Weissflog: Geschichten meines Lebens
Von Jens Weissflog und Egon Theiner
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Über dieses E-Book
Die Geschichten, die er im Jahr seines 50. Geburtstages erzählt, handeln von seinen Anfängen als Skispringer in Pöhla und Oberwiesenthal, sie beschreiben Weißflogs Weg zur Spitze und vernachlässigen auch die schweren Momente seiner Karriere nicht - als er beispielsweise in Lillehammer von 30.000 Zuschauern gnadenlos ausgepfiffen wurde, nicht wusste warum, und der Menschenmenge den Stinkefinger zeigte. Nicht zu kurz kommen die persönlichen Geschichten aus seinem Leben, beispielsweise aus der Zeit, als er als Elektriker tätig war, oder als ihm im österreichischen Stams der Führerschein entzogen wurde. Nicht zu kurz kommen Storys aus seinem Privatleben oder von seinen außersportlichen beruflichen Aktivitäten. Jens Weißflog ist erfolgreicher Hotelier in Oberwiesenthal, und in seinem Hotel findet monatlich eine Plauderstunde mit der Legende des Skispringens statt. Doch in diesem Buch steht weit mehr!
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Buchvorschau
Weissflog - Jens Weissflog
Danksagung
ANFAHRT
ABSPRUNG FLUGPHASE LANDUNG AUSLAUF
1 Kindheit und Jugend
2 Die ersten Sprünge
3 Der Elektroinstallateur
1
Kindheit und Jugend
Rollende Reifen • Verstopfte Gallengänge • „Können wir einen kleineren Berg kaufen?" • Eine Eins im Sticken • Im Mini-Klassenzimmer der KJS
Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als wir Kinder in Pöhla wieder einmal an unserem „Hexenfeuer bauten. Dieses wird auch heute noch alljährlich am 30. April angezündet, doch die Vorbereitungen dafür beginnen bereits Wochen oder gar Monate vorher. Wir waren tagelang im Wald unterwegs, um herumliegendes Holz zusammenzutragen, und auch Bäume wurden gefällt. Es hätte keine Forstwirtschaft gebraucht zu diesen Zeiten, denn der Wald wurde einmal im Jahr von uns Kindern regelrecht leergeräumt. Das „Hexenfeuer
war nämlich nicht nur ein Brauchtum zur Vertreibung böser Geister, sondern auch ein Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Ortsteilen oder Teilen von Ortsteilen. Meine Familie wohnte am Berghang und unser Feuer war das „von der Viehtrift. Es gab das Feuer „drüben bei der Fliegerschule
, weil es auf dem Grundstück der Segelfliegerschule Pöhlas lag, jenes des Ortsteils Siegelhof, das des „Derrhäusls", und viele andere mehr. Jeder wollte das größte Feuer zustande bringen. Wir Kinder bereiteten alles vor, angezündet wurde es aber von den Erwachsenen. Der Wettbewerb wurde dermaßen erbittert geführt, dass man sich gegenseitig die Feuer auch schon vorzeitig ansteckte. Unser brennbarer Haufen war davon nie betroffen, dennoch musste man Vorsicht walten lassen. Alle Materialien wurden in Zwischenlagern versteckt und erst kurz vor der großen Nacht zum vorgesehenen Platz geschafft.
