? Mit Gewalt?«

    »Keine Gewalt. Nie Gewalt gegen diesen Staat und seinen Verwaltungsapparat. Ich weiss etwas anderes.«

    »Wenn du etwas anderes weisst … Es müsste nur sicher sein. Ich brauche das Geld für die Ochsen.«

    »Es ist sicher. Morgen wissen alle Bauern im Land, wie man in Gramzow mit dem Finanzamt fertig wird. Geh nur ruhig.«

    Der Bauer Päplow geht durch die Hintertür über den Hof hinaus, verschwindet an einem Knick. Die sieben Bauern gehen in die volle Gaststube.

    3

    Vor den Fenstern der Wirtschaft entsteht Bewegung: Die beiden Beamten vom Finanzamt kommen. Jeder führt einen rotbunten Stier am Halfter.

    Sie sind auf dem Hof von Päplow gewesen. Irgendein Knecht war da und hat sie in den Stall gelassen zu den gepfändeten Tieren. Kein Bauer war zu sehen, keine Bäuerin, niemand, der Auftrag gehabt hätte, die Pfandsumme zu erlegen. So haben sie die Tiere aufgehalftert und sind mit ihnen zum Krug gekommen, die angesetzte und bekanntgemachte Versteigerung abzuhalten.

    Sie binden die Tiere ans Reek vor der Tür und treten in die Wirtschaft. Im Gastzimmer ist Gerede gewesen, halblauter Meinungsaustausch, auch ein Fluch vielleicht, als man die Männer sah mit den beiden Tieren. Nun ist es still. Aber dreissig, vierzig Bauern sehen stur auf die Beamten, sehen ihnen ins Gesicht und verziehen nicht das eigene.

    »Ist hier vielleicht Herr Päplow aus Gramzow?« fragt Kalübbe in die Stille.

    Die Bauern sehen auf ihn und den Jungen, keiner spricht.

    »Herr Päplow hier?« fragt Kalübbe mit erhobener Stimme.

    Keine Antwort.

    Kalübbe geht durch den Mittelgang der Gaststube zur Tonbank hin. Unter all den feindlichen Blicken geht er gehemmt und unbeholfen. Einen Stock, der über einer Lehne hängt, stößt er um. Er fällt polternd hin. Kalübbe bückt sich danach, hebt ihn auf, hängt ihn über die Lehne, sagt: »Pardon.«

    Der Bauer sieht ihn an, stur, dann zum Fenster hinaus, verzieht nicht das Gesicht.

    Kalübbe sagt zum Krüger: »Ich soll hier eine Versteigerung abhalten, wie Sie wissen. Wollen Sie mir einen Tisch hersetzen lassen?«

    Der Krüger murrt: »Hier ist kein Tisch und kein Raum für einen Tisch.«

    »Sie wissen, dass Sie Platz zu machen haben.«

    »Wie soll ich es machen, Herr? Wen soll ich fortschicken? Vielleicht machen Sie sich Platz, Herr?«

    Kalübbe sagt mit Nachdruck: »Sie wissen …«

    Und der wieselige Krüger eilfertig: »Ich weiss. Ich weiss. Aber geben Sie mir einen Rat. Kein Gesetz, verstehen Sie, einen brauchbaren Rat.«

    Eine Stimme ruft befehlend durchs Lokal: »Setz einen Tisch vor die Tür.«

    Plötzlich ist der kleine Krüger ganz Beweglichkeit, Höflichkeit. »Einen Tisch vor die Tür. Selbstverständlich. Die beste Idee. Man kann dann auch das Vieh sehen.«

    Der Tisch wird nach draußen gebracht. Der Krüger trägt eigenhändig zwei Stühle herbei.

