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Mordsgeschäft: Allgäu Krimi
Mordsgeschäft: Allgäu Krimi
Mordsgeschäft: Allgäu Krimi
eBook536 Seiten9 Stunden

Mordsgeschäft: Allgäu Krimi

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Über dieses E-Book

Jahrzehntelang waren sie gezwungen, im besten Viertel von Mindelheim zusammenzuwohnen: die beiden exzentrischen Schwestern Rothenfels. Nun ist eine von ihnen tot und die andere darüber nicht traurig. Sissi Sommer und Klaus Vollmer vom K1 in Memmingen haben schon schwierigere Fälle gelöst. Denken sie. Denn als auf der Mindelburg ein weiterer Toter entdeckt wird, müssen sie erkennen, wie fatal sie sich getäuscht haben.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum19. Okt. 2016
ISBN9783960410904
Mordsgeschäft: Allgäu Krimi
Autor

Barbara Edelmann

Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu-Krimis. Außerdem liebt sie Rothenburg ob der Tauber und widmet der Stadt ihre zweite Krimireihe.

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    Buchvorschau

    Mordsgeschäft - Barbara Edelmann

    Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu und möchte laut eigener Aussage »nirgendwo anders sein«. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu Krimis.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    © 2016 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: photocase.de/claudiarndt

    Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Christine Derrer

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-090-4

    Allgäu Krimi

    Originalausgabe

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    Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

    Dieses Buch widme ich

    Lydia Kröll-Schön und Maria Witzig,

    zwei wirklich tollen Frauen.

    Donnerstagabend, Legau

    »Wo gehst du hin?« Christa Melzer stand mit großen Augen in der Wohnzimmertür und starrte verblüfft ihren Ehemann an, der gerade versuchte, in seine schwarze gefütterte Lederjacke zu schlüpfen, ohne dass seine Frau es bemerkte.

    »Weg muss ich«, antwortete der Angesprochene mürrisch. »Hab grad einen Anruf gekriegt. Der Helmut hat eine Panne. Kommt sonst keiner, und im ADAC ist er net. Muss ihm helfen.«

    »So. Der Helmut …« Christa stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihren Mann durchdringend an.

    Sie war eine hübsche, schlanke Blondine Ende dreißig, mit großen blauen Augen und einer bemerkenswert gut proportionierten Figur. Ein Allgäuer Mädel wie aus dem Bilderbuch. Aber leider – wie ihre Mutter immer wieder seufzend beim Friseur erzählte – »nicht die hellste Kerze am Leuchter«. Das wussten eigentlich alle außer Christa selbst. René Descartes hat angeblich einmal gesagt: »Nichts ist so gerecht verteilt wie der Verstand – jeder glaubt, dass er genug davon hat.«

    Wie sie jetzt empört in der Tür lehnte und ihren Ehemann von oben bis unten betrachtete, dass diesem ganz ungemütlich zumute wurde, ähnelte Christa einer Serienfigur aus den achtziger Jahren, die von ihrem Vater immer liebevoll »Dumpfbacke« genannt worden war. Nur hätte Ernst Mooslechner, Christas Vater, das nie getan, denn er liebte seine Tochter abgöttisch und hasste seinen Schwiegersohn abgrundtief.

    Christa trat einen Schritt nach vorn. Ihr ansehnliches Dekolleté war nur notdürftig von einer knallroten Trainingsjacke verdeckt. Auf diesen Abend zu zweit hatte sie sich gefreut, denn ihr Mann hatte selten frei und war noch seltener daheim. Nicht mal zur Arbeit nach Mindelheim fuhren beide gemeinsam, weil Toni oft später heimkam und früher wegmusste, denn in der Firma gab es viel zu tun. Und Toni musste gleich auf die Baustelle. Außerdem war sie beunruhigt, denn Helmut hatte ihr gestern etwas verraten … Christa schüttelte ihren hübschen Kopf und scheuchte den Gedanken in die hinterste Ecke ihres übersichtlichen Gehirns. Allerdings … Nein. Das Beste war, nicht darüber nachzudenken.

    »Und wie heißt der Helmut wirklich? Brunhilde? Beate? Berta?« Christa war davon überzeugt, dass sie betrogen wurde, deshalb beschlich sie immer ein ungutes Gefühl, sobald er das Haus verließ. Das lag zum einen am ungehemmten Konsum etlicher Vorabendserien und zum anderen daran, dass Toni regelmäßig nach Parfüm roch, wenn er nach Hause kam. Darüber hinaus besaß Christa den typisch weiblichen Instinkt, kombiniert mit einem untrüglichen »Flittchenradar«, den sie als verheiratete Frau quasi bei der Hochzeit dazugeliefert bekommen hatte.

    Christa war hübsch, anständig, fleißig … und ein wenig schlicht im Geiste. Sie konnte zwar Prozentrechnen, war aber vertrauensselig und von einer solch überbordenden Naivität, dass ihre Eltern die letzten zwanzig Jahre vorwiegend damit beschäftigt gewesen waren, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und ihre Tochter aus allerlei Bredouillen zu retten.

    Andererseits war diese Naivität einer der ausschlaggebenden Gründe gewesen, warum Christa es an Heiratskandidaten niemals mangelte, denn sie war sehr freigiebig, was ihre Reize betraf, und nicht nachtragend, weil sie das angestrengt hätte. Für jeden feschen Allgäuer Burschen, der sie nach einer verschwitzten Nacht abservierte, wartete am nächsten Morgen bereits ein neuer vor der Tür.

    Überhaupt gibt es viele Männer, nicht nur im Allgäu, die es recht praktisch finden, wenn eine Frau kein Mathegenie ist. Denen reicht es, wenn ein hübsches Weibsbild die Zutaten für einen anständigen Gugelhupf ausrechnen kann und das WC-Papier niemals ausgehen lässt.

    Christas Männer waren oftmals anspruchslos. Sie war es auch.

