Stubenhocker: Eine Autopsie
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Über dieses E-Book
Um sechs nach elf bist du tot.
In Rom meldet sich niemand.
Ich bin mit dem Unfassbaren allein.
„Stubenhocker – eine Autopsie“ zeichnet ein Leben nach, das vorzeitig erstarrt ist: Die schmerzvolle Trennung der Eltern, der plötzliche Tod des Vaters, die frühe Geburt seiner Tochter treffen Wolfgang Querbeck unvorbereitet und werden ihm zum Verhängnis. Überfordert zieht er sich in ein inneres Schneckenhaus zurück und geht dem Leben aus dem Weg. Seiner Frau erscheint er, nicht einmal 40 Jahre alt, wie tot.
In einem nüchternen, beinahe analytischen Selbstgespräch zieht Querbeck Bilanz und seziert mit chirurgischer Präzision, wie es zu dieser inneren Auslöschung gekommen ist. Er will wissen, was seinem Leben diese verhängnisvolle Wendung gegeben hat, und spürt deshalb unerbittlich den wunden Punkten in seiner persönlichen Entwicklung nach.
In der späten Auseinandersetzung mit dem gefühlsarmen, meist abwesenden Vater, der harmoniebedürftigen Mutter und seinen frühen Liebschaften entdeckt Querbeck zahlreiche Facetten seiner eigenen Persönlichkeit. Er hält nicht nur sich selbst den Spiegel vor, sondern bietet Reflektionsmöglichkeiten für all jene, die sich alleine durchschlagen mussten, weil ihnen die männlichen Vorbilder abhanden gekommen waren.
Wolfgang Querbeck
Wolfgang Querbeck gehört zur Babyboomer-Generation. Nach vielen Jahren als etablierter Zeitungsredakteur arbeitet er heute als freier Publizist und Autor. Er lebt in Hamburg und Berlin.
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Buchvorschau
Stubenhocker - Wolfgang Querbeck
III
Teil I
1
Da liegt mein Vater, nackt auf einem blutbefleckten Laken, von Nadeln zerstochen, mit Schläuchen verkabelt, beinahe aufgebahrt, mit angewinkelten Knien, den Kopf nach hinten geworfen im aussichtslosen Ringen nach Luft. Die Abstände zwischen deinen Atemzügen werden länger, ich gehe zu den Ärzten ins Nebenzimmer, doch auch die machen mir keine Hoffnung mehr. Wir sitzen alle da, Mutter, Sofia, Julius und ich, wie im Film blicken wir auf das Gerät über deinem Kopf, das die Herzfrequenz angibt, und warten auf den Pfeifton. Im Fünf-Minuten-Takt kommt ein Pfleger herein und schaltet ein Gerät ab oder zieht einen Schlauch heraus.
Wir halten deine Hand, streichen dir durchs strubbelige, kaum gekämmte Haar, küssen deine Stirn. Längst machen wir uns nichts mehr vor, abwechselnd raunen wir dir verzweifelte Durchhalteparolen zu, Aufmunterungen, die eher uns gelten als dir. Wir wissen nicht einmal, ob du sie überhaupt noch hören kannst.
Wir glauben schon selbst nicht mehr dran, viel zu lange schleppt sich dein Kampf hin, es dauert eine Ewigkeit, bis dein Mund wieder nach Sauerstoff schnappt wie ein Frosch nach der Fliege. Ich beginne langsam zu zählen: eins, zwei, drei, vier; die Angst lässt mich schneller werden: fünf, sechs, sieben; ich flehe dich an: bitte halt durch! Acht, neun; oh Gott, bitte, lass es nicht zu Ende sein, bitte! Zehn, elf-
Du schaffst es nicht mehr.
Die anderen gehen, tränenüberströmt.
Ich stehe da, regungslos, halte deine Hand.
Es ist, als würde in einem Film plötzlich der Ton abgedreht: Die Handlung nimmt ihren normalen Lauf, Pfleger kommen, lösen die Schläuche, schalten das letzte Gerät aus, bitten die Angehörigen, kurz hinauszugehen, um ihre Arbeit verrichten zu können, alles ganz normal, so wie immer. Bloß ich stehe da, umgeben von rauschender Leere, in einem Meer von Stille. Zu keinem Gedanken fähig. Ich begreife nicht.
Perplex harre ich aus, ich hoffe noch auf irgendeine Regung, auf ein Zeichen von Dir, ein Lächeln, ein Händedruck, ein kurzes Öffnen deiner Augen.
Doch da kommt nichts mehr.
„Der Patient ist leider um 23.06 Uhr verstorben. Wir bedauern, Ihnen kein anderes Ergebnis mitteilen zu können, wird es später im Bericht des Krankenhauses an den behandelnden Arzt heißen. „Mit freundlichen, kollegialen Grüßen …
2
Ich hatte mir den Tod immer anders vorgestellt. Das Sterben hielt ich entweder für einen heroischen Kampf oder für ein elendiges Verrecken, für ein wildes Aufbegehren oder für einen schäbigen, stinkenden Verfall. Auf jeden Fall spektakulär habe ich mir den Tod vorgestellt, bloß eines nie: menschlich.
Von Erlösung zu sprechen, erscheint mir unpassend, dazu hast du viel zu sehr am Leben gehangen. Aber am Ende schien es doch, als hättest du Frieden gefunden, als wärst du innerlich zur Ruhe gekommen. Es blieb dir erspart, verbittert deine Schwäche ertragen zu müssen. Als es ernst wurde, warst du längst zu keinem Kampf mehr fähig. Du brauchtest nicht mehr zu wählen zwischen schmerzvollem Widerstand und resigniertem, mutlosem Ergeben. Diese Entscheidung wurde dir abgenommen.