    »Und nun zwei Glas Helles für uns, Krüger.«

    Der Krüger bleibt stehen, sein Gesicht legt sich in Falten, Kummer ist darin. Er schielt zu den offenen Fenstern, hinter denen die Bauern sitzen. »Meine Herren, ich bitte Sie …«

    »Zwei Glas Helles! Was soll das …?«

    Der Krüger hebt ganz schnell die Hände zu einer Bitte. »Meine Herren, verlangen Sie nicht von mir …«

    Kalübbe sieht rasch zu Thiel hin, der das Gesicht über die Tischplatte gesenkt hält. »Sehen Sie, Thiel!« Und zum Krüger: »Sie müssen uns Bier ausschenken. Wenn Sie’s nicht tun und ich zeige Sie an, sind Sie die Konzession los.«

    Und der Krüger vollendet im gleichen Ton: »Und wenn ich’s tue, bin ich meine Gäste los. So kaputt und so kaputt, Herr.«

    Kalübbe und der Krüger sehen sich an, eine lange Zeit, scheint es.

    »Also sagen Sie drinnen, dass die Auktion beginnt.«

    Der Krüger macht eine halbe Verbeugung. »Solange es geht, soll der Mensch Mensch bleiben.«

    Er geht. Der Beamte nimmt aus seiner Aktentasche Protokoll und Bedingungen, legt sie vor sich auf den Tisch. Thiel möchte gern, dass er ihn jetzt einmal ansähe, darum sagt er: »Ich habe eben an die Pistole gedacht. Ich glaube, ich lerne schon, dass Waffen nichts helfen.«

    Kalübbe sagt trocken und blättert in seinem Protokoll: »Es ist noch nicht Abend. Wenn wir zu Haus sind, haben Sie mehr gelernt.«

    Ein Schatten fällt auf den Tisch. Ein junger Mensch, schwarz gekleidet, eine schwarze Hornbrille auf der Nase, über der Schulter den Lederriemen eines Photoapparates, tritt hutlüftend heran. »Gestatten Sie, meine Herren, mein Name ist Tredup, von der ›Chronik für Altholm‹. Ich war eben in 2, den Kirchenneubau für unser Blatt zu photographieren. Im Vorbeiradeln sehe ich, hier soll eine Auktion abgehalten werden.«

    »Das Inserat stand auch in Ihrem Blatt.«

    »Und das ist das gepfändete Vieh? – Man hört so viel von Schwierigkeiten bei Pfändungen. Hatten Sie welche?«

    »Erlaubnis zu dienstlichen Auskünften erteilt Herr Finanzrat Berg.«

    »Also Sie hatten keine Schwierigkeiten? Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich die Auktion photographierte?«

    Und Kalübbe, barsch: »Stören Sie mich nicht länger. Ich habe keine Zeit für Ihr Geschwätz!«

    Tredup zuckt überlegen die Achseln. »Wie Sie meinen. Jedenfalls werde ich photographieren. – Jeder hat seine Art Brot, und besonders süß scheint Ihres auch nicht zu schmecken.«

    Er geht auf die andere Seite der Dorfstraße und beginnt seinen Apparat fertigzumachen.

    Kalübbe zuckt die Achseln. »Er hat ja im Grunde recht. Es ist sein Beruf, und es war albern von mir, ihn anzugrobsen. Aber ich habe eine Wut auf die von der ›Chronik‹. Das ist schon Revolverjournalismus, was die treiben. Haben Sie vor ein paar Tagen die Kritik über den Zirkus Monte gelesen?«

    »Doch. Ja.«

    »Die reine Erpressung. Dabei weiss ganz Altholm, dass kein Mensch von der ›Chronik‹ zur Vorstellung war. Der Besitzer wollte wegen Geschäftsschädigung klagen, aber das hat ja alles keinen Zweck bei denen. Der Schabbelt verdreht, die Frau versoffen, der Kerl, der das Blatt schreibt, der Stuff, kriegt auch so seine periodischen Touren … Und was da sonst so rumläuft …«

    »Gott! Wer liest denn die ›Chronik‹? Ich lese die ›Nachrichten‹.«

    »Soll mich wundern, was der Kerl über die Auktion zusammenschmiert. Mittlerweile scheint niemand zu kommen.«

    Sie sehen nach den Fenstern der Gaststube. Soviel sie erkennen können, ist es leerer dort geworden, trotzdem noch genug Bauern dasitzen.