    Nun allerdings hing schon seit einiger Zeit bei den Melzers der Haussegen schief. Keine Frau mag es, wenn ihr Mann allabendlich verschwindet, auch wenn es einem guten Zweck dient wie dem Geldverdienen, denn wie schon Marika Rökk so schön in den fünfziger Jahren sang: »In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine.«

    Und Christa saß oft allein zu Hause, sehr oft, denn das Leben war hart, die Raten für das Haus hoch und ihre Hemmschwelle beim Einkaufen niedrig, seitdem sie auf dem Teleshoppingkanal diese entzückenden Künstlerpuppen für sich entdeckt hatte. Christa konnte nun einmal schlecht Nein sagen zu all den niedlichen großen Augen, den porzellanenen Mündern und den spitzenbesetzten Kleidchen, denn das Kinderzimmer im Hause Melzer war immer noch leer. So kam es, dass immer zu viel Monat am Ende des Geldes bei den Melzers übrig war und es übermäßig oft Nudeln mit Ketchup oder eine Kartoffelsuppe gab, worüber Toni jedes Mal die Nase rümpfte. Denn er war ein Mann, und die brauchten Fleisch, wie er immer wieder betonte.

    Jetzt lachte Toni seine Frau breit an. »Geh, stell dich net so an. Ich bescheiß dich net, das weißt du doch, obwohl du mich schon am ausgestreckten Arm verhungern lässt in letzter Zeit. Ist net schön, weißt, Schatzi. Aber ich wär doch ohne dich aufgeschmissen. Du bist die Schönste im ganzen Land, das hab ich dir doch schon ein paarmal gesagt. Du sitzt bloß zu viel allein daheim rum oder schläfst. Lust hast auch keine mehr. Außerdem ist es ganz normal, wenn man seinem Kumpel hilft, wenn der ein Problem hat, oder?«

    Er griff nach seinem Autoschlüssel, der in einer Schale auf der Dielenkommode lag. Im Flur brannte eine trübe Energiesparlampe und beleuchtete notdürftig die gesamte Dieleneinrichtung; also einen zerkratzten, alten handbemalten Bauernschrank, einen stockfleckigen Spiegel und einen an mehreren Stellen ausgefransten Flickerlteppich. Das Haus der Melzers war zwar nagelneu, aber die meisten Teile der Einrichtung waren es nicht.

    »Ich glaub dir net. Der Helmut … und überhaupt von wegen zu viel daheim rumhocken …«, brummte Christa. »Ich bin genug draußen. Jeden Tag steh ich in der blöden Küche in der ›Kutsche‹ und schnippel Salat. Neulich hab ich Schneckenhäuschen füllen müssen. Mit Schnecken! Außerdem mach ich ständig Sachen, die net in der Arbeitsbeschreibung gestanden sind. Weißt du überhaupt, wie eklig des ist, Schnecken in ein Häuschen zu stopfen? Ich hab was anderes gelernt und darf jetzt jeden Tag mit fettigen Haaren heimkommen. Bloß weil …«

    »… ich net genug verdien?« Toni, der eigentlich auf dem Sprung nach draußen war, blieb wie angenagelt stehen.

    »Des hast du jetzt gesagt, Toni«, versuchte Christa einen Rückzieher.

    »Ich mach doch schon, so viel ich kann«, polterte Toni, ein äußerst attraktiver blonder Bursche mit blitzblauen Augen und einem kantigen Gesicht, und baute sich vor ihr auf. »Ich schaff doch auch jeden Tag. Und sogar oft in der Nacht.«

    »Ja, und wo ist des Geld dann?«, fragte Christa und hätte sich im gleichen Moment am liebsten auf die Zunge gebissen, denn es gab ein paar Themen, auf die ihr Mann nicht gut zu sprechen war.

    Obwohl, Christa hätte wirklich gern mal gewusst, wo denn der ganze Verdienst blieb. Ihr Mann hatte einen festen Job und dazu noch den Nebenjob für seine abendliche Tätigkeit, die er seit Neuestem ausübte.

    Gelegentlich drückte er ihr mal einen Hunderter in die Hand, grinste und sagte: »Kauf dir was Nettes, Mausi. Am besten was zum Ausziehen …« Und Christa nahm den Schein und versteckte ihn in ihrer Wäschekommode unter den geräumigen Büstenhaltern, weil sie annahm, dass dort niemand nachsehen würde.

    »Jetzt wirst frech, Mausi.« Toni funkelte sie wütend an.

    Niemand, wirklich niemand wollte, dass Toni Melzer wütend wurde, und das schon seit ungefähr dreißig Jahren, denn er war als Rauf- und Trunkenbold bekannt gewesen, lange bevor er Christa geheiratet hatte. Und wenn Toni in Rage war, dann wuchs kein Gras mehr. Oder kein Zahn.

    »Mir reden ein andermal, Mausi«, versuchte Toni das Gespräch zu beenden und riss sich zusammen. »Muss wirklich weg. Mir ham Dezember, es ist kalt, und so lang kann ich den Armen net draußen stehen lassen. Der erfriert ja.«

    »Mir doch wurscht«, knurrte Christa patzig. »Ihr zwei vietnamesische Zwilling, könnts euch wohl gar net trennen. Man könnt meinen, du bist mit dem Helmut verheiratet und net mit mir. Oder ich bin mit dem Helmut verheiratet, weil den des wenigstens interessiert, wie es beim Schaffen ist. Dich nie!« Sie hob den Zeigefinger in die Höhe.