Es muss wie gesagt Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, als ich aus einem der Zwischenlager einen Autoreifen zum Feuerplatz hinüberrollte. Reifen von Autos oder Traktoren mussten immer mit dabei sein, sie brannten besonders gut, und Gedanken über Umweltverschmutzung oder CO2-Werte waren uns damals fremd. Es kostete mich einige Mühe, diesen Reifen überhaupt den Berg hochzubringen – normalerweise wäre ich da auch ohne zusätzliche Last nicht freiwillig hochgelaufen. Doch das „Hexenfeuer war unser aller Anliegen. Nun rollte ich also diesen Reifen seiner finalen Bestimmung entgegen, als er sich plötzlich verselbstständigte und den Berghang hinuntersprang. Ich sah, wie er auf ein geparktes Auto zusteuerte, und während ich dem Reifen nachlief, dachte ich: Wenn der diesen Trabi erwischt, wird er ihn zwar nicht zerlegen, aber das gibt ein paar ordentliche Dellen. Das Auto wurde um einen Meter verfehlt, doch nachdem er eine Feldmauer aus Steinen überwunden hatte, machte der Reifen 500 Meter weiter unten aus einem Gartenzaun Kleinholz, bevor das Geschoss von einer Hausmauer gestoppt wurde. Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Minuten, doch während dieser Zeit starb ich tausend Tode. Ich fürchtete mich zuerst, dass Schlimmeres passieren könnte, und als das ausblieb, fürchtete ich mich doch vor der Beichte bei meinen Eltern. Nachdem ich den Reifen nach Hause geschleppt hatte, stellte ich mich Vater und Mutter und erzählte, was passiert war. Mein Vater musste den Gartenzaun reparieren, ich wurde streng ermahnt, doch vorsichtiger zu sein. Meine Erziehung war konsequent aber fair. Wenn es sein musste, galt eine Ohrfeige als letzte pädagogische Maßnahme. Doch in diesem Fall des „rollenden Reifens
kam ich mit harten Worten und dem Schrecken davon. Letztlich waren wir alle froh, wie diese Geschichte ausgegangen war – ohne größere Schäden.
Meine Eltern Christof und Sieglinde stammen beide aus bäuerlichen Betrieben. Meine Großeltern väterlicherseits hatten in der Zwischenkriegszeit ein paar Stück Vieh und ein wenig Land. Mit der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, in die alle Bauern ihr Hab und Gut einbringen mussten. Dies geschah mehr oder weniger freiwillig. Aus heutiger Sicht, in der Tourismus und damit verbunden kulinarische Eigenheiten der Gegend eine große Rolle spielen, führte dieser Ansatz zum Verlust von regionalen Besonderheiten. Nach der Wende wurde versucht, diese traditionellen Bezüge wieder herzustellen.
Jedenfalls wurden in der LPG auf großen Flächen Lebensmittel produziert. Die Theorie dahinter war, dass es schwieriger war, eine Masse von Menschen über das Kleinbauerntum zu ernähren (was aber vor dem Krieg auch funktioniert hatte). Meine Großeltern betrieben also für die LPG einen Stall mit 60 Schweinen, hatten Schafe, Enten, Hühner, Hasen, einen Ochsen und einen Zuchtbullen, der Moritz hieß.
Kennen gelernt hatten sich Christof und Sieglinde bei der Arbeit. Meine Mutter war in Pöhla als Geflügelzüchterin tätig, mein Vater arbeitete mit Pferdefuhrwerken. 1962 heirateten sie, bald danach kam mein Bruder Andreas zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt lebten sie in Langenberg bei den Eltern meiner Mutter. Am 21. Juli 1964 kam ich im Krankenhaus Erlabrunn, das vom Bergbauunternehmen Wismut betrieben wurde und einen sehr hohen Standard erfüllte, zur Welt: mit den Füßen voraus, wie es sich für einen angehenden Skispringer gehört, mit 49 Zentimetern Körpergröße und 2,9 Kilogramm Gewicht. „Groß und schwer ist er ja nicht", soll mein Vater Christof gesagt haben.
Zwei, drei Wochen nach meiner Geburt befand ich mich wieder in einem Krankenhaus, und zwar in der Kinderklinik in Aue. Es bestand der Verdacht, dass ich an Gelbsucht litt. In Wahrheit waren Gallengänge verstopft, und die Behandlung war langwierig. Der Stau der Gallenflüssigkeit kann tatsächlich zu Gelbsucht führen und ist unter Umständen auch lebensbedrohlich. „Wir hatten Angst um ihn, sagt Christof heute, „Er war in Lebensgefahr
, ergänzt Sieglinde. Meine Mutter fuhr die rund zwölf Kilometer von Langenberg nach Aue mit dem Moped. Nicht täglich – sie ging ja ihrer Arbeit nach und hatte sich um Andreas zu kümmern –, aber sehr oft. Mir wurden Medikamente und Blutinfusionen verabreicht und so überlebte ich die wohl schwerste Krankheit meines Lebens, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Bis 1966 lebten wir in Langenberg, dann zogen wir in das vier Kilometer entfernte Pöhla, wo Christofs Eltern eine Scheune zur Wohnung umgebaut hatten, die auch ein eigenes Bad besaß, was zu dieser Zeit noch nicht üblich war. Toiletten waren in der Regel noch außerhalb der Wohnung oder des Hauses angelegt.