    »Gehen Sie noch einmal in die Tür und rufen Sie aus, dass die Auktion beginnt. Und dann sagen Sie dem Krüger, dass er zu mir kommen möchte.«

    Thiel steht auf, geht in die Tür. Kalübbe hört ihn rufen, irgend jemand antwortet. Es entsteht Gelächter, dann gebietet eine scharfe Stimme Ruhe. Nach einer Weile kommt Thiel zurück.

    »Was war da eben?« fragt Kalübbe gleichmütig.

    »Der Krüger wird sofort kommen. – Ach ja, irgendein Witzbold rief mir zu: ›Jung, goh no Hus, dien Mudder will di waschen!‹ Aber ein Langer hieß ihn Maul halten.«

    Der Krüger tritt an den Tisch. »Bitte, meine Herren?«

    »Waren keine Viehhändler heute morgen da?«

    »Doch. Viehhändler waren da.«

    »Wer?«

    Der Krüger zögert. »Ich weiss nicht. Ich kenne sie nicht.«

    »Natürlich kennen Sie sie nicht. Und die sind wieder fortgefahren?«

    »Die sind wieder fortgefahren.«

    »Danke. Das war alles.« Der Krüger geht, und Kalübbe sagt zu Thiel: »Nun rufe ich noch den Fleischer Storm an. Bei dem kaufe ich selbst mein Fleisch. Vielleicht, dass der die Courage hat und kauft das Vieh zur Taxe. Das ist halb geschenkt.«

    »Und wenn nicht?«

    »Gott, dann rufe ich den Finanzrat an. Mag der mal entscheiden, was geschehen soll.«

    Thiel sitzt und schaut auf die besonnte Dorfstraße. Ein paar Hühner suchen in Pferdeäpfeln unverdautes Korn, über den nächsten Hofeingang streicht sacht mit aufrechtem Schwanz eine Katze. Es wäre ganz schön hier, denkt er. Es ist alles beieinander, aber es ist Unrat in der Luft. Dem Kerl von der »Chronik« scheint auch klargeworden, dass aus der Auktion nichts wird. Da streicht er ab. Hat den Apparat noch in der Hand, vielleicht hat er was Besseres gefunden zu photographieren. – Muhe nicht, Ochs. Ich habe auch Durst und kriege nichts, trotzdem hier Hof bei Hof Brunnen sind. – Kalübbe ist hübsch vergrätzt, aber er nimmt es zu tragisch. Bauern sind Bauern. Ein dickes Fell und seinen Dienst tun, nichts denken. Mittelalter und Scharfrichter – wo er das her hat? Er muss richtig darauf lesen. Ich habe meinen Skat und er seine Familie und wir beide Altholm, was brauchen wir da Bauern? Und hübsch ist es doch hier, wenn auch Unheil …

    Er döst ein bisschen in der Mittagssonne vor sich hin. Die Ochsen werfen die Köpfe und wehren mit dem Schwanz die Fliegen.

    4

    Kalübbe steht wieder am Tisch. »Geschlafen? Ja, es ist ganz, als könnte ein Gewitter kommen. Heut ist ein Tag, an dem die Milch zusammenläuft. – Also, der Fleischer Storm will nicht. Er hat Angst. Denkt, er bekommt landauf, landab kein Vieh mehr zu kaufen. Lass ihn. Wird meine Frau ihr Fleisch bei einem andern Fleischer kaufen.«