    »Und gestern hab ich schon wieder beim Helmut mitfahren müssen. Komische Sachen hat der erzählt. Auch über dich. Des weißt net, wie der über dich redet, gell? Ich mag den net. Niemand mag den. Aber des ist traurig, dass mich mein eigener Ehemann nie was fragt, wie es mir geht oder wie es bei der Arbeit ist. Scheiß-Arbeit. Der Helmut hat mir immerhin den Job besorgt.«

    Christa schob schmollend ihre Unterlippe nach vorn. »Und nie darf ich dein Auto nehmen, obwohl’s bloß umeinandersteht. Du hast doch den Geschäftswagen. Ist gar net, als ob mir zwei verheiratet wären. Gar net.«

    »So ein Schmarren.« Toni musterte sie, obwohl er es eilig hatte, von oben bis unten. Was er sah, gefiel ihm. Immer noch. Obwohl er in letzter Zeit öfter darben musste, denn seine Frau war, seitdem sie in der »Kutsche« arbeitete, nur noch müde.

    »Hab dir doch am Dienstag gezeigt, wie mir verheiratet sind, schon vergessen? Müsstest du dir doch gemerkt haben, so oft kommt’s ja nimmer vor, oder? Weil d’ alleweil nur noch schläfst.«

    Christa wurde tatsächlich rot. Aber nur ein bisschen.

    »Jetzt wart amal ab, Christa.« Toni hatte sich besonnen und beschlossen, sein freundlichstes Gesicht aufzusetzen. »Ich verdien halt net so viel. Hätt Banker werden sollen wie der Lukas vom Hoff. Aber Handwerk hat goldenen Boden, hat mein Vater gsagt. Möchte bloß wissen, wo. Wird aber net so bleiben. Das versprech ich dir. Dann kannst du dir die schönsten Sachen kaufen, alles, was du willst.«

    Er fuhr ihr liebevoll über die Wange. »Und ein anständiges Auto kriegst du auch, eins mit höchstens zwanzigtausend Kilometern auf dem Tacho. Ich weiß, dass du net so gern mit dem Helmut im Auto sitzt. Aber ich bin froh, dass er dich ab und zu mitnimmt. Und der redet viel, wenn der Tag lang ist. Hör halt net hin. Brauchst nicht schimpfen, des wird alles schon. Der Chef kann mich gut leiden. Und ich bring ja auch immer was mit, so unter der Hand. Bisserl Schwarzgeld schadet ja nie.«

    Er sah Christa treuherzig an. Und für einen Moment glaubte er tatsächlich selbst, was er gerade gesagt hatte.

    Christa wickelte sich etwas fester in ihre Trainingsjacke und verdeckte ihren ansehnlichen Busen. Es hatte keinen Zweck, mit Toni zu reden, so viel war sogar ihr in den letzten fünf Jahren ihrer Ehe aufgefallen. Toni machte, was er wollte. Und weil er so ein verdammt hübsches Mannsbild war, würde das auch so bleiben, denn Christa hatte viel zu viel Angst davor, wieder auf den freien Markt geschwemmt zu werden, um dort mit den Zwanzigjährigen konkurrieren zu müssen.

    Leider fand sie einfach keine Arbeit mehr als Friseurin, zumindest nicht innerhalb einer vernünftigen Reichweite. Deshalb schnippelte sie in Mindelheim in der »Kutsche« jeden Tag Gemüse und Salat, spülte fettige Teller, putzte fleckige Böden und verirrte sich ständig in den engen Gassen der Mindelheimer Altstadt, denn sie besaß keinerlei Orientierungssinn.

    Bis auf eine unerklärliche Liebe zu auf dem Teleshoppingkanal emsig beworbenen Künstlerpuppen war Christa fleißig und äußerst sparsam. In ihrer Freizeit probierte sie neue, nicht zu teure Backrezepte aus und wartete ansonsten gelangweilt auf ihren Ehemann, wobei sie regelmäßig einschlief. Toni ließ sich nicht sehr oft blicken, weil er entweder mit seinem besten Kumpel Helmut Zimmermann in den Kneipen, vor allem im »Alpenblick«, herumhing oder sehr viel arbeitete, sogar am Samstag. Zumindest behauptete er das. Wieder regte sich leichtes Misstrauen in Christa. Wenn nur Helmut neulich nicht so blöde Andeutungen gemacht hätte. Aber wirklich so blöde …

    Das mit den Frauen hätte Christa vielleicht noch geglaubt, aber die andere Sache. Niemals. Der Toni tat so was nicht.

    »Bittere Pillen muss man schlucken, nicht kauen«, hatte ihre Mutter immer gepredigt. Also schluckte Christa diese dicke Pille auch heute wieder. Sie sehnte sich nach ein wenig Tanz und Musik oder vielleicht einem Kinobesuch. Genau genommen wäre sie sogar für die Einladung zu einer Tupperparty dankbar gewesen, aber da konnte sie derzeit nicht hin, denn sie mussten sich einschränken. Toni pflegte dann immer zu sagen: »Spare in der Not, da hast du Zeit dazu.« Dann lachte er schallend, denn er fand das witzig.

    »Wart net auf mich«, versuchte Toni diese Unterhaltung zu beenden. »Trink noch ein Glas Wein und geh schlafen. Ich schau, dass ich dich net weck, wenn ich heimkomm. Der Helmut meint, das Auto ist zwei Kilometer vor Mindelheim verreckt, auf der alten Bundesstraße bei Unggenried. Kann also eine Weile dauern, bis ich wieder da bin.«

    »Und der Helmut hat niemand, der ihm hilft außer dir? Was macht der überhaupt in Mindelheim? Der wohnt da doch net«, fragte Christa misstrauisch. »So schlecht sieht der auch net aus, dass er kein Weibsbild abkriegen würde. Seine arme Mama wär auch froh, wenn sie ihn mal aus dem Haus hätt. Und irgendwie hat der immer Geld und tolle Autos, der Papa hat gesagt, mit dem stimmt was net.«

    »Ist halt so. Der geht öfter zum Spielen und gewinnt dann. Ich hab dich ja auch net verdient«, lächelte Toni und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

    »Ja, des sagt die Mama auch immer«, maulte Christa. »Toni, wenn d’ mich bescheißt, dann … ich weiß net, was ich tät. Tu mich net anlügen, gell?«

    Christa sah ihren Mann ein letztes Mal aus seelenvollen Augen an, während ihr in ihrem Herzen dämmerte, dass sie Versprechen jedweder Art aus ihrem Mann vor den ehelichen Pflichten herausholen musste, nicht hinterher. Wieder etwas gelernt.