Meine Kindheit war wie „Urlaub auf dem Bauernhof". Es machte mir Spaß, die Tiere zu füttern, und interessiert beobachtete ich, wie in einem Riesendämpfer Kartoffeln gedämpft und zerquetscht, mit Milch, Kraftfutter und Getreide vermischt und so zur Pampe für die Schweine verarbeitet wurden. Man benötigt eine Menge Futter, um 60 Ferkel und Schweine zu versorgen, und auch einige Kraft, die gefüllten Blecheimer zu den Trögen zu schleppen. Jedenfalls gefiel mir die Arbeit mit den Tieren dermaßen gut, dass es mein erster Berufswunsch war, Tierarzt zu werden. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, erlebte ich das erste Mal mit, wie der Doktor mit einem langen Handschuh von hinten in eine Kuh hineinfuhr. Diese Bilder haben meine Vorstellungen von der Arbeit eines Tierarztes doch etwas relativiert, und mein Traumjob war schon wieder Vergangenheit. Immerhin wollte ich mir für die Zukunft alle Optionen offen halten und wechselte nicht gleich zum nächsten Beruf. Ich wollte nie Feuerwehrmann werden.
Der Umzug nach Pöhla fiel in das Jahr, in dem sich mein Vater für 18 Monate zum Militärdienst verabschiedete und zuweilen sechs Wochen oder länger nicht daheim war. Mein Bruder ging in den Kindergarten, ich wurde in die Krippe nach Raschau gebracht. Meine Mutter trug in dieser Zeit doppelte Verantwortung: Ihr oblag unsere Erziehung, und sie musste auch Geld verdienen. In dieser Zeit arbeitete sie in einem Betrieb, der Arbeiterschutzbekleidung herstellte, zum Beispiel Regenjacken oder Gummimäntel für die Hochseefischerei. Wenn ich sie bei der Arbeit besuchte, stank der ganze Raum nach Leim. Spaß machte es ihr nicht, der Job war Mittel zum Zweck. Der Leimgeruch verschwand, als sie 1972 die Stelle wechselte und einer Büroarbeit bei der LPG nachging. Vater war Feldbaubrigadeleiter und in der LPG für die Futterbeschaffung für 7000 Tiere verantwortlich. Später studierte er Agrarökonomie und der Lohn lief weiter.
Ein Bild aus Kindertagen, 1968
Doch trotz aller Mehrfachbelastungen nahmen sich meine Eltern für uns Kinder alle Zeit, die sie aufbringen konnten. Meine Mutter holte mich vom Kindergarten ab, in dem ich in der Gruppe von Frau Päßler betreut wurde.
Im Kindergarten
Während wir über die Feldwege heimspazierten, erzählte ich ihr meine neuesten Geschichten, und wir schauten bei fast jedem Stall auf dem Weg zu den Kühen hinein. Als mir der letzte Anstieg hinauf zu unserem Haus wieder einmal sehr lang und beschwerlich vorkam, sagte ich zu ihr: „Mutti, könnten wir uns mal einen kleineren Berg kaufen, dann müssten wir nicht immer den größeren hinaufgehen."