    »Und der Finanzrat?«

    »Ja, der Finanzrat, der hohe Herr, der Herr Berg verstehen das natürlich nicht. Die Sache ist ihm einfach unverständlich. Aber jedenfalls soll heute einmal ein Exempel statuiert werden, und die Bauern nicht mit dem Kopf durch die Wand. Wir sollen die Ochsen nach Haselhorst treiben und nach Stettin verladen. Vergnügen, was? Einen Wagen habe ich eben auch gleich bestellt. Also denke ich, wir machen los. Je eher wir dort sind, um so eher kriegen wir ein Glas Bier. Der Bahnhofswirt muss ausschenken.«

    »Also denn los! Welchen nehmen Sie?«

    »Lassen Sie mir den mit dem krummen Horn. Der ist zappelig. Und wenn er abhauen will, den Zaum nicht loslassen und feste mit dem Stock auf die Nase. Dann vergeht ihm schon das Rennen.«

    Sie haben die Stricke vom Reek losgeknotet und machen sich an den Aufbruch. Die Tür von der Wirtschaft geht auf, und Bauer auf Bauer, ein Dutzend, zwei Dutzend, drei Dutzend treten aus der Gaststube. Sie stellen sich längst des Weges auf, wortlos stehen sie da, sehen den Abmarsch an.

    Die beiden treiben die Dorfstraße entlang. Die Tiere gehen ruhig. Kalübbe wendet sich nach Thiel um und fragt: »Gemütlich, solch ein Spießrutenlaufen?«

    »Wenn es denen Vergnügen macht!«

    »Natürlich! – Was ist das?«

    Das Dorf ist zu Ende. Die Straße hat einen scharfen Knick gemacht, und zwischen Ebereschen liegt die Chaussee nach Haselhorst vor ihnen. Auf beiden Seiten breite, wasserreiche Vorflutgräben, und vor ihnen, dreihundert Meter weiter, haben sie ein helldunkles Gewimmel, ein Hindernis.

    »Was ist das?«

    »Ich kann es nicht schlaukriegen. Bauen die eine Barriere?«

    »Es sieht so hell aus. Und locker. Wie Stroh. Jedenfalls kümmern wir uns um nichts. Gehen grade durch.«

    »Und wenn wir nicht vorbeikommen? Die Gräben sind zu breit.«

    »So warten wir. Es wird ja irgendein Wagen oder ein Auto kommen.«

    Sie sind nahe, und nun ruft Thiel erleichtert aus: »Es ist nichts. Da hat einer ein Strohfuder umgeschmissen.«

    »Ja. Es scheint so.«

    Aber, als sie noch näher sind: »Da stimmt doch was nicht. Die laden nicht wieder auf. Die führen ja Wagen und Pferde fort!«

    »Egal! Wir gehen durch. So ein Strohbund schmeisst man mit dem Fuß beiseite.«

    Jetzt sind sie ganz nahe. Drei, vier Leute stehen dort beim Stroh, das quer über die Chaussee liegt. Einer bückt sich, und plötzlich züngelt es auf, hier, dort. Eine Flamme tanzt. Zehn. Hundert. Rauch, weisser dicker Qualm wallt empor.

    Die Stiere werfen die Köpfe hoch, sperren sich breitbeinig. Reissen den Leib herum.

    Und plötzlich wirft sich der Wind in die Flammen, sengende Glut schlägt ihnen entgegen, sie stehen ganz im Rauch …

    »Los! Los! Zurück ins Dorf!« schreit Kalübbe und hämmert wild mit dem Knüppel auf die Nase seines Stiers. Dumpf dröhnt der Nasenknorpel.

    Fast Seite an Seite, taumelnd, fallend, vom Strick wieder hochgerissen, rasen sie dem Dorf zu.

    Dann, hundert Schritte weiter, geht das Vieh ruhiger. Atemlos ruft Kalübbe: »Diesmal muss ich einen Bericht schreiben, es hilft nichts.«

    »Und was machen wir nun?«

    »Nach Haselhorst lassen uns die nicht. Das ist zwecklos. Aber nun grade! Wissen Sie was, jetzt spielen wir ihnen einen Streich und treiben über Nippmerow, Banz, Eggermühle nach Lohstedt.«

    »Vierzehn Kilometer!«

    »Und wenn! Wollen Sie die Stiere dem Päplow wieder in den Stall stellen?«

    »Ausgeschlossen!«

    »Also!«

    Jetzt sind sie wieder am Krug. Dort stehen die Bauern, sehen ihnen entgegen.