    »Ein andermal, Schatzi. Jetzt net. Solche Debatten führ ich net am späten Abend. Pfiat di.« Toni verschwand und schlug die Tür hinter sich zu. Das musste er, denn sie schloss nicht richtig.

    »Blöder Kerl«, murmelte Christa. »Wenn ich dich bloß net so mögen tät. Von wegen Helmut. Ich krieg’s schon noch raus …« Dann ging sie wieder ins Wohnzimmer. Der Mörder war gefasst worden. Sie verpasste eben immer alles.

    Donnerstagabend, Mindelheim

    Unter einer uralten Buche, die ihre nackten Äste in den Dezemberhimmel reckte, in der dunkelsten Ecke der gesamten Straße, stand eine kaum erkennbare Gestalt und drückte sich in den Schatten einer weiß gekalkten Mauer. Als der Wagen neben ihr hielt, setzte sie sich sofort in Bewegung.

    Ringsherum war es still. Vereinzelt konnte man Licht erkennen, das aus erleuchteten Räumen nach draußen auf braunen Rasen fiel. Die Gärten wirkten im Halbdunkel unheimlich.

    »Endlich, ich friere mir schon den Hintern weg!« Sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloss vorsichtig die Tür. »Jetzt hau endlich ab. Wir haben nicht ewig Zeit.«

    Der Motor wurde angelassen. »Wird immer noch später. Ich weiß net, wie lange des noch gut geht«, sagte der Mann. »Ist alles so schwierig. Eigentlich hätt des eine Ausnahme sein sollen. Mehr net.«

    Sie rieb sich die Hände warm. »Wirst schon wissen, warum du mitmachst. Hast den Schlüssel dabei?«

    »Ich net«, verneinte er und lenkte den Wagen bergab. »Wirst alt, oder? Und du wolltest abgeholt werden. Ich find, des ist saugefährlich. Wenn uns jemand sieht, ist alles rum. Dann fliegen mir auf. Das ist es mir net wert.«

    »Bis jetzt ist alles gut gegangen«, antwortete sie. »Mach dir nicht in die Hose. Lohnt sich doch jedes Mal, oder?«

    Wäre es im Wagen etwas heller gewesen, dann hätte er ihr schiefes Lächeln erkennen können.

    »Scheint ja zu funktionieren, der Trick mit dem Schlafmittel.« Er langte zum Beifahrersitz, wo seine Hand ergriffen und festgehalten wurde.

    »Funktioniert immer, was ich mache.« Die Frau starrte grimmig durch die Scheibe.

    »Woher weißt eigentlich, ob der dichthält, der alte Casanova?«, fragte er und zog seine Hand wieder zurück, weil der Wagen sich einer scharfen Kurve näherte. Die Stadt kam in Sicht.

    »Muss er wohl. Ich weiß auch einiges von ihm. Vor allem das Finanzamt würde sich freuen, wenn ich den Mund aufmache«, erwiderte sie süffisant. »Wir machen es wie die letzten Male, gehen erst rein, wenn man uns nicht sieht. Mir liegt genauso viel wie dir dran, dass das nie rauskommt. Und ich habe echt was zu verlieren im Gegensatz zu dir.« Sie lachte heiser.

    »War deine Idee, solltest du net vergessen«, fuhr er auf und blinkte an der Ampel vor dem unteren Tor in Mindelheim.

    »Gefällt dir doch auch«, sagte sie. »Oder kriegst du jetzt auf einmal Gewissensbisse? Nach der langen Zeit? Vielleicht ist dir langweilig gewesen, was weiß ich. Hättest ja nicht mitmachen müssen.«

    »Als hätt ich eine Wahl«, meinte er. »Du lässt einem doch keine. Ja. Mir war langweilig. Geb ich zu. Klappt des wirklich mit den Schlaftabletten?«

    »Hundertprozentig«, war die bissige Antwort. »Die sind für ganz schwere Fälle. Und wirken immer, vor allem mit Alkohol. Kannst mir schon glauben. Oder würden wir ansonsten zusammen hier sitzen? Hier hab ich übrigens was für dich.« Sie warf ihm eine kleine, in Geschenkpapier verpackte Schachtel in den Schoß. »Gefällt dir das Handy noch? War nicht billig. Dich kann man doch genauso bestechen wie ein eitles Weibsbild. Da hast du noch nicht drüber nachgedacht, oder? Wie eine Elster bist du. Hauptsache, es glitzert.« Er antwortete nicht.

    Offensichtlich waren die beiden am Ziel. Das Auto hielt an der dunkelsten Stelle auf dem Platz. Beide stiegen aus, während sie einen Schlüssel aus ihrer Umhängetasche zog.

    »Des mach ich nimmer lang. Ist es mir net wert, Geschenk hin oder her«, knurrte er.

    »Machst du es nicht, macht es ein anderer. Ist mir egal«, sagte sie schnippisch.

    Dann betraten sie vorsichtig das große Haus. Niemand beobachtete sie. Zumindest dachten sie das.

    Von der dunklen Wand des Nebengebäudes löste sich die schlanke Gestalt einer jungen Frau, deren Augen wütend funkelten.