Die Wahrheit hättest du nicht ertragen. Ob du sie geahnt hast, werden wir nie erfahren. Du hast dem Tod das Spiel verdorben, hast ihm einen Strich durch seine Rechnung gemacht: Als deine Zeit abgelaufen war, bist du von uns gegangen. Rechtzeitig, bevor du zum Pflegefall geworden wärest. Still und leise, friedvoll und zärtlich, sanft und verwundbar. Du hast keine Anstalten gemacht, dem Tod Bedeutung zu verleihen. Im Gegenteil: Dein letzter Atemzug hat dir – und nicht dem Tod – Würde verliehen.
Du hast ihn nicht selbst inszeniert, deinen Abgang, und das hat dir zu einem großen Auftritt verholfen, menschlicher als je zuvor. Auf große Worte und Zeremonien hast du verzichtet. Freiwillig hättest du das nicht getan. Und auch zum leisen, unauffälligen Davonstehlen warst du nicht imstande. Dazu hast du uns zu sehr geliebt. Aufs Abschiednehmen hättest du nicht verzichtet. Zum Heroismus warst du zu larmoyant, zum Selbstmord zu schwach.
Du bist von uns gegangen, als ob das Sterben etwas ganz Natürliches wäre. So, wie andere kaufen gehen oder die Zeitung holen, hast du deinen letzten Atemzug getan. Ohne Gegenwehr gegen den Tod, ohne Verrat am Leben.
3
Dabei war es nur einem Zufall zu verdanken, dass wir alle da waren in der Stunde deines Todes. Wäre ich nach dem Fußballturnier gleich in die Kneipe gefahren, ohne vorher noch die verschwitzten Sachen nach Hause zu bringen, hätte ich auch nicht rechtzeitig den blinkenden Anrufbeantworter bemerkt. Sofia war es, die mir sagte, dass sie dich wieder ins Krankenhaus gebracht hätten. Es sei wohl relativ ernst, aber nicht so, dass ich mir Urlaub nehmen und zu dir kommen müsste.
Noch während ich das schweißnasse Trikot zum Trocknen im Bad aufhing, klingelte das Telefon erneut. Wieder Sofia. Aufgelöst. Tränenüberströmt. Verzweifelt. Die Ärzte hätten so komisch getan. Sie war, nachdem sie dich ins Krankenhaus gebracht hatte, wieder heimgefahren. Man sagte, dort könne sie jetzt sowieso nichts mehr für dich tun. Jetzt müssten erst einmal die Ärzte ihre Arbeit machen. Sie könne aber in ein paar Stunden anrufen, um zu hören, ob es dir schon wieder besser ginge.
Sie rief an, und die Ärzte drucksten herum. Perplex, ungläubig, fragte Sofia, was denn das alles zu bedeuten hätte. Sie täten ja gerade so, als ob du die Nacht nicht mehr überstehen würdest.
Pause.
Dafür könnten sie nicht mehr garantieren.
Pause.
Sofia will sofort zu dir kommen, bei dir sein. Doch die Ärzte vertrösten sie. Im Moment könne sie nichts tun, sie störe nur. Man verspreche, sie anzurufen, wenn es mit dir bergab gehe.
Um sieben Uhr kam Sofias Anruf.
Mein Bauch sagte mir, dass es dein Ende sein würde. Mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben würde mit ansehen müssen, wie ein Mensch stirbt. Genauso wie damals, als Giulia zur Welt kam: Da konnte ich mir auch nicht vorstellen, dabei zu sein, wie ein neues Leben entsteht. Bloß dass es diesmal ums Sterben geht.
Bevor ich losfahre, überlege ich, ob ich mir einen dunklen Anzug einstecken soll. Das kann nicht sein kann nicht sein kann nicht sein.
Zittrig packe ich das Nötigste zusammen.
Nervös. Aufgedreht.
Um acht Uhr rase ich los.
Um halb zehn bin ich bei Sofia.
Um zehn kommt der Anruf aus dem Lazarett.
Verzweiflung. Tränen. Magendrehn.
Unser Schädel droht zu zerplatzen, das Herz zu zerreißen.
Um zehn nach zehn haben wir Mutter alarmiert und treffen uns im Krankenhaus.
Um sechs nach elf bist du tot.
In Rom meldet sich niemand.
Ich bin mit dem Unfassbaren allein.
4
Jedenfalls hielt ich deine Hand auch noch in der Leichenhalle, als wir erneut versuchten, Abschied zu nehmen, uns loszulassen.
Draußen der goldene Feiertagsmorgen im Sommer. Laub raschelt. Die Sonne blinzelt durch die dicht gewachsenen Blätter. Störende Kühle in der spartanisch eingerichteten Leichenhalle.
Du liegst da, als würdest du schlafen. Im dunklen Anzug, darunter das weiße Hemd mit der Krawatte, die wir dir geschenkt haben. In der Hand ein dürrer Strauß selbstgepflückter Rosen aus Johannas Garten. Die Knospen sind weit offen, beinahe übermäßig aufgeblüht, es fehlen noch ein paar Tage, dann fallen die Blütenblätter ab.
Deinen Mund haben sie geschlossen, deine Hände übereinander gefaltet.
Dein Gesicht hat Farbe bekommen, so gut haben sie dich nach der Obduktion wieder hergerichtet. Sahst fast besser aus als vorher.
Todesursache: Lungenembolie.
Man könnte auch sagen: In deinem Innern war alles kaputt und erstickte am Blut. Deine Organe rangen um Sauerstoff, vergebens.
Giulia wartete draußen im Kinderwagen. Sie hat von allem nichts mitgekriegt.
Du hast sie so gemocht. Sie hätte dich zum Auftauen gebracht. Sie hätte dich