    »Die haben auf uns gewartet. Na, eure Stiere sollt ihr deswegen doch nicht haben. – Glatt und möglichst rasch vorbei treiben.«

    Alle Gesichter sehen auf sie. Es sind junge und alte, sehr weissblonde, mehlige, glatte und ganz zerfurchte mit grauen und schwarzen Bärten und mit der Lederhaut der Herbststürme und Winterregen. Als sie sich nähern, löst sich der Schwarm auf. Ein Teil tritt auf die andere Seite der Dorfstraße, und nun, als sie vorbei wollen, setzen sich alle in Bewegung, gehen stumm und dicht neben ihnen her, ein Geleit. Mit gesenkten und erhobenen Gesichtern, die nichts ansehen, Handstöcke in der Hand.

    Das gibt noch etwas. Das geht nicht glatt, denkt Kalübbe. Wenn ich nur an den Thiel heran könnte, dass er nicht die Ruhe verliert.

    Aber die Bauern gehen zu eng, und jetzt laufen die Stiere fast, sie riechen den Päplowschen Stall.

    Doch Kalübbe passt auf. Im Augenblick, da sein Stier in die heimische Hoffahrt einbiegen will, gibt er ihm einen dröhnenden Schlag aufs rechte Horn, stößt gleich darauf die Stockspitze in die Weiche, und der Stier rast los, blindlings gradeaus, die Dorfstraße entlang.

    Das ging gut, denkt Kalübbe laufend und wundert sich, dass die Bauern noch nicht nachgeben, weiter nebenher traben. Aber da ist auch schon Thiel dicht neben ihm. Vom Rennen atemlos, flüstert er dem zu: »Kümmere dich um nichts, Thiel. Strick fest ums Handgelenk. Lass dir das Tier nicht klauen. Das gehört dem Staat, und das muss jetzt nach Lohstedt, koste es, was es wolle.«

    Die Bauern laufen nebenher. Es ist so viel Getrapps auf dem Weg und die Aussicht beengt. Und doch! Da vorn ist wieder das Hellgelbe, auch auf diesem Wege.

    Aber nun gibt es kein Halten mehr. Durch müssen wir, denkt Kalübbe.

    Das verängstigte Tier rast nur so, Kalübbe kann sich nicht umdrehen. Er hört, wie die Stockschläge der Bauern hageldicht auf seinen Ochsen prasseln, er schreit: »Achtung, Thiel! Auf die Wiese!«

    Und da ist das Feuer schon. Er sieht irr-deutlich sechs, acht Gesichter, er sieht plötzlich den Kerl von der »Chronik« mit dem Photoapparat in der Hand, er sieht noch, wie ein Bauer mit dem Stock nach dem Apparat schlägt …

    Dann ist die Glut da, die Hitze, stechender Qualm.

    Er sieht nichts mehr. Der Stier reisst ihm die Hand ab, so zerrt er am Strick.

    Und nun steht er an einem Baum. Er ist durch, die Straße vor ihm ist frei, er atmet schwer mit versagenden Lungen.

    Dann schaut er sich um. Dicke weissgelbe Qualmschwaden wälzen sich über Wiese und Weide. Schatten huschen darin.

    Wo ist Thiel?

    Dann sieht er den andern Stier über eine Wiese rasen, führerlos, mit hocherhobenem Schwanz und gesenktem Kopf.

    Er wartet eine Viertelstunde, eine halbe. Er kann nicht fort von dem Tier, es gehört dem Staat. Schließlich gibt er das Warten auf. Der Thiel wird sich schon wieder anfinden. Die Bauern tun niemand nichts.