    Freitagvormittag, Mindelheim

    »So eine Sauerei«, fluchte Olga und tappte auf der Fußmatte der herrschaftlichen Villa hin und her, um den gröbsten Schneematsch zu beseitigen. Ihre Füße steckten in dunkelgrauen festen Gummistiefeln, über den Schaft ragten feuerrote Kniestrümpfe, die farblich zu dem grünen abgetragenen Daunenmantel ein interessantes Bild abgaben. Auf dem Kopf trug Olga eines der wenigen Stücke, die sie aus ihrer früheren Heimat gerettet hatte: eine weiße Nerzmütze, die wie ein Helm auf den dunklen, lockigen Haaren saß und ihr rundes Gesicht noch mehr betonte. Eigentlich sagte Olga »Sauärei«, denn sie kam aus dem Herzen von Kasachstan, aus einem kleinem Dorf mit großem Armutsfaktor. Die deutsche Sprache lernte sie seit einigen Jahren unter Zuhilfenahme von Frauenzeitschriften, eines Wörterbuchs und einer Vielzahl Krimis, die in den Öffentlich-Rechtlichen gesendet wurden. Einen Sprachkurs konnte sie sich nämlich nicht leisten.

    Die pummelige Olga starrte auf ihr altersschwaches rotes Fahrrad, mit dem sie sich soeben bei Schneeregen den Berg emporgequält hatte, an der Mindelheimer Polizeiinspektion vorbei, immer geradeaus und nach oben. Bis sie endlich ihr Ziel erreicht hatte: eine Jahrhundertwende-Villa im besten Viertel von Mindelheim, einer schmucken Unterallgäuer Kleinstadt zwischen München und Memmingen, wo sie jetzt zu Hause war.

    »Deitsches Wettär«, murrte Olga mit hartem Dialekt und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Das war jetzt ein wenig ungerecht, denn in ihrem Dorf in Kasachstan war das Wetter auch nicht besser gewesen, aber Olga litt gelegentlich unter schlimmem Heimweh, denn sie vermisste ihre Verwandten und Freunde, die zurückgeblieben waren und Olga nur alles Gute gewünscht hatten, als sie sich auf den beschwerlichen Weg in ein besseres Leben gemacht hatte. Sie vermisste sogar den kleinen Friedhof an der Ortsgrenze, wo sie ab und zu mit ihren Eltern leise Zwiesprache gehalten hatte.

    Aber nun war Olga hier, sogar schon seit etlichen Jahren, wenngleich die Zeit im Fluge dahingezogen war wie ein großer, flinker und auch gemeiner Vogel, den man nicht festhalten konnte, und sie war entschlossen, das Beste daraus zu machen. Ihr Leben war klein, ihr Einkommen auch. Nach einer gar nicht so langen Eingewöhnungsphase in Deutschland hatte Olga das kapitalistische System begriffen und sich kurzerhand auf den Weg zum Mindelheimer Rathaus begeben, um sich einen Gewerbeschein für ihre Firma ausstellen zu lassen, die genau eine Angestellte hatte: sie selbst.

    Zu Hause betrachtete sie das ausgedruckte und bezahlte Stück Papier immer wieder ungläubig und stolz, denn sie war jetzt Unternehmerin. Das hieß: Sie musste etwas unternehmen, wusste aber nicht, was. Kunden hatte sie bisher keine, für eine Zeitungsanzeige fehlte ihr das nötige Kleingeld. Da Olga aber schon aus der alten Heimat wusste, dass reiche Leute wie Fettaugen oben auf der Kapusta schwimmen, und es mit Sicherheit Leute gab, die sich ihre Dienste leisten könnten, musste sie diese nur noch ausfindig machen. Vor allem im Reinigungsgewerbe gab es immer Bedarf. Olga war positiv gestimmt, denn das hier war ein tolles Land, in dem jeder alle Chancen hatte. Sie mussten nur ergriffen werden. Und genau das hatte sie vor.

    Kurz drauf lernte Olga, während sie sich gerade bei Aldi im Gewerbegebiet nach einer halb angerissenen Packung Müsliriegel bückte, die jemand achtlos auf den Boden geworfen hatte, eine gut proportionierte, freundliche Dame Anfang fünfzig kennen. Und auf dem Weg von den Süßwaren bis zur Kasse angelte sich Olga ihre erste Kundin. Die freundliche Frau gab Olga ihre Visitenkarte mit der Bitte, gleich am nächsten Tag anzurufen, empfahl sie einigen ihrer Bekannten, und so kam es, dass Olga mit staunenden Augen durch unvorstellbar große Räume wandelte und Kristall polierte. Innerhalb kürzester Zeit verschaffte sie sich den Ruf, fleißig, untadelig und – billig zu sein, und das war besser als eine Litfaßsäule am Marienplatz mit dem wunderschönen Brunnen im Herzen der Innenstadt.

    Nach vier Monaten besaß Olga eine in ihrer krakeligen Handschrift angelegte Kundenkartei, ein gebrauchtes, nur gelegentlich funktionierendes Mobiltelefon, zwei Aktenordner und zum ersten Mal in ihrem anstrengenden und schweren Leben massenhaft Hoffnung. Sie arbeitete unermüdlich, war immer pünktlich, immer höflich, klaute kein Silberbesteck, nein, im Gegenteil – sie brachte es zu neuem Glanz, und war bei ihren Arbeitgebern wegen all dieser Eigenschaften außerordentlich beliebt, weshalb ihr Kundenkreis zunehmend wuchs.

    »Sie müssen das System ganz begreifen, liebe Olga«, sagte ihre Kundin Nummer eins, die Olga damals beim Einkaufen kennengelernt hatte. »Es bleibt zu wenig hängen. Wenn Sie die Steuererklärung machen müssen, brauchen Sie auch Ausgaben. Ich helf Ihnen gern, ich mache auch für meinen Mann die Buchhaltung.«

    Olga hatte ungläubig genickt, denn mit einem Mal war ihr bewusst geworden, dass in Deutschland nur zwei Dinge sicher waren: der Tod und die Steuern, und die Steuern hatte sie komplett vergessen.

    »Kann nichts ausgebän zum Absetzän, gnädigä Frau«, hatte sie ihrer Lieblingskundin erklärt. »Habä kein Geld, ich arbeitä hart, abär ist nicht viel.«

    Die Dame hatte sie prüfend angesehen und kurzerhand Olgas Stundenlohn eigenmächtig und sehr anständig erhöht. Auch wenn es immer noch nicht ganz für den Führerschein und ein kleines Auto reichte, sie würde es schaffen, davon war Olga überzeugt.