Auch als ich älter wurde, packte ich immer wieder gerne in der Landwirtschaft mit an. Um das Haushaltsgeld aufzubessern, hatten sich meine Eltern einige Schweine und einen Mastbullen angeschafft, die natürlich auch Arbeit verursachten. Privatbesitz im landwirtschaftlichen Sektor war in diesem kleinen Rahmen erlaubt. Im Sommer, wenn Heu eingefahren wurde, waren wir Kinder mit von der Partie und weil es bei der Feldarbeit auf jeden guten Tag ankam, wurde selbstverständlich auch an meinem Geburtstag „geheut. Bei aller Liebe zu Tier und Natur war ich gleichermaßen auch ein häuslicher Typ. „Dich schicken wir zum Ballett
, scherzte meine Mutter oft, wenn ich wieder einmal elegant einen Meter vom Türstock zum Teppich sprang. Doch ich unterhielt nicht nur, ich packte auch mit an. Einmal wurde im Elternhaus das Bad renoviert, und der Fliesenleger hatte gute Arbeit geleistet, die auch ihre Spuren hinterlassen hatte. Als Mutter am Abend nach Hause kam, dachte sie, der Fliesenleger sei noch gar nicht dagewesen – so sauber hatte ich in der Zwischenzeit geputzt. Nach dem Frühstück hätten wir Kinder lediglich den Tisch abräumen sollen, ehe es zur Schule ging. Die Zeit, feinsäuberlich eine Tischdecke über das Möbelstück zu legen und einen Blumenstrauß darauf zu stellen, nahm ich mir allemal. „Das sieht doch gleich besser aus, oder etwa nicht?", fragte ich dann mit dem unschuldigen Blick eines Acht- oder Neunjährigen, der nach Zustimmung sucht.
Ich war ein Kind, das gerne lachte und andere zum Lachen brachte. Über die Witze von Dieter Hallervorden konnten sich mein Bruder und ich regelrecht kaputtlachen. Und da ich gerne ein bekanntes Sketchduo der „Herkuleskeule aus Dresden mit dessen ausgeprägtem sächsischen Dialekt imitierte, wurde ich als Zehn-, Elfjähriger gerne als „mei Erich
tituliert. „Mei Gustav und mei Erich waren Hans Glauche (1928–1981) und Friedrich „Fritz
Ehlert (1935–1984). Sie befassten sich mit dem Alltag des kleinen Mannes im Sozialismus der DDR und Gustav begrüßte Erich bei Bier und Zigarette meist mit den Worten „Mei Erich, worauf Erich mit „Mei Gustav
antwortete. Typische Phrasen des DDR-Sozialismus wurden auf das tägliche Leben des Normalbürgers projiziert, doch weil dies subtil geschah, passierten die Texte die Zensur: „Bei uns kann jeder werden, was er will. Ob er will oder nicht."
Meine Schulzeit ist mir in vager Erinnerung. Frau Klemm war meine Klassenlehrerin während der ersten drei Jahre. Die erste Klasse war schon noch in Ordnung und doch war ich froh, wenn die Schulzeit vorbei war – an jedem einzelnen Tag, jedes Schuljahr, oder ganz allgemein. Ich entschied mich, kein Abitur zu machen (auch wenn mich später mein Trainer Joachim Winterlich dahingehend bedrängte), und war einfach nur froh, dass die zehnte Klasse Geschichte war. Schulstunden waren für mich immer ewig lang. Im Sportunterricht fühlte ich mich wohl, doch ich war nicht in jeder Disziplin Klassenbester, beispielsweise im 60-Meter-Sprint oder im Weitsprung. Musikunterricht liebte ich weniger, dafür fühlte ich mich in der Nadelarbeit bei Frau Schmiedl wohl. Bis zur vierten Klasse wurden wir gelehrt, verschiedenste Stickereien und Knöpfe auf feinen Kissen anzubringen – und in diesem Fach hatte ich eine Eins! Als ich zehn oder elf Jahre alt war, bastelten mein Bruder und ich im Werken für die „Messe der Meister von Morgen", die regelmäßig in jeder Schule in jedem Ort abgehalten wurde, ein Modell der Pöhlaer Schanze. Frau Röde war meine Pionierleiterin und ich erinnere mich auch an den Lehrer Herr Ebert, der mich noch heute ab und zu im Hotel besucht und den ich damals als sehr streng empfand, heute indes als angenehmen Zeitgenossen schätze. Später, an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) war einer der Mathematiklehrer Herr Hunger, und so sehr ich seine Materie hasste, so viel gab ich auf seine Fähigkeit, Dinge zu erklären. Zudem war er auch sehr interessiert an meinem sportlichen Werdegang und ließ mich bis zu einer halben Stunde erzählen, wenn ich wieder mal von Auslandsfahrten zurückkam.