    Kalübbe nimmt mit seinem Ochsen den Weg nach Lohstedt unter die Füße.

    ZWEITES KAPITEL – Jagd nach einem Photo

    1

    Es ist abends gegen elf. Stuff ist eben aus dem Kino gekommen und hat sich im Tucher zu Wenk an den Tisch gesetzt.

    »Was trinkst du? Nur Bier? Nee, das genügt nicht, bei mir burren die trüben Fliegen heut wieder. – Franz, einen halben Liter Helles und eine Kömbuddel.«

    »Wie war’s im Kino?«

    »Mist, verdammter. So was muss man morgen loben, bloß weil die Affen inserieren.«

    »Was war’s denn?«

    »So ein erotischer Schmarren. Was Ausgezogenes.«

    »Das ist doch was für dich?«

    »Hau ab, Wenk! Was die heute schon Erotik nennen! Wozu ausziehen? Man weiss ja schon alles vorher.«

    Stuff trinkt. Erst einen Schnaps. Dann einen langen Schluck Bier. Dann wieder einen Schnaps.

    »Das ist das Richtige. Solltest du auch tun. Das macht Stimmung.«

    »Geht nicht. Darf nicht. Mein Wachtmeister schimpft, wenn ich nach Schnaps stinke.«

    »Gott ja, deine Olle. Komisch muss das sein, immer dieselbe. So gar keine Überraschung. Macht das denn noch Spass?«

    »Spass? Ehe ist doch kein Spass.«

    »Eben. Hab ich mir immer schon gedacht. Und ohne Überraschungen. Nee, danke. Weisst du, das ist ja der Mist bei der modernen Frauenkleidung: Man weiss alles schon vorher. Diese blöden Schlüpfer! Früher, die weiten, weissen offenen Hosen!« Er versinkt in Schwärmerei.

    »Wo sitzt eigentlich dein Mann?« stört ihn Wenk.

    »Wieso? Mein Mann? Ach so, der Kalübbe! Dort. Der übernächste Tisch. Der Griese, der Skat spielt, so ein bisschen dick.«

    »So, das ist Kalübbe«, sagt Wenk enttäuscht. »Den hätt ich mir anders gedacht.«

    »Anders gedacht. Der ist gut so, wie er ist. Schon die beiden Kerle, die mit ihm spielen. Das muss die reine Freude sein für den Herrn Finanzrat.«

    »Wer ist denn das?«

    »Na, den in der grauen Uniform musst du doch kennen. Den kennt doch jedes Kind. Nicht? Das ist der Hilfswachtmeister Gruen aus dem Kittchen. Mall-Gruen nennen sie ihn, weil er verrückt ist, seit ihn die Muschkoten November achtzehn an die Wand gestellt haben.«

    »Warum denn?«

    »Weil er sie zu sehr gezwiebelt hat, wahrscheinlich. Sie haben nach ihm Scheibenschießen gemacht, und dass er dabei leben geblieben ist, das hat er, glaub ich, selber noch nicht kapiert. – Du musst mal aufpassen, wenn die Rechten schwarzweissrot flaggen, dann kann er an keiner Flagge vorüber. Zieht den Hut und verkündet: ›Unter dieser Fahne haben wir nicht gehungert.‹ Die Kinder laufen ihm in Scharen nach.«

    »Und so was ist Beamter?«

    »Warum nicht? Zellen wird er wohl noch auf- und zuschließen können.«

    »Und der dritte?«

    »Das ist der Lokomotivführer Thienelt. Dienstältester Lokomotivführer im Bezirk. Hinter dem ist schon die ganze Reichsbahndirektion her gewesen, er soll Dienstuniform anziehen. Er tut es nicht. Warum wohl?«