    So kam es also, dass Olga seit einigen Jahren mit Wohnungen und Häusern konfrontiert wurde, die sie staunend und ehrfürchtig durchschritt. So viel Platz hätte bei ihr zu Hause für ein ganzes Dorf gereicht, dachte sie manchmal, wenn sie nach einer wahrlich kilometerlangen Tour müde das Kabel des jeweiligen Hochleistungs-Staubsaugers zusammenrollte und sich die Putzhandschuhe von den roten, abgearbeiteten Fingern streifte.

    Aber gleich, oder »glaich«, wie klein und unbedeutend dieses ihr neues Leben in »Daitschland« auch war, es schien Olga um Längen besser als alles, was sie hinter sich gelassen hatte. Die Deutschen waren freundlich und großzügig, nahmen sie mit offenen Armen auf, und sogar ein halbwegs anständiges, wenn auch unregelmäßiges Einkommen hatte Olga nunmehr gefunden.

    Da man, wie der Volksmund sagt, »von den Reichen sparen lernen kann«, war Olgas Stundenlohn nicht übermäßig üppig, aber er reichte für das Nötigste, wenn sie mit flinken Händen durch schöne Häuser watschelte, vorsichtig glitzernde Kristallvasen abstaubte, sündteure Armaturen in blitzenden Bädern polierte und staunend Kühlschränke wischte, die nie leer zu werden schienen.

    Olga warf noch einen letzten missmutigen Blick in den wolkenverhangenen bleigrauen Himmel, der ihr höhnisch versprach, sie heute im Laufe ihrer Putztour mit Schnee zu überschütten, bis sie klatschnass war. Gott sei Dank befand sich ihr nächster Wirkungsort im gleichen Viertel, und Olga musste nicht zu weit strampeln. Das würde sie schaffen. Mindelheim war nicht allzu groß, vom Sattel eines Fahrrads aus betrachtet, es sei denn, man radelte stets bergauf. So wie heute.

    Olga konnte immer noch nicht genau sagen, wie sie in Mindelheim gelandet war. Da hatte der liebe Gott seine Hand im Spiel gehabt, denn genau dieses Deutschland hatte Olga vor Augen gehabt, als sie sich seinerzeit auf den beschwerlichen Weg gemacht hatte, um ihrem alten Dasein zu entrinnen: etwas so Schmuckes und Properes wie diese Kleinstadt im Herzen des Allgäus, wo die Häuser in verschiedenen Farben blinkten, alle Straßen frisch geteert und picobello sauber waren und die Leute einander kannten und freundlich grüßten, wenn sie sich zufällig begegneten.

    Sie selbst wohnte in einer kleinen Bude in der Nähe des Mindelheimer Bahnhofs, war aber immer noch freudig erregt, wenn sie den Wasserhahn aufdrehte und es ihr warm und feucht entgegenplätscherte. So ein Luxus! Und all die Besuche bei den gut situierten Leuten, denen Olga die Toiletten schrubbte und die Betten bezog, demoralisierten sie nicht, sondern gaben ihr die nötige Motivation. Sie strengte sich an, sparte jeden Cent und verzichtete auf das meiste, nur damit sie sich auch ein paar der herrlichen Dinge in ihre Wohnung stellen konnte, die sie bei ihren Kunden so bewunderte. Einen Flachbildfernseher zum Beispiel, auf dem die Tatort-Kommissare viel größer waren als in dem kleinen Röhrending, das eine mitleidige Seele ihr spendiert hatte.

    »Mindälhaim«, flüsterte Olga.

    Es klang gut. Gute Stadt. Gute Leute. Guter Job. Aber, oder wie Olga sagen würde: abäääär: Heute war Freitag. Freitage hasste sie, denn da musste sie zu Frau Rothenfels, vor deren Eingangstür sie gerade stand. Monika Rothenfels, ihre schwierigste Kundin.

    Olga verzog das Gesicht und blickte von der schweren Eichentür aus kurz nach oben, ob sie die misstrauische Miene ihrer mäkeligsten Brötchengeberin hinter den vergilbten Gardinen erkennen könnte wie schon so oft zuvor, aber die Scheibe über ihr war dunkel. Nichts regte sich.

    »Wird kein gutäär Tag«, murmelte Olga, die sich angewöhnt hatte, in dieser schwierigen deutschen Sprache zu denken und sogar zu träumen, denn ihr persönlicher Ehrgeiz war, nicht mehr auf ein Wörterbuch angewiesen zu sein, wenn sie sich bei Frau Rothenfels wegen irgendetwas entschuldigen musste, und diese Gelegenheit bekam sie bei jedem Besuch in dem wunderschönen alten Haus in der Nähe des Katharinenberges.

    Es gab eine Menge Dinge, die Olga an Deutschland oder überhaupt Europa liebte: Tetrapaks, Tempotaschentücher, Kaffeemaschinen, die auf Knopfdruck köstlichen Cappuccino – ihr derzeitiges Lieblingsgetränk – herstellten, seidenweiches Toilettenpapier mit sage und schreibe vier Lagen übereinander, deutsche Krimis, deutsches Bier und die dazugehörigen Gärten, und diese unglaublich würzige vielfältige Auswahl an Wurst und Brotwaren, an die sie sich immer noch nicht gewöhnt hatte. Sie hatte sich vorgenommen, alle Sorten durchzuprobieren, egal, wie lange es dauerte. Jedenfalls gab es allerhand, was Olga bewunderte und liebte in ihrer neuen Heimat. Nur Frau Rothenfels gehörte definitiv nicht dazu.

    »Sie haben die Vase nicht an den richtigen Platz gestellt, meine Liebe«, säuselte Frau Rothenfels scheinheilig-freundlich, wenn Olga es beim Abstauben gewagt hatte, das gute Stück – das genau wie der Rest der Wohnung noch aus dem vorigen oder vorvorigen Jahrhundert zu stammen schien – einen einzigen Millimeter zu verrücken.