Große schulische Sorgen bereitete ich meinen Eltern jedenfalls nicht. Ich war nicht der Beste, aber ich schaffte als guter Durchschnitt immer das Klassenziel. Ich habe mein Zeug gemacht, würde man heute sagen. Eine Drei empfand ich anfänglich als eine schlechte Note, doch ich lernte im Laufe der Schuljahre, mich mit ihr anzufreunden. Selbstverständlich spielte ich auch, gewollt oder ungewollt, einige Streiche. Einmal, es muss in der dritten Klasse gewesen sein, zog ich mit anderen an einem Zigarillo, aber weil ich danach zur Kartoffelernte musste und es mir so richtig schlecht ging, flog der Zigarrenkonsum auf. Noch dazu gab es am gleichen Abend einen Elternabend und ich wurde mehrfach bestraft: Ich durfte nicht zum Training und eine Vier in Betragen gab es obendrein.
Als ich als 13-Jähriger in die KJS nach Oberwiesenthal wechselte, kam ich gleichzeitig auch ins Internat. Der Vorteil dort war, dass die Lehrer Verständnis für die Notwendigkeiten der Sportschüler hatten (oder haben mussten) und dass es aufgrund der sportlichen Verpflichtungen einen eigenen Stundenplan gab. Da ich mit 15 Jahren in den Nationalkader berufen worden war und dadurch sehr viele Stunden versäumt hatte, war auch eine Schulzeitverlängerung von einem Jahr kein Problem. Die letzten Prüfungen legte ich im Oktober 1981 ab. Der Nachteil war, dass man sich nicht verstecken konnte. Es gab winzige Klassenzimmer mit einem Tisch und einer Wandtafel, und die zehnte Klasse besuchten wir zu zweit, Kerst Rölz und ich. Jens Weißflog-Bonus gab es keinen und mein Ehrgeiz ließ es nicht zu, eine Vier oder Fünf im Zeugnis zu haben. Ich schloss mit der Gesamtnote Zwei ab.
Mein Vater Christof war selbst als Jugendlicher und Junior ein guter Langläufer auf Kreis- und Bezirksebene, Springen, sagt er selbst, hat er sich nicht getraut. Von ihm habe ich die Konzentrationsfähigkeit, Gelassenheit und Zurückhaltung. Wir beide können auf ein Ziel fokussieren und alles andere außen vor lassen. Das war vielleicht nicht immer gut, half mir aber, nicht in einen Zwiespalt zu geraten. Ich konnte zu Wettbewerben fahren und meine Familie „zu Hause lassen – was meine Liebe zu meinen Eltern oder Frauen oder Kindern nicht schmälert, mir aber nichtsdestotrotz die Fähigkeit gab, mich auf das Hier und Jetzt an den Schanzen zu konzentrieren. Von meiner Mutter Sieglinde habe ich den Ehrgeiz, den Gerechtigkeitssinn und das Aufgeregte in meinem Charakter. Ich höre heute noch ihre Worte, als sie mir 1996 sagte: „Weißt du, wie stressig es ist, dir die ganze Zeit zuzusehen? Wir müssen zeitiger essen, damit wir rechtzeitig vor dem Fernseher sitzen. Ich brauche einen Schnaps, um ruhiger zu werden. Und du wolltest schon vor zwei Jahren zurücktreten. Wenn du jetzt nicht wirklich aufhörst, hacke ich dir eigenhändig deine Ski zusammen!