    »Keine Ahnung. Sag schon.«

    »Na, sehr einfach. Er tut es nicht, weil er dann die Dienstmütze aufsetzen müsste. – Du bist zu doof, Wenk. Saufen kannst du gut, aber zu doof bist du doch. – Weil an der Dienstuniform ein neumodischer Adler ist, und er ist noch für die altmodischen …«

    »Und er tut’s nicht?«

    »Er tut’s nicht. Nun haben sie ihn auf ’ne Rangierlokomotive gesetzt, aber er denkt: Meine zwei Jahre bis zur Pension halt ich’s noch aus. Die Oberen lassen ihn jetzt in Ruhe, aber die Kollegen. Kollegen sind immer das Schlimmste.«

    Pause. Stuff trinkt ausgiebig.

    »Mittlerweile könnte der Kalübbe endlich mal pinkeln gehen, dass ich ihn draußen unauffällig sprechen kann.«

    »Glaubst du denn, er tut es?«

    »Wenn man es richtig anpackt, tut er es.«

    »Du riskierst was dabei.«

    »Wieso? Wenn es rauskommt, bin ich besoffen gewesen.«

    »Du, Stuff, der Einzeljüngling am Ecktisch fixiert dich immer.«

    »Wenn’s ihm Spass macht. Nee, den kenne ich nicht. Ehemaliger Offizier, taxiere ich. Reist jetzt in Ölen und technischen Fetten.«

    »Sieht ganz so aus, als möcht er mit dir reden.«

    »Vielleicht kennt er mich. – Prost! Prost!« schreit Stuff durch das ganze Lokal dem unbekannten jungen Mann zu, der das Bierglas grüßend gegen ihn erhob.

    »Kennst du ihn doch?«

    »Keine Ahnung. Der will was. Na, er wird schon kommen.«

    »Komisch eigentlich, dir so zuzuprosten.«

    »Warum komisch? Wenn ihm meine Kartoffelnase gefällt? Na, ich will erst noch mal einen Schnaps verlöten, Kalübbe sitzt ordentlich fest.«

    »Du, Stuff«, fängt Wenk wieder an. »Der Tredup hat sich heute über dich beklagt. Du lässt ihn nichts verdienen.«

    »Tredup kann mir. Mit Tredup rede ich schon vierzehn Tage nichts.«

    »Wegen der Ochsen?«

    »Wegen der Ochsen! Glaubt der Ochse, ich bringe seinen Artikel über die Ochsenpfändung, bloß damit er seine fünf Pfennig die Zeile kriegt?!«

    »Geld hat er, glaube ich, nötig.«

    »Haben wir alle. Ich will dir was sagen, Wenk, alle Leute, die zuwenig Geld haben, taugen nichts. Tredup ist scharf auf Geld wie die Katze auf Baldrian.«

    »Vielleicht schiebt er Kohldampf mit seiner Familie.«

    »Soll ich deswegen alle mit seinem blöden Bericht vor den Kopf stoßen? Bring ich was für die Bauern, dann freu dich für deinen Annoncenteil: Finanzamt, Polizei, Regierung mit ihren Bekanntmachungen, alles schnappt ab.«

    »Aber er sagt, er hat dir einen zweiten Bericht gegen die Bauern geschrieben.«

    »Und …? Soll ich gegen die Bauern sein? Nee, so ein bisschen Sympathie hat man doch noch. Säße ich sonst hier und lauerte auf den Kalübbe, der partout nicht aus den Hosen will? – Na, endlich! Wenn man den Esel nennt … Bis nachher!«

    Und Stuff geht schwerfällig dem Kalübbe nach.

    2

    Stuff stellt sich im Pissoir an das Becken neben Kalübbe. Der stiert tiefsinnig in das rinnende Wasser. Stuff sagt: »’n Abend, Kalübbe!«

    »’n Abend! Ach so ja, du, Stuff. Es geht so, nicht wahr?«

    »So wie immer: beschissen.«

    »Wie kann es auch anders gehen?«

    »Na so was! Klagen jetzt auch schon die Beamten?«

    »Beamter,

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