    »Liebes Kind, das ist ein Türknauf aus Messing. Den können Sie doch nicht mit einem ordinären Lappen wischen. Ist das etwa derselbe Lappen, mit dem Sie gerade über die Toilette gegangen sind?«

    Frau Rothenfels sprach irgendwie … Olga dachte nach … altmodisch. Ja, das war das richtige Wort. Dabei war sie selbst gar nicht so alt. Olga schätzte sie auf Mitte fünfzig, aber diese Dame hatte etwas im Gesicht, das Olga verunsicherte. Eine Art von miesepetriger Traurigkeit, patiniert mit Zynismus. Frau Rothenfels lachte nie, lächelte selten und gab kein Trinkgeld, obwohl sie reich war. Sonst hätte sie gewiss arbeiten gehen müssen, so wie Olga. Ständig hockte sie zu Hause, ließ den ganzen Tag den Fernseher laufen und überzog alle ihre Lieferanten für Essen, Medikamente oder Dienstleistungen mit subtilem Telefonterror. Olga war mehr als einmal Zeuge gewesen, wie Frau Rothenfels, die ansonsten aussah, als könne sie kein Wässerchen trüben – nämlich klein, zierlich, graublond und verhärmt –, am Telefon über sich hinausgewachsen war und mit beißender Stimme irgendwelche Mängel und Reklamationen in den Hörer gebellt hatte. Sie hatte an allem und jedem etwas auszusetzen und schien mit sich und der Welt im Unreinen zu sein.

    Am meisten beunruhigte Olga aber, dass ihre Kundin sie neulich nach ihrer Adresse gefragt hatte. Olga war sich ziemlich sicher, dass Frau Rothenfels ihr keine Glückwunschkarte schicken wollte.

    »Sagen Sie mal, meine Liebe, wo wohnen Sie eigentlich? Ich weiß so gar nichts von Ihnen«, hatte sie gesäuselt und war entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten ausnahmsweise einmal freundlich gewesen.

    Das machte die gute Olga misstrauischer als alles andere. Doch kurz darauf hatte Frau Rothenfels eine Spinnwebe hinter der Heizung im Bad entdeckt und war wieder in ihre alte Form geflutscht: nörgelnd und bissig. Für Olga war das sehr erleichternd.

    »Nix Gutäs. Diesä Frau ist komisch.«

    Olga verzog wieder das Gesicht, nahm sich aber vor, sich den Tag heute nicht verderben zu lassen. Alles ging vorüber, auch die fünf Stunden in dem verstaubten und vergilbten Haushalt von Frau Rothenfels. Und am Abend lief wieder ein herrlicher Krimi im Fernsehen, den sie mit einem Schlückchen Wodka und ein paar selbst gemachten Blinis genießen würde.

    Kurz drückte sie auf den oberen Klingelknopf mit der Aufschrift »Rothenfels« und wartete ab. Nichts geschah. Auch in der unteren Wohnung regte sich nichts, was Olga aber nicht wunderte, denn Frau Hausmann schlief gern ausgiebig, was daran lag, dass sie das aufregende Leben einer Zwanzigjährigen führte, obgleich sie Ende fünfzig war. Da konnte man nicht alles mitmachen, ohne gelegentlich zusammenzubrechen. Olga runzelte die Stirn, beschloss dann aber, dass sie der Lebenswandel von Frau Hausmann nicht zu interessieren hatte.

    »Muss ich selbär aufsperrän«, nuschelte sie und wurstelte ihren Schlüsselbund aus einer überdimensionalen Handtasche, mit der sie auch ohne Weiteres in ein langes Wochenende hätte verreisen können, denn sie war gefüllt mit allen Dingen, die Olga im Falle eines Meteoriteneinschlages, Bürgerkrieges oder einer Überschwemmung gebrauchen würde.

    Dann schloss sie auf. Sie würde sich heute nicht von ihrer Kundin ärgern lassen, sondern wie immer lächeln und sich ihren Teil denken. Auf Deutsch. Olga war die bisher letzte in einer langen Reihe von Reinigungskräften, mit denen Frau Rothenfels in Berührung gekommen war, und auf jeden Fall die geduldigste und zäheste bisher. Alle anderen hatten nach spätestens acht Wochen aufgegeben, sich in die Hände der Agentur für Arbeit begeben und gedacht: Was Schlimmeres kann nicht kommen, was übrigens in der Regel auch zutraf. Aber Olga hatte durchgehalten.

    »Schon wiedär Licht kapuuut.« Olga blinzelte missbilligend zu der hohen Deckenlampe in dem düsteren riesigen Flur. In der geräumigen, mit Echtholzparkett belegten Diele kamen ihr Frau Rothenfels’ Worte in den Sinn.

    »Liebes, das muss von Hand gewachst und gebürstet werden, das ist kein neumodisches Zeugs aus dem Baumarkt, sondern noch echte Handarbeit!«

    Aus der Wohnung im Erdgeschoss drang bis auf wütendes Fauchen kein Laut.

    Schönäs Lebän, dachte Olga kurz ohne Neid, denn es konnte nicht jeder mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sein, und machte sich auf den Weg in den ersten Stock, um ihren Parcours der Schmerzen zu beginnen und möglichst schnell hinter sich zu bringen.

    Ein letztes Mal schielte sie noch kurz zu der unteren Wohnungstür, wo Helga und ihre sieben Katzen meist recht geräuschlos, aber nicht geruchlos lebten. Vermutlich lief wieder der Fernseher, die Viecher taten sich an den Resten des Frühstücks gütlich, und ihre Besitzerin schlief den Schlaf der Gerechten in ihrem großen bonbonfarbenen Lehnstuhl oder überlegte, welche Bosheit sie heute Frau Rothenfels angedeihen lassen könnte. Die beiden Damen waren sich nämlich überhaupt nicht grün und ärgerten sich gegenseitig, wo es nur ging. Olga konnte ein leidvolles Lied davon singen, denn sie war der Postillion in diesem unrühmlichen Spiel und wurde als Botin schlechter Nachrichten missbraucht. Nie waren es gute.