2
Die ersten Sprünge
Skifahren im Spätsommer • Skispringer aus reiner Faulheit • Wie drücke ich mich vor Langlauf? • Erster Sprung, erster Sturz • Am Klondike River in Alaska
Ja, Fußball hat mich auch interessiert und auch ich sehe das Tor von Jürgen Sparwasser bei der WM 1974 in Hamburg: langer Pass in den Strafraum, der Magdeburger lässt einen Verteidiger aussteigen, schießt trocken von rechts nach links ein und jubelt mit einem Purzelbaum! Die DDR spielt eine gute WM und wird Vierter. Aber die meisten Kindheitserinnerungen sind mit dem Skifahren und dem Skispringen verbunden. Wir hatten einen Kohlenkeller und dort standen die Skier meiner Eltern. Als ich im Alter von fünf, sechs Jahren eigene erhielt, zog ich diese einmal im Spätsommer hervor und wollte auf dem Gras den Berg hinunterrutschen. Das funktionierte bedauerlicherweise nicht wie geplant, und meine Mutter meinte lächelnd: „Du musst warten, bis Schnee liegt!" Woher sollte ich wissen, dass es nicht ohne Schnee ging? Kinder probieren eben alles aus. Für mich hieß die Gleichung: Ski an den Füßen festmachen = Berg hinunterrutschen. Die ersten Versuche auf Schnee unternahm ich jedenfalls mit meiner Mutter: Ich stand hinter ihr auf den Brettern. Auch so ändern sich die Zeiten. Meine Kinder erlernten diesen Sport, indem sie auf eigenen Skiern standen und zwischen den Beinen der Eltern den Hang hinunterfuhren.
Mit anderen Jungen in der Nachbarschaft war ich immer irgendwo im Wald unterwegs. Einmal spielten wir etwa Verstecken. Nachdem man mich nicht finden konnte, brachen die anderen ab und ich kam sehr viel später halb erfroren nach Hause. Immerhin hatte ich das beste Versteck und lag eine Stunde unter einem Reisighaufen. Es war ein 29. März, der Geburtstag meiner Mutter. Ansonsten betätigten wir uns sportlich. Da ein Skilift fehlte und es mir zu beschwerlich war, den Hausberg hinaufzuwandern, um danach im Schuss abfahren zu können, begann ich sehr schnell damit, mit den Nachbarskindern am unteren Ende des Berges einen Hügel zu bauen und darüber zu springen. Die Höchstweite war sieben Meter, weiter schafften wir es nicht. Wenn ich letztlich Skispringer geworden bin, dann vorrangig aufgrund von zwei Argumenten: wegen der Messbarkeit der Leistung – und aus Faulheit.
Das ist jetzt natürlich ein wenig überzogen. Mir hat es einfach Spaß gemacht, mich im Freien aufzuhalten und herumzutollen. Schon als Vierjähriger bin ich meinem späteren Trainer Herbert Neudert aufgefallen. Er trainierte Mitte der 1960er Jahre die Langläuferinnen aus Schwarzenberg und bei ihren Trainingstouren kamen sie auch hinauf „Zum Hahnel", wo wir in Pöhla wohnten. Da sah er mich, wie ich mit meiner Mütze durch den Schnee stapfte. Da Neudert von 1966 bis 1968 in Oberwiesenthal tätig war, waren Gerolf Löffler und Dieter Blechschmidt meine ersten Trainer. Übungsleiter waren ehemalige Athleten oder auch Väter der Kinder und sie erhielten für diese Tätigkeiten stundenweise Freistellungen von den Betrieben, in denen sie arbeiteten. Im Trainingszentrum von Pöhla wurden Ski Alpin, Langlauf und Skispringen angeboten und das Ziel war, Kinder zu finden, die geeignet wären, um in der Sportschule in Oberwiesenthal an einer sportlichen Karriere zu arbeiten.
Ich war schmächtig wie ein „Schluck Wasser" und insofern werden mir die Langlaufeinheiten, die ich auch machen musste, nicht geschadet haben. Doch sie wurmten mich und ich drückte mich vor Skirollern und