    »Bringen Sie dieses Ei bitte zurück. Sie haben es ja auch ausgeliehen.« Frau Rothenfels hatte vor ihr gestanden, ein mit Filzstift beschriftetes Hühnerei in der Hand, das sich Olga eine Woche zuvor hatte ausborgen müssen, denn die beiden Damen, die je eine Etage der herrlichen Jugendstilvilla bewohnten, sprachen nicht miteinander. Also war Olga tapfer nach unten marschiert, hatte bei Frau Hausmann geklopft und brav das beschriftete Ei zurückgebracht.

    Der kurze Trip in die Wohnung von Frau Hausmann war ein Erlebnis der besonderen Art gewesen, denn die Bewohnerin war ein organischer Freigeist. Das heißt: Sie hatte keinerlei Problem mit Schmutz jeglicher Art, brütete täglich über ihrem altersschwachen Notebook an einem Jahrhundertroman, der wahrscheinlich ein Jahrhundert bis zu seiner Fertigstellung brauchen würde, und ließ es sich ansonsten gut gehen, denn sie hatte Geld.

    »Liebes, bitte fragen Sie doch, ob es wirklich so laut da unten sein muss. Und machen Sie kein so freundliches Gesicht. Das versteht die im Erdgeschoss nicht.«

    Als Olga das erste Mal gezwungen gewesen war, bei Frau Hausmann zu klingeln, hatte diese Olga die Tür in einem bodenlangen Gewand geöffnet, das aussah, als hätte sie eine mindestens achthundert Jahre lange Zeitreise gemacht. Frau Hausmann liebte es extravagant und ungewöhnlich und hatte an diesem Tag beschlossen, dass ein dunkelrotes Samtkleid mit Brokateinsätzen genau das Richtige für einen langweiligen Sommertag war. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen, denn sie wirkte damals kühl wie ein Eisblock und hatte sich geweigert, die Musik leiser zu stellen. Olga war während ihres Vormittags bei Frau Rothenfels mehr als einmal versucht gewesen, sich die Ohren zuzuhalten, denn Frau Hausmann verstand unter »Musik« das eindringliche Wummern von Schlagzeugen und das Gekreische von Leadgitarren. Offensichtlich und unüberhörbar hatte sie an diesem Vormittag passend zu ihrem Mittelalterkleid Lust auf Hardrock. Es war einfach nur fürchterlich gewesen.

    Eine Woche darauf hatte sich Frau Hausmann in eine Dame verwandelt, die vorhatte, in den Sonnenuntergang zu reiten, denn als Olga gerade die Gartenpforte öffnete, um zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen, war sie ihr mit geflochtenen Zöpfen, einem Stetson auf dem Kopf und Westernstiefeln an den Füßen begegnet. Olga hatte sich umgesehen, aber nirgendwo ein Pferd gefunden. Vielleicht war so was ja jetzt modern – oder modärn. Frau Hausmann war exzentrisch bis ins Mark und hatte die nötige Freizeit und auch das nötige Kleingeld, um jeder ihrer Launen nachzugehen. Jede Woche etwas anderes, wie Frau Rothenfels, die hinter dem Vorhang lauerte und jedes Outfit gehässig goutierte, stets betonte.

    Olga erinnerte sich schaudernd daran, wie Frau Rothenfels ihr einmal befohlen hatte, sich »da unten in dem Puff« etwas Zucker zu borgen. Frau Hausmann hatte in einem unsäglichen Outfit die Tür geöffnet und Olga missmutig den Weg zur Küche gewiesen, denn ihre Nägel waren frisch lackiert, und sie konnte nichts anfassen. Auf dem Weg zur weiß glänzenden Designerküche knirschte Katzenstreu unter ihren Füßen, und einmal blieb sie mit der Sohle an etwas kleben, von dem sie gar nicht wissen wollte, was es war. Außerdem war es neblig in der Wohnung wie auf der Zugspitze im November. Frau Hausmann war Kettenraucherin und ließ überall ihre Aschenbrösel fallen, was die sieben Siamkatzen aber nicht zu stören schien, die ihr schnurrend um die Füße wuselten.

    Olga hatte sich damals erlaubt, beim Verlassen der Wohnung ein klein wenig missbilligend den Kopf zu schütteln, und sich dann gefreut, dass ihre Brötchengeberin Frau Rothenfels zwar pedantisch, aber nicht ganz so schlampig war. Es konnte nämlich immer schlimmer kommen. Alte russische Weisheit.

    Nun streifte Olga sicherheitshalber noch einmal ihre Füße an der Matte ab und stieg dann vorsichtig über die blitzblanke, knarzende Holztreppe in den ersten Stock, wo sie hinter der holzgetäfelten schweren Eichentür ihr täglich Brot erwarten würde. Wenigstens war es dort aufgeräumt.

    Ach, das deitsche Wetter, dachte Olga noch einmal und erinnerte sich sehnsüchtig an die knisternden eiskalten Winter in ihrer Heimat, das Lodern des Ofenfeuers, wenn es gelungen war, Holz aufzutreiben, und das schöne Gefühl, im Warmen zu sitzen und nicht hinauszumüssen.

    Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss, die Tür gab nach, und Olga blieb verdutzt stehen. Die Wohnungstür war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt. Das wunderte Olga, denn Frau Rothenfels war eine sehr neurotische Persönlichkeit und hatte extra vor einigen Monaten ihre ganze Wohnung einbruchssicher machen lassen, weil man laut ihren Worten »niemandem mehr trauen konnte, vor allem nicht dieser Hure aus dem Erdgeschoss«.

    Weitere Dinge auf der Verdächtigenliste von Frau Rothenfels waren die Regierung (alle, ohne

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